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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2020; 78(1): 21–33 Beitrag / Article Open Access Alice Melchior*, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher „Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen “Hägerstrand online”: A methodical template for the analysis of space-time trajectories in collaborations https://doi.org/10.2478/rara-2019-0051 Eingegangen: 11. Oktober 2018; Angenommen: 6. August 2019 Kurzfassung: In der Wirtschaftsgeographie stieg in den letzten Jahren das Interesse an Fragen der Temporalität, wobei sowohl kurz- als auch längerfristige physische Interaktionskonstellationen in den Fokus rückten. Trotz der starken empirischen wie theoretischen Ausdifferenzierung physischer Kopräsenzen wurden zwei Aspekte bisher kaum ausreichend problematisiert: erstens das dichotome Verständnis physischer Kopräsenz (das sich auf die binäre Differenzierung von Abwesenheit und Anwesenheit reduziert) und zweitens die Konzeption virtueller Koprä- senz als eine defizitäre Version von Kommunikation (der das breite Spektrum sinnlicher Dimensionen von Face- to-face-Interaktionen fehlt). Zur Problematisierung dieser Aspekte von Kopräsenz reichern wir unsere geographi- sche Argumentation mit Befunden aus benachbarten Disziplinen an und fokussieren die durch die Virtualisierung implizierten Veränderungen der Kommunikationskontexte. Hierbei stellen insbesondere die komplexen Verflechtun- gen von Offline- und Online-Interaktionen die etablierten geographischen Zugänge vor methodische und konzep- tionelle Herausforderungen. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen wird eine Erweiterung des zeitgeographi- schen Modells von Torsten Hägerstrand um eine virtuelle Dimension vorgeschlagen. Ziel unserer Erweiterung ist es, raumzeitliche Beschränkungen kollaborativer Prozesse sowohl in physischen als auch in virtuellen Kontexten sowie in (physisch-virtuellen) synthetischen Situationen empirisch erfassbar und vergleichbar zu machen. Unsere methodisch-konzeptionelle Erweiterung der Zeitgeographie illustrieren wir mit empirischen Vignetten kollaborativer Prozesse aus den Feldern Kunst (Musikproduktion im Studio) und Wissenschaft (Pharmaforschung im Labor). Schlüsselwörter: Hägerstrand, Zeitgeographie, Virtualität, Kopräsenz, Labor, Studio Abstract: In economic geography, during the last years interest in various aspects of temporality increased, both in the context of short- as well as longer-term physical interaction constellations. Despite the empirical and theoretical differentiation of physical co-presence, two aspects have not been problematized in a sufficiently systematic fashion so far: first, the dichotomous understanding of physical co-presence (that is reduced to a binary differentiation of presence/absence) and, second, the conception of virtual co-presence as a deficient version of communication (that lacks the broad spectrum of sensual cues of face-to-face interaction). To overcome the insufficient conceptualization *Corresponding author: Alice Melchior, Hafencity Universität Hamburg, Arbeitsgebiet Stadt- und Regionalökonomie, Überseeallee 16, 20457 Hamburg, Deutschland, E-mail: alice.melchior@hcu-hamburg.de, ORCID: 0000-0001-8441-2392 Benjamin Schiemer, Johannes-Kepler-Universität Linz, Institut für Organisation, Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich Prof. Dr. Gernot Grabher, Hafencity Universität Hamburg, Arbeitsgebiet Stadt- und Regionalökonomie, Überseeallee 16, 20457 Hamburg, Deutschland Open Access. © 2020 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher, published by Sciendo. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
22 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher of co-presence we enrich our geographical argumentation with findings from adjacent disciplines and focus on the modification in communication contexts implied by virtualization. In particular, the intricate entanglement of offline and online interaction dynamics is challenging the established methodical and conceptual geographical approaches. In order to deal with these challenges, we seek to advance the time-geographic model of Torsten Hägerstrand by including the virtual dimension of interactions. The aim of our extension is the development of a methodical template that is suitable to conceptualize empirically space-time trajectories in physical, virtual and (physical-virtual) synthetic contexts. We illustrate our methodical-conceptual extension of the time-geographic model with empirical vignettes from the fields of art (music production in a studio) and science (pharmaceutical research in a laboratory). Keywords: Hägerstrand, Time geography, Virtuality, Co-presence, Laboratory, Studio 1 Einleitung Grenzen der Kommunikation inhärent. Die Asynchroni- tät virtueller Kommunikationsprozesse bietet gegenüber Das Interesse der Wirtschaftsgeographie verschob sich Face-to-face-Interaktionen beispielsweise die Vorteile, in den letzten Jahren von permanenten physischen Argumente mit Belegmaterial (wie etwa Internetlinks Interaktionskonstellationen, etwa in territorialen Inno- oder Abbildungen) zu untermauern, Modifikationen vationssystemen wie Industrial Districts oder Clustern einer möglichen Lösung zu testen (Grabher/Ibert 2014) (Bündeln), zunehmend hin zu temporären Kooperatio- sowie Gelegenheiten zum reflective reframing (Harga- nen. Das steigende Interesse an der Frage der Tempo- don/Bechky 2006: 489 ff.) bis hin zur Umstrukturierung ralität erstreckt sich von sehr kurzfristigen physischen eigener Wissensbestände etwa durch spezifische Anfra- Konstellationen wie Konferenzen (Maskell/Bathelt/ gen oder Anregungen anderer Interaktionspartner. Vir- Malmberg 2006) über mittelfristige Kooperationen im tuelle Kopräsenz, so einer unserer zentralen Ausgangs- Rahmen von Projekten (Grabher 2002) bis hin zu län- punkte, lässt sich daher nicht allein auf eine defizitäre gerfristigen physischen Interaktionskonstellationen wie Version von physischer Kopräsenz reduzieren (Bathelt/ etwa im Rahmen von Forschungsaufenthalten (Torre/ Turi 2011), sondern stellt vielmehr einen Kontext sui Rallet 2005). Mit der Fokusverschiebung erfolgte eine generis dar, der zum integrierten Bestandteil kollaborati- starke empirische und theoretische Ausdifferenzierung ver Prozesse geworden ist (Grabher/Melchior/Schiemer der temporären physischen Kopräsenz, wobei zwei et al. 2018). Darauf aufbauend gehen wir davon aus, Aspekte vor dem Hintergrund der zunehmenden Vir- dass das Verständnis von Kopräsenz als „being there“ tualisierung bisher nur unzureichend problematisiert (das heißt, den gleichen physischen Raum mit anderen wurden: erstens blieb der Begriff Kopräsenz lange auf Akteuren zu teilen) im Zuge der Virtualisierung durch ein dichotomes und physisches Verständnis von Koprä- ein Verständnis von Kopräsenz als „being aware“ (das senz beschränkt, das lediglich eine binäre Differenzie- heißt sich aktiv gegenseitig aneinander orientieren) ver- rung von kopräsent/nichtkopräsent und keinerlei Misch- standen werden sollte (Grabher/Melchior/Schiemer et al. formen (wie etwa kopräsent, aber nicht verfügbar) kennt; 2018). zweitens dominierte eine Konzeption von virtueller Studien der Wissenschafts- und Technikforschung Kopräsenz als unvollständigem Substitut für physische (z. B. Knorr Cetina 2009) sowie soziologische Aus- Kopräsenz (Grabher/Ibert 2014). Zur Problematisierung einandersetzungen (z. B. Zhao 2003; Zhao/Elesh 2008; beider Annahmen reichern wir unsere geographische Campos-Castillo 2012; Houben 2018) demonstrieren Argumentation mit relevanten Befunden aus benachbar- darüber hinaus, dass virtuelle Kopräsenzen in ihrer ten Disziplinen und Forschungsfeldern wie der Soziolo- geographischen und soziodemographischen Reich- gie und der Wissenschafts- und Technikforschung an. weite sowie in ihrer Informationstiefe dramatisch zuge- Die zunehmende Virtualisierung in allen Bereichen nommen haben. Die zunehmende Gleichzeitigkeit und der Kommunikation ermöglicht zum einen Kopräsen- Verschmelzung von Kopräsenz/Abwesenheit sowie von zen zwischen physisch entfernten Akteuren (Grabher/ physischen/virtuellen Interaktionen führt vermehrt zu Maintz 2007; Campos-Castillo 2012) sowie Kopräsen- dem, was Knorr Cetina (2009: 61) als „synthetische Situ- zen zwischen Akteuren und technologischen Artefakten ationen“ bezeichnet. Synthetische Situationen umfassen wie beispielsweise elektronisch übertragene On-screen- elektronisch übertragene On-screen-Projektionen, die Projektionen (Knorr Cetina 2009: 65 f.). Zum anderen dem Kommunikationskontext sowohl Informationstiefe sind virtuellen Kopräsenzen eigene Möglichkeiten und wie auch neue Reaktionsanforderungen hinzufügen.
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept 23 zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen In einer Video-Konferenz beispielsweise interagieren eine methodisch-konzeptionelle Erweiterung der klassi- zwei oder mehr Akteure virtuell miteinander (response schen Zeitgeographie um eine virtuelle Dimension. presence), während sich jeder Akteur in seiner eigenen Zur Entwicklung unserer konzeptionell-methodi- physischen Umgebung befindet (embodied presence). schen Erweiterung werden wir zuerst die grundlegen- Bedingt durch die vermehrte Nutzung von Informations- den Begriffe und theoretischen Ausgangspunkte der und Kommunikationstechnologien beschreibt die syn- Zeitgeographie erläutern sowie die grundlegende Kritik thetische Situation eine neuartige und ubiquitäre Form am Modell der klassischen Zeitgeographie vorstellen der Kopräsenz, bei der sich die physische Umgebung (Kapitel 2.1). In einem folgenden Schritt werden wir in (physische Kopräsenz) und die virtuelle On-screen-Pro- Anlehnung an bisherige Erweiterungen der Zeitgeogra- jektion (virtuelle Kopräsenz) gegenseitig bedingen. phie die Modifikationen der raumzeitlichen Beschränkun- Das Verständnis von Kopräsenz als „being aware“ gen durch virtuelle Kopräsenzen sowie die Generierung und die Omnipräsenz synthetischer Situationen stellt die neuer Beschränkungen systematisch analysieren, um etablierten geographischen Zugänge vor methodische anschließend eine konzeptionell-methodische Erwei- und empirische Herausforderungen. Erstens muss der terung der Zeitgeographie zu erarbeiten (Kapitel 2.2). Fluss von Interaktionssequenzen mit einer Granularität Anknüpfend illustrieren wir unsere vorgeschlagene erfasst werden, die es erlaubt, die Dynamiken der Koprä- Erweiterung mit ethnographischen Vignetten aus unserer senzen über mehrere Kommunikationskontexte hinweg empirischen Erforschung kollaborativer Prozesse in den (z. B. Diskussion eines Experiments in einer Skype- Feldern Kunst (Musikproduktion im Studio) und Wissen- Konferenz, Durchführung des Experiments im Labor, schaft (pharmazeutische Forschung im Labor) (Kapitel Zirkulation der Ergebnisse per E-Mail, Arbeitskoordina- 3).1 In Kapitel 4 werden die Ergebnisse zusammenge- tion über Beiträge (postings) in geschlossenen Face- fasst. book-Gruppen) durch prozessorientierte und standort- übergreifende Forschung zu verfolgen und sinnvoll zu interpretieren. Zweitens müssen hierbei nicht nur die raumzeitlichen Beschränkungen physischer Kopräsen- 2 Konzeptionell-methodische zen, sondern auch die Chancen und Grenzen virtueller Erweiterung des zeitgeographi- Kopräsenzen berücksichtigt werden, wobei vor allem die Simultanität von physischer und virtueller Kopräsenz schen Modells in synthetischen Situationen (z. B. Skype-Konferenz) eine konzeptionelle wie methodische Herausforderung 2.1 Theoretische Ausgangspunkte darstellt (Grabher/Melchior/Schiemer et al. 2018). Zur und begriffliche Grundlagen der Bewältigung dieser Herausforderungen entwickeln wir Zeitgeographie im Folgenden ein methodisches Instrument zur Erfas- sung und zum Vergleich raumzeitlicher Aktivitätsmus- Theoretische Prämisse der Zeitgeographie ist die ter innerhalb kollaborativer Prozesse. Als tragfähiger Untrennbarkeit von Raum und Zeit: Jeder Akteur folgt Ausgangspunkt wurde das zeitgeographische Konzept einem individuellen Pfad durch ein Raum-Zeit-Konti- von Hägerstrand gewählt, da es mit seinem Fokus auf nuum (Hägerstrand 1970: 9 f.). Diese individuellen Pfade die raumzeitlichen Bedingungen des individuellen Han- sind durch das Zusammenspiel unterschiedlicher raum- delns die Konzeptualisierung und empirische Erfassung zeitlicher Beschränkungen („capability, coupling and von Raum-Zeit-Trajektorien in physischen Kontexten authority constraints“) konditioniert (Hägerstrand 1970: ermöglicht. In Anlehnung an die bisherigen Erweiterun- 10 ff.). Auf der Grundlage der biologischen Konstruktion gen der klassischen Zeitgeographie (z. B. Kwan 2000; des menschlichen Körpers wird der Handlungsspielraum Kwan 2004; Miller 2005; Schwanen/Kwan 2008; Yu/ jedes Akteurs durch die Kapazitätsbeschränkungen Shaw 2008; Shaw/Yu 2009; Farber/Neutens/Miller et al. begrenzt: Akteure können sich physisch grundsätzlich 2013; Miller 2017) versuchen wir aus einer qualitativen nur an einem Ort aufhalten. Die Kopplungsbeschrän- Perspektive heraus, die Modifikationen und vor allem kungen hingegen begrenzen den Ort, den Zeitpunkt und die Generierung neuer Beschränkungen kollaborativer (Arbeits)praktiken systematisch zu erfassen. In Abgren- 1 Die vorgestellten empirischen Befunde wurden im Kontext zung zu den bisherigen quantitativen Ansätzen versu- der interdisziplinären Forschergruppe „Organized Creativity. chen wir nicht, die klassische Zeitgeographie für GIS- Practices for Inducing and Coping with Uncertainty” der Deutschen basierte Daten fruchtbar zu machen, sondern entwickeln Forschungsgemeinschaft (DFG FOR 2161) erhoben.
24 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher die Dauer für Kopräsenzen (Hägerstrand 1970: 14 ff.), Diskussion am Telefon suchen. In Hinblick auf die Autori- wodurch die Bündelung von Akteuren (etwa in Bespre- tätsbeschränkungen ermöglichen virtuelle Kopräsenzen chungen) sowie von Akteuren und Objekten (etwa Arbei- beispielsweise das Umgehen von Ladenöffnungszei- ten am Mikroskop) ermöglicht und beschränkt wird (Thrift ten (Schwanen/Kwan 2008) sowie die Perforation von 1977: 7). Als drittes limitieren die Autoritätsbeschränkun- rigiden Arbeitszeitregimen durch Home-Office-Arbeits- gen (wie etwa Zugangskriterien oder Öffnungszeiten) plätze. Die bisherigen Untersuchungen legen nahe, den Zugang zu konkreten Lokalitäten, innerhalb derer dass die Kommunikations- und Informationstechno- Bündel organisiert werden (Thrift 1977: 7). Aufbauend logien die raumzeitlichen Beschränkungen im Alltag auf der Annahme der Untrennbarkeit von Raum und Zeit grundlegend verändern (Schwanen/Kwan 2008), indem bedingen sich alle drei Beschränkungen wechselseitig sie diese nicht nur relativieren, sondern durch ihre ganz auf direkte oder indirekte Art (Hägerstrand 1970: 17). eigenen Rhythmen und Ordnungen neue Einschränkun- Trotzt der Berücksichtigung des Umstandes, dass sich gen für das tägliche Leben generieren (Shaw/Yu 2009). mit dem Aufkommen der Kommunikations- und Infor- Die Ubiquität synthetischer Situationen, in denen On- mationstechnologien die Interdependenzen der raum- screen-Projektion neue Informationstiefen und Reakti- zeitlichen Beschränkungen auf grundlegende Weise onsanforderungen generieren (Knorr Cetina 2009: 61), verändern (Hägerstrand 1970: 15 ff.), beschränkt sich ist die Folge. das Konzept der Zeitgeographie primär auf synchrone Wie sich die Veränderungen der raumzeitlichen physische Kopräsenzen wie persönliche Gespräche, bei Beschränkungen im Zuge der Virtualisierung in kollabo- denen die beteiligten Akteure physisch anwesend sind rativen Arbeitsprozessen auswirken, wird im nächsten (Miller 2017). Asynchrone physische Kopräsenzen wie Schritt systematisch analysiert. Im Fokus der Analyse etwa Notizen an einer Bürotür oder Eintragungen im steht nicht nur die Relativierung der Beschränkungen, Laborbuch werden zwar von Hägerstrand (1970) berück- sondern vielmehr die Generierung neuer raumzeitlicher sichtigt, aber nicht systematisch in die Zeitgeographie Beschränkungen, die nicht nur durch neue Informa- integriert (Miller 2017). Ähnlich wie asynchrone physi- tions- und Kommunikationstechnologien, sondern auch sche Kopräsenzen wird die Möglichkeit der virtuellen im Zusammenspiel mit der Virtualisierung von Objekten Kopräsenz von Hägerstrand in Form eines Telefonge- (etwa die Digitalisierung von Musik oder die partielle sprächs (synchrone virtuelle Kopräsenz) zwar angespro- Digitalisierung von Zellen), die einen teilweise friktions- chen, jedoch nicht konsequent weiterentwickelt (Miller losen Austausch in kollaborativen Kontexten ermöglicht, 2017). Des Weiteren werden asynchrone virtuelle Koprä- entstehen. senzformen wie beispielsweise E-Mails oder Webseiten genau wie synchrone virtuelle Kopräsenzen theoretisch generell einbezogen, doch in der klassischen Zeitgeo- 2.2 Ein methodisches Konzept zur empi- graphie ignoriert (Miller 2017). rischen Analyse von Raum-Zeit-Trajekto- Es existiert eine Vielzahl quantitativ angelegter rien in kollaborativen Prozessen Erweiterungsansätze, welche die Grenzen der klassi- schen Zeitgeographie aufzeigen und vorzugsweise den Generell besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Einfluss virtueller Kopräsenzen auf Aktivitäts- und Rei- Kommunikations- und Informationstechnologien raum- semuster von Akteuren erfassen. So konnte die Studie zeitliche Beschränkungen aufheben (Schwanen/Kwan von Shaw und Yu (2009) zeigen, dass sich sowohl die 2008). In welchem Ausmaß diese Relativierungen auf- Kapazitätsbeschränkungen als auch die Kopplungsbe- treten wird hingegen konträr diskutiert. Beispielsweise schränkungen von Reisenden durch die neuen Kom- argumentiert Couclelis (2000; 2004), dass die Asso- munikations- und Informationstechnologien verändern. ziation von Aktivität, Ort und Zeit (raumzeitlich fixierte Die Kapazitäts- und Kopplungsbeschränkungen werden Aktivität) durch virtuelle Kopräsenzen geschwächt wird insoweit reduziert, als dass die Akteure von der Not- und dass Aktivität zunehmend über verschiedene Zeiten wendigkeit der physischen Präsenz an einem konkre- und geographische Standorte verteilt (raumzeitlich fle- ten Ort befreit werden und daher an mehr als einem xible Aktivität) stattfindet. Andere Forscher (z. B. Kwan Bündel gleichzeitig teilnehmen können (Shaw/Yu 2009). 2001; Dijst 2004; Zook/Dodge/Aoyama et al. 2004) hin- Beispielsweise können Akteure mit einem physisch dis- gegen relativieren diese Nivellierung der raumzeitlichen persen Akteur per Telefon diskutieren, gleichzeitig eine Beschränkungen mit der Argumentation, dass Online- E-Mail an einen anderen Akteur verfassen und simultan Aktivitäten durch den Akteur immer im physischen Raum auf einer Website nach weiteren Informationen für die verankert sind und dass virtuelle Räume dementspre-
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept 25 zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen chend in soziale und physische Räumen eingebettet Koordinierungsstile als Ergänzung oder Ersatz der sind. Die mehrdeutigen und paradoxen Auswirkungen „clock-based“2 (Ling 2004: 58) Koordinierung führt zur der Kommunikations- und Informationstechnologien auf Verschiebung ortsbezogener Konnektivität hin zur indi- die raumzeitlichen Beschränkungen sind demnach von viduellen Mensch-zu-Mensch-Konnektivität (Wellman Technologien und anderen beteiligten Materialien sowie 2001; Kwan 2007). Zusätzlich wird raumzeitlich fixierte ihrem Kontext beeinflusst (Schwanen/Kwan 2008). Ziel Aktivität zumindest teilweise für Flexibilität und die Mög- unserer methodisch-konzeptionellen Erweiterung der lichkeit, Ressourcen so effizient wie möglich neu zuzu- Zeitgeographie ist es daher, die drei klassischen Formen ordnen, eingetauscht (Townsend 2000). Die partielle von raumzeitlichen Beschränkungen im Lichte virtueller Suspendierung der Imperative des gemeinsamen Ortes, Interaktionsmodi hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf kol- des abgestimmten Zeitpunktes sowie der vereinbarten laborative (Arbeits-) Praktiken genauer zu betrachten. Dauer zur Bündelung von Akteuren und Objekten (von Hierzu werden zuerst die Veränderungen der Kapa- raumzeitlich fixierte Aktivität hin zu raumzeitlich flexib- zitäts-, Kopplungs- und Autoritätsbeschränkungen für ler Aktivität) generiert jedoch neue raumzeitliche Kopp- kollaborative Praktiken diskutiert, um anschließend sys- lungsbeschränkungen (vgl. Tabelle 1). Erstens müssen tematisch auf die Generierung neuer Beschränkungen die materiellen Vorrichtungen für virtuelle Kopräsenzen einzugehen. im physischen Raum platziert werden (Schwanen/Kwan Das Aufkommen der Kommunikations- und Informa- 2008): Beispielsweise werden internetfähige Computer tionstechnologien wie Mobiltelefon, E-Mail oder Skype (materielle Vorrichtung) für das Beantworten von E-Mails hat die Kapazitätsbeschränkungen auf nachhaltige und (virtuelle Kopräsenz) im Büro (physischer Raum) benö- durchaus ambivalente Weise verändert (vgl. Tabelle 1). tigt. Zweitens müssen die materiellen Vorrichtungen Einerseits wurden Akteure durch die Möglichkeiten vir- für die virtuelle Kopräsenz mit den Akteuren, die sie tueller Interaktion vom Zwang der physischen Präsenz nutzen wollen gebündelt werden (Pred 1978; Kwan an einem konkreten Ort befreit, andererseits generieren 2001; Schwanen 2007). Diese Beschränkungen gelten virtuelle Kopräsenzen neue Kapazitätsbeschränkungen. sowohl für kabelgebundene als auch für mobile Kom- Die vermehrte Nutzung virtueller Interaktionsmodi munikations- und Informationstechnologien. Darüber führt zunehmend zur Gleichzeitigkeit von Online- und hinaus müssen an den materiellen Vorrichtungen War- Offline-Kontexten, wobei diese mit unterschiedlichen tungsarbeiten zur Aufrechterhaltung der Möglichkeit zur Einschränkungen hinsichtlich der Aufmerksamkeit, Auto- virtuellen Kopräsenz durchgeführt werden, wie etwa das rität, sozialen Erwartungen und Dauer verbunden sind Mitführen von Geräten oder das Aufladen von Batterien (Thulin/Vilhelmson 2018: 97 f.). E-Mails sollten beispiels- und Akkus (Ling 2004). weise spätestens nach einer kulturell normierten Zeit- Neben neu entstehenden Kommunikationsmög- dauer (ohne unangemessene Verzögerung) beantwortet lichkeiten veränderten sich im Zuge der Virtualisierung werden, was einer (expliziten oder impliziten) Erwide- auch die Objekte kollaborativer Arbeitsprozesse (vgl. rungsverantwortung entspricht. Die neu generierte Erwi- Tabelle 1). Die generelle Möglichkeit der Virtualisierung derungsverantwortung stellt somit eine neue Kapazitäts- von Objekten trägt zur Entkopplung zwischen Objekt beschränkung dar, die als „response presence“ (Knorr und Akteur bei, indem virtualisierte Objekte über große Cetina 2009: 69 ff.) bezeichnet werden kann. Darüber Distanzen hinweg zirkuliert und in synchroner oder asyn- hinaus generieren virtuelle Kopräsenzen mit ihrer res- chroner Kopräsenz bearbeitet werden können. Akteure ponse presence einen neuen Modus der körperlichen müssen beispielsweise nicht mehr ihren physischen Affektivität, der eine ständige Überwachung und senso- Büroarbeitsplatz aufsuchen, sondern können raumzeit- rische Abstimmung der Informations- und Kommunika- lich entkoppelt von ihrem Laptop aus an virtualisierten tionstechnologien (wie etwa den reflexhaften Blick auf Objekten arbeiten. den Handy-Bildschirm) einfordert (Knorr Cetina 2009: Die veränderten Kapazitäts- und Kopplungsbe- 75). schränkungen tragen dazu bei, dass sich auch die Auto- Hinsichtlich der Kopplungsbeschränkungen führen ritätsbeschränkungen verändern (vgl. Tabelle 1). Die neue Kommunikations- und Informationstechnologien Virtualisierung von Objekten sowie virtuelle Interaktions- zu einer Veränderung der Koordinierung von Akteuren, sodass beispielsweise bevorstehende Verspätungen 2 Mit der „clock-based“ (Ling 2004: 58) Koordinierung ist die direkt kommuniziert werden können, was zur Flexibilisie- taktbasierte Aktivitätsplanung auf Basis eines gemeinsamen rung raumzeitlich festgelegter Tätigkeiten führt (Schwa- Messsystems – der Zeit (Uhrzeit) – gemeint (vgl. Schwanen/Kwan nen/Kwan 2008). Die Zunahme interaktionsbasierter 2008).
26 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher Tabelle 1: Veränderungen der raumzeitlichen Beschränkungen durch die Virtualisierung Reduzierung durch Extension durch Neue Beschränkungen durch Virtualisierung Virtualisierung Virtualisierung Kapazitäts Notwendigkeit der physischen Virtuelle Kopräsenzen und Response presence und permanente beschränkungen Anwesenheit synthetische Situationen körperliche Affektivität Kopplungs Raumzeitliche Kopplung von Virtualisierung von Objekten Materielle Vorrichtungen für virtuelle beschränkungen Akteur und Objekt (raumzeitlich und Bündeln (raumzeitlich Kopräsenzen müssen im physischen fixierte Aktivität) flexible Aktivität) Raum verankert, mit Akteuren koordiniert und gewartet werden. Autoritäts Physische Zugangskontrollen Virtuelle Bündel mit virtuellen Virtuelle Zugangskontrollen, Sicherheits- beschränkungen Zugangskontrollen und Schutzmaßnahmen sowie Grad der Virtualisierung des Objektes medien wie beispielsweise Online-Foren, Chat-Gruppen, 3 Empirische Anwendung des Facebook-Gruppen, E-Mail-Verteiler und Gruppen in Instant-Messaging-Diensten wie WhatsApp und Slack3 Konzeptes erschließen fundamental neue Formen der Kopräsenz Zur Illustration der methodisch-konzeptionellen Erweite- und Kollaboration. Wurde der Zugang zu physischen rung der Zeitgeographie stellen wir im Folgenden zwei Lokalitäten (und ihren Bündeln) traditionell noch durch Vignetten unserer empirischen Forschung zu kollabo- physische Zugangskontrollen wie Pförtner, Türen oder rativen Prozessen in den Feldern Kunst (Musikproduk- Schlösser kontrolliert, sind es vor allem virtuelle Mitglied- tion im Studio) und Wissenschaft (Pharmaforschung im schaften, die den Zugang zu virtuellen Bündeln kontrol- Labor) vor. lieren und beschränken. Darüber hinaus entstehen neue Autoritätsbeschränkungen, die die Nutzung von Kom- munikations- und Informationstechnologien limitieren 3.1 Forschungsdesign, Fallauswahl und (Schwanen/Kwan 2008). Als Reaktion auf die vermehr- ten virtuellen Kopräsenzen wurde beispielsweise die Datenerhebung Nutzung von mobilen Endgeräten bei Start und Landung Labor und Studio wurden für die komparative Analyse von Flugzeugen verboten und es wird vermehrt darum der Raum-Zeit-Trajektorien aus den Feldern der Kunst gebeten, Mobiltelefone in Theatern, Kinos und einigen und der Wissenschaft ausgewählt, da sowohl in der Restaurants (Harvey/Macnab 2000; Dijst 2004) aus Musikindustrie als auch in der Pharmaforschung kolla- Lärmschutzgründen aus- oder zumindest lautlos zu borative Prozesse immer einen konkreten physischen stellen. Zusätzlich zum Zugang zu virtuellen Bündeln, Aufnahme-Kontext (Studio) oder einen wissenschaftli- reguliert durch virtuelle Mitgliedschaften oder neukons- chen Test-Kontext (Labor) durchlaufen. Beiden Kontex- truierte Sicherheits- und Schutzmaßnahmen, stellt auch ten ist gemein, dass mehrere Akteure am Prozess betei- der Grad der Virtualisierung des Objektes eine neue und ligt sind und dass die raumzeitliche Koordinierung von objektbezogene Autoritätsbeschränkung des kollaborati- Akteuren und Objekten innerhalb des Prozesses eine ven Arbeitsprozesses dar, da virtualisierte Objekte einen komplexe Herausforderung darstellt. Gleichwohl unter- anderen raumzeitlichen Zugang ermöglichen als nicht- scheiden sich beide Kontexte in Hinblick auf die Virtuali- virtualisierte Objekte. sierung der zentralen Arbeitsobjekte: Während im Studio der Sound virtualisiert, digital bearbeitet und beinahe beliebig modelliert werden kann, steht diese Option bei Zellen im Labor nur partiell zur Verfügung. Um die Raum-Zeit Trajektorien in beiden Kontexten (Labor und Studio) zu erfassen, wurde eine ethnographi- sche4 Erhebungsstrategie mit teilnehmenden Beobach- 3 Slack ist ein webbasierter Instant-Messaging-Dienst, der es erlaubt, innerhalb von Gruppen Nachrichten auszutauschen, zu 4 Für detaillierte Informationen zur Durchführung von chatten sowie an gemeinsamen Dokumenten zu arbeiten. Ethnographien vgl. beispielsweise Creswell (2007).
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept 27 zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen Tabelle 2: Übersicht der teilnehmenden Beobachtungen in Labor und Studio Art Dauer Erhebungsorte Datentypen Auswertung Labor Teilnehmende 40 h Großraumbüro, Feldnotizen, Fotos Inhaltsanalyse Beobachtungen im Labor Laboratorien, Mikroskop-Raum Teilnehmende 19 h Konferenzraum Interaktionsprotokolle, Feldnotizen Beobachtungen von Meetings Teilnehmende 43 h Orte, die der Akteur Bewegungs- und Interaktionsprotokolle, Beobachtungen aufsuchte Feldnotizen (shadowing) von Akteuren Studio Teilnehmende 120 h Studio Feldnotizen, Interaktions- und Inhaltsanalyse Beobachtungen im Studio Bewegungsprotokolle, Audioaufnahmen von Interaktionen, Fotos Beobachtungen der 40 h Geschlossene Bildschirmfotos (screenshots), Feldnotizen Online-Interaktionen auf Facebook-Gruppe, Facebook und Slack geschlossene Slack-Gruppe tungen gewählt. Die teilnehmende Beobachtung ist eine 3.2 Die Ausgangssituationen: Labor und Methode der Ethnographie (vgl. Geertz 1973), beste- Studio hend aus der physischen Präsenz am Erhebungsort, der Teilnahme am Arbeitsalltag und einer detailreichen Das untersuchte pharmazeutische Labor ist auf einem Aufzeichnung von Interaktionen, informellen Interviews Forschungscampus in der Umgebung von Berlin angesie- und Beobachtungen von Alltags- und Arbeitsabläufen delt. Die Räumlichkeiten der beobachteten Laborgruppe (vgl. Girtler 2001). Während des jeweils zweiwöchigen liegen im dritten Stockwerk eines Forschungsgebäudes Beobachtungszeitraumes wurden im Labor sowohl und beheimaten vier unterschiedliche Laboratorien mit physische Orte (Großraumbüro, Laboratorien und der Laborgeräten, Kühlschränken und Brutschränken, in Mikroskop-Raum) und ihre darin stattfinden (physischen denen die benötigten Zellen, Viren und Tiere gehalten und virtuellen) Kopräsenzen als auch einzelne Akteure werden, sowie einem Mikroskop-Raum, mehrere Büro- teilnehmend begleitet (shadowing) und beobachtet (vgl. räume mit individuellen Computerarbeitsplätzen, einen Tabelle 2). Im Studio hingegen war für die teilnehmende Konferenzraum, zwei Lagerräume, eine Küche und ein Beobachtung der Akteure ein Shadowing nicht notwen- WC. Während des zweiwöchigen Beobachtungszeitrau- dig, da die aufgesuchten physischen Orte von einem mes waren wochentags meist alle 20 wissenschaftlichen Punkt aus beobachtbar waren. Zusätzlich wurden im Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter der Forschungsgruppe auf Studio Online-Interaktionen auf Facebook und Slack net- dem Forschungscampus physisch anwesend. In meh- nographisch5 (vgl. Kozinets 2009) erhoben (vgl. Tabelle reren kleineren Teams arbeiteten sie in verschiedenen 2), da diese besonders häufig für virtuelle Kopräsenzen Lokalitäten sowohl an individuellen Dissertationsprojek- genutzt wurden. Die beobachteten Raum-Zeit-Trajek- ten sowie an langjährigen kollaborativen Projekten. Vor- torien wurden jeweils mithilfe von Feldnotizen, Fotos, mittags wurden überwiegend individuelle Laborarbeiten Interaktions- und Bewegungsprotokollen festgehalten. durchgeführt, nachmittags fanden vor allem Meetings Anschließend wurden die empirischen Daten inhaltsana- der einzelnen Teams und Ad-hoc-Besprechungen zur lytisch (vgl. Mayring 2008) ausgewertet. Diskussion des aktuellen Arbeitsstandes im Großraum- büro statt. Am Wochenende wurde vereinzelt im Labor gearbeitet, wenn der zelluläre Prozess eine ununterbro- chene Observation erforderte. Zur längerfristigen Koor- 5 Netnographie ist eine Forschungsmethodik, welche an die Ethnographie angelehnt ist und zur Beobachtung, Erhebung und dination der einzelnen Teams und der gesamten For- Erfassung von Online-Interaktionen und der Nutzung von virtuellen schungsgruppe wurden vor allem E-Mail-Verteil-Listen, Medien dient (vgl. Kozinets 2009). Doodle-Umfragen und gemeinsame virtuelle Kalender
28 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher genutzt sowie WhatsApp-Gruppen zur spontanen Koor- dination von einigen Teams. Das untersuchte Tonstudio hat seinen Standort in Wien und wird von einem österreichischen Produzen- ten betrieben. Es liegt in den Kellerräumlichkeiten unter der Wohnung des Produzenten und verfügt über einen schalldichten Aufnahmeraum, einen Regieraum mit Hauptcomputer, einen Gemeinschaftsraum mit diversen Arbeitsplätzen und Nebencomputern, eine Küche sowie ein WC und ein Abstelllager. Während des zweiwöchi- gen Beobachtungszeitraumes arbeitete eine fünfköpfige Pop-Band in den Studioräumlichkeiten an der Aufnahme ihres Debütalbums. Der gesamte Aufnahmeprozess der Band vollzog sich in zwei sechswöchigen Arbeitsblöcken mit einer Pause von vier Monaten dazwischen. Der erste Block diente der Sammlung des künstlerischen Mate- rials und für drei erste Aufnahmen. Im zweiten Block wurden aus dem von der Band in der Zwischenzeit weiterentwickelten Material sechs weitere Songs pro- Abbildung 1: Bewegungsverhalten von zwei duziert. Zum Zeitpunkt der Beobachtungen befand sich zusammenarbeitenden Akteuren im Labor die Band in der zweiten Woche des zweiten Blocks. Die erste Woche diente hauptsächlich zu Planungsgesprä- chen und der (Wieder-)Einrichtung des Studios. In den sucht Mitarbeiter B im Laufe des Vormittags seinen Kol- zwei Wochen der Beobachtungen befanden sich alle legen A im Labor auf. In physischer Kopräsenz betrach- fünf Bandmitglieder, der Produzent und ein technischer ten beide abwechselnd die Zellproben (Objekt) durch ein Assistent beinahe ununterbrochen von 11:00 Uhr bis Mikroskop und diskutieren das Gesehene. Das Aufsu- 23:00 Uhr im Studio. Es wurde arbeitsteilig an mehreren chen des Labors wird notwendig, da die Zellen nicht vir- Arbeitsplätzen parallel gearbeitet. Der Produzent war mit tualisiert werden können und eine Bündelung von Akteur Schlagzeug- und Bassaufnahmen beschäftigt, während und Objekt (Zellen) nur in physischer Kopräsenz möglich sich die anderen Akteure auf die Weiterentwicklung ein- ist. Anschließend verlässt B das Labor wieder. Bevor zelner Song-Arrangements konzentrierten. Parallel zur auch A das Labor verlässt, um seine E-Mails abzurufen physischen Anwesenheit im Studio kommunizierten und einen Blick auf sein Handy zu werfen, präpariert er alle Akteure über eine geschlossene Facebook-Gruppe Zellen für das am nächsten Tag geplante Experiment sowie über diverse andere virtuelle Kanäle wie Dropbox (Kopplungsbeschränkung). In dieser Sequenz wird und dem Instant-Messaging-Dienst Slack. erkennbar, dass die neuen Autoritätsbeschränkungen in Form von Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen den Zugang zu virtuellen Bündeln stark limitieren. Zwar exis- 3.3 Raum-Zeit-Trajektorien in Labor und tiert im Labor ein Festnetztelefon, doch andere materi- Studio elle Vorrichtungen für weitere virtuelle Kommunikations- modi, wie beispielsweise ein internetfähiger Computer, Abbildung 1 zeigt eine typische Raum-Zeit-Trajektorie sind im Labor nicht vorhanden. Auch das Mitführen eines zweier Akteure während ihres kollaborativen Arbeitspro- Handys ist zwar nicht explizit verboten, doch aufgrund zesses im Labor, wobei ihre Handlungen durch die drei von genverändernden Arbeitssubstanzen und dem Ver- raumzeitlichen Beschränkungen ermöglicht und limitiert meiden von Störgeräuschen aus Eigeninteresse unter- werden. lassen worden. Um Zugang zu seinen E-Mails (virtuelles Zu Beginn des hier dargestellten Arbeitstages koor- Bündel) zu erlangen, sucht Mitarbeiter A das Groß- dinieren sich die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter raumbüro auf, in dem in Form seines Arbeitscomputers A und B zuerst in physischer Kopräsenz und später per die materielle Vorrichtung zur virtuellen Kopräsenz (in Festnetztelefon (synchrone virtuelle Kopräsenz, redu- diesem Falle zum Abrufen von E-Mails) verankert ist zierte Kapazitätsbeschränkung). Um sich einen Einblick (Kopplungs- und Autoritätsbeschränkung). Nach dem in den bisherigen Experimentverlauf zu verschaffen, Abrufen und Beantworten einiger E-Mails verlässt A das
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept 29 zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen Büro wieder, um an einem speziellen Mikroskop im Mik- roskop-Raum die Ergebnisse des am Vormittag durch- geführten Experimentes zu analysieren (Kopplungs- beschränkung). Um die Ergebnisse des Experimentes raumzeitlich entkoppelt mit seinem Kollegen B zu einem späteren Zeitpunkt im Großraumbüro sowie mit physisch dispersen Kollegen zu diskutieren, fotografiert A mithilfe des an das Mikroskop angeschlossenen Computers ver- schiedene Zellausschnitte seiner am Vormittag herge- stellten Zellproben. Während des zweiwöchigen Beobachtungszeit- raumes waren die Akteure durch das bisher nicht vir- tualisierbare Objekt (lebende Zellen) physisch stark an das Objekt gekoppelt und mussten sowohl spezifische Räumlichkeiten (Labor, Mikroskop-Raum) als auch vom Objekt vorgegebene Zeitintervalle (Präparierung der Zellen) innerhalb ihres kollaborativen Prozesses einhal- ten, was die Vielzahl der raumzeitlich fixierten Tätigkei- ten mit einem Clock-based-Koordinierungsstil erklärt. Um dieser Kopplung entgegenzuwirken, virtualisierten Abbildung 2: Bewegungsverhalten von zwei die Akteure die Ergebnisse ihrer Experimente, was zusammenarbeitenden Akteuren im Tonstudio insbesondere zu einer partiellen Entkopplung der Aus- wertung und Interpretation führte. Zur gemeinsamen lungen durch die drei raumzeitlichen Beschränkungen Kommunikation nutzten die Akteure im Labor sowohl ermöglicht und limitiert. physische als auch virtuelle Kopräsenzen, wobei syn- Im Verlauf dieses Arbeitstages koordinieren Produ- thetische Situationen meist durch Echtzeitübertragun- zent X und Schlagzeuger Y den Tagesablauf per Telefon gen von Mikroskopausschnitten oder das gemeinsame und über Facebook (FB) mit der Band. Im Studio treffen Interpretieren der virtualisierten Ergebnisse am Bild- X und Y aufeinander, um die Schlagzeugaufnahmen vor- schirm innerhalb des kollaborativen Prozesses auf- zunehmen. Anschließend an das Telefonat (synchrone traten. Insgesamt wurde die partielle Entkopplung in virtuelle Kopräsenz, reduzierte Kapazitätsbeschrän- Form einer Virtualisierung der Ergebnisse vor allem in kung) postet der Schlagzeuger auf dem Weg ins Studio Kombination mit der virtuellen (asynchronen) Kommu- in die geschlossene Facebook-Gruppe der Band, dass nikation per E-Mail genutzt, um Ergebnisse gemeinsam er den Aufnahmeraum für seine Aufnahmen vormittags mit physisch dispersen Akteuren zu teilen und zu disku- nutzt, sodass dieser währenddessen nicht vom Sänger tieren. Zusätzlich konnte festgestellt werden, dass die genutzt werden könne. Der Kommunikationskanal Face- neuen Autoritätsbeschränkungen in Form von Sicher- book-Gruppe (asynchrone virtuelle Kopräsenz) ent- heits- und Schutzmaßnahmen in den Laboren (wie die spricht einer weiteren reduzierten Kapazitätsbeschrän- Vermeidung von Störgeräuschen oder keine ans Inter- kung, da die Kommunikation in diesem virtuellen Bündel net angeschlossene Computer) dazu führten, dass die nicht nur keiner physischen Kopräsenz bedarf, sondern Akteure regelmäßig und aktiv das Großraumbüro auf- auch zeitlich entkoppelt ist. Dennoch treten in diesem suchten, um dort Zugang zu entsprechenden virtuel- virtuellen Bündel neue Autoritäts- und Kapazitätsbe- len Kopräsenzen zu erlangen. Neben der häufig aktiv schränkungen auf. Zum einen ist die Facebook-Gruppe generierten physischen Kopräsenz nutzten die Akteure der Band geschlossen und nur durch eine persönliche vor allem asynchrone virtuelle Kommunikationsmodi Einladung zugänglich, zum anderen müssen die Mit- (mit Ausnahme des Festnetztelefons), da eine ununter- glieder der Gruppe aufgrund der vielgenutzten virtuellen brochene Teilnahme an den virtuellen Bündeln durch Kommunikation regelmäßig online verfügbar in response die Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen im Labor presence sein. Der Produzent und die Band können im nicht möglich war. Rahmen dieser Verfügbarkeit aller Akteure einen inter- Abbildung 2 zeigt eine typische Raum-Zeit-Trajekto- aktionsbasierten Koordinierungsstil nutzen, wodurch rie zweier Akteure während ihres kollaborativen Arbeits- regelmäßige Koordinationstreffen obsolet werden, wie prozesses im Studio. Wie im Labor werden ihre Hand- unser Beispiel zeigt:
30 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher Als der Schlagzeuger Y in Abbildung 2 das Studio hingegen werden (auch auf der Bühne) virtuell erzeugt erreicht, betrachtet der Produzent X den aktuellen Stand und sind nicht der Anwesenheit im Studio unterworfen. des Projektes und antwortet auf das Facebook-Posting Dennoch werden diese Elemente im Aufnahmeprozess des Schlagzeugers, dass heute die physische Anwe- zum Großteil auch in physischer Kopräsenz im Aufent- senheit des Sängers im Tonstudio nicht erforderlich sei. haltsraum des Studios entworfen einerseits, weil die Die Mitglieder der Band sind den interaktionsbasierten Expertise des Produzenten dort direkt verfügbar ist, Koordinierungsstil gewohnt, da sie sich auch über den und andererseits, weil die grundsätzliche physische webbasierten Instant-Messenger-Dienst Slack koordi- Verfügbarkeit aller Akteure im Schaffensprozess direk- nieren. Der Produzent ist in der Slack-Gruppe ausge- tes Feedback und vor allem ein gemeinsames Abhören schlossen (neue Autoritätsbeschränkungen), damit dort ermöglicht. Ist ein Element fertig, lädt es die Band auf bandinterne Dinge, die auch die Arbeit des Produzenten einen geteilten Online-Server hoch, um es für alle betei- betreffen, diskutiert werden können. Der Sänger geht ligten Akteure verfügbar und bearbeitbar (reduzierte davon aus, dass alle das Posting auf Facebook gelesen Kopplungsbeschränkung) zu machen. Durch die Virtu- haben, und schreibt in die Slack-Gruppe, dass er den alisierung des Sounds werden die Musiker raumzeitlich Proberaum der Band für Gesangsentwicklung verwen- entkoppelt und können sowohl synchron als auch asyn- den werde, aber trotzdem auf das Feedback des Produ- chron individuell an den aufgenommenen Versionen zenten angewiesen sei. In dieser Sequenz wird erkenn- arbeiten. Die Entkopplung vom Objekt führte im Falle bar, dass beide virtuelle Bündel, die Facebook-Gruppe des Studios dazu, dass der Aufnahmeprozess überwie- und die Slack-Gruppe, parallel existieren und für unter- gend in virtuellen Bündeln durch die Akteure koordiniert schiedliche Zwecke genutzt werden. wird, wobei der Produzent in seiner Funktion als Experte Im Studio treffen sich schließlich Produzent X und die Musiker an seine physische Anwesenheit im Studio Schlagzeuger Y in physischer Kopräsenz, um mit den koppelt. Schlagzeugaufnahmen zu beginnen. Während des Physische Anwesenheit im Studio ist – zusammen- Aufnahmeprozesses müssen die Telefone ausgeschal- gefasst – notwendig, einerseits für die Aufnahme ana- tet oder weggelegt werden, da sie sonst Störgeräu- loger Instrumente wie Schlagzeug, Gesang, Gitarren sche erzeugen. Dementsprechend sind beide Akteure und Bässe unter der Expertise des Produzenten, was während der Aufnahme nicht mehr an ihren Handys der klassischen Funktion des Musikstudios entspricht. verfügbar, schauen jedoch in den Pausen regelmä- Andererseits ist das Studio ein abgeschirmter Ort kreati- ßig auf ihre Handy-Bildschirme. Trotz der laufenden ver Auseinandersetzung, innerhalb dessen nicht nur die Aufnahmen hat der Produzent am Hauptcomputer die Entwicklung von Songs sondern parallel dazu, ebenso Facebook-Gruppe in einem separaten Fenster ununter- unter Einfluss des Produzenten, die Aushandlung von brochen geöffnet. An dieser Sequenz wird deutlich, dass Bandidentität und künstlerischen Identitäten geschieht. die Nutzung der materiellen Vorrichtungen zur virtuellen Kommunikation in Form eines Telefons (neue Kopp- lungsbeschränkung) während des Aufnahmeprozesses 3.4 Komparative Analyse aufgrund von neuen Autoritätsbeschränkungen (Schutz vor Lärm- und Störgeräuschen) limitiert wird. Trotz der Der signifikanteste Unterschied in den Raum-Zeit-Trajek- Beschränkung der Handy-Nutzung durch die Schutz- torien der kollaborativen Prozesse in Labor und Studio maßnahmen ist eine Nutzung des Computers beinahe resultiert aus den jeweils spezifischen Möglichkeiten, zu jeder Zeit möglich, sodass der Zugang zu virtuellen die jeweiligen Objekte zu virtualisieren (vgl. Tabelle 3). Bündeln innerhalb des Arbeitsprozesses im Studio zu Arbeiten Akteure im Labor bislang mit einem nur parti- jeder Zeit möglich ist. Die Simultanität von physischen ell virtualisierbaren Objekt (lebende Zelle), so lässt sich und virtuellen Kopräsenzen im Rahmen von syntheti- das Objekt im Studio (Sound) grundsätzlich beliebig schen Situationen ist die Regel. virtualisieren. Bedingt durch diese unterschiedlichen Die physische Kopräsenz des Produzenten X und raumzeitlichen Kopplungs- und Autoritätsbeschränkun- des Schlagzeugers Y im Studio ist notwendig, da die gen entstehen innerhalb des kollaborativen Prozesses Band mit dem Produzenten entschieden hatte, das unterschiedliche Anforderungen und Bedingungen für Schlagzeug analog aufzunehmen. Diese Entscheidung Kopräsenzen. basiert auf der Tatsache, dass die Band auch live mit Zum einen bedingt der Grad der Virtualisierung des analogem Schlagzeug auftritt und die Songs dement- Objektes den Zugang zu virtuellen Bündeln zwischen sprechend konzipiert sind. Andere Elemente des Albums Akteur und Objekt. Ist der Akteur im Labor aufgrund der
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept 31 zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen Tabelle 3: Ergebnisse der komparativen Analyse von Labor und Studio Labor Studio Objekt Objekt: Zellen Objekt: Sound Grad der Virtualisierung: partiell Grad der Virtualisierung: vollständig virtualisierbar virtualisierbar Raumzeitliche Kopplungen Starke physische Kopplung an das Objekt Entkopplung vom Objekt durch Virtualisierung Partielle Entkopplung durch Virtualisierung Explizite Entscheidung für analoge der Ergebnisse Aufnahmepraktiken Koordinierung des Arbeitsprozesses Raumzeitliche Koordinierung größtenteils Raumzeitliche Koordinierung größtenteils vom durch das Objekt und einer Clock-based- Produzenten und der Band interaktionsbasiert Koordinierung ausgehandelt nur partiellen Virtualisierung des Objektes physisch stark 4 Zusammenfassung und gekoppelt und sind die Möglichkeiten der virtuellen Bün- delung von Akteuren und Objekt stark limitiert, führt die Implikationen Virtualisierung des Sounds zur raumzeitlichen Entkopp- Ziel unserer methodisch-konzeptionellen Erweiterung lung vom Objekt und ermöglicht virtuelle Bündelungen. ist die Entwicklung eines Instruments zur Konzeption Zum anderen schränken die Schutz- und Sicher- und zur empirisch-qualitativen Erfassung von Raum- heitsvorkehrungen sowie die nur an bestimmten phy- Zeit-Trajektorien in kollaborativen Prozessen. In einem sischen Orten verankerten materiellen Vorrichtungen ersten Schritt wurde dazu das zeitgeographische Modell zur virtuellen Kommunikation die virtuelle Kopräsenz von Hägerstrand um eine virtuelle Dimension erwei- im Labor stark ein, sodass vor allem asynchrone vir- tert, die nachhaltige Veränderungen der raumzeitlichen tuelle Kommunikationsmodi mit einer zeitlich relativ Beschränkungen (vgl. Tabelle 1) impliziert. Durch Ein- langen Erwiderungsverantwortung (z. B. E-Mail) genutzt bezug virtueller Kopräsenzen (veränderte Kapazitäts- werden. Im Studio hingegen, in dem der Zugang zu virtu- beschränkungen), der Virtualisierung von Objekten ellen Bündeln fast immer gegeben ist, werden zwar auch (veränderte Kopplungsbeschränkungen) und der vir- überwiegend asynchrone virtuelle Kommunikationsmodi tuellen Interaktionsmedien (veränderte Autoritätsbe- genutzt, jedoch mit einer deutlich kürzeren Erwiderungs- schränkungen) können zusätzliche relevante Kontexte verantwortung (z. B. Instant-Messaging-Dienst), sodass (vgl. Tabelle 4) innerhalb des kollaborativen Prozesses es zu einer fast ununterbrochenen response presence erfasst werden. kommt. Ein weiterer Unterschied lässt sich in den Koor- Mit der Erweiterung der Kapazitätsbeschränkungen dinierungsstilen beider Arbeitsprozesse finden. Ist der um virtuelle Kopräsenzen können insbesondere auch Arbeitsprozess im Labor durch das Objekt und einen synthetische Situationen innerhalb des kollaborativen Clock-based-Koordinierungsstil stark an raumzeitlich Prozesses erhoben werden. Eine Erfassung der raum- fixierte Aktivität gekoppelt, so ist die Aktivität durch ihre zeitlichen Kopplung oder Entkopplung zwischen Akteur meist gegebene raumzeitliche Entkopplung im Studio und Objekt wird durch die Erweiterung der Kopplungs- deutlich flexibler. Hier übernimmt vor allem der Produ- beschränkungen um virtuelle Objekte ermöglicht. Die zent in seiner Rolle als Experte und seiner physischen Erweiterung der Autoritätsbeschränkungen um virtu- Anwesenheit im Studio eine interaktionsbasierte Koordi- elle Mitgliedschaften ermöglicht die Erhebung virtueller nationsfunktion. Zugangsbeschränkungen zu virtuellen Räumen und Trotz der sehr unterschiedlichen raumzeitlichen Bündel. Zusätzlich zur empirischen Erhebung raum- Beschränkungen des kollaborativen Arbeitsprozesses zeitlicher Aktivitätsmuster in kollaborativen Prozessen ist beiden erhobenen Raum-Zeit-Trajektorien gemein, bietet das erarbeitete Konzept ein methodisches In- dass sowohl das Labor (bedingt durch das Objekt) als strument zur vergleichenden Analyse unterschiedlicher auch das Studio (bedingt durch den Produzenten) als Raum-Zeit-Trajektorien. Ziel dieser Erweiterung war es, physische Anker für physische wie virtuelle kollaborative einen methodischen Werkzeugkasten zu entwickeln, der (Arbeits)praktiken von zentraler Bedeutung sind. kleinste Veränderungen in den Kapazitäts-, Kopplungs- und Autoritätsbeschränkungen und ihre Interdepen- denzen systematisch konzeptualisieren und empirisch
32 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher Tabelle 4: Übersicht der durch die Erweiterung der Zeitgeographie erfassbaren Kontexte Erfassbare Kontexte mit Hägerstrand Zusätzlich erfassbare Kontexte mit qualitativer Erweiterung Kapazitätsbeschränkungen Physische Kopräsenzen Synthetische Situationen, virtuelle Kopräsenzen Kopplungsbeschränkungen Kopplung durch physische Kopplung/Entkopplung durch Virtualisierung von Objekteigenschaften Objekten Autoritätsbeschränkungen Zugangsbeschränkungen zu physischen Zugangsbeschränkungen zu virtuellen Lokalitäten Lokalitäten und physischen Bündeln und virtuellen Bündeln abbilden kann. Eine derartige methodische Erweiterung Literatur kann jedoch keine inhaltliche Interpretation zum Verlauf von Raum-Zeit-Trajektorien in kollaborativen Prozes- Bathelt, H.; Turi, P. (2011): Local, global and virtual buzz: The importance of face-to-face contact in economic interaction and sen bieten, sondern erhebt lediglich den Anspruch, ein possibilities to go beyond. In: Geoforum 42, 5, 520-529. doi: methodisches Werkzeug zur Erfassung und komparati- 10.1016/j.geoforum.2011.04.007 ven Analyse raumzeitlicher Aktivitätsmuster in kollabora- Campos-Castillo, C. (2012): Copresence in Virtual Environments. tiven Prozessen bereitzustellen. In: Sociology Compass 6, 5, 425-433. doi: 10.1111/j.1751- In methodischer Hinsicht schlagen wir zur Erhebung 9020.2012.00467.x der raumzeitlichen Aktivitätsmuster ethnographische Couclelis, H. (2000): From Sustainable Transportation to Sustainable Accessibility: Can We Avoid a New Tragedy Erhebungsstrategien wie beispielsweise teilnehmende of the Commons? In: Janelle, D. G.; Hodge, D. C. (Hrsg.): Beobachtungen oder Netnographien vor. Der Vorzug Information, Place, and Cyberspace: Issues in Accessibility. der Detailtiefe wird bei diesen Erhebungsstrategien Berlin, 341-356. doi: 10.1007/978-3-662-04027-0 allerdings mit der Herausforderung erkauft, erhebliche Couclelis, H. (2004): Pizza over the Internet: e-commerce, the Datenmengen (die etwa durch eine Vielzahl synchroner fragmentation of activity and the tyranny of the region. In: Entrepreneurship and Regional Development 16, 1, 41-54. doi: kollaborativer Prozesse im Großraumlabor kontinuier- 10.1080/0898562042000205027 lich generiert werden) analysieren zu müssen. Entspre- Creswell, J. W. (2007): Qualitative inquiry and research design: chende Ansprüche an eine hinreichende Granularität Choosing among five approaches. London. sind vielfach nur über eine Beschränkung auf die Analyse Dijst, M. (2004): ICTs and Accessibility: An Action Space von Teilprozessen einlösbar. Zudem stellt die Virtualisie- Perspective on the Impact of New Information and rung und die Synchronität unterschiedlicher Interaktions- Communication Technologies. In: Beuthe, M.; Himanen, V.; Reggiani, A.; Zamparini, L. (Hrsg.): Transport Developments modi in synthetischen Situationen (in der ein Akteur etwa and Innovations in an Evolving World. Berlin, 27-46. doi: gleichzeitig ein Telefonat führt, On-screen-Projektionen 10.1007/978-3-540-24827-9 betrachtet und handschriftliche Notizen macht) teilneh- Farber, S.; Neutens, T.; Miller, H.J.; Li, X. (2013): The Social mende Beobachtungsstrategien vor grundsätzliche Her- Interaction Potential of Metropolitan Regions: A Time- ausforderungen, die vorläufig nur mit erheblichem Beob- Geographic Measurement Approach Using Joint Accessibility. In: Annals of the Association of American Geographers 103, 3, achtungsmehraufwand bewältigbar scheinen. 483-504. doi: 10.1080/00045608.2012.689238 Trotz dieser methodischen Grenzen des entwickel- Geertz, C. (1973): Thick Description: Toward an Interpretative ten Instruments konnte mithilfe der Vignetten der Raum- Theory of Culture. In: Geertz, C. (Hrsg.): The Interpretation of Zeit-Trajektorien in Labor und Studio gezeigt werden, Cultures. Selected Essays. New York, 310-323. dass die veränderten raumzeitlichen Bedingungen Girtler, R. (2001): Methoden der Feldforschung. Wien. starken Einfluss auf kollaborative Prozesse haben und Grabher, G. (2002): Cool Projects, Boring Institutions: Temporary Collaboration in Social Context. In: Regional Studies 36, 3, die vorgeschlagene qualitativ orientierte Erweiterung des 205-214. doi: 10.1080/00343400220122025 zeitgeographischen Modells um eine virtuelle Dimension Grabher, G.; Ibert, O. (2014): Distance as asset? Knowledge für komparative empirische Analysen fruchtbar gemacht collaboration in hybrid virtual communities. In: Journal of werden kann. Economic Geography 14, 1, 97-123. doi: 10.1093/jeg/lbt014 Grabher, G.; Maintz, J. (2007): Learning in personal networks: Collaborative knowledge production in virtual forums. In: Hof, H.; Wengenroth, U. (Hrsg.): Innovationsforschung: Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven. Hamburg, 187-202. = Innovationsforschung 1.
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