Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz? - La version française de cet article est parue dans Paediatrica (Vol. 13, No. 6, 2002, p. 12-17)

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Formation continue / Fortbildung                                                Vol. 14   No. 1     2003          22

Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz?
La version française de cet article est parue dans Paediatrica (Vol. 13, No. 6, 2002, p. 12–17)

Zusammenfassung                                seronegativer Personen minimal und ab              Der Impfstoff und seine Qualitäten
                                               dem Alter von 10 Jahren konstant ist.
Der Impfstoff gegen Varizellen existiert und                                                      Der Varizellen Impfstoff wurde in den 70er
ist in der Schweiz verfügbar. Er hat eine      Obwohl es sich um eine generelle Impfung           Jahren vom japanischen Biologen M. Ta-
nachgewiesene Immunogenität und Schutz-        des Präadoleszenten handelt, ist es not-           kahashi entwickelt. Der heute in der
wirkung. Seine Reaktogenität ist gering und    wendig, die Personen zu identifizieren, wel-       Schweiz verfügbare Impfstoff wie auch der-
kein Hindernis für einen mehr als bisher       che nach dem Alter von 10 Jahren zu den            jenige welcher in den USA eingesetzt wird,
verbreiteten Gebrauch (selektiver Einsatz,     4% Seronegativen in der Bevölkerung ge-            sind praktisch mit der von M. Takahashi erst-
besonders bei immungeschwächten Kin-           hören. Damit kann die ernorme Vergeu-              mals entwickelten Vakzine identisch. Alle
dern).                                         dung an Zeit und Mitteln verhindert wer-           drei enthalten eine OKA genannte atte-
                                               den, welche eine systematische Impfung             nuierte Lebendvakzine (nach dem Namen
Die generelle Impfung des Kleinkindes          aller Präadoleszenten in der Schweiz dar-          des Jungen, bei welchem ursprünglich der
(nach dem 1. Geburtstag) wird in verschie-     stellen würde (80 000 Personen pro Jahr).          Virus isoliert wurde). Von Bedeutung ist,
denen Ländern empfohlen, so etwa in den                                                           dass diese Vakzine anfangs speziell für im-
USA. Allerdings bestehen mehrere Unge-         Drei Methoden zur Identifikation der Impf-         mundefiziente Patienten entwickelt wurde,
wissheiten (Dauer des Impfschutzes bei         kandidaten werden erwogen: «alleinige              hauptsächlich für Kinder, die unter Behand-
nicht mehr bestehender Zirkulation des         Serologie» (und Impfung der seronegati-            lung einer akuten lymphoblastischen Leu-
Wildvirus; Notwendigkeit einer sehr hohen      ven Personen), «alleinige Anamnese» (und           kämie standen. Für solche Patienten ist
Deckungsrate (> 90%), um die Zirkulation       Impfung der Personen ohne gesicherte               eine Varizellenerkrankung weiterhin eine
des Wildvirus zu unterbinden; initiale para-   Varizellenanamnese), «Anamnese und Se-             schwere und potenziell tödlich verlaufen-
doxe Wirkung auf die Inzidenz des Herpes       rologie bei Personen ohne gesicherte               de Erkrankung.
zoster (Gürtelrose) mit Verursachung einer     Varizellenanamnese» (und Impfung der
grösseren, lang andauernden Epidemie bei       seronegativen Personen). Diese drei Vor-           Die meisten Studien, welche auf einen ge-
nicht geimpften Personen).                     gehensweisen unterscheiden sich in ihrer           nerellen Einsatz dieser Vakzine ausgerich-
                                               Anwendungseinfachheit und in ihrer Ge-             tet waren, sind in den USA durchgeführt
Es ist berechtigt, einer Varizellenerkran-     nauigkeit in der Identifikation der Impfkan-       worden. Sie haben klar ergeben, dass der
kung beim Erwachsenen im Allgemeinen –         didaten.                                           Impfstoff immunogen ist, eine Schutzwir-
und bei Schwangeren im Speziellen – vor-                                                          kung hat und wenige Reaktionen auslöst.
beugen zu wollen. Gründe hierfür sind der      Die Wahl der für die Schweiz adäquatesten          Diese Vakzine scheint also alle notwendi-
höhere Schweregrad in dieser Altersgrup-       Methode ist noch nicht erfolgt. Die finan-         gen Qualitäten für eine generelle Verwen-
pe und die oft schweren fötalen oder neo-      ziellen Implikationen jeder Variante werden        dung zu besitzen. Sie ist daher seit 1996
natalen Komplikationen ohne verfügbare         zurzeit untersucht.                                im amerikanischen Routine-Impfplan ein-
adäquate Behandlung.                                                                              geführt worden: systematische Impfung
                                               Soll in der Schweiz eine generelle Varizel-        der Kleinkinder, Nachholimpfung der älte-
Die Prävention der Varizellen des Erwach-      lenimpfung eingeführt werden? Falls ja,            ren Kinder und Jugendlichen1).
senen kann durch eine generelle Impfung        welches wäre die Alterszielgruppe? Die-
der Präadoleszenten erreicht werden (10        se Fragen sind berechtigt, wenn man be-            Immunogenität
bis 12 Jahre). Die Wahl dieser Altersgruppe    denkt, dass die Varizellenimpfung seit über        Die Vakzine ist beim Kind zwischen 12 Mo-
basiert auf den Tatsachen, dass eine ein-      20 Jahren existiert, dass der Impfstoff in         naten und 12 Jahren sehr immunogen.
zige Dosis vor dem 13. Geburtstag not-         der Schweiz seit 1985 verfügbar ist und            Eine Einzeldosis induziert in dieser Alters-
wendig ist und in der Schweiz die Anzahl       dass seine Wirksamkeit erwiesen ist.               gruppe eine Serokonversion mit schüt-
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zendem Antikörpertiter zwischen 95,7%          mittelschwere Varizellenerkrankung sowie            berechnen. Wahrscheinlich ist die Abnah-
(12–13 Jahre) und 98.8% (12–36 Monate).        85% gegen jegliche Varizellenerkrankung             me des Risikos dieser Herpes-Zoster-Er-
Bei unter 12 Monate alten Säuglingen ist       (alle Schweregrade) schützte. Dieser Anteil         krankung an die Abnahme der Hautläsio-
die Serokonversion nach einer einzigen         von 85% ist in Wirklichkeit ein Mittelwert,         nen gebunden. Die gleiche Beobachtung
Dosis hoch (97,5% 9–11 Monate), jedoch         welcher eine gewisse Heterogenität in               wurde bei Kindern gemacht, welche wegen
ist der erreichte Titer ungenügend. Beim äl-   dieser Altersklasse beinhaltet: 79% unter           einer Leukämie geimpft worden waren.
teren Kind und Erwachsenen sind zwei           5 Jahren, 89% zwischen 5 und 10 Jahren
Impfdosen notwendig damit 100% Sero-           sowie 92% über 10 Jahre.                            Impfversager
konversion mit einem schützenden Anti-                                                             Wie bereits erwähnt 9),10) werden Varizellen
körpertiter erreicht werden2).                 Eine andere Studie, welche von Februar              bei 83–85% der geimpften Individuen ver-
                                               1996 bis August 1997 eine Kleinkinder-              hindert und bei 12% attenuiert. Attenuierte
Die Dauer der immunogenen Wirkung wur-         population in Kinderhorten und Kindergär-           Varizellen werden als «breakthrough di-
de durch mehrere Arbeiten belegt und er-       ten untersuchte, ergab eine Schutzwirkung           seases» bezeichnet, um diese von den voll-
streckte sich von minimal 5 bis maximal        gegen Verizellen (alle Schweregrade) von            ständigen Impfversagern (3–5%) zu unter-
20 Jahre3) –7).                                83% (95% CI: 69–91%)10).                            scheiden. Folgende Faktoren sind als Ri-
                                                                                                   sikofaktoren für Impfversagen (Attenuation
Schutzwirkung                                  In einer der Pilotregionen (West Philadel-          und vollständiges Versagen) identifiziert
Die Wirksamkeit des Schutzes der Vakzine       phia County) der generalisierten Varizel-           worden: Impfung vor dem Alter von 15 Mo-
gegen Varizellen wurde auf verschiedenen       lenimpfung in den USA wurde zwischen Ja-            naten, Immundefizit, intrafamiliäre Anste-
Ebenen verifiziert.                            nuar 1995 (vor Einführung der generali-             ckung, Virenimpfdosis ungenügend12).
                                               sierten Impfung) und Dezember 2000 ein
Die amerikanische «Northern California         Rückgang von 79% der Varizelleninzidenz             Reaktogenität
Kaiser Permanente» HMO, welche seit            bei Kleinkindern beobachtet11).                     Die Varizellenvakzine wird in der Regel gut
1996 die nationale Empfehlung der gene-                                                            vertragen. Ein Erythem und Schmerzen an
rellen Impfung der Kleinkinder anwendet,       Es bestehen erste Hinweise, dass die ge-            der Einstichstelle, welche durch die Injek-
hat 7000 Kinder im Alter von 12 bis 24         neralisierte Varizellenimpfung von Kindern          tion per se und nicht durch den Impfstoff
Monaten geimpft. In dieser Kohorte war         ebenfalls zu einer Verminderung des Her-            bedingt sind, werden in 15–20% der Fälle
die gemessene Schutzwirkung 83%8). Von         pes Zoster (Gürtelrose) bei geimpften Kin-          beobachtet. Ein kurz andauernder Status
Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die      dern führt. In der Tat war die erhobene In-         febrilis wird bei ungefähr 15% der Geimpf-
Varizellen Inzidenz bei den älteren (5–19      zidenz der Gürtelrose in der geimpften Ko-          ten beobachtet. Ein windpockenartiger
Jahre) nicht geimpften Kindern derselben       horte der genannten Northern California             Ausschlag wird bei 4% festgestellt. Dieser
HMO rückgängig war. Dies lässt ein Phäno-      Kaiser Permanente 9/100 000/Jahr an-                tritt 7 bis 21 Tage nach der Impfung in
men von Gruppenschutz vermuten8). Eine         statt der er war teten Inzidenz von                 Form von etwa 10 Bläschen auf. Falls mehr
Studie, die von März 1997 bis November         34/100 000/Jahr, welche aufgrund von                als 30 Bläschen oder diese innerhalb von
2000 Kinder zwischen 13 Monaten und            Beobachtungen vor Einführung der gene-              7 Tagen nach Impfung auftreten, handelt
16 Jahren untersuchte, zeigte eine Schutz-     ralisierten Impfung errechnet worden                es sich um eine interkurrente Varizellen-
wirkung von 85% (95% CI: 78–90%); zu-          war8). Trotz der bedingten Vergleichbarkeit         erkrankung. Gelegentlich besteht der post-
dem zeigten 12% eine attenuierte Varizel-      mit einer historischen Kohorte ist es mög-          vakzinale Ausschlag nur aus 2–4 Bläschen,
lenerkrankung9). Es kann daher gesagt wer-     lich, in einer im Kleinkindesalter geimpften        welche gruppiert um die Einstichstelle auf-
den, dass die Impfung 97% der Patienten        Population ein relatives Risiko für eine Gür-       treten13).
(95% CI: 93–99%) gegen eine schwere und        telrose von 0,23 (CI 95%: 0,10–0,48%) zu
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Generelle Impfstrategien                         Ungewissheiten einer generellen                     3. Die kritische Durchimpfungsrate
und ihre Folgen                                  Kleinkind-Impfung                                      (= notwendige Impfungrate, um
                                                                                                        das Zirkulieren des Wildvirus zu
A priori sind zwei generelle Impfstrategien      Trotz der genannten, nicht zu bezweifeln-              verhindern) ist sehr hoch (97%)15).
möglich. Kleinkinder können in einem Al-         den Qualitäten einer generellen Kleinkind-             In zahlreichen Industrieländern, und
ter geimpft werden, in welchem die meis-         Impfung bestehen weiterhin bestimmte Un-               besonders in der Schweiz, scheint
ten noch nicht mit Varizellen in Kontakt ge-     gewissheiten.                                          eine solche Rate nicht erreichbar.
kommen sind. Adoleszente können geimpft
werden, damit verhindert wird, dass sie          1. Die Studien, welche eine andauernde              Varizellenerkrankung in der Schweiz:
das Erwachsenenalter nicht immun errei-             Wirkung der Immunogenität nachwie-               Standortbestimmung bei Kindern
chen und eine potenziell schwerere Form             sen3) 4) 5) 6) 7), wurden in Populationen
von Varizellenerkrankung durchmachen.               durchgeführt, in welchen noch eine               Inzidenz
Die Impfung der Kleinkinder zielt auf eine          hohe Varizellenprävalenz bestand                 Da Varizellen nicht meldepflichtig sind, wur-
Eliminierung der Varizellen und langfristig         und in denen der Wildvirus stark ver-            de 1998 durch das Sentinella-System eine
der Gürtelrose hin. Die Impfung der Ado-            breitet war. Dieser hatte daher wahr-            spezielle Erhebung durchgeführt. Daraus
leszenten dagegen versucht alleinig Vari-           scheinlich einen gewichtigen                     resultierte, dass zirka 60 000 Fälle pro
zellen der Erwachsenen und deren Komp-              Anteil am Erhalt der Immunität.                  Jahr auftreten, der Grossteil (84%) bei Per-
likationen zu verhindern.                                                                            sonen unter 15 Jahren6). Diese Zahlen sind
                                                 2. Obwohl die pathophysiologischen                  wahrscheinlich eine Unterschätzung, wel-
Die zwei Strategien haben vorhersehbare             Kenntnisse des Verhaltens des                    che durch Seroprävalenzstudien korrigiert
gegensätzliche Folgen: erstere führt zur            Varizella-Zoster-Virus beim Menschen             wird. In einem Kollektiv von 1788 Jugend-
Unterdrückung der Verbreitung des Wild-             und die ersten Beobachtungen bei                 lichen zwischen 13 und 15 Jahren, welche
virus (vorausgesetzt, dass eine genügend            geimpften Kindern8) letztendlich die             in verschiedenen Regionen der Schweiz
hohe Durchimpfungsrate erreicht wird) und           Voraussage einer Abnahme der                     wohnten, fanden Heininger et al. eine Sero-
auch zur Unterdrückung der Erhaltung des            Gürtelrose ermöglichen, zeigt eine               prävalenz von 96,5% (95% CI: 95,7–
Immunschutzes durch wiederholte Virus-              Modellhochrechnung zu den Folgen                 97,4%)17). Diese Beobachtung wurde durch
exposition; zweitere führt zur Erhaltung der        nach genereller Kleinkindesimpfung,              jene von Aebi et al. im Kanton Bern be-
Virusverbreitung und der Bevölkerungs-              dass nach Einführung der generellen              stätigt: die Seroprävalenz bei Kindern zwi-
immunität. Die Erhaltung dieser Immunität           Impfung mit genügend hoher Durch-                schen 12 und 16 Jahren war 96,1% (95%
ist sehr wichtig: sie verhindert die Reakti-        impfungsrate, um die Verbreitung                 CI: 93,7–98,5%)18).
vierung des nach primärer Varizellenerkran-         des Wildvirus zu unterbinden, eine
kung in den posterioren Ganglienzellen la-          Epidemie von Gürtelrose 50% der                  Schweregrad
tenten Varizella-Zoster-Virus. Tatsächlich          Bevölkerung von 10 bis 44 Jahren                 Der Schweregrad von Varizellenerkrankun-
wurde nachgewiesen, dass Erwachsene,                (ungeimpft!) betreffen und 50 Jahre              gen kann in der Schweiz nur durch die Er-
welche regelmässigen Kontakt mit Kindern            andauern würde14). Eine solche                   hebungen von Hospitalisationen bewertet
haben, ein vermindertes Risiko für Gür-             Epidemie wäre durch die fehlende                 werden. Die jährliche Anzahl pädiatrischer
telrose haben (relatives Risiko 0,75)14). Die-      periodische Erneuerung des                       Hospitalisationen wegen Varizellen wird auf
se Beobachtung wird auch durch die Fest-            Impfschutzes verursacht, welche bis-             7019) bis 77 (Extrapolation auf 12 Monate
stellung eines verminderten Gürtelrose-             her durch den wiederholten Kontakt               der von der Swiss Pediatric Surveillance
risikos bei japanischen Kinderärzten ge-            der Bevölkerung mit dem Wildvirus                Unit zwischen April und September 2000
stützt.                                             möglich war.                                     erhobenen Daten20)) geschätzt. Die Mehr-
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heit dieser Hospitalisationen (zwischen         den Kanton Waadt eine Varizelleninzidenz          Die Prävention von «gewöhnlichen» Vari-
5021) und 5820)) sind durch Varizellen per se   von 0,04% während der Schwanger-                  zellen beim gesunden Kind ist wegen des
motiviert. Bei den verbleibenden handelt        schaft24). Diese Zahl ist vergleichbar mit        gutartigen Verlaufes nicht prioritär. Aller-
es sich um Varizellen, welche im Verlauf        denjenigen von internationalen Beobach-           dings könnte sie aufgrund sozioökonomi-
einer anders motivierten Hospitalisation        tungen und erlaubt eine Inzidenz von 32           scher Gründe gerechtfertigt werden, wie
auftreten. Erstere sind bei immunkompe-         Fällen pro Jahr zu prognostizieren. Die Ri-       dies in den USA wegen grosser Fallzahlen
tenten Kindern etwas häufiger (3420)) als       siken einer Varizellenerkrankung während          (kranke Kinder mit zur Pflege des Kindes
bei immungeschwächten (2420) bis 2721)).        der Schwangerschaft sind dreifach: er-            «immobilisierten» Eltern) der Fall ist. Die
Bei immunkompetenten Kindern ist die            höhter Schweregrad für die Mutter (Er-            Varizellenkomplikationen beim gesunden
häufigste Komplikation, die zur Hospitali-      wachsenenrisiko erhöht durch die Schwan-          Kind sind zu selten und insgesamt eher
sierung führt, eine transitorische Zerebel-     gerschaft), kongenitales Varizellensyndrom        gutartig, als dass daraus um jeden Preis
litis (75%), selten eine haemorrhagische        und perinatale Varizellenerkrankung.              eine Präventionsforderung abgeleitet wer-
Form oder eine kutane Superinfektion22).                                                          den könnte.
Sehr schwere Verläufe sind extrem selten.       Generelle Varizellenimpfung
                                                in der Schweiz?                                   Welche Strategie müssen wir wählen,
Varizellenerkrankung in der Schweiz:                                                              um unsere Ziele zu erreichen?
Standortbestimmung bei Erwachsenen              Diese Frage beinhaltet drei verschiedene          Die Strategie einer generellen Impfung des
                                                Aspekte, welche nacheinander diskutiert           Kleinkindes würde die Prävention aller
Die Inzidenz von Varizellen bei Erwachse-       werden:                                           Komplikationen in allen Altersgruppen er-
nen wird auf zirka 9600 Fälle pro Jahr ge-                                                        möglichen. Jedoch sind nicht alle darin ent-
schätzt16). Diese relativ kleine Fallzahl ge-   1. Was wollen wir betreffend Varizellen           haltenen Ziele bei uns prioritär. Zudem
neriert jedoch gleichviele Hospitalisationen       verhindern?                                    sind die Ungewissheiten, welche mit den
(7019)) wie die sehr grosse Fallzahl bei Kin-   2. Welche Strategie müssen wir wählen,            Bedingungen und Folgen einer generellen
dern. Daraus lässt sich für Erwachsene ein         um diese Ziele zu erreichen?                   Impfung verbunden sind (siehe oben),
25-mal grösseres relatives Risiko für           3. Wie wird die gewählte Strategie                gross genug, um diese Strategie nicht ge-
eine Hospitalisation als bei Kindern be-           praktisch durchgeführt?                        radewegs zu wählen.
rechnen. Verwendet man die Zahlen der
medizinischen Abteilungen des CHUV              Was wollen wir betreffend Varizellen              Die Strategie einer generellen Impfung der
(ausser Gynäkologie-Gebur tshilfe) und          verhindern?                                       Adoleszenten wäre ausreichend, eines der
extrapoliert diese auf die gesamte Schweiz,     Wegen der genannten epidemiologischen             Ziele, die Prävention von Varizellen beim Er-
ergibt dies folgende Resultate: 7,6 Fälle       Beobachtungen ist es berechtigt, Varizel-         wachsenen und der Folgen auf Fötus oder
von Meningitis pro Jahr, 1,6 Enzephalitis,      len beim Erwachsenen im Allgemeinen,              Neugeborenes bei Varizellen während der
26,6 Pneumopathien, 3,8 andere Kom-             und bei Schwangeren im Speziellen, vor-           Schwangerschaft, zu erreichen. Die Präven-
plikationen, 30,4 Hospitalisationen ohne        beugen zu wollen. Gründe sind der höhe-           tion von Varizellen bei immungeschwäch-
Varizellenkomplikationen. In der CHUV-Ka-       re Schweregrad in dieser Altersgruppe und         ten Kindern verlangt die Beibehaltung einer
suistik betrifft die Mehrheit der Erwach-       die oft schweren fötalen oder neonatalen          selektiven Impfung von Patienten dieser
senenhospitalisationen im Zusammen-             Komplikationen ohne verfügbare adäqua-            Kategorie.
hang mit Varizellen (89%) Personen im           te Behandlung. Die Prävention von Vari-
Alter von 16 bis 49 Jahren23). Die Beob-        zellen beim immungeschwächten Kind ist            Schlussfolgernd kann festgestellt werden,
achtungen des Departements für Gynä-            wegen des Potenzials eines sehr bösarti-          dass die generelle Impfung der Adoles-
kologie-Geburtshilfe des CHUV ergeben für       gen Verlaufes unverzichtbar.                      zenten und die Beibehaltung der selektiven
Formation continue / Fortbildung                                                   Vol. 14   No. 1     2003         26

Impfung die beste Strategie ist, die ge-           In diesem Zusammenhang bestehen die                  sen der Personen zwischen 9 und
steckten Ziele zu erreichen.                       nachstehend ausgeführten drei Möglich-               18 Jahren negativ oder unsicher
                                                   keiten, welche in Tabelle 1 zusammenge-              sind25), würde diese Methode zu
Wie wird die gewählte Strategie                    fasst sind. Die angegebenen Zahlen be-               11 200 Impfungen führen. Die Wahr-
praktisch durchgeführt?                            ziehen sich auf eine Jahreskohorte von               scheinlichkeit einer falsch positiven
Wie bereits erwähnt, ist ein ausreichender         80 000 Präadoleszenten (entsprechend                 Anamnese ist 2% und diejenige
Impfschutz nur durch die Verabreichung             den Geburten pro Jahr in der Schweiz).               einer falsch negativen 74%25), was
von zwei Impfdosen bei Personen von 13                                                                  zu 1400 verpassten Impfmöglich-
und mehr Jahren erreichbar. Vorzugsweise           1. Systematische serologische                        keiten und zu 8300 nicht notwendi-
ist deshalb das Zielalter auf die Präado-             Kontrolle der Präadoleszenten und                 gen Impfungen führen würde. Trotz
leszenten (10–12 Jahre) auszurichten, da              Impfung der seronegativen Personen                der Kombination von verpassten
in diesem Alter eine einzige Dosis genügt.            (Variante «alleinige Serologie»).                 Impfmöglichkeiten und unnötigen
Dies ist durchaus möglich, da Seropräva-              Diese Methode hat den Vorzug,                     Impfungen hat diese Vorgehensweise
lenzstudien zeigen, dass der maximale An-             dass die Impfung nur den Personen                 den Vorzug der Einfachheit
teil von seropositiven Personen (> 96%) im            (3200) angeboten wird, die sie tat-               und wurde deshalb in Deutschland
Alter von 10 Jahren erreicht wird und Jah-            sächlich benötigen. Allerdings beruht             vor wenigen Monaten eingeführt.
re über dieses Alter hinaus konstant                  sie auf einer sehr grossen Anzahl
bleibt18).                                            von Blutentnahmen (80 000) mit                 3. Systematische Anamnese (mit
                                                      den daraus resultierenden Kosten,                 den Müttern!), serologische Kontrol-
Obwohl es sich um eine generelle Impfung              Diagnoseproblemen und Fehler-                     le der Personen mit unsicherer oder
handelt, kann es nicht in Frage kommen,               möglichkeiten.                                    negativer Anamnese, anschliesend
alle Präadoleszenten systematisch zu                                                                    Impfung der tatsächlich seronegati-
impfen, wenn man bedenkt, dass minde-              2. Systematische Anamnese (mit                       ven Präadoleszenten (Variante
stens 96% Varizellen bereits vor der Imp-             den Müttern!) und Impfung der                     «Anamnese und Serologie»).
fung durchgemacht haben dürfen17) 18). Das            Präadoleszenten ohne gesicherte                   Die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Problem ist daher, die 4% Präadoleszenten             Anamnese für Varizellen (Variante                 unsichere oder negative Anamnese
zu identifizieren, welche Varizellen vor dem          «alleinige Anamnese»).                            serologisch bestätigt wird, ist 26%25).
Alter von 10 Jahren noch nicht gehabt ha-             Zieht man in Betracht, dass in der                Diese Vorgehensweise würde zu
ben!                                                  Schweiz 14% der Varizellenanamne-                 2900 Impfungen von Präadoleszen-
                                                                                                        ten führen. Diese Variante ist ge-
Tabelle 1: Anzahl Interventionen je nach Methode                                                        nauer als Variante 2, weil die unnöti-
zur Indentifikation der Impfkandidaten                                                                  gen Impfungen vermieden würden.
                                                                                                        Allerdings würde sie ebenfalls
                                     Anzahl Impfungen                    Anzahl Tests                   wegen falsch positiven Anamnesen
                                                                                                        zu 1400 verpassten Impfmöglich-
                          durchgeführt   unnötig         verpasst   durchgeführt   unnötig              keiten pro Jahr führen. Zudem ist
 alleinige Serologie         3200              —            —         80 000       76 800               sie wegen der mehrschichtigen
                                                                                                        Entscheidungsebenen komplexer.
 alleinige Anamnese         11 200        8300            1400          —            —                  Andererseits würde diese Methode,
                                                                                                        da nur auf die tatsächlich notwendi-
 Anamnese & Serologie        2900              —          1400        11 200         —
                                                                                                        gen Impfungen ausgerichtet, wahr-
Formation continue / Fortbildung                                                               Vol. 14      No. 1   2003   27

   scheinlich positiv von Eltern ange-           denen Varianten vergleichen, werden zur-
   nommen werden, welche die Anzahl              zeit erarbeitet. Auch das Ausmass der Ak-
   Impfungen limitieren möchten.                 zeptanz der Varianten bei den praktizie-
                                                 renden Ärzten, Kinderärzten und Allge-
Die Anzahl Interventionen, welche mit je-        meinmedizinern muss evaluiert werden. Es
der dieser Varianten assoziiert ist, wird in     ist zudem von Bedeutung hervorzuheben,
Tabelle 1 zusammengefasst. Es wird klar          dass der behandelnde Arzt mit seiner
verdeutlicht, dass die drei Vorgehenswei-        Kenntnis von persönlicher und Familien-
sen sich in ihrer Anwendungseinfachheit          anamnese am besten in der Lage ist, die
und ihrer Genauigkeit die Kandidaten zu          Folge einer falsch positiven Anamnese zu
identifizieren unterscheiden. So ist die         «korrigieren» und damit die verpassten
erste Variante («alleinige Serologie») die ge-   Impfungen zu reduzieren.
naueste Methode, da alle Präadoleszenten
geimpft würden, die eine Impfung wirklich        Referenzen
bräuchten – und nur solche. Anderseits           1)    Centers for Disease Control. Prevention of varicella:
                                                       Recommendations of the Advisory Committee on Im-
beinhaltet diese Variante die kompli-                  munization Practices (ACIP). MMWR 1996; 45: 1–36.
zierteste Logistik.                              2)    Archives Glaxo SmithKline.
                                                 3)    Zerboni L & al. J Infect Dis 1998; 177: 1701–4.
                                                 4)    Johnson CE & al. Pediatr Res 1992. 31; 165A (Abst
                                                       977).
Die einfachere zweite Variante («alleinige       5)    Clements DA. Infect Clin North Am 1996; 10: 617–29.
Anamnese») würde ihr Ziel erreichen, in-         6)    Ozaki T & al. Vaccine 2000; 18: 2375–80.
                                                 7)    Asano Y & al. Pediatrics 1994; 94: 524–6.
dem sie 98% der noch nicht immunen Prä-          8)    Black S & al. ESPID 2002; abst.
                                                 9)    Vaquez M & al. N Eng J Med 2001; 344: 955–60.
adoleszentenpopulation impfen würde. Hin-        10)   Clements DA & al. Pediatr Infect Dis J 1999; 18:
gegen würden jedes Jahr 1400 Jugendli-                 1047–50.
                                                 11)   Sweward JF & al. New Eng J Med 2002; 287: 606–11.
che nicht immun ins Erwachsenenalter             12)   Lim YJ & al. Arch Dis Child 1998; 79: 478–80.
                                                 13)   Weibel R & al. N Eng J Med 1984; 310: 1409–15.
kommen und somit mit der Zeit ein ge-            14)   Brisson M & al. Vaccine 2002; 20: 2500–7.
wichtiges Kontingent von anfälligen Per-         15)   Halloran ME. Infect Dis Clin North Am 1996; 10:
                                                       631–56.
sonen darstellen.                                16)   Zwahlen M & al. In Rapport Sentinella 1998. OFSP
                                                       1999.
                                                 17)   Heininger U & al. Pediatr Infect Dis J 2001; 20: 775–8.
Die dritte Methode («Anamnese und Sero-          18)   Aebi C & al. Vaccine 2001; 19: 3097–103.
                                                 19)   Statistiques VESKA/H+ 1993–1996.
logie») ist ein Mittelweg bezüglich Kom-         20)   Heininger U & al. Bull OFSP 2001; N° 36: 656.
plexität der Logistik und Genauigkeit. Sie       21)   Extrapolation à la Suisse de la casuistique du CHUV-
                                                       HEL 1999–2000.
würde das Ziel einer Immunisation der Prä-       22)   Statistiques CHUV-HEL 1999–2000.
                                                 23)   Statistiques CHUV 1991–2001.
adoleszentenpopulation gleich gut, aber          24)   Dr Y. Vial, communication personnelle.
nicht besser wie die zweite Variante er-         25)   Baer G & al. ICAAC 2001; abst G-1549.

reichen.
                                                 Bernard Vaudaux, Lausanne
                                                 Claire-Anne Siegrist, Genève
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die für die
                                                 Übersetzung: Pietro Scalfaro, Lausanne
Schweiz adäquateste Variante noch nicht
bestimmt. Besonders der finanzielle As-          Korrespondenzadresse:
pekt muss auch berücksichtigt werden. Die        Dr B. Vaudaux
                                                 Av. de la Gare 7, 1003 Lausanne
Studien, welche die Kosten der verschie-         E-Mail: bernard.vaudaux@bluewin.ch
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