Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten - Forderungen an Politik & Unternehmen - CorA ...

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Geschlechtergerechtigkeit
in globalen Lieferketten
Forderungen an Politik & Unternehmen
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IMPRESSUM

Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten
Forderungen an Politik & Unternehmen

Das Positionspapier wurde erarbeitet von:
Jana Borkenhagen, Gisela Burckhardt, Marek Burmeister, Heike Drillisch, Gertrud Falk,
Sepide Freitag, Gabriele Köhler, Maren Leifker, Benjamin Luig, Mara Mürlebach,
Carsta Neuenroth, Franziska Pflüger, Christa Randzio-Plath, Karolin Seitz

Redaktion: Karolin Seitz
Redaktionelle Mitarbeit: Vera Pokorny und Monika Hoegen
Gestaltung: Peer Neumann
Stand: Juli 2020

Herausgeber:

ASW - Aktionsgemeinschaft                     Brot für die Welt – Evangelisches Werk
Solidarische Welt e.V.                        für Diakonie und Entwicklung e.V.
Potsdamer Straße 89                           Caroline-Michaelis-Straße 1
10785 Berlin                                  10115 Berlin
mail@aswnet.de                                info@brot-fuer-die-welt.de
www.aswnet.de                                 www.brot-fuer-die-welt.de

CorA-Netzwerk für                             FEMNET e.V.
Unternehmensverantwortung                     Kaiser-Friedrich-Str. 11
Stresemannstr. 72                             53113 Bonn
10963 Berlin                                  info@femnet.de
info@cora-netz.de                             www.femnet.de
www.cora-netz.de

FIAN Deutschland e.V.                         Global Policy Forum Europe e.V.
FoodFirst Informations- & Aktions-Netzwerk    Königstraße 37a
Gottesweg 104                                 53115 Bonn
50939 Köln                                    europe@globalpolicy.org
info@fian.de                                  www.globalpolicy.org
www.fian.de

Entwicklungsprojekte für Frauen –             materra -Stiftung Frau &
MARIE-SCHLEI-VEREIN e. V.                     Gesundheit e.V.
Grootsruhe 4                                  Günterstalstraße 20
20537 Hamburg                                 79100 Freiburg
marie-schlei-verein@t-online.de               info@materra.org
www.marie-schlei-verein.de                    www.materra.org

Plan International                            TERRE DES FEMMES -
Deutschland e.V.                              Menschenrechte für die Frau e.V.
Bramfelder Str. 70                            Brunnenstr. 128
22305 Hamburg                                 13355 Berlin
info@plan.de                                  info@frauenrechte.de
www.plan.de                                   www.frauenrechte.de

TransFair – Verein zur Förderung des Fairen   WECF e.V. Deutschland
Handels in der Einen Welt e.V.                Women Engage for a Common Future
Remigiusstr. 21                               St.-Jakobs-Platz 10
50937 Köln                                    80331 München
info@fairtrade-deutschland.de                 annemarie.mohr@wecf.org
www.fairtrade-deutschland.de                  www.wecf.org/de

Das Positionspapier ist Teil eines Kooperationsprojekts zwischen dem Global
Policy Forum Europe und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, gefördert mit Mitteln des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Für
den Inhalt sind die Autor*innen allein verantwortlich.
Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten - Forderungen an Politik & Unternehmen - CorA ...
ZUSAMMENFASSUNG

       Frauen und Mädchen sind in besonderem Maße von den negativen
       Auswirkungen globalen Wirtschaftens betroffen. Ähnlich diskriminiert sind
       auch Menschen anderer Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung.
       Der Fokus des Papiers liegt jedoch auf Frauen und Mädchen wegen ihrer
       starken Präsenz in zahlreichen Lieferketten. Sie erfahren wirtschaftsbe-
       zogene Menschenrechtsverletzungen in anderer Weise als Männer. Die
       Gründe dafür reichen von diskriminierenden sozio-ökonomischen Struk-
       turen und Praktiken bis hin zu patriarchalen und an Klassenherkunft orien-
       tierten sozialen und kulturellen Normen.

       Die globale Corona-Krise und ihre Auswirkungen verstärken die in der
       Wirtschaft bestehenden Geschlechterungleichheiten und machen sie
       noch sichtbarer. Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben die beson-
       dere Rolle von Frauen und Mädchen in ihren Initiativen und politischen
       Debatten zur Vermeidung von wirtschaftsbezogenen Menschenrechtsver-
       letzungen bislang zu wenig beachtet. Eine Ausnahme bildet der im Juni
       2019 von der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen (UN) zu Wirtschaft und
       Menschenrechten veröffentlichte Leitfaden zur Gender-Dimension der
       UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.

       Um die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen
       global zu erreichen, sollten zukünftige politische Maßnahmen, ob auf inter-
       nationaler, europäischer oder nationaler Ebene, dringend die strukturelle
       Benachteiligung von Frauen in globalen Wertschöpfungsketten adres-
       sieren. Ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz ist der erste Schritt.
       Es bedarf einer grundsätzlich auf den Abbau von Diskriminierung ausge-
       richteten Perspektive.

       Staaten und Unternehmen sollten Maßnahmen ergreifen, die über einen
       do no harm-Ansatz, das heißt die Verhinderung und Milderung von Frau-
       enrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten, hinausgehen.
       Sie sollten Maßnahmen ergreifen, die eine grundlegende Transformation
       zur Verwirklichung der Rechte von Frauen fördern.

       Das Lieferkettengesetz muss gewährleisten, dass in allen Bereichen
       der menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflicht
       geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden:

       » Das Lieferkettengesetz sollte klarstellen, dass Unternehmen die in der
         UN-Frauenrechtskonvention genannten Rechte achten und sich in
         ihren Grundsatzerklärungen dazu bekennen müssen.

       » Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu verpflichten, bei
         ihren Risiko- und Folgeabschätzungen geschlechtsspezifisch vorzu-
         gehen. Dabei sollten sie insbesondere das Risiko von mehrfacher und

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Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten - Forderungen an Politik & Unternehmen - CorA ...
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              intersektioneller Diskriminierung; von sexualisierter und geschlechts-
              spezifischer Gewalt; die besonderen gesundheitlichen Herausforderungen für
              Frauen und Mädchen; sowie die besonderen Risiken, denen Frauen und Mädchen
              innerhalb des informellen Sektors und aufgrund der weltweiten Ungleichheiten
              bei der Sorgearbeit ausgesetzt sind, berücksichtigen.

            » Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu verpflichten, geschlechtsspezifi-
              sche Maßnahmen zu ergreifen, um negative Auswirkungen ihrer Tätigkeiten zu
              verhindern und im Schadensfall Abhilfe zu leisten. Unternehmen sollten durch
              ihre Geschäftsbedingungen, direkte Investitionen und Schulungsangebote sicher-
              stellen, dass ihre Geschäftspartner*innen in der Lage sind, die Menschenrechte
              einzuhalten und die Standards zur Gleichstellung der Geschlechter zu erfüllen.
              U.a. zu folgenden Maßnahmen sollten die Unternehmen verpflichtet werden:

                 • Die Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, dass Arbeitneh-
                   mer*innen am Arbeitsplatz vor sexualisierter und geschlechtsbasierter
                   Gewalt geschützt werden. Sie sollten Opfern von sexueller Gewalt Zugang
                   zu medizinischer, psychologischer und rechtlicher Versorgung gewähr-
                   leisten. Die Unternehmen sollten all ihre Geschäftspartner*innen zu einer
                   Null-Toleranz gegenüber Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz
                   verpflichten und Sensibilisierungs-Trainings anbieten.

                 • Unternehmen, die im Ausland produzieren lassen, sollten dazu verpflichtet
                   werden, die sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte ihrer
                   Angestellten als Aspekt des Arbeitsschutzes anzuerkennen und umfas-
                   sender zu berücksichtigen.

                 • Unternehmen sollten die Gewerkschaftsfreiheit und das Recht auf Kollek-
                   tivverhandlungen insbesondere auch von Arbeitnehmerinnen respek-
                   tieren und aktiv fördern.

                 • Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, auf familienfreundliche
                   Arbeitsbedingungen, Entgeltgleichheit und existenzsichernde Löhne
                   bei ihren Geschäftspartner*innen hinzuwirken und die Teilhabe an sozialen
                   Sicherungssystemen anzubieten, um der Ungleichheit bei der Sorgearbeit
                   entgegenzuwirken.

            » Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu verpflichten, die Wirksamkeit
              ihrer Maßnahmen anhand von geschlechtsspezifisch erhobenen Daten in
              Konsultation mit betroffenen Frauen, Frauenorganisationen und Expert*innen
              nachzuverfolgen.

04
Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten - Forderungen an Politik & Unternehmen - CorA ...
» Die Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, sichere und zugängliche
  Beschwerdemechanismen zu entwickeln, mit denen alle Arbeitnehmer*innen
  vertraut gemacht werden. Geschlechtsspezifische Hindernisse beim Zugang
  müssen berücksichtigt werden.

     • Die Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, von sexueller
        Gewalt betroffenen Frauen die erforderlichen Informationen über
        ihre Rechte zur Verfügung zu stellen, wobei geschlechtsspezifi-
        sche Hindernisse zum Zugang zu berücksichtigen sind.

     • Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt sollten durch Rechts-
        beratung unterstützt werden, und im Falle von Mitverantwortung
        sollte das Unternehmen dazu verpflichtet werden, Prozesskosten
        zu übernehmen sowie sich an Entschädigungszahlungen bei
        Rechtsverletzungen zu beteiligen.

Neben der Verabschiedung eines Lieferkettengesetzes sollte die
Bundesregierung weitere Maßnahmen ergreifen, um die Rechte von
Frauen im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte weltweit zu fördern:

» Die spezifischen Hindernisse, die Frauen beim Zugang zu Recht vor
  Gerichten erfahren, müssen berücksichtigt und abgebaut werden.

» Die Bundesregierung sollte sich für geschlechtsspezif ische
  Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen welt-
  weit einsetzen.

» Die Bundesregierung sollte die Stelle eines*einer Beauftragten für
  Wirtschaft und Menschenrechte einrichten, der*die das Thema der
  Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten besonders in
  seiner*ihrer Arbeit berücksichtigt.

» Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, sich für eine ideelle
  und finanzielle Anerkennung und eine faire Verteilung von Sorgear-
  beit weltweit einzusetzen, strukturellen Ungleichheiten mittels Gesetz-
  gebung entgegenzusteuern und faire Rahmenbedingungen weltweit
  zu fördern.

» Die Bundesregierung sollte weitere Maßnahmen gegen Steuerbetrug,
  Steuerhinterziehung und Schattenf inanzzentren verfolgen, damit
  Regierungen des Globalen Südens dringend benötigte Ressourcen für
  die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen zur Verfügung stehen,
  welche wesentlich für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischen
  Ungleichheiten sind.

                                                                              05
INHALT

     1 Hintergrund                                                                   07

       1.1     Mangelnde Berücksichtigung von Geschlechtergerechtigkeit
               durch die Bundesregierung                                             07
       1.2     Referenzen zu völkerrechtlichen Verträgen                             08
       1.3     Maßnahmen jenseits von do no harm                                     10

     2 Berücksichtigung von Geschlechtergerechtigkeit
       in einem Lieferkettengesetz                                                   11

       2.1     Grundsatzerklärung                                                    11
       2.2     Geschlechtergerechte Analyse                                          11
       2.2.1   Mehrfache und intersektionelle Diskriminierung                        11
       2.2.2   Risiko von sexualisierter und geschlechtsspezifischer
               Gewalt am Arbeitsplatz                                                12
               Fallbeispiel: Sexualisierte Gewalt in der indischen Textilindustrie   12
       2.2.3   Gesundheitsaspekte und ihre Auswirkung auf
               Frauen und Mädchen                                                    13
               Fallbeispiel: Arbeitsbedingungen auf Wein- und
               Zitrusfarmen in Südafrika                                             13
       2.2.4   Frauen und Mädchen im informellen Sektor                              14
       2.2.5   Rolle der Sorgearbeit                                                 15
       2.3     Geschlechtsspezifische Maßnahmen zur Prävention und Abhilfe           15
               Fallbeispiel: Frauen und Mädchen in der Rohstoffindustrie             16
       2.3.1   Null-Toleranz gegenüber sexualisierter und
               geschlechtsbasierter Gewalt                                           17
       2.3.2   Anerkennung sexueller und reproduktiver Gesundheit
               und Rechte als Teil des Arbeitsschutzes                               17
       2.3.3   Gewerkschaftsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen            18
       2.3.4   Maßnahmen gegen den Gender Care Gap                                   18
       2.4     Berichterstattung anhand nach Geschlecht erhobenen Daten              18
       2.5     Beschwerdemechanismen und Rechtshilfe                                 18

     3 Weitere Maßnahmen                                                             19

       3.1     Rechtszugang                                                          19
       3.2     Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen                             19
       3.3     Beauftragte*r für Wirtschaft und Menschenrechte                       19
       3.4     Förderung fairer Rahmenbedingungen für Sorgearbeit weltweit           19
       3.5     Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung                   19

               Literatur                                                             21

06
1. HINTERGRUND

Frauen und Mädchen sind in besonderem Maße                                    Um die Gleichstellung von Frauen und Männern
von den negativen Auswirkungen globalen Wirt-                                 in allen Lebensbereichen global zu erreichen,
schaftens betroffen. Sie erfahren wirtschaftsbe-                              sollten zukünftige politische Maßnahmen, ob
zogene Menschenrechtsverletzungen in anderer                                  auf internationaler, europäischer oder nationaler
Weise als Männer. Die Gründe dafür reichen von                                Ebene, dringend die strukturelle Benachteiligung
diskriminierenden sozio-ökonomischen Struk-                                   von Frauen in globalen Wertschöpfungsketten
turen und Praktiken bis hin zu patriarchalen und                              adressieren.
an Klassenherkunft orientierten sozialen und
kulturellen Normen.                                                           Dies gilt auch für das Lieferkettengesetz, dessen
                                                                              Verabschiedung die Bundesregierung im Koali-
Die globale Corona-Krise und ihre Auswirkungen                                tionsvertrag für den Fall zugesagt hat, dass die
verstärken die in der Wirtschaft bestehenden                                  freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen
Geschlechterungleichheiten und machen sie                                     nicht ausreicht.
noch sichtbarer.1 Die Internationale Arbeitsorga-
nisation (ILO) schätzt, dass die Corona-Krise mehr                            Ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz ist
als 25 Millionen Arbeitsplätze kosten könnte.                                 der erste Schritt. Es bedarf einer grundsätzlich
Frauen wird dies besonders treffen, da sie über-                              auf den Abbau von Diskriminierung ausgerich-
proportional am Anfang vieler globaler Wert-                                  teten Perspektive. Ein Lieferkettengesetz muss
schöpfungsketten und damit im informellen                                     zur Verwirklichung der Rechte aller Menschen
und Niedriglohnsektor vertreten sind. Dieser ist                              beitragen - unabhängig von ihrem Geschlecht,
gekennzeichnet von prekären Beschäftigungs-                                   Sexualität, Hautfarbe, Kaste, Migrationsstatus,
verhältnissen, mangelnden sozialen Sicherungs-                                Behinderung, sozialer Herkunft und Bildungs-
systemen und unzureichenden Arbeitsstan-                                      stand. Und es muss Unternehmen dazu anhalten,
dards.2 So wurden beispielsweise bereits mehr als                             diese Rechte zu respektieren.
eine Million Textilarbeiter*innen in Bangladesch
aufgrund stornierter Aufträge durch transnatio-                               Darüber hinaus bedarf es weiterer Maßnahmen,
nale Unternehmen entlassen.3 Fehlende soziale                                 die die Bundesregierung ergreifen und – in
Absicherungen bringen diese Frauen nun an den                                 Zusammenarbeit mit anderen Staaten – interna-
Rand des Existenzminimums.                                                    tional verankern sollte.

Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben
die besondere Rolle von Frauen und Mädchen                                    1.1 Mangelnde Berücksichtigung
in ihren Initiativen und politischen Debatten                                     von Geschlechtergerechtigkeit
zur Vermeidung von wirtschaftsbezogenen                                           durch die Bundesregierung
Menschenrechtsverletzungen bislang zu wenig
beachtet. Eine Ausnahme bildet der im Juni 2019                               Bisher sind die Maßnahmen der Bundesregie-
von der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen                                  rung zur Geschlechtergerechtigkeit im Bereich
(UN) zu Wirtschaft und Menschenrechten veröf-                                 Wirtschaft und Menschenrechte unzureichend.
fentlichte Leitfaden zur Gender-Dimension der                                 So zieht der deutsche Nationale Aktionsplan
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschen-                                Wirtschaft und Menschenrechte (NAP)5 Gleich-
rechte.4 Er stellt fest, dass Maßnahmen, die die                              stellungsfragen nicht ausreichend in Betracht.
Gleichstellung der Geschlechter ignorieren,                                   Hinsichtlich der Situation innerhalb Deutsch-
Gefahr laufen, Geschlechterungleichheiten noch                                lands geht der NAP nicht über die Erwähnung
zu verstärken.                                                                des Gesetzes für gleichberechtigte Teilhabe von
                                                                              Männern und Frauen in der Privatwirtschaft und
                                                                              im öffentlichen Dienst sowie die Bekämpfung

                                                                                                                                               >>>>
1. United Nations (2020). 2. International Labour Organization (2020). 3. Human Rights Watch (2020). 4. United Nations Human Rights Council (2019), Para-
graph 3. 5. Auswärtiges Amt (2017).

                                                                                                                                                            07
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     von Lohnungleichheit (Gender Pay Gap) hinaus.                                möglichst viele Unternehmen ein. Die Prinzi-
     Die Zielvorgaben, die sich die Bundesregierung                               pien wurden 2010 gemeinsam von UN Women
     für diese Vorhaben unter anderem mit der Deut-                               und dem Global Compact formuliert und bieten
     schen Nachhaltigkeitsstrategie gesetzt hat, sind                             Unternehmen einen Leitfaden dafür, wie sie die
     ambitionslos: der Frauenanteil in Aufsichtsräten                             Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz
     der börsennotierten und voll mitbestimmten                                   und in der Gesellschaft fördern können. Eine
     Unternehmen soll bis 2030 von zuletzt 28,4                                   Evaluierung anlässlich ihres 10-jährigen Beste-
     auf 30 Prozent steigen; der Verdienstabstand                                 hens hat allerdings ergeben, dass der Unter-
     (Gender Pay Gap) soll bis 2030 lediglich halbiert                            zeichnung der freiwilligen Prinzipien wenig Taten
     werden.6 Diskriminierung und sexualisierte                                   gefolgt sind.8 Wie auch bei anderen Menschen-
     Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz, die teils                               rechtsthemen besteht eine große Kluft zwischen
     enormen Ungleichheiten bei unbezahlter Sorge-                                der öffentlich propagierten Selbstverpflichtung
     arbeit (Gender Care Gap), bei Altersabsicherung                              der Unternehmen zur Einhaltung der Prinzipien
     (Gender Pension Gap) und Zeitverwendung für                                  und der tatsächlichen Unternehmenspraxis.9
     bezahlte und unbezahlte Arbeit (Gender Time
     Gap) werden nicht adressiert, obwohl sie für den
     Arbeitsalltag von Frauen auch in Deutschland                                 1.2 Referenzen zu völkerrechtlichen
     sehr relevant sind.7                                                             Verträgen

     Mit Blick auf die internationale Verantwortung                               Während einerseits die Gender-Dimension in den
     Deutschlands und die Maßnahmen, die Deutsch-                                 Debatten um Wirtschaft und Menschenrechte
     land im Rahmen der Entwicklungszusammenar-                                   vernachlässigt wird, gibt es auf der anderen Seite
     beit treffen will, erwähnt der NAP das Vorhaben,                             eine Vielzahl an völkerrechtlichen Verträgen und
     Partner in Entwicklungsländern dabei zu unter-                               Leitfäden, die konkret einfordern, Geschlechter-
     stützen, Diskriminierung und Gewalt gegen                                    gerechtigkeit zu berücksichtigen. Sie zeigen auch
     Frauen sowie andere kulturelle, gesellschaft-                                auf, wie dieser Forderung seitens des Staates und
     liche, wirtschaftliche und rechtliche Hürden                                 der Unternehmen nachgekommen werden kann
     für die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen zu                               und soll.10
     überwinden. Bis zum Jahr 2030 sollen ein Drittel
     mehr Frauen und Mädchen beruflich qualifiziert                               Eine zentrale Referenz für die völkerrechtliche
     werden.                                                                      Abbildung der Geschlechtergerechtigkeit in der
                                                                                  Wirtschaft ist das Menschenrecht auf menschen-
     Vollkommen zu kurz kommt allerdings die                                      würdige Arbeit (Artikel 23 der Allgemeinen
     Berücksichtigung von Gleichstellungsf ragen                                  Erklärung der Menschenrechte der Vereinten
     bei den Tätigkeiten der deutschen Wirtschaft                                 Nationen). Artikel 23 betont durch den Bezugs-
     jenseits der Landesgrenzen. Wie können die                                   terminus „Jeder Mensch“ die Gleichheit seiner
     negativen Auswirkungen deutschen Wirtschaf-                                  Adressaten im Lichte des Geschlechter- und
     tens gerade auch auf die Rechte von Mädchen                                  Minderheitenschutzes. Hinsichtlich des Rechtes
     und Frauen im Ausland abgebaut und zukünftig                                 auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit wird mit der
     verhindert werden? Wie kann das Bewusstsein                                  Formulierung „ohne Unterschied“ eine doppelte
     für diese Auswirkungen und Ungerechtigkeiten                                 Überbetonung unternommen.
     geschärft sowie die wirtschaftliche Unabhängig-
     keit von Frauen weltweit gestärkt werden? Die                                     „Jeder Mensch, ohne Unterschied,
     Bundesregierung erklärt im NAP, sie fördere aktiv                                hat das Recht auf gleichen Lohn für
     die Women’s Empowerment Principles (WEPs)                                                  gleiche Arbeit.“
     und setze sich für deren Unterzeichnung durch

     6. Vgl. auch Birkenkötter, Hannah/Köhler, Gabriele/Obenland, Wolfgang/Stock, Anke (2019). 7. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
     (2017). 8. UN Global Compact/BSR (2020). 9. Mohapatra/Gula (2020). 10. Einen detaillierteren Überblick über die einzelnen Allgemeinen Kommentare
     des UN-Frauenrechtsausschusses und ILO-Übereinkommen, die sich auf Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaft beziehen, gibt der Leitfaden der
08   UN-Arbeitsgruppe zu Wirtschaft und Menschenrechten „Gender-Dimension of the UN Guiding Principles on Business and Human Rights“.
Weltweit menschenwürdige Arbeitsbedin-                                  also alle Personen, Organisationen oder Unter-
gungen sind wesentlich für die Förderung der                            nehmen - davon abzuhalten, Frauen in jeglichen
Geschlechtergerechtigkeit in globalen Wert-                             Lebensbereichen zu diskriminieren.12 Über die
schöpfungsketten. Dabei bedeutet menschen-                              Jahre hinweg hat der UN-Fachausschuss zur
würdige Arbeit mehr als die Einhaltung von                              Kontrolle der Umsetzung des Übereinkommens
ILO-Kernarbeitsnormen. Das Menschenrecht auf                            mehrere Allgemeine Empfehlungen ausgespro-
menschenwürdige Arbeit umfasst:                                         chen, die sich auf Geschlechterungleichheiten
                                                                        und –diskriminierung im Berufsleben beziehen.
• Chance auf produktive Arbeit und ein
    gerechtes Einkommen;                                                Im Jahr 2017 hat der UN-Fachausschuss Deutsch-
•   Sicherheit am Arbeitsplatz;                                         land dafür kritisiert, seinen extraterritorialen Staa-
•   Soziale Absicherung für Familien;                                   tenpflichten nicht hinreichend nachzukommen.
•   Bessere Aussichten für die persönliche                              In seiner Kommentierung des kombinierten
    Entwicklung;                                                        siebten und achten periodischen Staatenbe-
•   Freiheit, Sorgen am Arbeitsplatz zu äußern und                      richts Deutschlands zur Umsetzung der Frau-
    sich gewerkschaftlich organisieren zu können;                       enrechtskonvention äußert sich der Ausschuss
•   Teilnahme an                                                        besorgt. Er bemängelt unter anderem die nega-
    Entscheidungsbildungsprozessen;                                     tiven Auswirkungen deutscher transnationaler
•   Chancengleichheit der Geschlechter in der                           Unternehmen, insbesondere von Textil- und
    Arbeitswelt, das heißt auch gleicher Lohn für                       großen Agrarkonzernen; die mangelnde Berück-
    gleiche und gleichwertige Arbeit und Sorge-                         sichtigung der Gender-Perspektive im Natio-
    Verantwortung der Unternehmen.                                      nalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschen-
                                                                        rechte; den begrenzten Zugang zu rechtlicher
Deutschland hat sich durch die Ratifizierung des                        Abhilfe für Frauen, deren Menschenrechte durch
Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale                     deutsche Unternehmen verletzt wurden, und
und kulturelle Rechte verbindlich zu diesen Prin-                       das Fehlen von Folgeabschätzungen vor Beginn
zipien verpflichtet.                                                    von Verhandlungen über internationale Handels-
                                                                        und Investitionsabkommen, die explizit Frauen-
Die bislang umfangreichste Anleitung für Staaten                        rechte berücksichtigen.13
und Unternehmen zur Berücksichtigung von
Gender-Aspekten hat die UN-Arbeitsgruppe für                            Auch die Internationale Arbeitsorganisation
Wirtschaft und Menschenrechte mit Veröffentli-                          (ILO) hat über die Jahre hinweg mehrere Stan-
chung ihres Berichts 2019 zur Verfügung gestellt,                       dards zur Geschlechtergerechtigkeit entwickelt,
in dem sie entlang jedes einzelnen Prinzips der                         so zuletzt im Juni 2019 das ILO-Übereinkommen
31 Leitprinzipien die Gender-Dimension und die                          190 gegen Gewalt und sexuelle Belästigung am
erforderlichen Maßnahmen zu deren Berücksich-                           Arbeitsplatz. Das Übereinkommen ist damit der
tigung darstellt.11                                                     erste internationale Vertrag, der das Recht aller
                                                                        Menschen auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und
Das im Jahr 1979 verabschiedete Überein-                                Belästigung festschreibt und Wege zur Verwirk-
kommen der Vereinten Nationen zur Beseiti-                              lichung aufzeigt. Die deutsche Bundesregierung
gung jeder Form von Diskriminierung der Frau                            hat zugesichert, das Übereinkommen zeitnah zu
(CEDAW, auch als „Frauenrechtskonvention“                               ratifizieren. Bereits seit 1996 gibt es das ILO-Über-
bezeichnet) verpflichtet die Vertragsstaaten                            einkommen 177 über Heimarbeit, das Vorgaben
dazu, angemessene Maßnahmen zu ergreifen,                               zu Arbeitsbedingungen und –rechten in ausge-
um nicht nur selbst nicht gegen den Gleichheits-                        lagerten Produktionsprozessen macht. Deutsch-
grundsatz zu verstoßen, sondern auch Dritte -                           land hat es noch nicht ratifiziert.

                                                                                                                                     >>>>
11. UNDP/UN Working Group on Business and Human Rights (2019). 12. United Nations General Assembly (1979), insbes. Artikel 2(e) und Artikel 11.
13. Committee on the Elimination of Discrimination against Women (2017), Para. 15.

                                                                                                                                                  09
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     Weitere Standards, zu deren Verwirklichung                                         1.3 Maßnahmen jenseits von do no harm
     sich die Staatengemeinschaft verpflichtet hat,
     sind die Pekinger Erklärung und Aktionsplatt-                                      Staaten und Unternehmen sollten Maßnahmen
     form (Beijing Declaration and Platform for                                         ergreifen, die über einen do no harm-Ansatz, das
     Action) zum Abschluss der vierten Weltfrauen-                                      heißt die Verhinderung und Milderung von Frau-
     konferenz 199514 und die Agenda 2030 für nach-                                     enrechtsverletzungen in globalen Wertschöp-
     haltige Entwicklung der Vereinten Nationen                                         fungsketten, hinausgehen. Sie sollten Maßnahmen
     und ihre 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung                                      ergreifen, die eine grundlegende Transformation
     (SDGs), insbesondere SDG5, SDG8, SDG10. 15                                         zur Verwirklichung der Rechte von Frauen fördern.
     Klima- und umweltpolitisch relevant für                                            Dazu gehören Maßnahmen, die die zugrunde-
     menschenwürdige Arbeitsbedingungen sind                                            liegenden diskriminierenden Machtstrukturen
     außerdem SDG13 und das Pariser Klimaüber-                                          verändern und ein Umfeld schaffen, in welchem
     einkommen.                                                                         Frauen auf gleichberechtigter Basis Zugang zu
                                                                                        allen Möglichkeiten haben und wirtschaftliche
     Neben den Women's Empowerment Prin-                                                Unabhängigkeit erlangen können. Dies beinhaltet
     ciples zeigen auch weitere auf Freiwilligkeit                                      beispielsweise menschenwürdige Arbeitsbedin-
     beruhende Handlungsanleitungen und Leit-                                           gungen und existenzsichernde Löhne für Frauen;
     linien wie die OECD Due Diligence Guidance                                         die Unterstützung von Frauen beim Zugang zu
     for Responsible Business Conduct16 und die                                         Führungspositionen in Unternehmen; die Förde-
     OECD Due Diligence Guidance for Responsible                                        rung der Lohngleichheit; angemessene Einrich-
     Supply Chains in the Garment and Footwear                                          tungen für die persönliche Hygiene; Maßnahmen
     Sector17 auf, wie Unternehmen Gender-Fragen                                        zur Achtung des Rechts auf sexuelle und repro-
     in ihre menschenrechtliche Sorgfalt integrieren                                    duktive Gesundheit und Selbstbestimmung;
     können.                                                                            Schutz vor Gewalt; Klima- und Umweltschutz;
                                                                                        sowie die Vermeidung von Gender-Stereotypen
                                                                                        bei Verkauf und Marketing von Produkten.

     14. United Nations (1995). 15. United Nations (2015). 16. OECD (2018). 17. OECD (2017).

10
2. BERÜCKSICHTIGUNG VON GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT
IN EINEM LIEFERKETTENGESETZ

Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu                                2.2 Geschlechtergerechte Analyse
verpflichten, menschenrechtliche und umwelt-
bezogene Sorgfaltspflichten einzuhalten. Dazu                                 Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu
gehört gemäß der UN-Leitprinzipien für Wirt-                                  verpflichten, bei ihren Risiko- und Folgeabschät-
schaft und Menschenrechte18                                                   zungen geschlechtsspezifisch vorzugehen. Dazu
                                                                              sollten sie Konsultationen mit potenziell betrof-
• eine Grundsatzerklärung zur Achtung                                         fenen Frauen, Frauenorganisationen, Gewerk-
    der Menschenrechte;                                                       schaften inklusive Gewerkschaftsf rauen und
• die Durchführung menschenrechtlicher                                        Menschenrechtsverteidigerinnen durchführen,
    Risikoanalysen und Folgeabschätzungen;                                    um tatsächliche oder potenziell negative Auswir-
•   das Ergreifen von Gegenmaßnahmen, um                                      kungen auf die Rechte von Frauen entlang der
    Beeinträchtigungen zu verhindern und                                      entsprechenden Lieferkette zu ermitteln. Dies
    bereits bestehende zu beenden, abzumil-                                   muss auch die Frauen, die im informellen Sektor
    dern und wiedergutzumachen;                                               arbeiten, einbeziehen. Zudem muss berücksich-
•   die Berichterstattung über die identifizierten                            tigt werden, dass Unternehmen möglicherweise
    Risiken und ergriffenen Maßnahmen;                                        unbeabsichtigt bestehende geschlechtsspe-
•   die Einrichtung von Beschwerdemecha-                                      zif ische Ungleichheiten gerade auch gegen-
    nismen, die Betroffene nutzen können.                                     über Frauen, die von Mehrfachdiskriminierung
                                                                              betroffen sind, durch ihre Aktivitäten verstärken.
Das Lieferkettengesetz muss gewährleisten,
dass in all diesen Bereichen geschlechtsspezi-                                In ihrer Analyse sollten Unternehmen unter
f ische Aspekte berücksichtigt werden. Denn                                   anderem die folgenden Risiken und Aspekte
für die Verwirklichung von Frauenrechten sind                                 berücksichtigen:
zwar in erster Linie die Staaten zuständig, doch
kommen sie dem aus verschiedenen Gründen oft                                  2.2.1      Mehrfache und intersektionelle
nur unzureichend nach. Unternehmen müssen                                                Diskriminierung
dafür Sorge tragen, dass sie sich mit ihrer Tätig-
keit nicht an den bestehenden Rechtsverlet-                                   Geschlechtergerecht auf die globalen Wert-
zungen beteiligen bzw. ihnen mit angemessenen                                 schöpfungsketten zu schauen bedeutet, diskri-
Maßnahmen begegnen.                                                           minierende Realitäten anzuerkennen. Nicht nur
                                                                              Frauen – das heißt, Personen, die als Frauen
                                                                              sozialisiert wurden und/oder sich als solche
2.1 Grundsatzerklärung                                                        identifizieren – sind besonders von den nega-
                                                                              tiven Auswirkungen unternehmerischer Prak-
Das Lieferkettengesetz sollte klarstellen, dass                               tiken betroffen. Auch Menschen, die sich als
Unternehmen als Teil der international aner-                                  lesbisch, schwul, bi, trans, queer oder inter iden-
kannten Menschenrechtsabkommen und ILO-                                       tifizieren (LGBTQI*), tragen häufig einen hohen
Kernarbeitsnormen die in der UN-Frauenrechts-                                 Schaden davon.20 Unreflektiertes unternehme-
konvention genannten Rechte achten und sich                                   risches Handeln kann bestehende Ausschluss-
in ihren Grundsatzerklärungen dazu bekennen                                   und Ausbeutungsstrukturen verschlimmern.
müssen. Unternehmen sollten die Gleichstellung                                Hinzu kommt, dass sich Diskriminierungsme-
der Geschlechter als Querschnittsaufgabe in alle                              chanismen häufig überlagern und verstärken.
Unternehmenspolitiken, Prozesse und Strategien                                Eine Person kann beispielsweise gleichzeitig von
integrieren.19                                                                Sexismus und Diskriminierung aufgrund ihrer
                                                                              sozialen Herkunft oder sozialen Position (sog.
                                                                              Klassismus) betroffen sein. Ein Beispiel für eine

                                                                                                                                                >>>>
18. United Nations (2011). 19. UNDP/UN Working Group on Business and Human Rights (2019), Prinzip 15 und 16. 20. Feminists for a Binding Treaty (2018).

                                                                                                                                                          11
>>>>

     solche Mehrfachdiskriminierung ist das Camp                                  FALLBEISPIEL
     Labour-System im südindischen Tamil Nadu: Hier                               Sexualisierte Gewalt
     werden Mädchen und junge Frauen aus unter-                                   in der indischen
     privilegierten, einkommensarmen Familien in                                  Textilindustrie
     Garn-Spinnereien regelrecht versklavt. 21 Auch
     Rassismus spiegelt sich in Lieferketten wider:
     Viele Unternehmen verlagern ihre Produktion
     gezielt in Länder mit niedrigen Löhnen und Sozi-
     alstandards. Häufig sind dies Länder im Globalen
     Süden. Arbeitsrechtliche Aspekte können so
     aus der eigenen Verantwortung ausgegliedert
     werden. Dies ist Teil einer globalisierten und –
     inzwischen als „normal“ und „marktgerecht“
     empfundenen – rassistischen Diskriminierung,
     die Arbeiter* innen im Globalen Süden nicht
     die gleichen Rahmenbedingungen menschen-
     würdiger Arbeit zugesteht, die in Deutschland
     gelten.22

     2.2.2     Risiko von sexualisierter und
               geschlechtsspezifischer Gewalt
               am Arbeitsplatz

     Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt                                     Indien ist zweitgrößter Exporteur von Textilien
     gehört zu den weltweit häufigsten Menschen-                                         und Bekleidung. Die Textilindustrie beschäftigt
     rechtsverstößen und erschüttert die Würde,                                          45 Millionen Inder*innen. 70 Prozent dieser
     Autonomie und Unabhängigkeit der Betrof-                                            Beschäftigten sind Frauen.24 Sie arbeiten
     fenen. Sie richtet sich vor allem gegen Frauen,                                     auf Baumwollfeldern, in Spinnereien und
     Kinder und LGBTQI*. Die Täter sind meist                                            Nähereien unter menschenunwürdigen
     Männer. Sexualisierte und geschlechtsspezif i-                                      Bedingungen und zu sehr geringen Löhnen.
     sche Gewalt ist Ausdruck ungleicher Machtbe-                                        Das Arbeitspensum ist hoch: der Druck, immer
     ziehungen zwischen den Geschlechtern. Rund                                          mehr und schneller in kürzeren Lieferzeiten zu
     35 Prozent aller Mädchen und Frauen über 15                                         produzieren, ist in allen Fabriken gewachsen.
     Jahren weltweit – 818 Millionen Frauen – haben                                      Die staatlich festgesetzten Mindestlöhne
     unter physischer und/oder sexueller Gewalt zu                                       reichen nicht zum Überleben, deshalb
     leiden.23 Zwischen 40 und 50 Prozent von ihnen                                      machen Frauen zahlreiche Überstunden,
     sind unerwünschten sexuellen Annäherungsver-                                        um ihre Familien ernähren zu können.
     suchen, körperlichen Kontakten oder anderen                                         Krankheitstage werden selten bezahlt.25
     Formen von sexueller Belästigung am Arbeits-
     platz ausgesetzt.                                                                   Die weiblichen Beschäftigten sehen sich
                                                                                         jedoch nicht nur mit diesen ungerechten
                                                                                         Bedingungen konfrontiert, sondern sind als
                                                                                         Frauen mehrfach von Diskriminierung und
                                                                                         Machtungleichheiten betroffen. Patriarchale
                                                                                         Gesellschaftsstrukturen zeigen sich auch

                                                                                         >>>>

     21. Anibel Ferus-Comelo (2016). 22. Tsing (2009). 23. World Health Organization/Department of Reproductive Health and Research/London School of Hygiene
     and Tropical Medicine/South African Medical Research Council (2013). 24. FEMNET (2020a). 25. Ebd.

12
>>>>
    in den Fabriken, weshalb Frauen als
    Beschäftigte besonders gefährdet sind,
    Opfer von Übergriffen durch männliche
    Vorgesetzte und Aufseher zu werden. Das
    Risiko von Misshandlungen, Schlägen,
    sexueller Belästigung, Beschimpfungen
    und Drohungen ist für Frauen im
    Vergleich zu Männern besonders hoch.26

    Die Geschlechtlichkeit spielt eine
    enorme Rolle für die Erfahrung von
    Ungleichheit und Diskriminierung
    am Arbeitsplatz. Geschlechtssensible
    Risiko- und Folgeabschätzungen
    würden helfen, die diskriminierenden
    Praktiken zu identifizieren und ihnen
    entgegenzuwirken. Eine Null-Toleranz                                    60-70 Wochenstunden, oft mit aufgezwungenen
    gegenüber Belästigung und Gewalt am                                     Überstunden. Ein Recht auf Gesundheitsversor-
    Arbeitsplatz, Sensibilisierungstrainings                                gung oder Zugang zu medizinischer Betreuung
    sowie verbesserter Zugang zu                                            während der Arbeitszeit existiert häufig nicht, so
    medizinischer, psychologischer                                          dass die Frauen gezwungen sind, ihre Gesund-
    und rechtlicher Versorgung für                                          heit zu vernachlässigen.
    Betroffene von sexualisierter Gewalt
    sind dringend notwendig, um
    Arbeiterinnen wirksam zu schützen.
                                                                            FALLBEISPIEL
                                                                            Arbeitsbedingungen
                                                                            auf Wein- und
2.2.3    Gesundheitsaspekte und                                             Zitrusfarmen in
         ihre Auswirkung auf Frauen                                         Südafrika28
         und Mädchen

Viele der Arbeitsgänge in den Sektoren mit
hohem Frauenanteil, beispielsweise in der
Textil- und Bekleidungs-, Elektronik- und                                          Die Produktion von Wein und der Anbau von
Nahrungsmittelindustrie, 27 sind besonders                                         Zitrusfrüchten gehören zu den wichtigsten
gesundheitsschädlich. Die Arbeit mit Pesti-                                        Exportzweigen der südafrikanischen
ziden auf Blumenplantagen, das Gerben oder                                         Landwirtschaft. Insbesondere Deutschland
Färben von Leder oder Stoffen oder das Löten                                       und die EU sind wichtige Zielmärkte. Die
von Mikrochips haben unmittelbare Auswir-                                          Arbeits- und Lebensbedingungen der
kungen auf die Gesundheit. Fabrikhallen sind                                       Arbeiter*innen in diesen Sektoren sind bis
häuf ig voller Staubpartikel, ohne Belüftung                                       heute tief geprägt von dem rassistischen
und oft ohne Toiletten. In manchen Betrieben                                       und patriarchalen Arbeitsregime aus
fehlen selbst minimale Sicherheitsvorkeh-                                          Apartheidszeiten. Vielfach lebten die Familien
rungen. Psychisch schädlich sind der enorme                                        aus den Coloured-Gemeinschaften als
Zeitdruck und exzessive Arbeitszeiten mit häufig
                                                                                                                                               >>>>

26. FEMNET (2020b). 27. Bamber/Staritz (2016). 28. Die folgenden Fallbeispiele werden in Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausführlicher dokumentiert
werden.

                                                                                                                                                          13
>>>>

     >>>>
     Arbeitskräfte in Unterkünften auf den                                         Eine weitere Dimension der massiven
     Farmen der weißen Landbesitzer.29 Die                                         Diskriminierung zwischen den
     weißen Farmer betrachteten nicht nur                                          Geschlechtern zeigte sich auf mehreren
     die männlichen Beschäftigten, sondern                                         Weinfarmen im Westkap, die auch für
     die Arbeiterfamilien im Ganzen als                                            den deutschen Weinmarkt produzieren.
     verfügbare Arbeitskrafteinheiten.30                                           Auf den Farmen werden eine Reihe
                                                                                   hochgefährlicher Pestizide verwendet,
     Diese Arbeitsteilung zwischen den                                             beispielsweise das Totalherbizid Paraquat,
     Geschlechtern führt bis heute zu                                              das von der Weltgesundheitsorganisation
     massiven Formen der Diskriminierung                                           als akut toxisch eingestuft wird
     am Arbeitsplatz, die gegen                                                    und in der EU verboten ist. Zudem
     südafrikanisches Arbeitsrecht ebenso                                          erhalten die Arbeiter*innen nach
     verstoßen wie gegen die freiwilligen                                          übereinstimmenden Aussagen keine
     Nachhaltigkeitsstandards, mit denen                                           ausreichende Schutzkleidung. Daher
     die Exportfarmen zertifiziert sind. Auf                                       besteht dort ein immer wiederkehrender
     mehreren Zitrusfarmen im Ostkap                                               Konflikt zwischen Management und
     des Landes berichten Arbeiterinnen,                                           Arbeiter*innen über die Frage, zu
     dass ihnen der bezahlte Mutterschutz                                          welchem Zeitpunkt nach Verwendung
     verwehrt wird. Sie setzen für die Zeit                                        von Pestiziden die Arbeiter*innen die
     der Schwangerschaft und der Geburt                                            Felder wieder betreten sollten. Während
     die Arbeit unbezahlt aus bis das Kind                                         die männlichen festangestellten
     sechs Monate alt ist. Danach nehmen                                           Arbeiter sich weigern, in den Stunden
     sie die Arbeit wieder auf, jedoch erhalten                                    danach die Felder wieder zu betreten,
     sie keine feste Anstellung. Für die                                           trauen sich die vor allem temporär
     Arbeiterinnen auf den untersuchten                                            beschäftigten weiblichen Arbeiterinnen
     Zitrusfarmen gibt es in der Regel keine                                       nicht, sich den Anweisungen des
     Toiletten. Sie müssen ihre Notdurft im                                        Managements zu widersetzen.
     freien Feld verrichten, was als äußerst
     entwürdigend empfunden wird.

     2.2.4      Frauen und Mädchen                                                   Ländern sind bis zu 90 Prozent der arbeitenden
                im informellen Sektor                                                Frauen im informellen Sektor tätig, sei es in der
                                                                                     Landwirtschaft, im Handel oder als Kleinunter-
     Weltweit sind zwei Milliarden Menschen –                                        nehmerinnen. In der Region Asien-Pazifik liegt
     61 Prozent der Beschäftigten - im informellen                                   der Anteil bei zwei Drittel, vorwiegend Heimar-
     Sektor tätig, davon 740 Millionen Frauen. 31 Das                                beiterinnen für die Bekleidungsindustrie.33
     globale Verhältnis überdeckt allerdings wich-
     tige Ungleichheiten und wird durch Zahlen der                                   Neben niedrigen Einkommen ist der infor-
     großen Länder wie China und Russland verzerrt.                                  melle Sektor davon geprägt, dass Sicherheit am
     Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil                                    Arbeitsplatz oder Arbeitszeitregelungen meist
     der informell beschäftigten Frauen gerade im                                    nicht gewährleistet sind. Sozialstandards wie
     Globalen Süden höher ist als der Anteil informell                               Absicherungen für den Krankheitsfall, Unfälle,
     beschäftigter Männer.32 In einigen afrikanischen                                Mutterschaft- und Stillzeit, Arbeitslosigkeit sowie

     29. In Südafrika wird gemeinhin zwischen den von den Khoi abstammenden Coloured-Bevölkerungsgruppen und den schwarzen Bevölkerungsgruppen
     unterschieden. 30. Visser (2016). 31. International Labour Office (2018) und United Nations (2020). 32. WIEGO (n/a). Siehe auch Chen (2020). 33. International
     Labour Office (2018).
14
Altersvorsorge fehlen oder werden nicht einge-                              anderem dazu, dass Frauen eher in Teilzeit und
halten. Es gibt keinen Schutz vor sexualisierter                            Minijobs arbeiten und seltener Führungsposi-
und geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Frauen                              tionen erreichen. Selbst bei gleicher Tätigkeit
können sich kaum gewerkschaftlich organisieren                              werden Frauen oft schlechter bezahlt als Männer.
und sind häufig der Willkür der Auftraggeber
und Abnehmer ausgeliefert. So werden beispiels-                             Fehlende soziale Absicherung und fehlender
weise viele Heimarbeitende in der Textilindustrie                           Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für Kinder-
nach abgelieferten Stücken bezahlt.34 Es gibt aber                          betreuung, Schulen, Pflegeeinrichtungen und
weder einen Anspruch auf Arbeit noch auf Bezah-                             Gesundheitsversorgung, aber auch fehlende
lung, wenn Aufträge ausfallen oder der Auftrag-                             Vorgaben und Richtlinien zu Schwanger-
geber die Lieferung nicht bezahlt, wie dies in der                          schaftsurlaub, Elternzeit, familienf reundlichen
derzeitigen Corona-Krise häufig der Fall ist.                               Arbeitsbedingungen und der Wahrung gleicher
                                                                            Bezahlung für gleichwertige Arbeit sowie zu
Die prekären Beschäftigungsbedingungen im                                   existenzsichernden Löhnen sind unter anderem
informellen Sektor – ob auf Plantagen, in Minen,                            Ursachen für den Gender Care Gap.
im Haushalt - reichen bis hin zu modernen
Formen der Sklaverei und Zwangsarbeit. Von                                  Die Klimakrise wird dazu führen, dass insbeson-
den schätzungsweise rund 25 Millionen weltweit                              dere Frauen und Mädchen im Globalen Süden
von Zwangsarbeit Betroffenen sind mehr als 57                               noch mehr Zeit für die Pflege- und Fürsorgear-
Prozent Frauen und Mädchen.35                                               beit aufbringen müssen, da beispielsweise verrin-
                                                                            gerte Wasservorkommen die Wege zum Wasser-
2.2.5     Rolle der Sorgearbeit                                             holen verlängern.40

Weltweit wenden Frauen im Durchschnitt                                      Die Art und Weise, wie Gesellschaft, Wirtschaft
dreimal mehr Stunden pro Tag für unbezahlte                                 und Politik mit Fragen der Sorgearbeit umgehen,
Sorgearbeit auf als Männer.36 In verschiedenen                              hat Auswirkungen auf die Verwirklichung der
Regionen variieren die Zeitangaben zwischen                                 Gleichstellung der Geschlechter. So können
zwei bis zehnmal mehr aufgewendete Zeit.                                    entweder Wahlmöglichkeiten von Frauen und
Sorgearbeit umfasst dabei Betreuungs- und                                   Männern erweitert werden oder Frauen auf
Hausarbeiten.                                                               traditionelle Rollen beschränkt und strategisch
                                                                            benachteiligt werden.41 Die ungleiche Verteilung
Das bedeutet einerseits, dass Frauen weniger                                unbezahlter Pflegearbeit zwischen Frauen und
Zeit für bezahlte Lohnarbeit, Bildung und Freizeit                          Männern bremst die wirtschaftliche Emanzipa-
zur Verfügung steht und sich so geschlechtsspe-                             tion und das Wohlergehen von Frauen weltweit.
zifische sozioökonomische Benachteiligungen
verstärken. Andererseits bedeutet es, dass Frauen
oft zusätzlich zu ihren unbezahlten Sorgetätig-                             2.3 Geschlechtsspezifische
keiten einer bezahlten Lohnarbeit nachgehen                                     Maßnahmen zur Prävention
(müssen). So entsteht eine Doppelbelastung für                                  und Abhilfe
Frauen.37
                                                                            Die Durchführung von genderspezif ischen
Im globalen Durchschnitt verdienen Frauen 23                                Risiko- und Folgeabschätzungen allein ist nicht
Prozent weniger als Männer.38 Die Ungleichheit                              ausreichend, um der besonderen Rolle und
bei der Sorgearbeit ist eine wesentliche Ursache                            strukturellen Benachteiligung von Frauen und
für die extreme Lohnungleichheit. 39 So führen                              Mädchen in globalen Wertschöpfungsketten
die Verpflichtungen bei der Sorgearbeit unter                               Rechnung zu tragen.

                                                                                                                                              >>>>
34. WIEGO (2020). 35. International Labour Organization and Walk Free Foundation (2017), Abbildung 2, S. 23. 36. Secretary General, United Nations
Economic and Social Council (2019). 37. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020). 38. UN Women (2018), S. 109. 39. Laut Studien
ist die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit für 30 Prozent der Lohnungleichheit verantwortlich, vgl. Malghan/Swamminathan (2016). 40. Oxfam Deutsch-
land (2020).41. OECD (2014).                                                                                                                               15
>>>>

     Es müssen Maßnahmen zur Prävention und                                                Frauen haben auf politischer Ebene oftmals
     Abhilfe von den Unternehmen durchgeführt                                              kein Mitspracherecht und werden daher
     werden. Dabei müssen die Erkenntnisse aus den                                         kaum in Entscheidungsprozesse von
     Risiko- und Folgeabschätzung in alle relevanten                                       Regierungen und lokalen Führungskräften,
     Unternehmensprozesse integriert werden. Das                                           zum Beispiel über neue Projekte zum Abbau
     Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu                                            von Rohstoffen, eingebunden. Frauen sind
     verpflichten, geschlechtsspezifische Maßnahmen                                        häufig Hauptversorgerinnen ihrer Familien.
     zu ergreifen, um negative Auswirkungen zu                                             Landnahme durch die Rohstoffindustrie
     verhindern. Dazu gehört beispielsweise die                                            und deren negative Umweltfolgen wirken
     Veränderung eines laufenden Projekts, um nach-                                        sich daher in mehrerlei Hinsicht anders und
     teilige Auswirkungen auf Frauen zu verhindern,                                        schwerwiegender auf sie aus. Kommt es zu
     oder die Bereitstellung wirksamer Abhilfe, wenn                                       Umweltverschmutzungen, müssen Frauen mehr
     die nachteiligen Auswirkungen bereits einge-                                          Zeit und Aufwand aufbringen, um ihre Familie
     treten sind. Die Verantwortlichkeit für Risiko-                                       mit Wasser und Nahrungsmitteln zu versorgen.42
     und Folgeabschätzungen ebenso wie für die                                             Bei Krankheits- und Verletzungsfällen erhöht
     Maßnahmen sollte bei der Geschäftsführung im                                          sich die soziale Belastung, da Frauen in der
     Unternehmen angesiedelt sein.                                                         Regel die Pflege übernehmen.43 Im Kontext
                                                                                           der Rohstoffindustrie sind Frauen oftmals
     Unternehmen sollten durch ihre Geschäftsbedin-                                        sexueller Belästigung, Gewalt, Ausbeutung
     gungen, direkte Investitionen und Schulungs-                                          und Diskriminierung ausgesetzt.44
     angebote sicherstellen, dass ihre Geschäftspart-
     ner*innen in der Lage sind, die Menschenrechte                                        Ein Vorfall in den Nchanga-Kupferminen in
     nicht zu verletzen und die Standards zur Gleich-                                      Sambia verdeutlicht die genderspezifischen
     stellung der Geschlechter zu erfüllen.                                                Auswirkungen in dem Sektor. So werfen
                                                                                           die Bewohner*innen des Dorfes Chingola
                                                                                           dem Unternehmen Konkola Copper
     FALLBEISPIEL                                                                          Mines, Tochtergesellschaft des britischen
     Frauen und Mädchen                                                                    Rohstoffkonzerns Vedanta Resources
     in der Rohstoffindustrie                                                              PLC, eine erhebliche Beeinträchtigung
                                                                                           ihrer Existenzgrundlage aufgrund von
                                                                                           andauernder Umweltverschmutzung
                                                                                           durch das Unternehmen vor.45

     Aufgrund bestehender patriarchaler                                                    Gerade Frauen und Mädchen seien am
     Strukturen genießen Frauen das                                                        stärksten von den Auswirkungen betroffen,
     Potential der Rohstoffindustrie in Form                                               da sie aufgrund des verunreinigten Flusses
     von Arbeitsplätzen und Einkommen                                                      Kafue gezwungen seien, sich nach einer
     nur in geringem Ausmaß. Gleichzeitig                                                  alternativen Wasserquelle für ihren Bedarf
     sind sie unverhältnismäßig stark von                                                  bei der täglich anfallenden Hausarbeit
     den vielfältigen negativen politischen,                                               umzusehen. Einigen Eigentümern von
     ökologischen, sozialen und ökonomischen                                               verunreinigten Gemüsegärten wurde eine
     Auswirkungen betroffen, die ihre                                                      Entschädigung gewährt, jedoch beklagen
     Lebensgrundlage gefährden.                                                            die Frauen des Dorfes, dass sie nicht fair an
                                                                                           den Verhandlungen beteiligt waren.46

                                                                                            >>>>

     42. Women’s Rights and Mining (n/a).. 43. Seitz, Karolin (2019). 44. Action Aid Zambia (2015). 45. Supreme Court UK (2019). 46. SDG Watch Europe (2019).

16
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    >>>>
    Aufgrund des hohen Maßes an                                                 Hätte der britische Rohstoffkonzern
    Kontrolle und Führung über das                                              Vedanta eine angemessene Risiko-
    sambische Tochterunternehmen                                                und Folgeabschätzung entlang
    werfen die Kläger*innen dem                                                 seiner Lieferkette durchgeführt
    britischen Mutterkonzern Vedanta                                            und die Frauen im Vorfeld an den
    Fahrlässigkeit und Verletzung ihrer                                         Konsultationsprozessen und der
    Pflicht zur Achtung von Gesundheits-,                                       Risikobeurteilung beteiligt, hätten die
    Sicherheits- und Umweltstandards vor.47                                     Schäden und die besonderen negativen
    Die Bewohner*innen der betroffenen                                          Auswirkungen auf Frauen identifiziert
    Ortschaften brachten ihre Forderungen                                       und verhindert werden können.
    nach Schadensersatz vor den britischen                                      Im Rahmen einer gendersensiblen
    High Court. Nach einer Berufung durch                                       unternehmerischen Sorgfaltspflicht mit
    Vedanta erließ der Supreme Court                                            entsprechenden geschlechtsspezifischen
    im April 2019 einen bahnbrechenden                                          Mechanismen hätten Frauen auch
    Beschluss, der den Dorfbewohner*innen                                       in den Verhandlungen hinsichtlich
    das Recht einräumte, Vedanta in                                             der Entschädigungsleistungen
    Großbritannien zu verklagen.48                                              berücksichtigt werden müssen
                                                                                - auch wenn möglicherweise keine
                                                                                formellen rechtlichen Ansprüche
                                                                                auf das Land bestehen.49

2.3.1     Null-Toleranz gegenüber                                           2.3.2      Anerkennung sexueller und
          sexualisierter und                                                           reproduktiver Gesundheit und
          geschlechtsbasierter Gewalt                                                  Rechte als Teil des Arbeitsschutzes

In Übereinstimmung mit dem ILO-Überein-                                     Unternehmen, die im Ausland produzieren
kommen Nr. 190 über Gewalt und Belästigung                                  lassen, sollten dazu verpflichtet werden, die
müssen Unternehmen sicherstellen, dass Arbeit-                              sexuelle und reproduktive Gesundheit und
nehmer*innen am Arbeitsplatz vor sexualisierter                             Rechte ihrer Angestellten als Aspekt des Arbeits-
und geschlechtsbasierter Gewalt geschützt                                   schutzes anzuerkennen und umfassender zu
werden und Zugang zu medizinischer, psycholo-                               berücksichtigen. Dazu gehören Regelungen
gischer und rechtlicher Versorgung haben, falls                             zur Arbeit während der Schwangerschaft, zu
sie Opfer von sexualisierter und geschlechtsba-                             Mutterschaftsurlaub und Stillen während der
sierter Gewalt werden.                                                      Arbeitszeit gemäß dem ILO-Übereinkommen
                                                                            Nr. 183. Es umfasst auch die Bereitstellung sani-
Die Unternehmen sollten all ihre Geschäfts-                                 tärer Anlagen, die Privatsphäre gewährleisten
partner* innen zu einer Null-Toleranz gegen-                                und den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen
über Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz                                 während der Menstruation gerecht werden. Und
verpflichten und Sensibilisierungstrainings                                 es beinhaltet, Informationen und Dienstleis-
anbieten. Sie sollten Opfern von sexueller Gewalt                           tungen im Bereich der sexuellen und reproduk-
Zugang zu medizinischer, psychologischer und                                tiven Gesundheit bereitzustellen. Solche Informa-
rechtlicher Versorgung gewährleisten.                                       tionen sowie der Zugang zu modernen, sicheren
                                                                            und wirksamen Verhütungsmethoden und dem

                                                                                                                         >>>>
47. Supreme Court UK (2019). 48. Sambo, Pamela Towela (2019). 49. The Danish Institute for Human Rights (2019).

                                                                                                                                17
>>>>

     Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten         hörigkeit, Religionszugehörigkeit, Behinderung,
     fördern nicht nur die Gesundheit, sondern auch       Migrationshintergrund, sexuelle Orientierung
     die Gleichstellung aller Arbeitnehmer*innen.         oder Zugehörigkeit zu anderen Minderheiten.
                                                          Die Unternehmen sollten sicherstellen, dass auch
     2.3.3   Gewerkschaftsfreiheit und                    ihre Geschäftspartner*innen geschlechtsspezifi-
             Recht auf Kollektivverhandlungen             sche Daten erheben und diese veröffentlichen.

     Unternehmen sollten die Gewerkschaftsf rei-
     heit und das Recht auf Kollektivverhandlungen        2.5 Beschwerdemechanismen
     respektieren und aktiv fördern. Dazu gehört, dass        und Rechtshilfe
     Arbeitnehmer*innen, die als Gewerkschaftsmit-
     glieder und/oder Arbeitnehmervertreter*innen         Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden,
     tätig sind, weder Diskriminierung noch Druck         sichere und zugängliche Beschwerdemecha-
     ausgesetzt werden. Unternehmen sollten darauf        nismen zu entwickeln, mit denen alle Arbeitneh-
     achten, dass Frauen mit ihren Belangen ausrei-       mer* innen vertraut gemacht werden. Frauen
     chend gehört werden.                                 sehen sich häuf ig spezif ischen Hindernissen
                                                          wie Sprache, Alphabetisierungsgrad, Zugangs-
     2.3.4   Maßnahmen gegen den                          möglichkeiten zu Informationen und digitaler
             Gender Care Gap                              Technologie, Mobilität und Zeitmangel aufgrund
                                                          unbezahlter Sorgearbeit gegenüber. Beschwer-
     Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden,        demechanismen müssen diese berücksichtigen
     auf familienf reundliche Arbeitsbedingungen          und so ausgestaltet sein, dass auch Frauen einen
     bei ihren Geschäftspartner*innen hinzuwirken         niedrigschwelligen Zugang zu ihnen haben.
     und soziale Sicherungssysteme anzubieten und
     damit dem Gender Care Gap entgegenzuwirken.          Zudem sollten die Unternehmen dazu verpflichtet
     Das beinhaltet unter anderem die Entgeltgleich-      werden, von sexueller Gewalt betroffenen Frauen
     heit und existenzsichernde Löhne, Regelungen         die erforderlichen Informationen über ihre Rechte
     zu Schwangerschaftsurlaub und Elternzeit, fami-      zur Verfügung zu stellen, wobei Zugang zu Infor-
     lienkompatible Arbeitszeiten, Kinderbetreuung        mationen, Sprachen und Alphabetisierungsgrad
     am Arbeitsplatz und Urlaubstage für die Pflege       zu berücksichtigen sind. Darin enthalten sein
     kranker Familienmitglieder.                          sollten auch Informationen über geschlechts-
                                                          spezifische Diskriminierung sowie nationale und
                                                          internationale Gesetzgebung.
     2.4 Berichterstattung anhand nach
         Geschlecht erhobener Daten                       Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt sollten
                                                          durch Rechtsberatung unterstützt werden, und
     Das Lieferkettengesetz sollte Unternehmen dazu       im Falle von Mitverantwortung sollte das Unter-
     verpflichten, die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen        nehmen dazu verpflichtet werden, Prozesskosten
     anhand von geschlechtsspezif isch erhobenen          zu übernehmen sowie sich an Entschädigungs-
     Daten (z. B. Gender Pay Gap) in Konsultation mit     zahlungen bei Rechtsverletzungen zu beteiligen.
     betroffenen Frauen, Frauenorganisationen und
     Expert*innen nachzuverfolgen und diese Daten
     den Betroffenen in zugänglicher Form zur Verfü-
     gung zu stellen. Die Daten sollten je nach Kontext
     auch nach weiteren Faktoren aufgeschlüsselt
     werden wie beispielsweise Alter, Kastenzuge-

18
3. WEITERE MASSNAHMEN

Neben der Verabschiedung eines Lieferketten-                                 gerechtigkeit in globalen Lieferketten besonders
gesetzes sollte die Bundesregierung weitere                                  in seiner*ihrer Arbeit berücksichtigt.
Maßnahmen ergreifen, um die Rechte von
Frauen im Bereich Wirtschaft und Menschen-
rechte weltweit zu fördern. Gemäß den interna-                               3.4 Förderung fairer Rahmen-
tionalen Menschenrechtsabkommen ist sie dazu                                     bedingungen für Sorgearbeit
verpflichtet, auch über die Staatengrenzen hinaus                                weltweit
die Menschenrechte zu achten, zu schützen
und zu gewährleisten sowie durch internatio-                                 Die Bundesregierung steht in der Verantwortung,
nale Zusammenarbeit zur Verwirklichung der                                   sich für eine ideelle und finanzielle Anerkennung
Menschenrechte weltweit beizutragen.50                                       und eine faire Verteilung von Sorgearbeit welt-
                                                                             weit einzusetzen, strukturelle Ungleichheiten
                                                                             mittels Gesetzgebung entgegenzusteuern und
3.1 Rechtszugang                                                             faire Rahmenbedingungen weltweit zu fördern.53
                                                                             Das Equal Care Manifest zeigt dahingehend
Die spezifischen Hindernisse (wie oben erwähnt),                             Maßnahmen auf.54 Die Förderung des Zugangs
die Frauen auch beim Zugang zu Recht vor deut-                               zu öffentlichen Dienstleistungen (Kinderbe-
schen Gerichten erfahren, müssen berücksichtigt                              treuung, Schulen, Pflegeeinrichtungen, Gesund-
und abgebaut werden.                                                         heitssysteme), Inf rastruktur (Wasser, Energie,
                                                                             Transport), von existenzsichernden Löhnen,
                                                                             sozialen Sicherungssystemen (unter anderem
3.2 Schutz von Menschenrechts-                                               Schwangerschaftsurlaub, Elternzeit, Altersrente)
    verteidigerinnen                                                         und von geteilten Verantwortlichkeiten im Haus-
                                                                             halt sind ebenfalls relevant für die Schaffung
Menschenrechtsverteidigerinnen sind beson-                                   einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen
deren geschlechtsspezif ischen Risiken ausge-                                und Männern in der Erwerbswelt.55 Die Bundesre-
setzt,51 nicht zuletzt, da sie mit ihrer Tätigkeit                           gierung sollte sich dafür einsetzen, dass Ländern
diskriminierende Geschlechterrollen in Frage                                 des Globalen Südens bei internationalen Unter-
stellen. Sie sind häufig von geschlechtsspezifi-                             stützungsprogrammen, bspw. durch die Welt-
schen Bedrohungen und Gewalttaten wie sexu-                                  bank oder den Internationalen Währungsfonds,
elle Gewalt, Belästigung ihrer Kinder und Diskri-                            der notwendige finanzielle Handlungsspielraum
minierung in ihren Gemeinschaften betroffen.                                 erhalten bleibt, wichtige öffentliche Investitionen
Die Bundesregierung sollte sich daher für                                    in Bereichen wie Pflegeeinrichtungen, Gesund-
geschlechtsspezifische Maßnahmen, wie unter                                  heit und Bildung, soziale Sicherung, Infrastruktur
anderem vom UN-Sonderberichterstatter zur                                    und Klimaschutz zu tätigen.56
Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen
2019 formuliert, zum Schutz von Menschen-
rechtsverteidiger*innen weltweit einsetzen.52                                3.5 Bekämpfung von Steuerflucht
                                                                                 und Steuerhinterziehung

3.3 Beauftragte*r für Wirtschaft                                             Steuerflucht und Steuerhinterziehung durch
    und Menschenrechte                                                       Unternehmen entzieht Regierungen welt-
                                                                             weit schätzungsweise mehr als 500 Milliarden
Die Bundesregierung sollte die Stelle eines*einer                            US-Dollar jährlich.57 Länder des Globalen Südens
Beauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte                               verlieren auf diese Weise mehr als 200 Milli-
einrichten, der*die das Thema der Geschlechter-                              arden US-Dollar pro Jahr.58 Durch diese Steuer-

                                                                                                                                                >>>>
50. Insbesondere Artikel 55 und 56 der Charta der Vereinten Nationen, Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte und Artikel 2(1) des
Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 51. United Nations Office of the High Commissioner on Human Rights (2018)..
52. UN Special Rapporteur on the situation of human rights defenders (2019). 53. Siehe auch United Nations (2020), S.15 ff. 54. Equal Care Manifest 2020:
https://equalcareday.de/manifest/ . 55. OECD (2020). 56. Oxfam Deutschland (2020). 57. Tax Justice Network (2017). 58. International Monetary Fund (2015).   19
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