Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz? - La version française de cet article est parue dans Paediatrica (Vol. 13, No. 6, 2002, p. 12-17)
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Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 22 Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz? La version française de cet article est parue dans Paediatrica (Vol. 13, No. 6, 2002, p. 12–17) Zusammenfassung seronegativer Personen minimal und ab Der Impfstoff und seine Qualitäten dem Alter von 10 Jahren konstant ist. Der Impfstoff gegen Varizellen existiert und Der Varizellen Impfstoff wurde in den 70er ist in der Schweiz verfügbar. Er hat eine Obwohl es sich um eine generelle Impfung Jahren vom japanischen Biologen M. Ta- nachgewiesene Immunogenität und Schutz- des Präadoleszenten handelt, ist es not- kahashi entwickelt. Der heute in der wirkung. Seine Reaktogenität ist gering und wendig, die Personen zu identifizieren, wel- Schweiz verfügbare Impfstoff wie auch der- kein Hindernis für einen mehr als bisher che nach dem Alter von 10 Jahren zu den jenige welcher in den USA eingesetzt wird, verbreiteten Gebrauch (selektiver Einsatz, 4% Seronegativen in der Bevölkerung ge- sind praktisch mit der von M. Takahashi erst- besonders bei immungeschwächten Kin- hören. Damit kann die ernorme Vergeu- mals entwickelten Vakzine identisch. Alle dern). dung an Zeit und Mitteln verhindert wer- drei enthalten eine OKA genannte atte- den, welche eine systematische Impfung nuierte Lebendvakzine (nach dem Namen Die generelle Impfung des Kleinkindes aller Präadoleszenten in der Schweiz dar- des Jungen, bei welchem ursprünglich der (nach dem 1. Geburtstag) wird in verschie- stellen würde (80 000 Personen pro Jahr). Virus isoliert wurde). Von Bedeutung ist, denen Ländern empfohlen, so etwa in den dass diese Vakzine anfangs speziell für im- USA. Allerdings bestehen mehrere Unge- Drei Methoden zur Identifikation der Impf- mundefiziente Patienten entwickelt wurde, wissheiten (Dauer des Impfschutzes bei kandidaten werden erwogen: «alleinige hauptsächlich für Kinder, die unter Behand- nicht mehr bestehender Zirkulation des Serologie» (und Impfung der seronegati- lung einer akuten lymphoblastischen Leu- Wildvirus; Notwendigkeit einer sehr hohen ven Personen), «alleinige Anamnese» (und kämie standen. Für solche Patienten ist Deckungsrate (> 90%), um die Zirkulation Impfung der Personen ohne gesicherte eine Varizellenerkrankung weiterhin eine des Wildvirus zu unterbinden; initiale para- Varizellenanamnese), «Anamnese und Se- schwere und potenziell tödlich verlaufen- doxe Wirkung auf die Inzidenz des Herpes rologie bei Personen ohne gesicherte de Erkrankung. zoster (Gürtelrose) mit Verursachung einer Varizellenanamnese» (und Impfung der grösseren, lang andauernden Epidemie bei seronegativen Personen). Diese drei Vor- Die meisten Studien, welche auf einen ge- nicht geimpften Personen). gehensweisen unterscheiden sich in ihrer nerellen Einsatz dieser Vakzine ausgerich- Anwendungseinfachheit und in ihrer Ge- tet waren, sind in den USA durchgeführt Es ist berechtigt, einer Varizellenerkran- nauigkeit in der Identifikation der Impfkan- worden. Sie haben klar ergeben, dass der kung beim Erwachsenen im Allgemeinen – didaten. Impfstoff immunogen ist, eine Schutzwir- und bei Schwangeren im Speziellen – vor- kung hat und wenige Reaktionen auslöst. beugen zu wollen. Gründe hierfür sind der Die Wahl der für die Schweiz adäquatesten Diese Vakzine scheint also alle notwendi- höhere Schweregrad in dieser Altersgrup- Methode ist noch nicht erfolgt. Die finan- gen Qualitäten für eine generelle Verwen- pe und die oft schweren fötalen oder neo- ziellen Implikationen jeder Variante werden dung zu besitzen. Sie ist daher seit 1996 natalen Komplikationen ohne verfügbare zurzeit untersucht. im amerikanischen Routine-Impfplan ein- adäquate Behandlung. geführt worden: systematische Impfung Soll in der Schweiz eine generelle Varizel- der Kleinkinder, Nachholimpfung der älte- Die Prävention der Varizellen des Erwach- lenimpfung eingeführt werden? Falls ja, ren Kinder und Jugendlichen1). senen kann durch eine generelle Impfung welches wäre die Alterszielgruppe? Die- der Präadoleszenten erreicht werden (10 se Fragen sind berechtigt, wenn man be- Immunogenität bis 12 Jahre). Die Wahl dieser Altersgruppe denkt, dass die Varizellenimpfung seit über Die Vakzine ist beim Kind zwischen 12 Mo- basiert auf den Tatsachen, dass eine ein- 20 Jahren existiert, dass der Impfstoff in naten und 12 Jahren sehr immunogen. zige Dosis vor dem 13. Geburtstag not- der Schweiz seit 1985 verfügbar ist und Eine Einzeldosis induziert in dieser Alters- wendig ist und in der Schweiz die Anzahl dass seine Wirksamkeit erwiesen ist. gruppe eine Serokonversion mit schüt-
Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 23 zendem Antikörpertiter zwischen 95,7% mittelschwere Varizellenerkrankung sowie berechnen. Wahrscheinlich ist die Abnah- (12–13 Jahre) und 98.8% (12–36 Monate). 85% gegen jegliche Varizellenerkrankung me des Risikos dieser Herpes-Zoster-Er- Bei unter 12 Monate alten Säuglingen ist (alle Schweregrade) schützte. Dieser Anteil krankung an die Abnahme der Hautläsio- die Serokonversion nach einer einzigen von 85% ist in Wirklichkeit ein Mittelwert, nen gebunden. Die gleiche Beobachtung Dosis hoch (97,5% 9–11 Monate), jedoch welcher eine gewisse Heterogenität in wurde bei Kindern gemacht, welche wegen ist der erreichte Titer ungenügend. Beim äl- dieser Altersklasse beinhaltet: 79% unter einer Leukämie geimpft worden waren. teren Kind und Erwachsenen sind zwei 5 Jahren, 89% zwischen 5 und 10 Jahren Impfdosen notwendig damit 100% Sero- sowie 92% über 10 Jahre. Impfversager konversion mit einem schützenden Anti- Wie bereits erwähnt 9),10) werden Varizellen körpertiter erreicht werden2). Eine andere Studie, welche von Februar bei 83–85% der geimpften Individuen ver- 1996 bis August 1997 eine Kleinkinder- hindert und bei 12% attenuiert. Attenuierte Die Dauer der immunogenen Wirkung wur- population in Kinderhorten und Kindergär- Varizellen werden als «breakthrough di- de durch mehrere Arbeiten belegt und er- ten untersuchte, ergab eine Schutzwirkung seases» bezeichnet, um diese von den voll- streckte sich von minimal 5 bis maximal gegen Verizellen (alle Schweregrade) von ständigen Impfversagern (3–5%) zu unter- 20 Jahre3) –7). 83% (95% CI: 69–91%)10). scheiden. Folgende Faktoren sind als Ri- sikofaktoren für Impfversagen (Attenuation Schutzwirkung In einer der Pilotregionen (West Philadel- und vollständiges Versagen) identifiziert Die Wirksamkeit des Schutzes der Vakzine phia County) der generalisierten Varizel- worden: Impfung vor dem Alter von 15 Mo- gegen Varizellen wurde auf verschiedenen lenimpfung in den USA wurde zwischen Ja- naten, Immundefizit, intrafamiliäre Anste- Ebenen verifiziert. nuar 1995 (vor Einführung der generali- ckung, Virenimpfdosis ungenügend12). sierten Impfung) und Dezember 2000 ein Die amerikanische «Northern California Rückgang von 79% der Varizelleninzidenz Reaktogenität Kaiser Permanente» HMO, welche seit bei Kleinkindern beobachtet11). Die Varizellenvakzine wird in der Regel gut 1996 die nationale Empfehlung der gene- vertragen. Ein Erythem und Schmerzen an rellen Impfung der Kleinkinder anwendet, Es bestehen erste Hinweise, dass die ge- der Einstichstelle, welche durch die Injek- hat 7000 Kinder im Alter von 12 bis 24 neralisierte Varizellenimpfung von Kindern tion per se und nicht durch den Impfstoff Monaten geimpft. In dieser Kohorte war ebenfalls zu einer Verminderung des Her- bedingt sind, werden in 15–20% der Fälle die gemessene Schutzwirkung 83%8). Von pes Zoster (Gürtelrose) bei geimpften Kin- beobachtet. Ein kurz andauernder Status Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die dern führt. In der Tat war die erhobene In- febrilis wird bei ungefähr 15% der Geimpf- Varizellen Inzidenz bei den älteren (5–19 zidenz der Gürtelrose in der geimpften Ko- ten beobachtet. Ein windpockenartiger Jahre) nicht geimpften Kindern derselben horte der genannten Northern California Ausschlag wird bei 4% festgestellt. Dieser HMO rückgängig war. Dies lässt ein Phäno- Kaiser Permanente 9/100 000/Jahr an- tritt 7 bis 21 Tage nach der Impfung in men von Gruppenschutz vermuten8). Eine statt der er war teten Inzidenz von Form von etwa 10 Bläschen auf. Falls mehr Studie, die von März 1997 bis November 34/100 000/Jahr, welche aufgrund von als 30 Bläschen oder diese innerhalb von 2000 Kinder zwischen 13 Monaten und Beobachtungen vor Einführung der gene- 7 Tagen nach Impfung auftreten, handelt 16 Jahren untersuchte, zeigte eine Schutz- ralisierten Impfung errechnet worden es sich um eine interkurrente Varizellen- wirkung von 85% (95% CI: 78–90%); zu- war8). Trotz der bedingten Vergleichbarkeit erkrankung. Gelegentlich besteht der post- dem zeigten 12% eine attenuierte Varizel- mit einer historischen Kohorte ist es mög- vakzinale Ausschlag nur aus 2–4 Bläschen, lenerkrankung9). Es kann daher gesagt wer- lich, in einer im Kleinkindesalter geimpften welche gruppiert um die Einstichstelle auf- den, dass die Impfung 97% der Patienten Population ein relatives Risiko für eine Gür- treten13). (95% CI: 93–99%) gegen eine schwere und telrose von 0,23 (CI 95%: 0,10–0,48%) zu
Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 24 Generelle Impfstrategien Ungewissheiten einer generellen 3. Die kritische Durchimpfungsrate und ihre Folgen Kleinkind-Impfung (= notwendige Impfungrate, um das Zirkulieren des Wildvirus zu A priori sind zwei generelle Impfstrategien Trotz der genannten, nicht zu bezweifeln- verhindern) ist sehr hoch (97%)15). möglich. Kleinkinder können in einem Al- den Qualitäten einer generellen Kleinkind- In zahlreichen Industrieländern, und ter geimpft werden, in welchem die meis- Impfung bestehen weiterhin bestimmte Un- besonders in der Schweiz, scheint ten noch nicht mit Varizellen in Kontakt ge- gewissheiten. eine solche Rate nicht erreichbar. kommen sind. Adoleszente können geimpft werden, damit verhindert wird, dass sie 1. Die Studien, welche eine andauernde Varizellenerkrankung in der Schweiz: das Erwachsenenalter nicht immun errei- Wirkung der Immunogenität nachwie- Standortbestimmung bei Kindern chen und eine potenziell schwerere Form sen3) 4) 5) 6) 7), wurden in Populationen von Varizellenerkrankung durchmachen. durchgeführt, in welchen noch eine Inzidenz Die Impfung der Kleinkinder zielt auf eine hohe Varizellenprävalenz bestand Da Varizellen nicht meldepflichtig sind, wur- Eliminierung der Varizellen und langfristig und in denen der Wildvirus stark ver- de 1998 durch das Sentinella-System eine der Gürtelrose hin. Die Impfung der Ado- breitet war. Dieser hatte daher wahr- spezielle Erhebung durchgeführt. Daraus leszenten dagegen versucht alleinig Vari- scheinlich einen gewichtigen resultierte, dass zirka 60 000 Fälle pro zellen der Erwachsenen und deren Komp- Anteil am Erhalt der Immunität. Jahr auftreten, der Grossteil (84%) bei Per- likationen zu verhindern. sonen unter 15 Jahren6). Diese Zahlen sind 2. Obwohl die pathophysiologischen wahrscheinlich eine Unterschätzung, wel- Die zwei Strategien haben vorhersehbare Kenntnisse des Verhaltens des che durch Seroprävalenzstudien korrigiert gegensätzliche Folgen: erstere führt zur Varizella-Zoster-Virus beim Menschen wird. In einem Kollektiv von 1788 Jugend- Unterdrückung der Verbreitung des Wild- und die ersten Beobachtungen bei lichen zwischen 13 und 15 Jahren, welche virus (vorausgesetzt, dass eine genügend geimpften Kindern8) letztendlich die in verschiedenen Regionen der Schweiz hohe Durchimpfungsrate erreicht wird) und Voraussage einer Abnahme der wohnten, fanden Heininger et al. eine Sero- auch zur Unterdrückung der Erhaltung des Gürtelrose ermöglichen, zeigt eine prävalenz von 96,5% (95% CI: 95,7– Immunschutzes durch wiederholte Virus- Modellhochrechnung zu den Folgen 97,4%)17). Diese Beobachtung wurde durch exposition; zweitere führt zur Erhaltung der nach genereller Kleinkindesimpfung, jene von Aebi et al. im Kanton Bern be- Virusverbreitung und der Bevölkerungs- dass nach Einführung der generellen stätigt: die Seroprävalenz bei Kindern zwi- immunität. Die Erhaltung dieser Immunität Impfung mit genügend hoher Durch- schen 12 und 16 Jahren war 96,1% (95% ist sehr wichtig: sie verhindert die Reakti- impfungsrate, um die Verbreitung CI: 93,7–98,5%)18). vierung des nach primärer Varizellenerkran- des Wildvirus zu unterbinden, eine kung in den posterioren Ganglienzellen la- Epidemie von Gürtelrose 50% der Schweregrad tenten Varizella-Zoster-Virus. Tatsächlich Bevölkerung von 10 bis 44 Jahren Der Schweregrad von Varizellenerkrankun- wurde nachgewiesen, dass Erwachsene, (ungeimpft!) betreffen und 50 Jahre gen kann in der Schweiz nur durch die Er- welche regelmässigen Kontakt mit Kindern andauern würde14). Eine solche hebungen von Hospitalisationen bewertet haben, ein vermindertes Risiko für Gür- Epidemie wäre durch die fehlende werden. Die jährliche Anzahl pädiatrischer telrose haben (relatives Risiko 0,75)14). Die- periodische Erneuerung des Hospitalisationen wegen Varizellen wird auf se Beobachtung wird auch durch die Fest- Impfschutzes verursacht, welche bis- 7019) bis 77 (Extrapolation auf 12 Monate stellung eines verminderten Gürtelrose- her durch den wiederholten Kontakt der von der Swiss Pediatric Surveillance risikos bei japanischen Kinderärzten ge- der Bevölkerung mit dem Wildvirus Unit zwischen April und September 2000 stützt. möglich war. erhobenen Daten20)) geschätzt. Die Mehr-
Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 25 heit dieser Hospitalisationen (zwischen den Kanton Waadt eine Varizelleninzidenz Die Prävention von «gewöhnlichen» Vari- 5021) und 5820)) sind durch Varizellen per se von 0,04% während der Schwanger- zellen beim gesunden Kind ist wegen des motiviert. Bei den verbleibenden handelt schaft24). Diese Zahl ist vergleichbar mit gutartigen Verlaufes nicht prioritär. Aller- es sich um Varizellen, welche im Verlauf denjenigen von internationalen Beobach- dings könnte sie aufgrund sozioökonomi- einer anders motivierten Hospitalisation tungen und erlaubt eine Inzidenz von 32 scher Gründe gerechtfertigt werden, wie auftreten. Erstere sind bei immunkompe- Fällen pro Jahr zu prognostizieren. Die Ri- dies in den USA wegen grosser Fallzahlen tenten Kindern etwas häufiger (3420)) als siken einer Varizellenerkrankung während (kranke Kinder mit zur Pflege des Kindes bei immungeschwächten (2420) bis 2721)). der Schwangerschaft sind dreifach: er- «immobilisierten» Eltern) der Fall ist. Die Bei immunkompetenten Kindern ist die höhter Schweregrad für die Mutter (Er- Varizellenkomplikationen beim gesunden häufigste Komplikation, die zur Hospitali- wachsenenrisiko erhöht durch die Schwan- Kind sind zu selten und insgesamt eher sierung führt, eine transitorische Zerebel- gerschaft), kongenitales Varizellensyndrom gutartig, als dass daraus um jeden Preis litis (75%), selten eine haemorrhagische und perinatale Varizellenerkrankung. eine Präventionsforderung abgeleitet wer- Form oder eine kutane Superinfektion22). den könnte. Sehr schwere Verläufe sind extrem selten. Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz? Welche Strategie müssen wir wählen, Varizellenerkrankung in der Schweiz: um unsere Ziele zu erreichen? Standortbestimmung bei Erwachsenen Diese Frage beinhaltet drei verschiedene Die Strategie einer generellen Impfung des Aspekte, welche nacheinander diskutiert Kleinkindes würde die Prävention aller Die Inzidenz von Varizellen bei Erwachse- werden: Komplikationen in allen Altersgruppen er- nen wird auf zirka 9600 Fälle pro Jahr ge- möglichen. Jedoch sind nicht alle darin ent- schätzt16). Diese relativ kleine Fallzahl ge- 1. Was wollen wir betreffend Varizellen haltenen Ziele bei uns prioritär. Zudem neriert jedoch gleichviele Hospitalisationen verhindern? sind die Ungewissheiten, welche mit den (7019)) wie die sehr grosse Fallzahl bei Kin- 2. Welche Strategie müssen wir wählen, Bedingungen und Folgen einer generellen dern. Daraus lässt sich für Erwachsene ein um diese Ziele zu erreichen? Impfung verbunden sind (siehe oben), 25-mal grösseres relatives Risiko für 3. Wie wird die gewählte Strategie gross genug, um diese Strategie nicht ge- eine Hospitalisation als bei Kindern be- praktisch durchgeführt? radewegs zu wählen. rechnen. Verwendet man die Zahlen der medizinischen Abteilungen des CHUV Was wollen wir betreffend Varizellen Die Strategie einer generellen Impfung der (ausser Gynäkologie-Gebur tshilfe) und verhindern? Adoleszenten wäre ausreichend, eines der extrapoliert diese auf die gesamte Schweiz, Wegen der genannten epidemiologischen Ziele, die Prävention von Varizellen beim Er- ergibt dies folgende Resultate: 7,6 Fälle Beobachtungen ist es berechtigt, Varizel- wachsenen und der Folgen auf Fötus oder von Meningitis pro Jahr, 1,6 Enzephalitis, len beim Erwachsenen im Allgemeinen, Neugeborenes bei Varizellen während der 26,6 Pneumopathien, 3,8 andere Kom- und bei Schwangeren im Speziellen, vor- Schwangerschaft, zu erreichen. Die Präven- plikationen, 30,4 Hospitalisationen ohne beugen zu wollen. Gründe sind der höhe- tion von Varizellen bei immungeschwäch- Varizellenkomplikationen. In der CHUV-Ka- re Schweregrad in dieser Altersgruppe und ten Kindern verlangt die Beibehaltung einer suistik betrifft die Mehrheit der Erwach- die oft schweren fötalen oder neonatalen selektiven Impfung von Patienten dieser senenhospitalisationen im Zusammen- Komplikationen ohne verfügbare adäqua- Kategorie. hang mit Varizellen (89%) Personen im te Behandlung. Die Prävention von Vari- Alter von 16 bis 49 Jahren23). Die Beob- zellen beim immungeschwächten Kind ist Schlussfolgernd kann festgestellt werden, achtungen des Departements für Gynä- wegen des Potenzials eines sehr bösarti- dass die generelle Impfung der Adoles- kologie-Geburtshilfe des CHUV ergeben für gen Verlaufes unverzichtbar. zenten und die Beibehaltung der selektiven
Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 26 Impfung die beste Strategie ist, die ge- In diesem Zusammenhang bestehen die sen der Personen zwischen 9 und steckten Ziele zu erreichen. nachstehend ausgeführten drei Möglich- 18 Jahren negativ oder unsicher keiten, welche in Tabelle 1 zusammenge- sind25), würde diese Methode zu Wie wird die gewählte Strategie fasst sind. Die angegebenen Zahlen be- 11 200 Impfungen führen. Die Wahr- praktisch durchgeführt? ziehen sich auf eine Jahreskohorte von scheinlichkeit einer falsch positiven Wie bereits erwähnt, ist ein ausreichender 80 000 Präadoleszenten (entsprechend Anamnese ist 2% und diejenige Impfschutz nur durch die Verabreichung den Geburten pro Jahr in der Schweiz). einer falsch negativen 74%25), was von zwei Impfdosen bei Personen von 13 zu 1400 verpassten Impfmöglich- und mehr Jahren erreichbar. Vorzugsweise 1. Systematische serologische keiten und zu 8300 nicht notwendi- ist deshalb das Zielalter auf die Präado- Kontrolle der Präadoleszenten und gen Impfungen führen würde. Trotz leszenten (10–12 Jahre) auszurichten, da Impfung der seronegativen Personen der Kombination von verpassten in diesem Alter eine einzige Dosis genügt. (Variante «alleinige Serologie»). Impfmöglichkeiten und unnötigen Dies ist durchaus möglich, da Seropräva- Diese Methode hat den Vorzug, Impfungen hat diese Vorgehensweise lenzstudien zeigen, dass der maximale An- dass die Impfung nur den Personen den Vorzug der Einfachheit teil von seropositiven Personen (> 96%) im (3200) angeboten wird, die sie tat- und wurde deshalb in Deutschland Alter von 10 Jahren erreicht wird und Jah- sächlich benötigen. Allerdings beruht vor wenigen Monaten eingeführt. re über dieses Alter hinaus konstant sie auf einer sehr grossen Anzahl bleibt18). von Blutentnahmen (80 000) mit 3. Systematische Anamnese (mit den daraus resultierenden Kosten, den Müttern!), serologische Kontrol- Obwohl es sich um eine generelle Impfung Diagnoseproblemen und Fehler- le der Personen mit unsicherer oder handelt, kann es nicht in Frage kommen, möglichkeiten. negativer Anamnese, anschliesend alle Präadoleszenten systematisch zu Impfung der tatsächlich seronegati- impfen, wenn man bedenkt, dass minde- 2. Systematische Anamnese (mit ven Präadoleszenten (Variante stens 96% Varizellen bereits vor der Imp- den Müttern!) und Impfung der «Anamnese und Serologie»). fung durchgemacht haben dürfen17) 18). Das Präadoleszenten ohne gesicherte Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Problem ist daher, die 4% Präadoleszenten Anamnese für Varizellen (Variante unsichere oder negative Anamnese zu identifizieren, welche Varizellen vor dem «alleinige Anamnese»). serologisch bestätigt wird, ist 26%25). Alter von 10 Jahren noch nicht gehabt ha- Zieht man in Betracht, dass in der Diese Vorgehensweise würde zu ben! Schweiz 14% der Varizellenanamne- 2900 Impfungen von Präadoleszen- ten führen. Diese Variante ist ge- Tabelle 1: Anzahl Interventionen je nach Methode nauer als Variante 2, weil die unnöti- zur Indentifikation der Impfkandidaten gen Impfungen vermieden würden. Allerdings würde sie ebenfalls Anzahl Impfungen Anzahl Tests wegen falsch positiven Anamnesen zu 1400 verpassten Impfmöglich- durchgeführt unnötig verpasst durchgeführt unnötig keiten pro Jahr führen. Zudem ist alleinige Serologie 3200 — — 80 000 76 800 sie wegen der mehrschichtigen Entscheidungsebenen komplexer. alleinige Anamnese 11 200 8300 1400 — — Andererseits würde diese Methode, da nur auf die tatsächlich notwendi- Anamnese & Serologie 2900 — 1400 11 200 — gen Impfungen ausgerichtet, wahr-
Formation continue / Fortbildung Vol. 14 No. 1 2003 27 scheinlich positiv von Eltern ange- denen Varianten vergleichen, werden zur- nommen werden, welche die Anzahl zeit erarbeitet. Auch das Ausmass der Ak- Impfungen limitieren möchten. zeptanz der Varianten bei den praktizie- renden Ärzten, Kinderärzten und Allge- Die Anzahl Interventionen, welche mit je- meinmedizinern muss evaluiert werden. Es der dieser Varianten assoziiert ist, wird in ist zudem von Bedeutung hervorzuheben, Tabelle 1 zusammengefasst. Es wird klar dass der behandelnde Arzt mit seiner verdeutlicht, dass die drei Vorgehenswei- Kenntnis von persönlicher und Familien- sen sich in ihrer Anwendungseinfachheit anamnese am besten in der Lage ist, die und ihrer Genauigkeit die Kandidaten zu Folge einer falsch positiven Anamnese zu identifizieren unterscheiden. So ist die «korrigieren» und damit die verpassten erste Variante («alleinige Serologie») die ge- Impfungen zu reduzieren. naueste Methode, da alle Präadoleszenten geimpft würden, die eine Impfung wirklich Referenzen bräuchten – und nur solche. Anderseits 1) Centers for Disease Control. Prevention of varicella: Recommendations of the Advisory Committee on Im- beinhaltet diese Variante die kompli- munization Practices (ACIP). MMWR 1996; 45: 1–36. zierteste Logistik. 2) Archives Glaxo SmithKline. 3) Zerboni L & al. J Infect Dis 1998; 177: 1701–4. 4) Johnson CE & al. Pediatr Res 1992. 31; 165A (Abst 977). Die einfachere zweite Variante («alleinige 5) Clements DA. Infect Clin North Am 1996; 10: 617–29. Anamnese») würde ihr Ziel erreichen, in- 6) Ozaki T & al. Vaccine 2000; 18: 2375–80. 7) Asano Y & al. Pediatrics 1994; 94: 524–6. dem sie 98% der noch nicht immunen Prä- 8) Black S & al. ESPID 2002; abst. 9) Vaquez M & al. N Eng J Med 2001; 344: 955–60. adoleszentenpopulation impfen würde. Hin- 10) Clements DA & al. Pediatr Infect Dis J 1999; 18: gegen würden jedes Jahr 1400 Jugendli- 1047–50. 11) Sweward JF & al. New Eng J Med 2002; 287: 606–11. che nicht immun ins Erwachsenenalter 12) Lim YJ & al. Arch Dis Child 1998; 79: 478–80. 13) Weibel R & al. N Eng J Med 1984; 310: 1409–15. kommen und somit mit der Zeit ein ge- 14) Brisson M & al. Vaccine 2002; 20: 2500–7. wichtiges Kontingent von anfälligen Per- 15) Halloran ME. Infect Dis Clin North Am 1996; 10: 631–56. sonen darstellen. 16) Zwahlen M & al. In Rapport Sentinella 1998. OFSP 1999. 17) Heininger U & al. Pediatr Infect Dis J 2001; 20: 775–8. Die dritte Methode («Anamnese und Sero- 18) Aebi C & al. Vaccine 2001; 19: 3097–103. 19) Statistiques VESKA/H+ 1993–1996. logie») ist ein Mittelweg bezüglich Kom- 20) Heininger U & al. Bull OFSP 2001; N° 36: 656. plexität der Logistik und Genauigkeit. Sie 21) Extrapolation à la Suisse de la casuistique du CHUV- HEL 1999–2000. würde das Ziel einer Immunisation der Prä- 22) Statistiques CHUV-HEL 1999–2000. 23) Statistiques CHUV 1991–2001. adoleszentenpopulation gleich gut, aber 24) Dr Y. Vial, communication personnelle. nicht besser wie die zweite Variante er- 25) Baer G & al. ICAAC 2001; abst G-1549. reichen. Bernard Vaudaux, Lausanne Claire-Anne Siegrist, Genève Zum jetzigen Zeitpunkt ist die für die Übersetzung: Pietro Scalfaro, Lausanne Schweiz adäquateste Variante noch nicht bestimmt. Besonders der finanzielle As- Korrespondenzadresse: pekt muss auch berücksichtigt werden. Die Dr B. Vaudaux Av. de la Gare 7, 1003 Lausanne Studien, welche die Kosten der verschie- E-Mail: bernard.vaudaux@bluewin.ch
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