Geschichte und Zukunft der Psychotherapie - Referat bei der Einführungsveranstaltung IVV KURS 8 24. September 2011 - Philipps-Universität Marburg
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Geschichte und Zukunft der Psychotherapie F. Mattejat Referat bei der Einführungsveranstaltung IVV KURS 8 24. September 2011
Berühmte Prognoseirrtümer (Kircher, 2010) „In fünf Jahren wird keiner mehr vom Auto reden, ich setze auf´s Pferd.“ (Kaiser Wilhelm II, zur Erfindung des Automobils) „Das Fernsehen wird sich auf keinem Markt, den es erobert hat, länger als sechs Monate halten können. Die Leute werden es bald leid sein, jeden Abend auf einen Sperrholzkasten zu starren.“ (Daryl F. Zanuck, Direktor der 20th Century Fox, 1946) Es gibt keinen Grund, warum ein Mensch einen Computer zu Hause haben sollte.“ (Ken Olsen, Präsident von Digital Equipment, 1977)
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Geschichte der modernen Psychotherapie 50 Jahre Forschung Begründung der modernen Aufklärung, 100 Jahre Psychotherapie Psychiatrie und Psychologie Menschenrechte 1800 1900 2000 1850 1950
Aufklärung + Menschenrechte • 1776 Unabhängigkeitserklärung und Proklamation der Bill of Rights • 1781: Kant: Kritik der reinen Vernunft; 1784: „Was ist Aufklärung?“ • 1775-83 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg • 1789 Französische Revolution - Der Sturm auf die Bastille
Ausgehendes 18. Jahrhundert • 1774 F.A. Mesmer führt eine erfolgreiche Behandlung mit einem Magneten an Fräulein Österlin durch (Mesmerismus). • 1777 Beginn der empirischen Psychologie: Nikolaus Tetens - Messungen zu Nachempfindungen • 1777 Goethe führt auf dem Straßburger Münster bei sich selbst eine Konfrontationsbehandlung durch. • 1779 Erster deutsche Lehrstuhl für Pädagogik: Ernst Christian Trapp an der Universität Halle. • 1783 Karl Philipp Moritz: Magazin der Erfahrungsseelenkunde • 1793 Pinel: Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten. • 1800 Pestalozzi (franz. Ehrenbürger) gründete er Erziehungsinstitut im Schloss Burgdorf. (Hauptwerk: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt). Kindheit als eigenständiger Lebensabschnitt.
• 1774 F.A. Mesmer führt eine erfolgreiche Behandlung mit einem Magneten an Fräulein Österlin durch (Mesmerismus). • 1777 Beginn der empirischen Psychologie: Nkolaus Tetens führt Messungen zu Nachempfindungen durch. • 1777 Goethe führt auf dem Straßburger Münster bei sich selbst eine Konfrontationsbehandlung durch. • 1783 Karl Philipp Moritz: Magazin der Erfahrungsseelenkunde • 1793 Pinel: Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten.
Die Jahrhundertwende • 1893 „Vorläufige Mitteilungen über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene “ von Freud und Breuer (1899: „Die Traumdeutung“) • 1896 Gründung der ersten „psychologischen Klinik“ und Begründung der klinischen Psychologie durch Lightner Witmer • 1897 Pawlow veröffentlicht seine Entdeckung von den bedingten Reflexen (1904: Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin) Der Preis wird seit 1901 jährlich von der Nobelversammlung des Karolinska Institutet in Stockholm an denjenigen verliehen, der im vergangenen Jahr „die wichtigste Entdeckung in der Domäne der Physiologie oder Medizin gemacht hat“. 1901: Erster Preisträger Emil Adolf von Behring *1854, † 1917 (Beh. d. Diphterie).
Bergstrasse 19 im IX. Wiener Bezirk
Die letzten 50 Jahre: Die psychopharmakologische Revolution: 1952 Entdeckung der Neuroleptika
Die letzten 50 Jahre in Deutschland • 1952 Psychopharmakologische Revolution: Entdeckung der Neuroleptika • 1964 „Neurosen-Urteil“ des Bundessozialgerichts: „Seelische Störungen – neurotische Hemmungen, die der Versicherte ... aus eigener Kraft nicht überwinden kann, sind eine Krankheit (BSGE 21, 189). • 1965 „Berliner AOK-Studie“ von A. Dührssen & E. Jorswieck; Eine empirisch-statistische Untersuchung zur Leistungsfähigkeit psychoanalytischer Behandlung; Nervenarzt, 36, 1965, S. 166-169-. • 1967 Erste Psychotherapie-Richtlinien: Psychoanalyse/ Tiefenpsychologie werden krankenkassen-abrechenbar.
Die letzten 50 Jahre in Deutschland • 1975: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (Psychiatrie-Enquete) • 1976: Multiaxiales Klassifikationsschema • 1980: Beginn des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung. • 1991: ICD-10-F (Psychisch): Konsens zur diagnostischen Klassifikation. Deskriptiv; störungs- statt krankheitsorientiert; Konzept der Komorbidität. • 1980: Einbeziehung der Verhaltenstherapie in die Leistungen der Ersatzkassen. Im Jahr 1986 wird die Verhaltenstherapie auch als Leistung in die übrigen gesetzlichen Kassen aufgenommen. • 1999: Das Psychotherapeutengesetz tritt in Kraft.
Stadien der Psychotherapieforschung: Meilensteine Vorempirisches Stadium (1. Hälfte des 20. Jahrhunderts): a) Wirksamkeit wird unterstellt, aber nicht überprüft b) Vorstellung, dass die Wirksamkeit der Psychotherapie nicht experimentell überprüft werden kann. Allgemeine Wirksamkeit (1955 – 1995): a) Ist Psychotherapie wirksam? b) Welche Art der Psychotherapie (welche Schule) ist wirksam? Spezifische Wirksamkeit (1985 - heute): a) Welche Methode hilft bei welcher Störung? What works for whom? Störungsspezifische Behandlung b) Was wirkt? Was sind die Wirkfaktoren der Psychotherapie? Allgemeine/generische Psychotherapie
EST-Ansatz, störungsspezifische Therapie und Leitlinien: „Was hilft bei welchem Problem?“ / „ What works for whom?“ Bereich Kinder und Jugendliche Für die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügen wir über störungspezifische Behandlungsprogramme deren Wirksamkeit in kontrollierten Studien nachgewiesen wurde. Der EST-Ansatz hat zur Entwicklung von störungsspezifischen Leitlinien und Therapiemanualen geführt.
Kritik des EST-Ansatzes: Die zwei Hauptkritikpunkte • Das Problem der Einseitigkeit „Achse I + Technik“: Einseitige Überbetonung der Achse-I-Diagnose und der Therapietechniken / Prozeduren („Checklistentherapie“); Vernachlässigung von anderen Aspekten wie z.B. Funktionsniveau und Lebensqualität, Familien- und Umweltfaktoren, Therapiemotivation, Therapiebeziehung, flexible Anpassung des Vorgehens an individuellen Fall. • Das Problem der klinischen Repräsentativität „Keine- echten-Therapien“: RCTs sind zwar intern valide (d.h. sie erlauben Aussagen über die Κausalität) sie sind aber nicht auf die Versorgungsrealität generalisierbar; d.h. die externe Validität ist mäßig bis gering.
Wirksame psychosoziale Behandlungsmethoden für die häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter: Systematische Auswertung von 112 Metaanalysen und systematischen Reviews (2000-2007) [Bachmann et al., 2009] Depressive Kognitiv-behav. und interpersonale Interventionen mit/ohne Störungen Elterntraining/Familienmanagement. ØES: Klein bis mittel. Nicht hinreichend geklärt, ob Elterneinbezug einer ausschließlich 9 MA kindbezogenen Beh. überlegen ist (evtl. altersabh.) Angst- Kognitiv-behaviorale Interventionen mit/ohne störungen Elterntraining/Familienmanagement. ØES: Mittel bis hoch. Zur Wirksamkeit des Elterneinbezugs sind die Ergebnisse divergent 6 MA (alters- und störungsabhängig; Beisp. Schulverm.) ADHS Behaviorale Elterntrainings. ØES: Klein bis mittel (bei großer Bandbreite). 9 MA Effekte auf Kernsympt. eher gering; Effekte auf internalisierende und oppositionelle Begleitsymptome höher. Störungen Kinder: Elterntraining. Sehr gut bestätigt. ØES: Klein bis mittel. des Sozial- Jugendliche: Mehrdimensionale/multisystemische Eltern-Kind- oder verhaltens Familieninterventionen (z.B. multisystemische Therapie; Funktionale 6 MA Familientherapie). ØES: Mittel.
Nachgewiesene Wirksamkeit psychotherapeutischer Kontakte in der „normalen“ Versorgung Ergebnisse aus dem KJP-Projekt [Bachmann et al., ; World Psychiatry, 2010] Depressive Kognitiv-behav. und interpersonale Interventionen mit/ohne Störungen Elterntraining/Familienmanagement. Kein Effekt ØES: Klein bis mittel. Nicht hinreichendnachweisbar geklärt, ob Elterneinbezug einer ausschließlich 9 MA kindbezogenen Beh. überlegen ist (evtl. altersabh.) Angst- Kognitiv-behaviorale Interventionen mit/ohne störungen Elterntraining/Familienmanagement. ØES: Mittel bis hoch. Wirksam Zur Wirksamkeit des Elterneinbezugs sind die Ergebnisse divergent 6 MA (alters- und störungsabhängig; Beisp. Schulverm.) ADHS Behaviorale Elterntrainings. ØES: Klein bis mittel (bei großer Bandbreite). Wirksam 9 MA Effekte auf Kernsympt. eher gering; Effekte auf internalisierende und oppositionelle Begleitsymptome höher. Störungen Kinder: Elterntraining. Sehr gut bestätigt. ØES: Klein bis mittel. des Sozial- Jugendliche: Mehrdimensionale/multisystemische Kein Effekt Eltern-Kind- oder verhaltens Familieninterventionen (z.B. multisystemische Therapie; Funktionale nachweisbar 6 MA Familientherapie). ØES: Mittel.
Wo stehen wir heute? Was hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Therapie inhaltlich verändert? • ICD / DSM – Klassifikation . • Für die meisten diagnostischen Gruppen liegen evidenzbasierte Behandlungsprogramme mit Manualen vor. Überwiegend kognitiv-behaviorale Methoden. • Für die meisten Störungsbilder gibt es prinzipiell wirksame psychotherapeutische Methoden. In der realen Versorgung allerdings sind noch Effektivitätsverbesserung notwendig. • Die Rollenverteilung zwischen Patienten/Familien und Ärzten/Psychotherapeuten hat sich sehr stark verändert. Autoritär Partnerschaftlich. Aufklärung/Psychoedukation hat einen hohen Stellenwert, ebenso die aktive Steuerung der Therapie durch Patienten und Angehörige. • Bedeutung der Psychotherapieschulen hat sich relativiert.
Wie geht es weiter? Beispiel: Die „dritten Welle“ in der Verhaltenstherapie Die Methoden und Ansätze der „dritten Welle“ der Verhaltenstherapie beziehen sich auf Störungen, die mit den bisherigen Methoden nur unzulänglich erreicht wurden (chronische Depressionen, GAD, Persönlichkeitsstörungen, PTSD) In der dritten Welle werden Anregungen aus sehr unterschiedlichen Traditionen aufgegriffen (Köpertherapie, humanistische Therapien, psychodynamische Ansätze, Meditationstechniken) Erste kontrollierte Studien zeigen Überlegenheit bei spezifischen Symptomen (z.B. Grübeln, Selbstverletzungen), im Bereich Patientenbindung und bei chronischen Problemen; die Studien zeigen niedrige Drop-out Raten bei schwierigen Patientengruppen und positive Ergebnisse bei der therapeutischen Beziehung.
Entwicklungstrends bei den Psychotherapie- Methoden • Integration von sehr unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen und Traditionen; Systematisierung und explizite Manualisierung. • Beschäftigung mit Problemkonstellationen, bei denen nur schwer oder kaum Erfolge erreichbar waren (z.B. Persönlichkeits- störungen, Bindungsstörungen, dissoziale Störungen) • Lösung von der starren Fixierung auf diagnosenspezifische Programme (Transdiagnostische Konzepte) • Aufschlüsselung der Einzelkomponenten von Behandlungsprogrammen und Fokussierung auf dysfunktionale Prozesse.
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Anzahl der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Psychotherapeutinnen und Psychothertapeuten in Deutschland Quelle: Bundesarztregister der KBV (Depressive Erkrankungen [Gesundheitsberichterstattung - Themenhefte, September 2010] Wittchen et al Heft 51 - Depressive Erkrankungen http://www.gbe-bund.de) Anzahl Anzahl Ende 2004 Ende 2008 Psychologische Psychotherapeutinnen und - 12.389 13.023 therapeuten Ärztliche Psychotherapeutinnen und - 3.734 4.908 therapeuten die überwiegend… Kinder- und 2.533 2.987 Jugendlichenpsychotherapeutinnen und - therapeuten Ärztliche Psychotherapeutinnen und - 8.408 -- therapeuten die Psychotherapie in unterschiedlichem Umfang … Summe 18.655 20.918 (Anstieg in 4 Jahren um 12.13%) (27.064)
Relation Frauen: Männer: 3 : 1 mit weiter steigender Ungleichverteilung
Psychotherapeutische Angebote in Kliniken und Beratungsstellen Gesundheitsberichterstattung 2008 • Gesamtzahl der psychotherapeutisch Tätigen in Beratungsstellen: 9550 Mitarbeiter. • Fachabteilungen für Psychotherapeutische Medizin und Psychiatrie, für Psychiatrie und Psychotherapie für Kinder- und Jugendpsychiatrie insgesamt 62.268 Betten - das entspricht 11,7 % der insgesamt verfügbaren Krankenhausbetten. Dazu kommen ca. 30.000 Betten in Krankenhäusern mit ausschließlich psychiatrischen, psychotherapeutischen oder neurologischen Betten.
Daten der Psychotherapeutenkammer Hessen aus: Ausbildungsbefragung Susanne Walz-Pawlita, Vorstand der LPPKJP Hessen: Zur Nachwuchs- und Ausbildungssituation Psychologischer Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Hessen 2007 Im Jahr 2008 haben 890 PP und 245 KJP ihre Ausbildung mit einer staatlichen Prüfung erfolgreich abgeschlossen. Jährlich schließen somit ca. 1000 Personen ihre Ausbildung ab.
Anzahl der Patientinnen und Patienten, die eine Psychotherapie erhielten • Statistischem Bundesamt: Im Jahr 2004 sind insgesamt 1.019.154 Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen (ICD-10 Diagnosen, F00 bis 99) in Krankenhäusern (SGB V § 39) behandelt worden [47] . • Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer nahmen im Jahr 2004 rund 1 Million Patientinnen und Patienten eine ambulante Psychotherapie in Anspruch • D.h. pro Jahr nehmen ca. 1 bis 2% der Gesamtbevölkerung eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch.
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Psychotherapeutische Versorgung [Gesundheitsberichterstattung - Themenhefte, Juni 2008]
Krankschreibungen Aus: Psychotherapeutenkammer Hessen: Neun Punkte für eine bessere Versorgung psychisch kranker Menschen. 23.03.2011 (Stellungnahme zum geplanten Versorgungsgesetz und zur Bedarfsplanung) • AU aufgrund körperlicher Erkrankungen nimmt ständig ab, steigt wg. psychischer Erkrankungen stark an. • Unipolare Depression: Krankheitskosten sind von 3,9 Mrd. Euro im Jahr 2002 auf 5,2 Mrd. Euro im Jahr 2008 angestiegen • Obwohl der Krankenstand insgesamt sinkt, ist eine kontinuierliche Zunahme der durch depressive Erkrankungen bedingten Arbeitsunfähigkeitstage zu verzeichnen. • Anteil der Krankschreibungen von Arbeitnehmern wegen psychischere Erkrankungen hat sich seit 1990 nahezu verdoppelt. • Heute gehen rund 11% aller Fehltage auf psychische Störungen zurück.
Prozent der AU-Tage aufgrund von psychischen Erkrankungen an allen AU-Tagen Aus: Psychotherapeutenkammer Hessen: Neun Punkte für eine bessere Versorgung psychisch kranker Menschen. 23.03.2011 (Stellungnahme zum geplanten Versorgungsgesetz und zur Bedarfsplanung)
Kinder und Jugendliche: Epochale Veränderungen (Rutter & Smith, 1995) • Seit dem Ende des 2. Weltkrieges bis in die späten 80iger Jahre lässt sich in fast allen entwickelten Ländern ein bedeutsamer Anstieg von psychischen und psychosozialen Störungen bei Kindern und Jugendlichen feststellen; dieser Anstieg war relativ neu (keine Fortführung von vorherigen Trends) • Störungsbilder: Kriminalität, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit, Depressionen, Essstörungen, suizidales Verhalten. Trend zu immer jüngeren Altersgruppen; Trend zur Konvergenz von Jungen und Mädchen. • Für die Erklärung kommen viele Faktoren in Betracht: Schnelle ökonomische Entwicklung, höherer Wohlstand; Veränderung der Familienbedingungen (Scheidungen, Disharmonie); Veränderung der Jugendkultur; Veränderung moralischer Werte.
ADHS (F90) in einer Inanspruchnahmepopulation über einen Zeitraum von 23 Jahren (1983-2005) Inanspruchnahmepopulation der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg 1983-2005: 34.834 Behandlungsepisoden; 19.234 Patienten n = 1.727 Patienten mit der Diagnose ADHS (=8,97%) Prozentualer Anteil der Patienten mit ADHS 1983 2005
Welche Diagnosen sind im Fokus der Fachleute? 2005 1995 1985 1975
Welche Diagnosen sind im Fokus der Fachleute? 2005 1995 1985 1975 Anorexie Schizophrenie (McD)
2005 1995 1985 1975 HKS, ADHS statt McD Anorexie Schizophrenie (McD)
2005 1995 Borderline 1985 Trauma / PTSD Bindungsstörung Tourette Syndr. 1975 HKS, ADHS statt McD Anorexie Schizophrenie (McD)
2005 Asperger 1995 Depression Bipolare Störung Gewalttätigkeit Soziale Probleme mit Misshandl. Borderline 1985 PTSD Bindungsstörung Tourette Syndr. 1975 HKS, ADHS statt McD Anorexie Schizophrenie (McD)
Epochale Veränderungen in den letzten 20 Jahren • Seit den 90iger Jahren bewegen sich die epidemiologischen Zahlen bei Kindern und Jugendlichen auf einem sehr hohen Niveau. Bei psychischen Störungen insgesamt sind keine eindeutigen Veränderungen mehr feststellbar, aber bei einzelnen Störungsbildern (z.B. schulbezogene Störungen). • Es ist aber eine sehr starke Zunahme in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Nachfrage und Inanspruchnahme festzustellen. Dieser Trend ist bei einzelnen Störungsbildern ´(PTSD) besonders deutlich. • Insbesondere bei Problemen wie z.B. ADHS, Legasthenie, schulbezogenen Störungen, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens, Borderline-Störungen, PTSD ist der Behandlungsbedarf deutlich gestiegen.
Epochale Zeittrends Time Trends in Psychopathology. A 21-Year Comparison from Germany Eimecke et al., 2011 1,4 Estimated Means 1,2 1 0,8 Boys Girls 0,6 0,4 0,2 0 1987 2008 Year Interaction Effect for year x sex concerning the CBCL - DSM-Oriented Scale Somatic Problems. Estimated Means Resulting from MANCOVA (p < 0.05, two-tailed).
Psychische Auffälligkeiten / psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) [Robert-Koch-Institut, 2007] Kinder u. Jug. zw. 7 und 17 J.: n=2942; SDQ-Elternbericht und zus. Verfahren Depression Angst ADHS Störungen des Sozial- verhaltens Jungen 5,4% 10,1% 2,9% 7,9% Mädchen 5,3% 10,0% 1,4% 7,2% Niedriger Sozialstatus 7,3% 12,9% 3,7% 11,3% Mittlerer Sozialstatus 5,5% 10,1% 2,3% 7,1% Hoher Sozialstatus 3,8% 8,0% 0,9% 5,7% Insgesamt 5,4% 10,0% 2,2% 7,6% Insgesamt: 17,8 % der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren und 11,5 % der gleichaltrigen Mädchen zeigen psychische Auffälligkeiten oder wurden als »grenzwertig« auffällig identifiziert.
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Barrieren in der psychotherapeutischen Versorgung (Gesundheitsbericht 2008) • Psychische Störungen in der Primärversorgung werden bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten nicht erkannt. Etwa 20 bis über 35 % der Patientinnen und Patienten in der hausärztlichen Primärversorgung weisen behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen auf. Es wir nur die Hälfte der psychischen Störungen als solche diagnostiziert. • Behandlungsbedürftige und -willige Patientinnen und Patienten müssen vor dem Antritt einer Psychotherapie in der Regel längere Wartezeiten und Beantragungsverfahren in Kauf nehmen, was es ihnen erschwert, zeitnah einen geeigneten Behandlungsplatz zu finden. • Nur die Hälfte aller anfragenden Patientinnen und Patienten erhalten probatorische Sitzungen (erste diagnostische Gespräche) und nach den probatorischen Sitzungen wird nur 61 % ein ambulanter Psychotherapieplatz angeboten. Patientinnen und -patienten mit chronischen Schmerzen sowie mit Suchterkrankungen werden besonders häufig nicht in Behandlung genommen.
Depressive Erkrankungen [Gesundheitsberichterstattung - Themenhefte, September 2010] Wittchen et al Heft 51 - Depressive Erkrankungen http://www.gbe-bund.de Hegerl U, Pfeiffer T (2003) Das Kompetenznetz Depression, Suizidalität. Hausarzt Kolleg Neurologie Psychiatrie 1: 62 bis 65
Ergebnisse der Bella-Studie (übernommen von Ravens-Sieberer, 2009)
Unter- und Fehlversorgung • Krasse Unterversorgung bei Erwachsenen ebenso wie bei Kindern: • Bei den Erwachsenen erhalten ca. 6-9% der Patienten eine suffiziente Behandlung. • Bei Kindern und Jugendlichen sind die Verhältnisse ähnlich: 7 bis 10 % der tatsächlich behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen erhalten eine Therapie. • Bedarf an Psychotherapie steigt weiter kontinuierlich an. • Aufrechterhaltung des jetzigen Versorgungsstatus erfordert Finanzmittel, die nicht zur Verfügung stehen. Von Kostenträgern werden kostengünstigere Versorgungsmodelle angestrebt. Hierbei ist zu berücksichtigen: (1) Kosten-Effektivität der Psychotherapie: Jeder Euro, der in Psychotherapie investiert wird, spart dem Gesundheitswesen 2 bis 4 Euro. (2) Da die Riskiofaktoren bekannt sind, ist ein Ausbau des Präventionsangebotes notwendig. (3) Erwachsene Menschen mit psychischen Störungen zeigen in der Regel schon als Kinder Auffälligkeiten. Die Therapie von Kindern und Jugendlichen hat somit einen präventiven Effekt. • Die Folgen psychischer Störungen sind offensichtlich. Die Optionen sind in der Politik bekannt; eine aktive und zielführende politische Steuerung ist schwer erkennbar.
Konferenz „Psychotherapy in Europe – Disease Management Strategies for Depression“ 23. Febr. 2010 • Referenten aus 9 europäischen Ländern; in den meisten Ländern eher schlechtere Versorgung, z.B. Frankreich: Massive Ungereimtheiten. Der Referenz Ph. Grosbois bezeichnete die französische Situation als „surrealistischen Ausnahmezustand“. • W. Cuijpers (Univ. Amsterdam, Holland): Stepped-care-Konzept • G. Glenys Parry (Univ. Sheffield, UK): Stepped-care-Programm. • J. Seikkula (Finland): Need-adapted Treatment.
Psychotherapy in the Netherlands (aus der Präsentation von Prof. Pim Cuijpers) • Paid for all people: – Brief psychotherapy in primary care – Psychotherapy in secondary care as part of a larger treatment package • Problem: – 14% increase in number of patients from 2000-2007 – Costs for mental health care have doubled between 2000-2010 • Stepped care and internet-based treatments are one solution
Stepped care (aus der Präsentation von Prof. Pim Cuijpers) Low-intensity treatments • Watchful waiting • Psycho-education • Advise on lifestyle and exercise • Guided (internet) self-help • Brief group courses • Brief face-to-face treatments in primary care High-intensity treatments • Face-to-face treatments • Referral to secondary care • Medication
What is guided self-help? (aus der Präsentation von Prof. Pim Cuijpers) • Psychological treatment, – where the patient or client takes home – a standardized psychological treatment – works through it more or less independently • Book, Internet, stand-alone computer, television, video, audio • Support by a professional therapist or coach – face-to-face, telephone, email, chat – support in working through the treatment
Die Zukunft der Gesundheitsversorgung Was sagen die Ökonomen? • Thesen (Auswahl) in „Gesundheitsversorgung 2020“ (Ernst & Young, 2005) – Weniger Staat, mehr Markt – Privatisiert: Das Faktische Ende der GKV – Von der Versorgungseinrichtung zur Marke. Vom Mediziner zum Dienstleister. • Im nächsten wirtschaftlichen Zyklus steht die ganzheitliche Gesundheit im Mittelpunkt. Gesundheit der Umwelt und des Menschen. Demnach werden wir einen Boom der Umwelttechniken und der Gesundheitswirtschaft erleben. (Dr. Ulrich Eberl, Leiter Technologie- und Innovationskommunikation, Siemens AG; Zeit 31. März 2011, S. 77). • Megamarkt Gesundheit: Wellness und selfness-boom; Gesundheit wird als Ware unter Lifestyle-Gesichtspunkten gekauft.
Deutschland Report 2035 (prognos, 2010) Der Anteil der Gesundheitsausgaben am privaten Konsum ist von 2008 bis 2008 um 17% angestiegen. Bis zum Jahr 2035 ist der stärkste Anstieg der privaten Konsumausgaben im Bereich Gesundheitspflege zu erwarten. (Wachstumsstärkster privater Konsumsektor).
Gliederung 1. Die Entwicklung der Psychotherapie 2. Die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten 3. Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und epochale Trends 4. Die psychotherapeutische Versorgung 5. Der gesellschaftliche Kontext
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (1) Hohe Komplexität einer globalisierten sozialen, kulturellen, technischen Umwelt: Globale Vernetzung, hohe Mobilität, Leben in multiplen Milieus, Plurarisierung und Individualisierung der familialen Lebensformen, informationelle Überforderung, extreme Beschleunigung (2) Keine eindeutigen normativen Orientierungen wie wir damit umgehen können, vielfältige und unfeste Werte (3) Wahrnehmung/Sensibilisierung für die damit verbundenen Probleme. Veränderungen in den gesellschaftlichen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Kommunikationsmustern
Unsicherheit in der Erziehung (Quelle: K. Hahlweg, 2009) • Eltern (Ja-Antworten) – Bin unsicher, ob ich meine Erziehungs- 68% aufgabe gut oder schlecht erfülle – Bin kein gutes Vorbild für junge Eltern 49% • Lehrerinnen und Lehrer – Fühlen Sie sich durch das Studium auf den Umgang mit hyperaktiven und aggressiven Kindern vorbereitet? • Studierende: 36% • Referendare: 17% • LehrerInnen: 2%
Veränderung in der Wahrnehmung und Bewertung: Sensibilisierung Beispiel Inobhutnahmen und Hintergründe • Es gibt in den letzten Jahren keine Hinweise auf einen Anstieg im Bereich von Misshandlungen und Tötungen von Kindern, aber eine erhöhte Aufmerksamkeit (Lernen aus probl. Verläufen, Fegert, 2009) • Im Jahr 2006 registrierte die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 1578 Fälle von Mord oder Totschlag von Kindern unter 16 Jahren und 3.639 Fälle von Misshandlung (Lernen aus probl. Verläufen, Fegert, 2009) • Die Zahl der Inobhutnahmen ist in den letzten Jahren stark angestiegen: Im Jahr 2008 wurden in Deutschland 32.300 Kinder in Obhut genommen; das sind pro Tag 89 Kinder. (vdL, Pressemittl., Sept. 2009) • Der Anlass für die Inobhutnahmen war Überforderung der Eltern (40-50%); bei 10-20% lag eine Vernachlässigung vor; bei rund 10 % eine Misshandlung (Lernen aus probl. Verläufen, Fegert, 2009)
Anstieg der registrierten Kindeswohlgefährdung (%) 2006: 77 Mill. € – 2007: 97 Mill. € (Anstieg um 19%) für vorläufige Schutzmaßnahmen (z.B. Inobhutnahmen) Im Jahr 2008: Inobhutnahmen: 32.300 Elterlicher Sorgeentzug (ESE): 12.500 Steigerung in % gegenüber Vorjahr Anträge auf ESE: 14.900 % Darstellung nach Hahlweg, 2009
Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung: Sensibilisierung • Kindestötung und Kindesmisshandlung • Sexueller Missbrauch • Gewalttätigkeiten • Traumatisierung, Traumafolgen ( Notfallpsychotherapie) • Kinder psychisch kranker Eltern
Eine Interpretation (1) Überforderung durch die Komplexität der Alltagsaufgaben; Traumatisierung durch außergewöhnliche Belastungen/Schädigungen (2) Verlust fester Normen und Orientierungen, Werte- und Bewertungsunsicherheit z.B. im Umgang mit Kindern (3) Sensibilisierung für psychische Probleme
Psychotherapie als zentrales soziokulturelles Deutungs- und Bewältigungsschema Der psychotherapeutische Diskurs als Modell für Problemlösungen und als die zentrale Möglichkeit, sich selbst und das Verhältnis zu sich selbst und zu anderen zu definieren
Individualisierung und Empathie Komplempentäre Grundtendenzen • Prozess der Individualisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „The value of the Individual“ (Weintraub) • „ist untrennbar mit der Entwicklung des empathischen Bewußtseins verbunden“ (Rifkin, 2010) • Titchener 1909 „empathy“ als Über- setzung von „Einfühlung“ (R. Vischer, 1873; Dilthey 1890)
Entwicklung des empathischen Bewußtseins • Autodafé (aus port. auto da fé von lat. actus fidei, Glaubensakt) bezeichnet die Vollstreckung eines Urteils der Inquisition • Grimmelshausen: Simplicius • Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat und die Ziehharmonika – Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau wurde in Deutschland im Jahr 1947 offiziell aufgehoben. 1958 trat nach heftigen Auseinandersetzungen das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. – In Deutschland wurden per Gesetz im Jahr 1998 „körperliche und seelische Misshandlungen“ von Kindern verboten („unzulässig“). – November 2000: §1631: Recht auf gewaltfreie Erziehung.
100 Jahre Psychotherapie ? Der Mensch im Konflikt zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip. Psychotherapie als Gesellschaftskritik und Emanzipation. Subversives Potential: Psychotherapie ein mehr oder weniger unwillkommener Störenfried, eine kritische Außendistanz. Der überforderte Mensch Psychotherapie als notwendige Lebenstechnik und Lebenskunst, um mit den alltäglichen Erfordernissen zurecht zu kommen. Affirmatives / subversives Potential ? Psychotherapie ist mitten in der Gesellschaft angekommen, ständig gerufen und selbst oft überfordert, z.B. beim Setzen von ethischen Maßstäben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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