Transition der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vom Jugendins Erwachsenenalter

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Fortbildung | „Artikel des Monats“

Transition der Aufmerksamkeitsde-
fizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
vom Jugend- ins Erwachsenenalter
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Wolfgang Retz , Sergiy Davydenko , Kim-Nina Kröher , Petra Retz-Junginger | Universitätsmedizin Mainz, Klinik für
                                   2
­Psychiatrie und Psychotherapie; Universitätsklinikum des Saarlandes, Neurozentrum, Homburg/Saar

Ein typischer Fall aus der Praxis               le, sich über längere Zeit auf das Gelese-      merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
Ein 24-jähriger junger Mann stellt sich auf     ne zu konzentrieren. Außerdem berichtet         störung (ADHS) um eine Entwicklungs-
Drängen der Eltern in der psychiatrischen       er, dass es zu Hause mit seinen Eltern oft      störung handelt, die in der Kindheit mit
Sprechstunde vor. Er berichtet von Prob-        Streit wegen seines geringen Durchhal-          Aufmerksamkeitsstörungen, motorischer
lemen in seiner Ausbildung und Befürch-         tevermögens und seiner Unzuverlässig-           Überaktivität und Merkmalen der Impul-
tungen, die Gesellenprüfung zum Zwei-           keit gebe. Er reagiere dann schnell wü-         sivität in Erscheinung tritt und über das Ju-
radmechaniker erneut nicht zu bestehen.         tend, denn er habe eben eine kurze Zünd-        gendalter hinaus oftmals auch im Erwach-
Obwohl er sich bemühe, den Anforderun-          schnur. Allerdings verrauche sein Zorn in       senenleben fortbesteht. Dennoch bleibt
gen gerecht zu werden, sei er bei der Ar-       der Regel auch immer wieder schnell und         ADHS in solchen Fällen auch heute noch
beit oft zu langsam, halte sich zu lange mit    er vertrage sich mit seinen Eltern im Grun-     in vielen Fällen unerkannt und unbehan-
Nebensächlichkeiten auf und habe Schwie-        de sehr gut.                                    delt. Erst langsam entwickelt sich bei All-
rigkeiten, Arbeitsaufträge selbständig zu           Anamnestisch ergibt sich, dass der          gemeinpsychiatern das Bewusstsein, dass
Ende zu führen. Nach seiner Darstellung        ­Patient bereits im Alter von 10 Jahren          es sich bei ADHS um eine psychische Stö-
lässt er sich bei der Arbeit leicht ablenken    auf Anraten der Klassenlehrerin von den         rung handelt, die nicht ausschließlich das
und verlegt oft sein Werkzeug; er hat auch      Eltern bei einem Kinder- und Jugend­            Kindes- und Jugendalter betrifft und mit
wenig Geduld und wirft schnell die Flinte       psychiater vorgestellt worden war. Dort         dem Erwachsenwerden ausheilt. Diese Er-
ins Korn, wenn ihm etwas nicht gelingt.                                                         kenntnis beruht im Wesentlichen auf Ver-
Die ständigen Beschwerden würden ihn                                                            laufsstudien, in denen sich herausgestellt
überdies belasten, und er müsse viel dar-        Die Kernsymptome der ADHS sind                 hat, dass sich die Symptome einer ADHS
                                                 unspezifisch. Aufmerksamkeitsstö-
über nachgrübeln, warum bei ihm so viel                                                         nur bei einem Teil der betroffenen Kinder
                                                 rungen, motorische Unruhe und im-
schiefgehe. In der Zwischenzeit leide er         pulsives Verhalten sind Phänome-
                                                                                                und Jugendlichen verlieren und AHDS in-
sehr unter Selbstzweifeln und er gehe nur        ne, die sehr häufig auch bei anderen           sofern eine relevante Differenzialdiagnose
noch wenig unter Leute.                          psychischen Störungen vorkommen.               bei psychischen Störungen im Erwachse-
   Nachdem er schon 2 Lehren abgebro-            Für die Diagnose wegweisend ist der            nenalter darstellt.
chen hatte, habe er sich bewusst für den         chronische Verlauf der Störung mit                 Nach den Verlaufsuntersuchungen bei
Beruf des Zweiradmechanikers entschie-           Beginn in der Kindheit.                        Kindern mit ADHS ist von einer Persistenz
den, da er handwerklich begabt und zudem                                                        der Störung in etwa 60 % der Fälle auszuge-
selbst die meiste Zeit mit seinem Moun-                                                         hen. Dies passt auch zu Querschnittsunter-
tainbike unterwegs sei. Er fühle sich am       wurde die Diagnose einer hyperkineti-            suchungen zur Prävalenz von ADHS, wo-
wohlsten, wenn er sich bewegen könne,          schen Störung gestellt. Zu einer Behand-         nach man bei Kindern und Jugendlichen
langem Sitzen und eintönigen Beschäfti-        lung war es bislang aber nie gekommen.           von einer Prävalenz von 4 bis 6 % und bei
gungen gehe er in der Regel aus dem Weg.                                                        Erwachsenen von einer ADHS-Prävalenz
Beim Spielen am Computer vergesse er al-       Einleitung                                       von 2 bis 4 % ausgehen kann [4, 9].
lerdings oft die Zeit, wogegen er kaum Zeit    Der oben beschriebene Fall macht exem-               Mit dem Begriff der Transition wer-
mit Lesen verbringe, da es ihm schwerfal-      plarisch deutlich, dass es sich bei der Auf-     den markante Veränderungen angespro-

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chen, die sich im Übergang von Kindern                 Tab. 1: Die Utah-Kriterien der ADHS im Erwachsenenalter [nach 18]
mit ADHS ins Jugendlichen- und schließ-
                                                       Aufmerksamkeitsstörung         ◾◾ Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu folgen
lich das Erwachsenenalter ergeben [17]. Im
                                                                                      ◾◾ Erhöhte Ablenkbarkeit
hier interessierenden Übergang vom Ju-
                                                                                      ◾◾ Vergesslichkeit
gend- ins Erwachsenenalter kommt in der
Regel eine Reihe von Veränderungen zum                 Motorische Hyperaktivität –    ◾◾ Unfähigkeit, sich zu entspannen
                                                       innere Unruhe
Tragen, die zum einen das Erscheinungs-                                               ◾◾ Unfähigkeit, längere sitzende Tätigkeiten durchzuführen
bild der ADHS selbst, zum anderen aber                                                ◾◾ Dysphorie bei Inaktivität
auch die Stellung des Patienten in und sei-            Affektlabilität                ◾◾ Rasche Stimmungswechsel
                                                                                      ◾◾ Kurz dauernde Verstimmungszustände, oft nur von
                                                                                         ­einigen Stunden Dauer
  Der Übergang vom Jugendlichen zum                    Desorganisiertes Verhalten     ◾◾ Unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten
  Erwachsenen mit ADHS ist charakte-
                                                                                      ◾◾ Aufgaben werden aufgeschoben oder nicht zu Ende
  risiert durch                                                                          ­gebracht
  ◾◾ Veränderungen im Erscheinungs-                    Affektkontrolle                ◾◾ Vermehrte Reizbarkeit, auch aus geringem Anlass
     bild der Erkrankung,                                                             ◾◾ Verminderte Frustrationstoleranz und kurze Wutausbrü-
  ◾◾ einen Umbruch der Rolle des Be-                                                     che
     troffenen in der Gesellschaft,                    Impulsivität                   ◾◾ Unterbrechen anderer im Gespräch
  ◾◾ veränderte Rahmenbedingungen                                                     ◾◾ Ungeduld
     der medizinischen Versorgung.                                                    ◾◾ Vorschnelle Entscheidungen
                                                                                      ◾◾ Spontane Einkäufe
                                                                                      ◾◾ Handlungsimpulse können nicht unterdrückt werden
ne Interaktion mit der Gesellschaft betref-
                                                       Emotionale Überreagibilität    ◾◾ Unfähigkeit, adäquat mit alltäglichen Stressoren umzu-
fen. Unter entwicklungspsychopathologi-                                                  gehen
schen Aspekten sind bei jungen Erwachse-                                              ◾◾ Gefühl der Reizüberflutung
nen mit ADHS Veränderungen der Symp-
tomatik der ADHS zu beachten, aber auch
Verschiebungen hinsichtlich der mit der               e­ rwachsenen und jüngeren Patienten be-          Weitere Besonderheiten der ADHS-
ADHS einhergehenden komorbiden psy-                    trifft die Abnahme der motorischen Über-      Symptomatik bei erwachsenen Patien-
chischen Störungen sowie der funktionel-               aktivität, die im Erwachsenenalter vor al-    ten betreffen nicht Veränderungen in der
len Auswirkungen der ADHS in verschie-                 lem in Form innerer Unruhe fortbestehen       Präsentation der Kernmerkmale nach
denen Lebensbereichen. Hieraus ergeben                 kann und vom Patienten als Ruhe- und          DSM und ICD, sondern das Hinzutreten
sich auch relevante Auswirkungen auf die               Rastlosigkeit, innerer Getriebenheit, oft     zusätzlicher typischer Krankheitsmerk-
Diagnostik und Therapie der ADHS, de-                  verbunden mit Einschlafproblemen am           male. Diesbezüglich wurden in den letz-
ren Behandlung sich in diesem Lebensab-                Abend geschildert wird. Viele Erwachse-       ten Jahren vor allem Beeinträchtigungen
schnitt von den Kinder- und Jugendpsy-                                                               der Emotionsregulation bei erwachsenen
chiatern und -medizinern auf Allgemein-                                                              ADHS-Patienten besondere Beachtung
psychiater und oftmals den Hausarzt ver-                Störungen der ­Emotionsregulation            geschenkt [11]. Die Forschungsergebnisse
                                                        sind typisch für Erwachsene mit
lagert. Im Folgenden sollen vor diesem                                                               weisen darauf hin, dass Beeinträchtigun-
                                                        ADHS, gehören aber nicht zu den
Hintergrund verschiedene Aspekte der                    ­diagnostischen Merkmalen nach
                                                                                                     gen der Affektregulation, der emotiona-
Transition von ADHS ins Erwachsenen-                     ICD-10 oder DSM-5.                          len Labilität und Stressintoleranz typische
alter angesprochen werden.                                                                           Merkmale der adulten ADHS darstellen.
                                                                                                     In diesem Zusammenhang sind die so-
Auswirkungen des Übergangs vom                        ne berichten diesbezüglich auch von einem      genannten Utah-Kriterien für ADHS bei
Jugend- ins Erwachsenenalter auf                      erheblichen Bewegungsbedürfnis, mit der        Erwachsenen hervorzuheben [18], die ne-
die Symptomatik der ADHS                              Folge, dass Aktivitäten, die zum längeren      ben den klassischen Syndromen Unauf-
Wie bei allen psychiatrischen Erkran-                 Stillsitzen zwingen, z. B. Kino-, Konzert-,    merksamkeit, Impulsivität und Hyperak-
kungen mit einer biographischen Dimen-                Theater- oder Opernbesuche, gemieden           tivität vier zusätzliche psychopathologi-
sion unterliegen auch die Symptome der                werden. Dagegen werden die Beeinträch-         sche Aspekte berücksichtigen (Tabelle 1).
ADHS entwicklungspsychopathologi-                     tigungen der Aufmerksamkeitsleistun-           Bei diesen handelt es sich um Stressinto-
schen Veränderungen [14]. Ein markanter               gen in allen Lebensaltern relativ stabil be-   leranz, emotionale Labilität und mangeln-
Unterschied der Symptomatik zwischen                  schrieben.                                     de Temperamentskontrolle, die als über-

Kinderärztliche Praxis 85, 364– 369 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de                                                                          365
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dauernde charakterliche Disposition das           breiter ist. In klinischen Stichproben sind        bis und anderen psychotropen Substanzen
Störungsbild der ADHS im Erwachsenen-             ca. 80 % der erwachsenen ADHS-Patienten            bis hin zu ausgeprägten Suchterkrankun-
alter prägen sowie Probleme hinsichtlich          von mindestens einer weiteren psychiatri-          gen trifft man in diesem Alter neben ei-
der Alltagsorganisation. Letztere treten          schen Störung betroffen. Mit zunehmen-             ner ADHS nicht selten an [12]. Aus Ver-
gegenüber der Situation bei Kindern und           der Dauer der ADHS besteht außerdem                laufsuntersuchungen ist auch bekannt,
Jugendlichen zunehmend in den Vorder-             das Risiko, dass sich psychische Störun-           dass Persönlichkeitsstörungen des Clus-
grund, da mit dem Erwachsenwerden die             gen, wie etwa Depressionen oder Suchter-           ters B, nämlich vor allem antisoziale, emo-
Komplexität des Lebensalltags zunimmt             krankungen, sekundär als Folge der jahre-          tional-instabile und histrionische Persön-
und in der Regel mit höhere Anforderun-           langen durch ADHS bedingten Frustratio-            lichkeitsmuster bei jungen Erwachsenen
gen an die Koordination beruflicher, fa-          nen und Erfahrungen von Versagen sowie             mit ADHS häufig anzutreffen sind [5]. Die
miliärer und gesellschaftlicher Pflichten         Beeinträchtigungen der sozialen Adaptati-          wichtigsten komorbiden Leiden bei ADHS
verbunden ist.                                    on entstehen. Im Verlauf können diese se-          im Erwachsenenalter ergeben sich aus Ta-
                                                  kundären Störungen eine eigene Dynamik             belle 2.
 Auswirkungen auf das Auftreten                   entwickeln und das klinische Bild unter
­komorbider psychischer Störungen                 Umständen sogar dominieren, sodass der             Auswirkungen des Übergangs vom
ADHS ohne zusätzliche, sogenannte ko-             Blick auf eine ADHS-Symptomatik ver-               Jugend- ins Erwachsenenalter auf
morbide psychische Störungen ist eher die         stellt sein kann. Hieraus ergibt sich oft die      den diagnostischen Prozess
Ausnahme. Im Kindes- und Jugendalter                                                                 Obwohl die im „Diagnostischen und Sta-
sind oppositionelle Störungen des Sozi-                                                              tistischen Manual Psychischer Störungen“
alverhaltens besonders häufig, aber auch             Bei Heranwachsenden mit Sucht­                  (Diagnostic and Statistical Manual of Men-
                                                     erkrankungen und affektiven
stärker ausgeprägte Störungen des Sozial-                                                            tal Disorders, DSM) der American Psych-
                                                     ­Störungen sollte wegen der häufigen
verhaltens, affektive, vor allem depressive           ­Komorbidität auch an das Vorliegen
                                                                                                     iatric Association und der „Internationa-
Störungen, Angststörungen, umschriebe-                 einer ADHS gedacht werden.                    len Klassifikation psychischer Störungen“
ne Lernstörungen und andere psychische                                                               der Weltgesundheitsorganisation (Inter-
Begleitstörungen sind bei vielen jungen Pa-                                                          national Classification of Diseases, ICD)
tienten anzutreffen [8]. Abhängig vom Le-         Notwendigkeit, komorbide Störungen in              aufgeführten diagnostischen Kriterien
bensalter der Patienten ist dabei mit unter-      Abhängigkeit von ihrer Ausprägung the-             der ADHS ursprünglich für die Diagno-
schiedlichen Konstellationen psychischer          rapeutisch vorrangig zu behandeln.                 se der Störung bei Kindern und Jugendli-
Störungen neben einer ADHS zu rechnen                Besonders häufig trifft man im Über-            chen entwickelt und erprobt worden sind,
[16]. Bei Erwachsenen ergibt sich das Pro-        gang vom Jugendlichen- zum Erwach-                 bilden sie auch die Grundlage für die Dia-
blem, dass das Spektrum komorbider psy-           senenalter auf affektive Störungen und             gnose bei erwachsenen Patienten. Im Um-
chischer Störungen im Vergleich zu Kin-           Angststörungen. Auch übermäßiger Al-               gang mit den DSM-Kriterien ist zu beach-
dern und Jugendlichen mit ADHS noch               koholkonsum, der Gebrauch von Canna-               ten, dass diese nicht, wie es in der Erwach-
                                                                                                     senenpsychiatrie selbstverständlich ist, auf
 Tab. 2: Die wichtigsten komorbiden Störungen bei Erwachsenen mit ADHS [nach 12]                     die Herausarbeitung psychopathologischer
                                                                                                     Phänomene durch die Schilderungen der
 Persönlichkeitsstörungen:                     bis ca. 35 % (Einzeldiagnose)
 ◾◾ Antisoziale PS                             Mehrfachdiagnosen sind häufig                         Patienten abzielen. Vielmehr handelt es
 ◾◾ Emotional instabile PS                                                                           sich um beobachtbare Verhaltensweisen,
 ◾◾ Selbstunsichere PS                                                                               die bei Kindern in der Regel durch Eltern,
 ◾◾ Zwanghafte PS                                                                                    Lehrer oder andere Personen aus dem un-
                                                                                                     mittelbaren Lebensumfeld zuverlässig ge-
 Alkohol- und Drogensucht                      bis 60 %
                                                                                                     schildert werden können. Bei erwachsenen
 Depressive Störungen                          bis 40 %                                              Patienten ist eine Befragung Dritter dage-
 Bipolare Störungen                            Unsicherheit bei bipolaren Störungen wegen
                                               methodischer Probleme und Überlappung der             gen oft nicht möglich, wenn es beispiels-
                                               Diagnosekriterien                                     weise an engen Bezugspersonen fehlt, oder
 Angststörungen                                ca. 20 %                                              eine solche verbietet sich, etwa wenn es um
                                                                                                     die Frage nach dem Verhalten einer Person
 „Restless Legs“-Syndrom                       ?, Schätzung ca. 5 %
                                                                                                     an ihrem Arbeitsplatz geht. Allerdings bie-
 Essstörungen                                  ca. 4 %, vor allem Frauen                             tet es sich an, wie bei anderen psychiatri-
 Verschiedene somatische, internistische       bis 50 % (Muskulatur/Skelett)                         schen Störungen bei erwachsenen Patien-
 Leiden                                        bis 40 % (gastrointestinale Störungen)                ten auch, im Rahmen des diagnostischen
                                               ca. 30 % (metabolische S., Respiration)
                                                                                                     Prozesses auch auf fremdanamnestische

366                                                                                Kinderärztliche Praxis 85, 364– 369 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de
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Angaben zurückzugreifen, um die Anga-
ben des Patienten zu ergänzen beziehungs-       Wesentliches für die Praxis . . .
weise zu untermauern. Dies betrifft insbe-      ◾◾ Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine
sondere auch Angaben zur psychischen Si-           ­Erkrankung, die sich im Kindesalter manifestiert und sich nur bei einem Teil
tuation des Patienten in dessen Kindheit,           der Betroffenen bis zum Erwachsenenalter zurückbildet.
da sich mancher erwachsene Patient mit          ◾◾ Bei etwa 60 % der Betroffenen persistiert die ADHS im Erwachsenenalter
der retrospektiven Darstellung ADHS-­              ­vollständig oder als Teilsyndrom.
typischer Symptome in der frühen Kind-
                                                ◾◾ Im Erwachsenenalter treten zur ADHS-Kernsymptomatik oft noch desor-
heit bisweilen schwertut, ohne deren Nach-         ganisiertes Verhalten, affektive Dysregulation und weitere psychiatrische
weis eine ADHS beim erwachsenen Pati-              ­Erkrankungen hinzu.
enten jedoch nicht gestellt werden kann.
                                                ◾◾ Hieraus entstehen oftmals beträchtliche Auswirkungen auf die Alltags­
In diesem Zusammenhang hat sich die                funktionen und die Lebensqualität der Betroffenen. Die entwicklungspsy-
Verwendung standardisierter Selbst- und            chopathologischen und Verlaufsaspekte der Erkrankung müssen bei der
Fremdbeurteilungsverfahren als sinnvoll            ­Diagnostik und Therapie im Erwachsenenalter berücksichtigt werden.
erwiesen, mit denen sich Informationen
                                                ◾◾ Um eine optimale Behandlung der Patienten mit ADHS in der kritischen
an erprobten Maßstäben zeitökonomisch              ­Lebensphase des Erwachsenwerdens zu gewährleisten, wäre eine engere
gewinnen lassen [10, 13].                           ­Verzahnung zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -medizin mit der
    Als problematisch erweist sich oftmals,          ­Allgemeinpsychiatrie wünschenswert.
dass allein durch den Wechsel der ärztli-       ◾◾ Auch ein engerer Erfahrungsaustausch zwischen den Fachdisziplinen könn-
chen Behandlung, der spätestens mit dem            te zu einer Verbesserung der bislang unzureichenden Versorgung von ADHS-­
Erreichen der dritten Lebensdekade des             Patienten jenseits des 18. Lebensjahres in der Allgemeinpsychiatrie beitragen.
Patienten verbunden ist, Informationen
über die bis dahin erfolgten diagnosti-
schen und therapeutischen Maßnahmen           len der Aufmerksamkeitsstörung und 9            kannt geblieben ist. Es fällt zudem erwach-
verloren gehen. Dies wirkt sich besonders     Merkmalen der Überaktivität und Impul-          senen Patienten mitunter deutlich leichter,
beim Vorliegen von Entwicklungsstörun-        sivität geblieben. Hilfreich für die Anwen-     Auskunft über ihre Probleme im fortge-
gen nachteilig aus, wenn der Patient erst     dung der Kriterien für Patienten verschie-      schrittenen Schulalter als in der Zeit vor
nach Jahren wieder in psychiatrische Be-      dener Lebensalter dürfte sich die Tatsache      dem 7. Lebensjahr zu berichten.
handlung gelangt, etwa wie in dem oben        erweisen, dass die Kriterien zum Teil um-
beschriebenen Beispiel. Es ist leider keine   formuliert, präzisiert und mit Beispielen       Auswirkungen des Übergangs vom
Seltenheit, dass ärztliche Unterlagen aus     angereichert wurden, so dass eine höhere        Jugend- ins Erwachsenenalter auf
der Kindheit der Patienten nicht mehr zur     Passgenauigkeit auch für Erwachsene mit         die Behandlung der ADHS
Verfügung stehen. Nur selten gelingt es zu-   ADHS erreicht wurde. Für die Diagnose           Wie bei Kindern und Jugendlichen mit
dem, die Behandlung eines heranwachsen-       einer ADHS jenseits des 17. Lebensjahres        ADHS wird für die Behandlung von er-
den Patienten in die Hände eines Erwach-      sind nunmehr allerdings nur noch 5 statt        wachsenen ADHS-Patienten keine alleini-
senenpsychiaters ohne Unterbrechung der       wie bisher 6 Merkmale eines Merkmals-           ge Behandlung mit Medikamenten emp-
Behandlungsmaßnahmen übergehen zu             bereichs notwendig, da sich in Studien          fohlen. Eine medikamentöse Behandlung
lassen.                                       gezeigt hatte, dass die funktionellen Be-       sollte nur in ein umfassendes Behand-
    Im Zusammenhang mit diagnosti-            einträchtigungen bei Anwendung dieser           lungskonzept eingebettet stattfinden. Al-
schen Fragen im Übergang des Jugend-          diagnostischen Schwelle nicht geringer          lerdings fehlt es bislang an ausreichender
alters zum Erwachsenenalter ist auf jüngst    sind als bei Anwendung der strengeren           Evidenz, die ein solches Vorgehen ausrei-
erfolgte Anpassungen der diagnostischen       diagnostischen Regel.                           chend stützt. Die für das Erwachsenenal-
Kriterien für ADHS im DSM-5 aufmerk-             Außerdem reicht nunmehr die Fest-            ter entwickelten Leitlinien unterstreichen
sam zu machen, mit denen gegenüber            stellung aus, dass ADHS-typische Symp-          insofern die Bedeutung der pharmakolo-
DSM-IV gewisse Korrekturen im Hin-            tome vor dem 12. Lebensjahr vorhanden           gischen Behandlung, die inzwischen auch
blick auf die Diagnose bei Erwachsenen        waren. Dies ist eine durchaus praxisrele-       bei erwachsenen Patienten vor dem Hin-
vorgenommen wurden [1]. Entgegen an-          vante Veränderung, da hierdurch auch in         tergrund mehrerer Metaanalysen rando-
fänglicher Diskussionen über die Erwei-       solchen Fällen die Diagnose einer ADHS          misierter, kontrollierter Behandlungsstu-
terung des Kriterien­b estandes um zu-        gestellt werden kann, wenn beispielsweise       dien als wirksam und sicher eingestuft
sätzliche typische psychopathologische        aufgrund intellektueller und peristatischer     wird [3, 7]. Mittel erster Wahl ist wie bei
Merkmale bei Erwachsenen mit ADHS             Kompensationsmechanismen die Störung            Kindern und Jugendlichen das Psychosti-
ist es letztlich wie bisher bei 9 Merkma-     im jüngeren Kindesalter zunächst uner-          mulanz Methylphenidat. Allerdings ist das

368                                                                         Kinderärztliche Praxis 85, 364– 369 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de
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Spektrum der in Deutschland zur Behand-                nings und oder auch Interventionen in der                            11. Retz W, Stieglitz RD, Corbisiero S, Retz-Junginger P, Rösler
                                                                                                                                M (2012) Emotional dysregulation in adult ADHD: What is
lung von ADHS-Patienten über 18 Jahren                 ­Familie und Schule durchgeführt werden                                  the empirical evidence? Expert Rev Neurother 12: 1241 – 1251
zugelassenen Präparate noch sehr klein,                 können. Für erwachsene Patienten stehen                             12. Retz-Junginger P, Sobanski E, Alm B, Retz W, Rösler M (2008)
                                                                                                                                Alters- und geschlechtsspezifische Besonderheiten der Auf-
sodass beispielsweise nur auf retardierte               zwischenzeitlich eine Reihe überwiegend                                 merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Nervenarzt
                                                                                                                                79: 809 – 819
Präparate zurückgegriffen werden kann.                  verhaltenstherapeutisch orientierter Be-                            13. Rösler M, Retz-Junginger P, Retz W, Stieglitz RD (2008) HA-
Andere Medikamente aus der Gruppe der                   handlungskonzepte zur Verfügung, die                                    SE – Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene. Hogrefe,
                                                                                                                                Göttingen
Psychostimulanzien sind – anders als für                als Einzel- oder Gruppentherapien ange-                             14. Schmidt S, Petermann F (2009) Developmental Psychopa-
die Behandlung von Kindern und Jugend-                  wendet werden können. Neben Psycho-                                     thology: Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHS).
                                                                                                                                BMC Psychiatry 9: 58
lichen – in Deutschland nicht zugelassen.               edukation und Coaching werden vor allem                             15. Stieglitz RD, Rösler M (2006) Diagnostik der Aufmerksam-
                                                                                                                                keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachse-
Alternativ kann nur der Noradrenalin-                 ­d ialektisch-behaviorale und kognitive­-                                 nenalter. ZPPP 54: 87 – 98
Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin                         verhaltenstherapeutische Strategien ein-                            16. Taurines R, Schmitt J, Renner T, Conner AC, Warnke A, Ro-
                                                                                                                                manos M (2010) Developmental comorbidity in attention-
verordnet werden.                                       gesetzt [2, 6]. Darüber hinaus ergänzen bei                             deficit/hyperactivity disorder. Atten Defic Hyperact Disord
    Bei der medikamentösen Behandlung                   erwachsenen Patienten auch Selbsthilfe-                                 2: 267 – 289
                                                                                                                            17. Welzer H (1993) Transitionen. Zur Sozialpsychologie bio-
von ADHS-Patienten ist im Hinblick auf                  gruppen das therapeutische Spektrum.                                    graphischer Wandlungsprozesse. Beltz, Tübingen
die Behandlungssicherheit mit zuneh-                                                                                        18. Wender PH, Tomb DA (2010) Attention-Deficit Hyperactivity
                                                                                                                                disoreder un adzults: an overview. In: Retz W, Klein RG
mendem Alter auf mögliche somatische                  Literatur                                                                 (Hrsg.) Attention-Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) in
                                                      1. American Psychiatric Association (2013) Diagnostic and                 adults. Karger, Basel, 1 – 37
Erkrankungen, insbesondere des kardio-                    statistical manual of mental disorders (5th ed.). American
vaskulären Systems zu achten, während                     Psychiatric Publishing, Arlington, VA
                                                      2. D‘Amelio R, Retz W, Philipsen A, Rösler M (2008) Psycho-
beispielsweise mögliche Auswirkungen                      edukation und Coaching ADHS im Erwachsenenalter. Urban            Korrespondenzadresse
auf das Längenwachstum keine Rolle mehr                   & Fischer, München                                                Prof. Dr. Wolfgang Retz
                                                      3. Ebert D, Krause J, Roth-Sackenheim C (2003) Leitlinien auf         Universitätsmedizin Mainz, Klinik für
spielen.                                                  der Basis eines Experten-konsensus mit Unterstützung der
                                                                                                                            Psychiatrie und Psychotherapie
                                                          DGPPN. Nervenarzt 74: 939–946
    Im Hinblick auf die hohe Belastung er-            4. Fayyad J, De Graaf R, Kessler R, Alonso J, Angermeyer M et         Untere Zahlbacher Straße 8
wachsener ADHS-Patienten mit komorbi-                     al. (2007) Cross-national prevalence and correlates of adult      55131 Mainz
                                                          attention-deficit hy-peractivity disorder. Br J Psychiatry 190:
den psychischen Störungen ist außerdem                    402 – 409
                                                                                                                            Tel.: 0 63 13/17 83 29
                                                                                                                            Fax: 0 63 13/17 66 90
darauf zu achten, dass diese ausreichend              5. Klein RG, Mannuzza S (2010) Comorbidity in adult attention-
                                                                                                                            E-Mail: wolfgang.retz@unimedizin-mainz.de
                                                          deficit hyperactivity disorder. In: Retz W, Klein RG (Hrsg.)
behandelt werden. Es bedarf immer der in-                 Attention-Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) in adults.
                                                          Karger, Basel, 126 – 143
dividuellen Entscheidung, ob gegebenen-               6. Matthies S, Hesslinger B, Philipsen A (2008) Verhaltens-
falls vor Beginn einer ADHS-spezifischen                  therapeutische Ansätze bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/
                                                          Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Psy-
Behandlung zunächst eine Therapie der                     cho-therapie 13: 203 – 210
Komorbidität vorangestellt werden sollte.             7. National Institute for Health and Care Excellence (NICE)
                                                          (2013) Attention deficit hyper-activity disorder: diagnosis
Dies ist beispielsweise bei akuten Sucht­                 and management of ADHD in children, young people and
                                                          adults. http://www.nice.org.uk/guidance/CG72
erkrankungen oder schweren depressiven                8. Pliszka SR (1998) Comorbidity of attention-deficit/hyper-
Störungen mit Suizidalität der Fall.                      activity disorder with psychiatric disorder: an overview. J
                                                          Clin Psychiatry 59 Suppl 7: 50 – 58
    Natürlich unterscheiden sich nicht­               9. Polanczyk G, deLima MS, Horta BL, Biederman J, Rohde LA
medikamentöse Interventionen bei der                      (2007) The world-wide prevalence of ADHD: a systematic
                                                          review and metaregression analysis. Am J Psychiatry 164:
­Behandlung junger erwachsener Patien-                    942 – 948

 ten mit ADHS erheblich von denen im                  10. Retz W, Retz-Junginger P, Römer K, Rösler M (2013) Standar-
                                                          disierte Skalen zur strukturierten Diagnostik der ADHS im
 Kindes- und Jugendalter, wo Elterntrai-                  Erwachsenenalter. Fortschr Neurol Psychiatr 81: 381 – 389

Kinderärztliche Praxis 85, 364– 369 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de                                                                                                                 369
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