"Hägerstrand online": Ein methodisches Konzept zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen "Hägerstrand online": A methodical ...

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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2020; 78(1): 21–33

Beitrag / Article                                                                                              Open Access

Alice Melchior*, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

„Hägerstrand online“: Ein methodisches
Konzept zur Analyse raumzeitlicher
Trajektorien in Kollaborationen
“Hägerstrand online”: A methodical template
for the analysis of space-time trajectories in
collaborations
https://doi.org/10.2478/rara-2019-0051
Eingegangen: 11. Oktober 2018; Angenommen: 6. August 2019

Kurzfassung: In der Wirtschaftsgeographie stieg in den letzten Jahren das Interesse an Fragen der Temporalität,
wobei sowohl kurz- als auch längerfristige physische Interaktionskonstellationen in den Fokus rückten. Trotz der
starken empirischen wie theoretischen Ausdifferenzierung physischer Kopräsenzen wurden zwei Aspekte bisher
kaum ausreichend problematisiert: erstens das dichotome Verständnis physischer Kopräsenz (das sich auf die
binäre Differenzierung von Abwesenheit und Anwesenheit reduziert) und zweitens die Konzeption virtueller Koprä-
senz als eine defizitäre Version von Kommunikation (der das breite Spektrum sinnlicher Dimensionen von Face-
to-face-Interaktionen fehlt). Zur Problematisierung dieser Aspekte von Kopräsenz reichern wir unsere geographi-
sche Argumentation mit Befunden aus benachbarten Disziplinen an und fokussieren die durch die Virtualisierung
implizierten Veränderungen der Kommunikationskontexte. Hierbei stellen insbesondere die komplexen Verflechtun-
gen von Offline- und Online-Interaktionen die etablierten geographischen Zugänge vor methodische und konzep-
tionelle Herausforderungen. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen wird eine Erweiterung des zeitgeographi-
schen Modells von Torsten Hägerstrand um eine virtuelle Dimension vorgeschlagen. Ziel unserer Erweiterung ist
es, raumzeitliche Beschränkungen kollaborativer Prozesse sowohl in physischen als auch in virtuellen Kontexten
sowie in (physisch-virtuellen) synthetischen Situationen empirisch erfassbar und vergleichbar zu machen. Unsere
methodisch-konzeptionelle Erweiterung der Zeitgeographie illustrieren wir mit empirischen Vignetten kollaborativer
Prozesse aus den Feldern Kunst (Musikproduktion im Studio) und Wissenschaft (Pharmaforschung im Labor).

Schlüsselwörter: Hägerstrand, Zeitgeographie, Virtualität, Kopräsenz, Labor, Studio

Abstract: In economic geography, during the last years interest in various aspects of temporality increased, both in
the context of short- as well as longer-term physical interaction constellations. Despite the empirical and theoretical
differentiation of physical co-presence, two aspects have not been problematized in a sufficiently systematic fashion
so far: first, the dichotomous understanding of physical co-presence (that is reduced to a binary differentiation of
presence/absence) and, second, the conception of virtual co-presence as a deficient version of communication (that
lacks the broad spectrum of sensual cues of face-to-face interaction). To overcome the insufficient conceptualization

*Corresponding author: Alice Melchior, Hafencity Universität Hamburg, Arbeitsgebiet Stadt- und Regionalökonomie, Überseeallee 16,
20457 Hamburg, Deutschland, E-mail: alice.melchior@hcu-hamburg.de, ORCID: 0000-0001-8441-2392
Benjamin Schiemer, Johannes-Kepler-Universität Linz, Institut für Organisation, Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich
Prof. Dr. Gernot Grabher, Hafencity Universität Hamburg, Arbeitsgebiet Stadt- und Regionalökonomie, Überseeallee 16, 20457
Hamburg, Deutschland

  Open Access. © 2020 Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher, published by Sciendo.              This work is licensed
under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
22       Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

of co-presence we enrich our geographical argumentation with findings from adjacent disciplines and focus on the
modification in communication contexts implied by virtualization. In particular, the intricate entanglement of offline
and online interaction dynamics is challenging the established methodical and conceptual geographical approaches.
In order to deal with these challenges, we seek to advance the time-geographic model of Torsten Hägerstrand by
including the virtual dimension of interactions. The aim of our extension is the development of a methodical template
that is suitable to conceptualize empirically space-time trajectories in physical, virtual and (physical-virtual) synthetic
contexts. We illustrate our methodical-conceptual extension of the time-geographic model with empirical vignettes
from the fields of art (music production in a studio) and science (pharmaceutical research in a laboratory).

Keywords: Hägerstrand, Time geography, Virtuality, Co-presence, Laboratory, Studio

1 Einleitung                                                  Grenzen der Kommunikation inhärent. Die Asynchroni-
                                                              tät virtueller Kommunikationsprozesse bietet gegenüber
Das Interesse der Wirtschaftsgeographie verschob sich         Face-to-face-Interaktionen beispielsweise die Vorteile,
in den letzten Jahren von permanenten physischen              Argumente mit Belegmaterial (wie etwa Internetlinks
Interaktionskonstellationen, etwa in territorialen Inno-      oder Abbildungen) zu untermauern, Modifikationen
vationssystemen wie Industrial Districts oder Clustern        einer möglichen Lösung zu testen (Grabher/Ibert 2014)
(Bündeln), zunehmend hin zu temporären Kooperatio-            sowie Gelegenheiten zum reflective reframing (Harga-
nen. Das steigende Interesse an der Frage der Tempo-          don/Bechky 2006: 489 ff.) bis hin zur Umstrukturierung
ralität erstreckt sich von sehr kurzfristigen physischen      eigener Wissensbestände etwa durch spezifische Anfra-
Konstellationen wie Konferenzen (Maskell/Bathelt/             gen oder Anregungen anderer Interaktionspartner. Vir-
Malmberg 2006) über mittelfristige Kooperationen im           tuelle Kopräsenz, so einer unserer zentralen Ausgangs-
Rahmen von Projekten (Grabher 2002) bis hin zu län-           punkte, lässt sich daher nicht allein auf eine defizitäre
gerfristigen physischen Interaktionskonstellationen wie       Version von physischer Kopräsenz reduzieren (Bathelt/
etwa im Rahmen von Forschungsaufenthalten (Torre/             Turi 2011), sondern stellt vielmehr einen Kontext sui
Rallet 2005). Mit der Fokusverschiebung erfolgte eine         generis dar, der zum integrierten Bestandteil kollaborati-
starke empirische und theoretische Ausdifferenzierung         ver Prozesse geworden ist (Grabher/Melchior/Schiemer
der temporären physischen Kopräsenz, wobei zwei               et al. 2018). Darauf aufbauend gehen wir davon aus,
Aspekte vor dem Hintergrund der zunehmenden Vir-              dass das Verständnis von Kopräsenz als „being there“
tualisierung bisher nur unzureichend problematisiert          (das heißt, den gleichen physischen Raum mit anderen
wurden: erstens blieb der Begriff Kopräsenz lange auf         Akteuren zu teilen) im Zuge der Virtualisierung durch
ein dichotomes und physisches Verständnis von Koprä-          ein Verständnis von Kopräsenz als „being aware“ (das
senz beschränkt, das lediglich eine binäre Differenzie-       heißt sich aktiv gegenseitig aneinander orientieren) ver-
rung von kopräsent/nichtkopräsent und keinerlei Misch-        standen werden sollte (Grabher/Melchior/Schiemer et al.
formen (wie etwa kopräsent, aber nicht verfügbar) kennt;      2018).
zweitens dominierte eine Konzeption von virtueller                 Studien der Wissenschafts- und Technikforschung
Kopräsenz als unvollständigem Substitut für physische         (z. B. Knorr Cetina 2009) sowie soziologische Aus-
Kopräsenz (Grabher/Ibert 2014). Zur Problematisierung         einandersetzungen (z. B. Zhao 2003; Zhao/Elesh 2008;
beider Annahmen reichern wir unsere geographische             Campos-Castillo 2012; Houben 2018) demonstrieren
Argumentation mit relevanten Befunden aus benachbar-          darüber hinaus, dass virtuelle Kopräsenzen in ihrer
ten Disziplinen und Forschungsfeldern wie der Soziolo-        geographischen und soziodemographischen Reich-
gie und der Wissenschafts- und Technikforschung an.           weite sowie in ihrer Informationstiefe dramatisch zuge-
     Die zunehmende Virtualisierung in allen Bereichen        nommen haben. Die zunehmende Gleichzeitigkeit und
der Kommunikation ermöglicht zum einen Kopräsen-              Verschmelzung von Kopräsenz/Abwesenheit sowie von
zen zwischen physisch entfernten Akteuren (Grabher/           physischen/virtuellen Interaktionen führt vermehrt zu
Maintz 2007; Campos-Castillo 2012) sowie Kopräsen-            dem, was Knorr Cetina (2009: 61) als „synthetische Situ-
zen zwischen Akteuren und technologischen Artefakten          ationen“ bezeichnet. Synthetische Situationen umfassen
wie beispielsweise elektronisch übertragene On-screen-        elektronisch übertragene On-screen-Projektionen, die
Projektionen (Knorr Cetina 2009: 65 f.). Zum anderen          dem Kommunikationskontext sowohl Informationstiefe
sind virtuellen Kopräsenzen eigene Möglichkeiten und          wie auch neue Reaktionsanforderungen hinzufügen.
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept        23
                                                           zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen

In einer Video-Konferenz beispielsweise interagieren        eine methodisch-konzeptionelle Erweiterung der klassi-
zwei oder mehr Akteure virtuell miteinander (response       schen Zeitgeographie um eine virtuelle Dimension.
presence), während sich jeder Akteur in seiner eigenen           Zur Entwicklung unserer konzeptionell-methodi-
physischen Umgebung befindet (embodied presence).           schen Erweiterung werden wir zuerst die grundlegen-
Bedingt durch die vermehrte Nutzung von Informations-       den Begriffe und theoretischen Ausgangspunkte der
und Kommunikationstechnologien beschreibt die syn-          Zeitgeographie erläutern sowie die grundlegende Kritik
thetische Situation eine neuartige und ubiquitäre Form      am Modell der klassischen Zeitgeographie vorstellen
der Kopräsenz, bei der sich die physische Umgebung          (Kapitel 2.1). In einem folgenden Schritt werden wir in
(physische Kopräsenz) und die virtuelle On-screen-Pro-      Anlehnung an bisherige Erweiterungen der Zeitgeogra-
jektion (virtuelle Kopräsenz) gegenseitig bedingen.         phie die Modifikationen der raumzeitlichen Beschränkun-
     Das Verständnis von Kopräsenz als „being aware“        gen durch virtuelle Kopräsenzen sowie die Generierung
und die Omnipräsenz synthetischer Situationen stellt die    neuer Beschränkungen systematisch analysieren, um
etablierten geographischen Zugänge vor methodische          anschließend eine konzeptionell-methodische Erwei-
und empirische Herausforderungen. Erstens muss der          terung der Zeitgeographie zu erarbeiten (Kapitel 2.2).
Fluss von Interaktionssequenzen mit einer Granularität      Anknüpfend illustrieren wir unsere vorgeschlagene
erfasst werden, die es erlaubt, die Dynamiken der Koprä-    Erweiterung mit ethnographischen Vignetten aus unserer
senzen über mehrere Kommunikationskontexte hinweg           empirischen Erforschung kollaborativer Prozesse in den
(z. B. Diskussion eines Experiments in einer Skype-         Feldern Kunst (Musikproduktion im Studio) und Wissen-
Konferenz, Durchführung des Experiments im Labor,           schaft (pharmazeutische Forschung im Labor) (Kapitel
Zirkulation der Ergebnisse per E-Mail, Arbeitskoordina-     3).1 In Kapitel 4 werden die Ergebnisse zusammenge-
tion über Beiträge (postings) in geschlossenen Face-        fasst.
book-Gruppen) durch prozessorientierte und standort-
übergreifende Forschung zu verfolgen und sinnvoll zu
interpretieren. Zweitens müssen hierbei nicht nur die
raumzeitlichen Beschränkungen physischer Kopräsen-
                                                            2 Konzeptionell-methodische
zen, sondern auch die Chancen und Grenzen virtueller        Erweiterung des zeitgeographi-
Kopräsenzen berücksichtigt werden, wobei vor allem
die Simultanität von physischer und virtueller Kopräsenz
                                                            schen Modells
in synthetischen Situationen (z. B. Skype-Konferenz)
eine konzeptionelle wie methodische Herausforderung         2.1 Theoretische Ausgangspunkte
darstellt (Grabher/Melchior/Schiemer et al. 2018). Zur      und begriffliche Grundlagen der
Bewältigung dieser Herausforderungen entwickeln wir         Zeitgeographie
im Folgenden ein methodisches Instrument zur Erfas-
sung und zum Vergleich raumzeitlicher Aktivitätsmus-        Theoretische Prämisse der Zeitgeographie ist die
ter innerhalb kollaborativer Prozesse. Als tragfähiger      Untrennbarkeit von Raum und Zeit: Jeder Akteur folgt
Ausgangspunkt wurde das zeitgeographische Konzept           einem individuellen Pfad durch ein Raum-Zeit-Konti-
von Hägerstrand gewählt, da es mit seinem Fokus auf         nuum (Hägerstrand 1970: 9 f.). Diese individuellen Pfade
die raumzeitlichen Bedingungen des individuellen Han-       sind durch das Zusammenspiel unterschiedlicher raum-
delns die Konzeptualisierung und empirische Erfassung       zeitlicher Beschränkungen („capability, coupling and
von Raum-Zeit-Trajektorien in physischen Kontexten          authority constraints“) konditioniert (Hägerstrand 1970:
ermöglicht. In Anlehnung an die bisherigen Erweiterun-      10 ff.). Auf der Grundlage der biologischen Konstruktion
gen der klassischen Zeitgeographie (z. B. Kwan 2000;        des menschlichen Körpers wird der Handlungsspielraum
Kwan 2004; Miller 2005; Schwanen/Kwan 2008; Yu/             jedes Akteurs durch die Kapazitätsbeschränkungen
Shaw 2008; Shaw/Yu 2009; Farber/Neutens/Miller et al.       begrenzt: Akteure können sich physisch grundsätzlich
2013; Miller 2017) versuchen wir aus einer qualitativen     nur an einem Ort aufhalten. Die Kopplungsbeschrän-
Perspektive heraus, die Modifikationen und vor allem        kungen hingegen begrenzen den Ort, den Zeitpunkt und
die Generierung neuer Beschränkungen kollaborativer
(Arbeits)praktiken systematisch zu erfassen. In Abgren-
                                                            1 Die vorgestellten empirischen Befunde wurden im Kontext
zung zu den bisherigen quantitativen Ansätzen versu-        der interdisziplinären Forschergruppe „Organized Creativity.
chen wir nicht, die klassische Zeitgeographie für GIS-      Practices for Inducing and Coping with Uncertainty” der Deutschen
basierte Daten fruchtbar zu machen, sondern entwickeln      Forschungsgemeinschaft (DFG FOR 2161) erhoben.
24       Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

die Dauer für Kopräsenzen (Hägerstrand 1970: 14 ff.),         Diskussion am Telefon suchen. In Hinblick auf die Autori-
wodurch die Bündelung von Akteuren (etwa in Bespre-           tätsbeschränkungen ermöglichen virtuelle Kopräsenzen
chungen) sowie von Akteuren und Objekten (etwa Arbei-         beispielsweise das Umgehen von Ladenöffnungszei-
ten am Mikroskop) ermöglicht und beschränkt wird (Thrift      ten (Schwanen/Kwan 2008) sowie die Perforation von
1977: 7). Als drittes limitieren die Autoritätsbeschränkun-   rigiden Arbeitszeitregimen durch Home-Office-Arbeits-
gen (wie etwa Zugangskriterien oder Öffnungszeiten)           plätze. Die bisherigen Untersuchungen legen nahe,
den Zugang zu konkreten Lokalitäten, innerhalb derer          dass die Kommunikations- und Informationstechno-
Bündel organisiert werden (Thrift 1977: 7). Aufbauend         logien die raumzeitlichen Beschränkungen im Alltag
auf der Annahme der Untrennbarkeit von Raum und Zeit          grundlegend verändern (Schwanen/Kwan 2008), indem
bedingen sich alle drei Beschränkungen wechselseitig          sie diese nicht nur relativieren, sondern durch ihre ganz
auf direkte oder indirekte Art (Hägerstrand 1970: 17).        eigenen Rhythmen und Ordnungen neue Einschränkun-
Trotzt der Berücksichtigung des Umstandes, dass sich          gen für das tägliche Leben generieren (Shaw/Yu 2009).
mit dem Aufkommen der Kommunikations- und Infor-              Die Ubiquität synthetischer Situationen, in denen On-
mationstechnologien die Interdependenzen der raum-            screen-Projektion neue Informationstiefen und Reakti-
zeitlichen Beschränkungen auf grundlegende Weise              onsanforderungen generieren (Knorr Cetina 2009: 61),
verändern (Hägerstrand 1970: 15 ff.), beschränkt sich         ist die Folge.
das Konzept der Zeitgeographie primär auf synchrone                Wie sich die Veränderungen der raumzeitlichen
physische Kopräsenzen wie persönliche Gespräche, bei          Beschränkungen im Zuge der Virtualisierung in kollabo-
denen die beteiligten Akteure physisch anwesend sind          rativen Arbeitsprozessen auswirken, wird im nächsten
(Miller 2017). Asynchrone physische Kopräsenzen wie           Schritt systematisch analysiert. Im Fokus der Analyse
etwa Notizen an einer Bürotür oder Eintragungen im            steht nicht nur die Relativierung der Beschränkungen,
Laborbuch werden zwar von Hägerstrand (1970) berück-          sondern vielmehr die Generierung neuer raumzeitlicher
sichtigt, aber nicht systematisch in die Zeitgeographie       Beschränkungen, die nicht nur durch neue Informa-
integriert (Miller 2017). Ähnlich wie asynchrone physi-       tions- und Kommunikationstechnologien, sondern auch
sche Kopräsenzen wird die Möglichkeit der virtuellen          im Zusammenspiel mit der Virtualisierung von Objekten
Kopräsenz von Hägerstrand in Form eines Telefonge-            (etwa die Digitalisierung von Musik oder die partielle
sprächs (synchrone virtuelle Kopräsenz) zwar angespro-        Digitalisierung von Zellen), die einen teilweise friktions-
chen, jedoch nicht konsequent weiterentwickelt (Miller        losen Austausch in kollaborativen Kontexten ermöglicht,
2017). Des Weiteren werden asynchrone virtuelle Koprä-        entstehen.
senzformen wie beispielsweise E-Mails oder Webseiten
genau wie synchrone virtuelle Kopräsenzen theoretisch
generell einbezogen, doch in der klassischen Zeitgeo-         2.2 Ein methodisches Konzept zur empi-
graphie ignoriert (Miller 2017).                              rischen Analyse von Raum-Zeit-Trajekto-
     Es existiert eine Vielzahl quantitativ angelegter        rien in kollaborativen Prozessen
Erweiterungsansätze, welche die Grenzen der klassi-
schen Zeitgeographie aufzeigen und vorzugsweise den           Generell besteht ein breiter Konsens darüber, dass die
Einfluss virtueller Kopräsenzen auf Aktivitäts- und Rei-      Kommunikations- und Informationstechnologien raum-
semuster von Akteuren erfassen. So konnte die Studie          zeitliche Beschränkungen aufheben (Schwanen/Kwan
von Shaw und Yu (2009) zeigen, dass sich sowohl die           2008). In welchem Ausmaß diese Relativierungen auf-
Kapazitätsbeschränkungen als auch die Kopplungsbe-            treten wird hingegen konträr diskutiert. Beispielsweise
schränkungen von Reisenden durch die neuen Kom-               argumentiert Couclelis (2000; 2004), dass die Asso-
munikations- und Informationstechnologien verändern.          ziation von Aktivität, Ort und Zeit (raumzeitlich fixierte
Die Kapazitäts- und Kopplungsbeschränkungen werden            Aktivität) durch virtuelle Kopräsenzen geschwächt wird
insoweit reduziert, als dass die Akteure von der Not-         und dass Aktivität zunehmend über verschiedene Zeiten
wendigkeit der physischen Präsenz an einem konkre-            und geographische Standorte verteilt (raumzeitlich fle-
ten Ort befreit werden und daher an mehr als einem            xible Aktivität) stattfindet. Andere Forscher (z. B. Kwan
Bündel gleichzeitig teilnehmen können (Shaw/Yu 2009).         2001; Dijst 2004; Zook/Dodge/Aoyama et al. 2004) hin-
Beispielsweise können Akteure mit einem physisch dis-         gegen relativieren diese Nivellierung der raumzeitlichen
persen Akteur per Telefon diskutieren, gleichzeitig eine      Beschränkungen mit der Argumentation, dass Online-
E-Mail an einen anderen Akteur verfassen und simultan         Aktivitäten durch den Akteur immer im physischen Raum
auf einer Website nach weiteren Informationen für die         verankert sind und dass virtuelle Räume dementspre-
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept      25
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chend in soziale und physische Räumen eingebettet              Koordinierungsstile als Ergänzung oder Ersatz der
sind. Die mehrdeutigen und paradoxen Auswirkungen              „clock-based“2 (Ling 2004: 58) Koordinierung führt zur
der Kommunikations- und Informationstechnologien auf           Verschiebung ortsbezogener Konnektivität hin zur indi-
die raumzeitlichen Beschränkungen sind demnach von             viduellen Mensch-zu-Mensch-Konnektivität (Wellman
Technologien und anderen beteiligten Materialien sowie         2001; Kwan 2007). Zusätzlich wird raumzeitlich fixierte
ihrem Kontext beeinflusst (Schwanen/Kwan 2008). Ziel           Aktivität zumindest teilweise für Flexibilität und die Mög-
unserer methodisch-konzeptionellen Erweiterung der             lichkeit, Ressourcen so effizient wie möglich neu zuzu-
Zeitgeographie ist es daher, die drei klassischen Formen       ordnen, eingetauscht (Townsend 2000). Die partielle
von raumzeitlichen Beschränkungen im Lichte virtueller         Suspendierung der Imperative des gemeinsamen Ortes,
Interaktionsmodi hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf kol-      des abgestimmten Zeitpunktes sowie der vereinbarten
laborative (Arbeits-) Praktiken genauer zu betrachten.         Dauer zur Bündelung von Akteuren und Objekten (von
Hierzu werden zuerst die Veränderungen der Kapa-               raumzeitlich fixierte Aktivität hin zu raumzeitlich flexib-
zitäts-, Kopplungs- und Autoritätsbeschränkungen für           ler Aktivität) generiert jedoch neue raumzeitliche Kopp-
kollaborative Praktiken diskutiert, um anschließend sys-       lungsbeschränkungen (vgl. Tabelle 1). Erstens müssen
tematisch auf die Generierung neuer Beschränkungen             die materiellen Vorrichtungen für virtuelle Kopräsenzen
einzugehen.                                                    im physischen Raum platziert werden (Schwanen/Kwan
     Das Aufkommen der Kommunikations- und Informa-            2008): Beispielsweise werden internetfähige Computer
tionstechnologien wie Mobiltelefon, E-Mail oder Skype          (materielle Vorrichtung) für das Beantworten von E-Mails
hat die Kapazitätsbeschränkungen auf nachhaltige und           (virtuelle Kopräsenz) im Büro (physischer Raum) benö-
durchaus ambivalente Weise verändert (vgl. Tabelle 1).         tigt. Zweitens müssen die materiellen Vorrichtungen
Einerseits wurden Akteure durch die Möglichkeiten vir-         für die virtuelle Kopräsenz mit den Akteuren, die sie
tueller Interaktion vom Zwang der physischen Präsenz           nutzen wollen gebündelt werden (Pred 1978; Kwan
an einem konkreten Ort befreit, andererseits generieren        2001; Schwanen 2007). Diese Beschränkungen gelten
virtuelle Kopräsenzen neue Kapazitätsbeschränkungen.           sowohl für kabelgebundene als auch für mobile Kom-
     Die vermehrte Nutzung virtueller Interaktionsmodi         munikations- und Informationstechnologien. Darüber
führt zunehmend zur Gleichzeitigkeit von Online- und           hinaus müssen an den materiellen Vorrichtungen War-
Offline-Kontexten, wobei diese mit unterschiedlichen           tungsarbeiten zur Aufrechterhaltung der Möglichkeit zur
Einschränkungen hinsichtlich der Aufmerksamkeit, Auto-         virtuellen Kopräsenz durchgeführt werden, wie etwa das
rität, sozialen Erwartungen und Dauer verbunden sind           Mitführen von Geräten oder das Aufladen von Batterien
(Thulin/Vilhelmson 2018: 97 f.). E-Mails sollten beispiels-    und Akkus (Ling 2004).
weise spätestens nach einer kulturell normierten Zeit-              Neben neu entstehenden Kommunikationsmög-
dauer (ohne unangemessene Verzögerung) beantwortet             lichkeiten veränderten sich im Zuge der Virtualisierung
werden, was einer (expliziten oder impliziten) Erwide-         auch die Objekte kollaborativer Arbeitsprozesse (vgl.
rungsverantwortung entspricht. Die neu generierte Erwi-        Tabelle 1). Die generelle Möglichkeit der Virtualisierung
derungsverantwortung stellt somit eine neue Kapazitäts-        von Objekten trägt zur Entkopplung zwischen Objekt
beschränkung dar, die als „response presence“ (Knorr           und Akteur bei, indem virtualisierte Objekte über große
Cetina 2009: 69 ff.) bezeichnet werden kann. Darüber           Distanzen hinweg zirkuliert und in synchroner oder asyn-
hinaus generieren virtuelle Kopräsenzen mit ihrer res-         chroner Kopräsenz bearbeitet werden können. Akteure
ponse presence einen neuen Modus der körperlichen              müssen beispielsweise nicht mehr ihren physischen
Affektivität, der eine ständige Überwachung und senso-         Büroarbeitsplatz aufsuchen, sondern können raumzeit-
rische Abstimmung der Informations- und Kommunika-             lich entkoppelt von ihrem Laptop aus an virtualisierten
tionstechnologien (wie etwa den reflexhaften Blick auf         Objekten arbeiten.
den Handy-Bildschirm) einfordert (Knorr Cetina 2009:                Die veränderten Kapazitäts- und Kopplungsbe-
75).                                                           schränkungen tragen dazu bei, dass sich auch die Auto-
     Hinsichtlich der Kopplungsbeschränkungen führen           ritätsbeschränkungen verändern (vgl. Tabelle 1). Die
neue Kommunikations- und Informationstechnologien              Virtualisierung von Objekten sowie virtuelle Interaktions-
zu einer Veränderung der Koordinierung von Akteuren,
sodass beispielsweise bevorstehende Verspätungen
                                                               2 Mit der „clock-based“ (Ling 2004: 58) Koordinierung ist die
direkt kommuniziert werden können, was zur Flexibilisie-       taktbasierte Aktivitätsplanung auf Basis eines gemeinsamen
rung raumzeitlich festgelegter Tätigkeiten führt (Schwa-       Messsystems – der Zeit (Uhrzeit) – gemeint (vgl. Schwanen/Kwan
nen/Kwan 2008). Die Zunahme interaktionsbasierter              2008).
26        Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

Tabelle 1: Veränderungen der raumzeitlichen Beschränkungen durch die Virtualisierung

                         Reduzierung durch                 Extension durch                   Neue Beschränkungen durch
                         Virtualisierung                   Virtualisierung                   Virtualisierung

Kapazitäts­              Notwendigkeit der physischen      Virtuelle Kopräsenzen und         Response presence und permanente
beschränkungen           Anwesenheit                       synthetische Situationen          körperliche Affektivität

Kopplungs­               Raumzeitliche Kopplung von        Virtualisierung von Objekten      Materielle Vorrichtungen für virtuelle
beschränkungen           Akteur und Objekt (raumzeitlich   und Bündeln (raumzeitlich         Kopräsenzen müssen im physischen
                         fixierte Aktivität)               flexible Aktivität)               Raum verankert, mit Akteuren koordiniert
                                                                                             und gewartet werden.

Autoritäts­              Physische Zugangskontrollen       Virtuelle Bündel mit virtuellen   Virtuelle Zugangskontrollen, Sicherheits-
beschränkungen                                             Zugangskontrollen                 und Schutzmaßnahmen sowie Grad der
                                                                                             Virtualisierung des Objektes

medien wie beispielsweise Online-Foren, Chat-Gruppen,                3 Empirische Anwendung des
Facebook-Gruppen, E-Mail-Verteiler und Gruppen in
Instant-Messaging-Diensten wie WhatsApp und Slack3
                                                                     Konzeptes
erschließen fundamental neue Formen der Kopräsenz
                                                                     Zur Illustration der methodisch-konzeptionellen Erweite-
und Kollaboration. Wurde der Zugang zu physischen
                                                                     rung der Zeitgeographie stellen wir im Folgenden zwei
Lokalitäten (und ihren Bündeln) traditionell noch durch
                                                                     Vignetten unserer empirischen Forschung zu kollabo-
physische Zugangskontrollen wie Pförtner, Türen oder
                                                                     rativen Prozessen in den Feldern Kunst (Musikproduk-
Schlösser kontrolliert, sind es vor allem virtuelle Mitglied-
                                                                     tion im Studio) und Wissenschaft (Pharmaforschung im
schaften, die den Zugang zu virtuellen Bündeln kontrol-
                                                                     Labor) vor.
lieren und beschränken. Darüber hinaus entstehen neue
Autoritätsbeschränkungen, die die Nutzung von Kom-
munikations- und Informationstechnologien limitieren
                                                                     3.1 Forschungsdesign, Fallauswahl und
(Schwanen/Kwan 2008). Als Reaktion auf die vermehr-
ten virtuellen Kopräsenzen wurde beispielsweise die                  Datenerhebung
Nutzung von mobilen Endgeräten bei Start und Landung
                                                                     Labor und Studio wurden für die komparative Analyse
von Flugzeugen verboten und es wird vermehrt darum
                                                                     der Raum-Zeit-Trajektorien aus den Feldern der Kunst
gebeten, Mobiltelefone in Theatern, Kinos und einigen
                                                                     und der Wissenschaft ausgewählt, da sowohl in der
Restaurants (Harvey/Macnab 2000; Dijst 2004) aus
                                                                     Musikindustrie als auch in der Pharmaforschung kolla-
Lärmschutzgründen aus- oder zumindest lautlos zu
                                                                     borative Prozesse immer einen konkreten physischen
stellen. Zusätzlich zum Zugang zu virtuellen Bündeln,
                                                                     Aufnahme-Kontext (Studio) oder einen wissenschaftli-
reguliert durch virtuelle Mitgliedschaften oder neukons-
                                                                     chen Test-Kontext (Labor) durchlaufen. Beiden Kontex-
truierte Sicherheits- und Schutzmaßnahmen, stellt auch
                                                                     ten ist gemein, dass mehrere Akteure am Prozess betei-
der Grad der Virtualisierung des Objektes eine neue und
                                                                     ligt sind und dass die raumzeitliche Koordinierung von
objektbezogene Autoritätsbeschränkung des kollaborati-
                                                                     Akteuren und Objekten innerhalb des Prozesses eine
ven Arbeitsprozesses dar, da virtualisierte Objekte einen
                                                                     komplexe Herausforderung darstellt. Gleichwohl unter-
anderen raumzeitlichen Zugang ermöglichen als nicht-
                                                                     scheiden sich beide Kontexte in Hinblick auf die Virtuali-
virtualisierte Objekte.
                                                                     sierung der zentralen Arbeitsobjekte: Während im Studio
                                                                     der Sound virtualisiert, digital bearbeitet und beinahe
                                                                     beliebig modelliert werden kann, steht diese Option bei
                                                                     Zellen im Labor nur partiell zur Verfügung.
                                                                          Um die Raum-Zeit Trajektorien in beiden Kontexten
                                                                     (Labor und Studio) zu erfassen, wurde eine ethnographi-
                                                                     sche4 Erhebungsstrategie mit teilnehmenden Beobach-

3 Slack ist ein webbasierter Instant-Messaging-Dienst, der es
erlaubt, innerhalb von Gruppen Nachrichten auszutauschen, zu         4   Für detaillierte Informationen zur Durchführung             von
chatten sowie an gemeinsamen Dokumenten zu arbeiten.                 Ethnographien vgl. beispielsweise Creswell (2007).
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept          27
                                                                    zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen

Tabelle 2: Übersicht der teilnehmenden Beobachtungen in Labor und Studio

            Art                         Dauer      Erhebungsorte          Datentypen                                    Auswertung

Labor       Teilnehmende                40 h       Großraumbüro,          Feldnotizen, Fotos                            Inhaltsanalyse
            Beobachtungen im Labor                 Laboratorien,
                                                   Mikroskop-Raum

            Teilnehmende                19 h       Konferenzraum          Interaktionsprotokolle, Feldnotizen
            Beobachtungen von
            Meetings

            Teilnehmende             43 h          Orte, die der Akteur   Bewegungs- und Interaktionsprotokolle,
            Beobachtungen                          aufsuchte              Feldnotizen
            (shadowing) von Akteuren

Studio      Teilnehmende            120 h          Studio                 Feldnotizen, Interaktions- und                Inhaltsanalyse
            Beobachtungen im Studio                                       Bewegungsprotokolle, Audioaufnahmen
                                                                          von Interaktionen, Fotos

            Beobachtungen der           40 h       Geschlossene           Bildschirmfotos (screenshots), Feldnotizen
            Online-Inter­aktionen auf              Facebook-Gruppe,
            Facebook und Slack                     geschlossene
                                                   Slack-Gruppe

tungen gewählt. Die teilnehmende Beobachtung ist eine                3.2 Die Ausgangssituationen: Labor und
Methode der Ethnographie (vgl. Geertz 1973), beste-                  Studio
hend aus der physischen Präsenz am Erhebungsort,
der Teilnahme am Arbeitsalltag und einer detailreichen               Das untersuchte pharmazeutische Labor ist auf einem
Aufzeichnung von Interaktionen, informellen Interviews               Forschungscampus in der Umgebung von Berlin angesie-
und Beobachtungen von Alltags- und Arbeitsabläufen                   delt. Die Räumlichkeiten der beobachteten Laborgruppe
(vgl. Girtler 2001). Während des jeweils zweiwöchigen                liegen im dritten Stockwerk eines Forschungsgebäudes
Beobachtungszeitraumes wurden im Labor sowohl                        und beheimaten vier unterschiedliche Laboratorien mit
physische Orte (Großraumbüro, Laboratorien und der                   Laborgeräten, Kühlschränken und Brutschränken, in
Mikroskop-Raum) und ihre darin stattfinden (physischen               denen die benötigten Zellen, Viren und Tiere gehalten
und virtuellen) Kopräsenzen als auch einzelne Akteure                werden, sowie einem Mikroskop-Raum, mehrere Büro-
teilnehmend begleitet (shadowing) und beobachtet (vgl.               räume mit individuellen Computerarbeitsplätzen, einen
Tabelle 2). Im Studio hingegen war für die teilnehmende              Konferenzraum, zwei Lagerräume, eine Küche und ein
Beobachtung der Akteure ein Shadowing nicht notwen-                  WC. Während des zweiwöchigen Beobachtungszeitrau-
dig, da die aufgesuchten physischen Orte von einem                   mes waren wochentags meist alle 20 wissenschaftlichen
Punkt aus beobachtbar waren. Zusätzlich wurden im                    Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter der Forschungsgruppe auf
Studio Online-Interaktionen auf Facebook und Slack net-              dem Forschungscampus physisch anwesend. In meh-
nographisch5 (vgl. Kozinets 2009) erhoben (vgl. Tabelle              reren kleineren Teams arbeiteten sie in verschiedenen
2), da diese besonders häufig für virtuelle Kopräsenzen              Lokalitäten sowohl an individuellen Dissertationsprojek-
genutzt wurden. Die beobachteten Raum-Zeit-Trajek-                   ten sowie an langjährigen kollaborativen Projekten. Vor-
torien wurden jeweils mithilfe von Feldnotizen, Fotos,               mittags wurden überwiegend individuelle Laborarbeiten
Interaktions- und Bewegungsprotokollen festgehalten.                 durchgeführt, nachmittags fanden vor allem Meetings
Anschließend wurden die empirischen Daten inhaltsana-                der einzelnen Teams und Ad-hoc-Besprechungen zur
lytisch (vgl. Mayring 2008) ausgewertet.                             Diskussion des aktuellen Arbeitsstandes im Großraum-
                                                                     büro statt. Am Wochenende wurde vereinzelt im Labor
                                                                     gearbeitet, wenn der zelluläre Prozess eine ununterbro-
                                                                     chene Observation erforderte. Zur längerfristigen Koor-
5 Netnographie ist eine Forschungsmethodik, welche an die
Ethnographie angelehnt ist und zur Beobachtung, Erhebung und
                                                                     dination der einzelnen Teams und der gesamten For-
Erfassung von Online-Interaktionen und der Nutzung von virtuellen    schungsgruppe wurden vor allem E-Mail-Verteil-Listen,
Medien dient (vgl. Kozinets 2009).                                   Doodle-Umfragen und gemeinsame virtuelle Kalender
28       Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

genutzt sowie WhatsApp-Gruppen zur spontanen Koor-
dination von einigen Teams.
     Das untersuchte Tonstudio hat seinen Standort in
Wien und wird von einem österreichischen Produzen-
ten betrieben. Es liegt in den Kellerräumlichkeiten unter
der Wohnung des Produzenten und verfügt über einen
schalldichten Aufnahmeraum, einen Regieraum mit
Hauptcomputer, einen Gemeinschaftsraum mit diversen
Arbeitsplätzen und Nebencomputern, eine Küche sowie
ein WC und ein Abstelllager. Während des zweiwöchi-
gen Beobachtungszeitraumes arbeitete eine fünfköpfige
Pop-Band in den Studioräumlichkeiten an der Aufnahme
ihres Debütalbums. Der gesamte Aufnahmeprozess der
Band vollzog sich in zwei sechswöchigen Arbeitsblöcken
mit einer Pause von vier Monaten dazwischen. Der erste
Block diente der Sammlung des künstlerischen Mate-
rials und für drei erste Aufnahmen. Im zweiten Block
wurden aus dem von der Band in der Zwischenzeit
weiterentwickelten Material sechs weitere Songs pro-         Abbildung 1: Bewegungsverhalten von zwei
duziert. Zum Zeitpunkt der Beobachtungen befand sich         zusammenarbeitenden Akteuren im Labor
die Band in der zweiten Woche des zweiten Blocks. Die
erste Woche diente hauptsächlich zu Planungsgesprä-
chen und der (Wieder-)Einrichtung des Studios. In den        sucht Mitarbeiter B im Laufe des Vormittags seinen Kol-
zwei Wochen der Beobachtungen befanden sich alle             legen A im Labor auf. In physischer Kopräsenz betrach-
fünf Bandmitglieder, der Produzent und ein technischer       ten beide abwechselnd die Zellproben (Objekt) durch ein
Assistent beinahe ununterbrochen von 11:00 Uhr bis           Mikroskop und diskutieren das Gesehene. Das Aufsu-
23:00 Uhr im Studio. Es wurde arbeitsteilig an mehreren      chen des Labors wird notwendig, da die Zellen nicht vir-
Arbeitsplätzen parallel gearbeitet. Der Produzent war mit    tualisiert werden können und eine Bündelung von Akteur
Schlagzeug- und Bassaufnahmen beschäftigt, während           und Objekt (Zellen) nur in physischer Kopräsenz möglich
sich die anderen Akteure auf die Weiterentwicklung ein-      ist. Anschließend verlässt B das Labor wieder. Bevor
zelner Song-Arrangements konzentrierten. Parallel zur        auch A das Labor verlässt, um seine E-Mails abzurufen
physischen Anwesenheit im Studio kommunizierten              und einen Blick auf sein Handy zu werfen, präpariert er
alle Akteure über eine geschlossene Facebook-Gruppe          Zellen für das am nächsten Tag geplante Experiment
sowie über diverse andere virtuelle Kanäle wie Dropbox       (Kopplungsbeschränkung). In dieser Sequenz wird
und dem Instant-Messaging-Dienst Slack.                      erkennbar, dass die neuen Autoritätsbeschränkungen
                                                             in Form von Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen den
                                                             Zugang zu virtuellen Bündeln stark limitieren. Zwar exis-
3.3 Raum-Zeit-Trajektorien in Labor und                      tiert im Labor ein Festnetztelefon, doch andere materi-
Studio                                                       elle Vorrichtungen für weitere virtuelle Kommunikations-
                                                             modi, wie beispielsweise ein internetfähiger Computer,
Abbildung 1 zeigt eine typische Raum-Zeit-Trajektorie        sind im Labor nicht vorhanden. Auch das Mitführen eines
zweier Akteure während ihres kollaborativen Arbeitspro-      Handys ist zwar nicht explizit verboten, doch aufgrund
zesses im Labor, wobei ihre Handlungen durch die drei        von genverändernden Arbeitssubstanzen und dem Ver-
raumzeitlichen Beschränkungen ermöglicht und limitiert       meiden von Störgeräuschen aus Eigeninteresse unter-
werden.                                                      lassen worden. Um Zugang zu seinen E-Mails (virtuelles
     Zu Beginn des hier dargestellten Arbeitstages koor-     Bündel) zu erlangen, sucht Mitarbeiter A das Groß-
dinieren sich die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter      raumbüro auf, in dem in Form seines Arbeitscomputers
A und B zuerst in physischer Kopräsenz und später per        die materielle Vorrichtung zur virtuellen Kopräsenz (in
Festnetztelefon (synchrone virtuelle Kopräsenz, redu-        diesem Falle zum Abrufen von E-Mails) verankert ist
zierte Kapazitätsbeschränkung). Um sich einen Einblick       (Kopplungs- und Autoritätsbeschränkung). Nach dem
in den bisherigen Experimentverlauf zu verschaffen,          Abrufen und Beantworten einiger E-Mails verlässt A das
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept      29
                                                             zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen

Büro wieder, um an einem speziellen Mikroskop im Mik-
roskop-Raum die Ergebnisse des am Vormittag durch-
geführten Experimentes zu analysieren (Kopplungs-
beschränkung). Um die Ergebnisse des Experimentes
raumzeitlich entkoppelt mit seinem Kollegen B zu einem
späteren Zeitpunkt im Großraumbüro sowie mit physisch
dispersen Kollegen zu diskutieren, fotografiert A mithilfe
des an das Mikroskop angeschlossenen Computers ver-
schiedene Zellausschnitte seiner am Vormittag herge-
stellten Zellproben.
     Während des zweiwöchigen Beobachtungszeit-
raumes waren die Akteure durch das bisher nicht vir-
tualisierbare Objekt (lebende Zellen) physisch stark an
das Objekt gekoppelt und mussten sowohl spezifische
Räumlichkeiten (Labor, Mikroskop-Raum) als auch vom
Objekt vorgegebene Zeitintervalle (Präparierung der
Zellen) innerhalb ihres kollaborativen Prozesses einhal-
ten, was die Vielzahl der raumzeitlich fixierten Tätigkei-
ten mit einem Clock-based-Koordinierungsstil erklärt.
Um dieser Kopplung entgegenzuwirken, virtualisierten          Abbildung 2: Bewegungsverhalten von zwei
die Akteure die Ergebnisse ihrer Experimente, was             zusammenarbeitenden Akteuren im Tonstudio

insbesondere zu einer partiellen Entkopplung der Aus-
wertung und Interpretation führte. Zur gemeinsamen            lungen durch die drei raumzeitlichen Beschränkungen
Kommunikation nutzten die Akteure im Labor sowohl             ermöglicht und limitiert.
physische als auch virtuelle Kopräsenzen, wobei syn-               Im Verlauf dieses Arbeitstages koordinieren Produ-
thetische Situationen meist durch Echtzeitübertragun-         zent X und Schlagzeuger Y den Tagesablauf per Telefon
gen von Mikroskopausschnitten oder das gemeinsame             und über Facebook (FB) mit der Band. Im Studio treffen
Interpretieren der virtualisierten Ergebnisse am Bild-        X und Y aufeinander, um die Schlagzeugaufnahmen vor-
schirm innerhalb des kollaborativen Prozesses auf-            zunehmen. Anschließend an das Telefonat (synchrone
traten. Insgesamt wurde die partielle Entkopplung in          virtuelle Kopräsenz, reduzierte Kapazitätsbeschrän-
Form einer Virtualisierung der Ergebnisse vor allem in        kung) postet der Schlagzeuger auf dem Weg ins Studio
Kombination mit der virtuellen (asynchronen) Kommu-           in die geschlossene Facebook-Gruppe der Band, dass
nikation per E-Mail genutzt, um Ergebnisse gemeinsam          er den Aufnahmeraum für seine Aufnahmen vormittags
mit physisch dispersen Akteuren zu teilen und zu disku-       nutzt, sodass dieser währenddessen nicht vom Sänger
tieren. Zusätzlich konnte festgestellt werden, dass die       genutzt werden könne. Der Kommunikationskanal Face-
neuen Autoritäts­beschrän­kungen in Form von Sicher-          book-Gruppe (asynchrone virtuelle Kopräsenz) ent-
heits- und Schutzmaßnahmen in den Laboren (wie die            spricht einer weiteren reduzierten Kapazitätsbeschrän-
Vermeidung von Störgeräuschen oder keine ans Inter-           kung, da die Kommunikation in diesem virtuellen Bündel
net angeschlossene Computer) dazu führten, dass die           nicht nur keiner physischen Kopräsenz bedarf, sondern
Akteure regelmäßig und aktiv das Großraumbüro auf-            auch zeitlich entkoppelt ist. Dennoch treten in diesem
suchten, um dort Zugang zu entsprechenden virtuel-            virtuellen Bündel neue Autoritäts- und Kapazitätsbe-
len Kopräsenzen zu erlangen. Neben der häufig aktiv           schränkungen auf. Zum einen ist die Facebook-Gruppe
generierten physischen Kopräsenz nutzten die Akteure          der Band geschlossen und nur durch eine persönliche
vor allem asynchrone virtuelle Kommunikationsmodi             Einladung zugänglich, zum anderen müssen die Mit-
(mit Ausnahme des Festnetztelefons), da eine ununter-         glieder der Gruppe aufgrund der vielgenutzten virtuellen
brochene Teilnahme an den virtuellen Bündeln durch            Kommunikation regelmäßig online verfügbar in response
die Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen im Labor              presence sein. Der Produzent und die Band können im
nicht möglich war.                                            Rahmen dieser Verfügbarkeit aller Akteure einen inter-
     Abbildung 2 zeigt eine typische Raum-Zeit-Trajekto-      aktionsbasierten Koordinierungsstil nutzen, wodurch
rie zweier Akteure während ihres kollaborativen Arbeits-      regelmäßige Koordinationstreffen obsolet werden, wie
prozesses im Studio. Wie im Labor werden ihre Hand-           unser Beispiel zeigt:
30      Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

    Als der Schlagzeuger Y in Abbildung 2 das Studio        hingegen werden (auch auf der Bühne) virtuell erzeugt
erreicht, betrachtet der Produzent X den aktuellen Stand    und sind nicht der Anwesenheit im Studio unterworfen.
des Projektes und antwortet auf das Facebook-Posting        Dennoch werden diese Elemente im Aufnahmeprozess
des Schlagzeugers, dass heute die physische Anwe-           zum Großteil auch in physischer Kopräsenz im Aufent-
senheit des Sängers im Tonstudio nicht erforderlich sei.    haltsraum des Studios entworfen einerseits, weil die
Die Mitglieder der Band sind den interaktionsbasierten      Expertise des Produzenten dort direkt verfügbar ist,
Koordinierungsstil gewohnt, da sie sich auch über den       und andererseits, weil die grundsätzliche physische
webbasierten Instant-Messenger-Dienst Slack koordi-         Verfügbarkeit aller Akteure im Schaffensprozess direk-
nieren. Der Produzent ist in der Slack-Gruppe ausge-        tes Feedback und vor allem ein gemeinsames Abhören
schlossen (neue Autoritätsbeschränkungen), damit dort       ermöglicht. Ist ein Element fertig, lädt es die Band auf
bandinterne Dinge, die auch die Arbeit des Produzenten      einen geteilten Online-Server hoch, um es für alle betei-
betreffen, diskutiert werden können. Der Sänger geht        ligten Akteure verfügbar und bearbeitbar (reduzierte
davon aus, dass alle das Posting auf Facebook gelesen       Kopplungsbeschränkung) zu machen. Durch die Virtu-
haben, und schreibt in die Slack-Gruppe, dass er den        alisierung des Sounds werden die Musiker raumzeitlich
Proberaum der Band für Gesangsentwicklung verwen-           entkoppelt und können sowohl synchron als auch asyn-
den werde, aber trotzdem auf das Feedback des Produ-        chron individuell an den aufgenommenen Versionen
zenten angewiesen sei. In dieser Sequenz wird erkenn-       arbeiten. Die Entkopplung vom Objekt führte im Falle
bar, dass beide virtuelle Bündel, die Facebook-Gruppe       des Studios dazu, dass der Aufnahmeprozess überwie-
und die Slack-Gruppe, parallel existieren und für unter-    gend in virtuellen Bündeln durch die Akteure koordiniert
schiedliche Zwecke genutzt werden.                          wird, wobei der Produzent in seiner Funktion als Experte
    Im Studio treffen sich schließlich Produzent X und      die Musiker an seine physische Anwesenheit im Studio
Schlagzeuger Y in physischer Kopräsenz, um mit den          koppelt.
Schlagzeugaufnahmen zu beginnen. Während des                     Physische Anwesenheit im Studio ist – zusammen-
Aufnahmeprozesses müssen die Telefone ausgeschal-           gefasst – notwendig, einerseits für die Aufnahme ana-
tet oder weggelegt werden, da sie sonst Störgeräu-          loger Instrumente wie Schlagzeug, Gesang, Gitarren
sche erzeugen. Dementsprechend sind beide Akteure           und Bässe unter der Expertise des Produzenten, was
während der Aufnahme nicht mehr an ihren Handys             der klassischen Funktion des Musikstudios entspricht.
verfügbar, schauen jedoch in den Pausen regelmä-            Andererseits ist das Studio ein abgeschirmter Ort kreati-
ßig auf ihre Handy-Bildschirme. Trotz der laufenden         ver Auseinandersetzung, innerhalb dessen nicht nur die
Aufnahmen hat der Produzent am Hauptcomputer die            Entwicklung von Songs sondern parallel dazu, ebenso
Facebook-Gruppe in einem separaten Fenster ununter-         unter Einfluss des Produzenten, die Aushandlung von
brochen geöffnet. An dieser Sequenz wird deutlich, dass     Bandidentität und künstlerischen Identitäten geschieht.
die Nutzung der materiellen Vorrichtungen zur virtuellen
Kommunikation in Form eines Telefons (neue Kopp-
lungsbeschränkung) während des Aufnahmeprozesses            3.4 Komparative Analyse
aufgrund von neuen Autoritätsbeschränkungen (Schutz
vor Lärm- und Störgeräuschen) limitiert wird. Trotz der     Der signifikanteste Unterschied in den Raum-Zeit-Trajek-
Beschränkung der Handy-Nutzung durch die Schutz-            torien der kollaborativen Prozesse in Labor und Studio
maßnahmen ist eine Nutzung des Computers beinahe            resultiert aus den jeweils spezifischen Möglichkeiten,
zu jeder Zeit möglich, sodass der Zugang zu virtuellen      die jeweiligen Objekte zu virtualisieren (vgl. Tabelle 3).
Bündeln innerhalb des Arbeitsprozesses im Studio zu         Arbeiten Akteure im Labor bislang mit einem nur parti-
jeder Zeit möglich ist. Die Simultanität von physischen     ell virtualisierbaren Objekt (lebende Zelle), so lässt sich
und virtuellen Kopräsenzen im Rahmen von syntheti-          das Objekt im Studio (Sound) grundsätzlich beliebig
schen Situationen ist die Regel.                            virtualisieren. Bedingt durch diese unterschiedlichen
    Die physische Kopräsenz des Produzenten X und           raumzeitlichen Kopplungs- und Autoritätsbeschränkun-
des Schlagzeugers Y im Studio ist notwendig, da die         gen entstehen innerhalb des kollaborativen Prozesses
Band mit dem Produzenten entschieden hatte, das             unterschiedliche Anforderungen und Bedingungen für
Schlagzeug analog aufzunehmen. Diese Entscheidung           Kopräsenzen.
basiert auf der Tatsache, dass die Band auch live mit            Zum einen bedingt der Grad der Virtualisierung des
analogem Schlagzeug auftritt und die Songs dement-          Objektes den Zugang zu virtuellen Bündeln zwischen
sprechend konzipiert sind. Andere Elemente des Albums       Akteur und Objekt. Ist der Akteur im Labor aufgrund der
„Hägerstrand online“: Ein methodisches Konzept       31
                                                                    zur Analyse raumzeitlicher Trajektorien in Kollaborationen

Tabelle 3: Ergebnisse der komparativen Analyse von Labor und Studio

                                         Labor                                         Studio

Objekt                                   Objekt: Zellen                                Objekt: Sound
                                         Grad der Virtualisierung: partiell            Grad der Virtualisierung: vollständig
                                         virtualisierbar                               virtualisierbar

Raumzeitliche Kopplungen                 Starke physische Kopplung an das Objekt       Entkopplung vom Objekt durch Virtualisierung
                                         Partielle Entkopplung durch Virtualisierung   Explizite Entscheidung für analoge
                                         der Ergebnisse                                Aufnahmepraktiken

Koordinierung des Arbeitsprozesses       Raumzeitliche Koordinierung größtenteils      Raumzeitliche Koordinierung größtenteils vom
                                         durch das Objekt und einer Clock-based-       Produzenten und der Band interaktionsbasiert
                                         Koordinierung                                 ausgehandelt

nur partiellen Virtualisierung des Objektes physisch stark           4 Zusammenfassung und
gekoppelt und sind die Möglichkeiten der virtuellen Bün-
delung von Akteuren und Objekt stark limitiert, führt die
                                                                     Implikationen
Virtualisierung des Sounds zur raumzeitlichen Entkopp-
                                                                     Ziel unserer methodisch-konzeptionellen Erweiterung
lung vom Objekt und ermöglicht virtuelle Bündelungen.
                                                                     ist die Entwicklung eines Instruments zur Konzeption
     Zum anderen schränken die Schutz- und Sicher-
                                                                     und zur empirisch-qualitativen Erfassung von Raum-
heitsvorkehrungen sowie die nur an bestimmten phy-
                                                                     Zeit-Trajektorien in kollaborativen Prozessen. In einem
sischen Orten verankerten materiellen Vorrichtungen
                                                                     ersten Schritt wurde dazu das zeitgeographische Modell
zur virtuellen Kommunikation die virtuelle Kopräsenz
                                                                     von Hägerstrand um eine virtuelle Dimension erwei-
im Labor stark ein, sodass vor allem asynchrone vir-
                                                                     tert, die nachhaltige Veränderungen der raumzeitlichen
tuelle Kommunikationsmodi mit einer zeitlich relativ
                                                                     Beschränkungen (vgl. Tabelle 1) impliziert. Durch Ein-
langen Erwiderungsverantwortung (z. B. E-Mail) genutzt
                                                                     bezug virtueller Kopräsenzen (veränderte Kapazitäts-
werden. Im Studio hingegen, in dem der Zugang zu virtu-
                                                                     beschränkungen), der Virtualisierung von Objekten
ellen Bündeln fast immer gegeben ist, werden zwar auch
                                                                     (veränderte Kopplungsbeschränkungen) und der vir-
überwiegend asynchrone virtuelle Kommunikationsmodi
                                                                     tuellen Interaktionsmedien (veränderte Autoritätsbe-
genutzt, jedoch mit einer deutlich kürzeren Erwiderungs-
                                                                     schränkungen) können zusätzliche relevante Kontexte
verantwortung (z. B. Instant-Messaging-Dienst), sodass
                                                                     (vgl. Tabelle 4) innerhalb des kollaborativen Prozesses
es zu einer fast ununterbrochenen response presence
                                                                     erfasst werden.
kommt. Ein weiterer Unterschied lässt sich in den Koor-
                                                                          Mit der Erweiterung der Kapazitätsbeschränkungen
dinierungsstilen beider Arbeitsprozesse finden. Ist der
                                                                     um virtuelle Kopräsenzen können insbesondere auch
Arbeitsprozess im Labor durch das Objekt und einen
                                                                     synthetische Situationen innerhalb des kollaborativen
Clock-based-Koordinierungsstil stark an raumzeitlich
                                                                     Prozesses erhoben werden. Eine Erfassung der raum-
fixierte Aktivität gekoppelt, so ist die Aktivität durch ihre
                                                                     zeitlichen Kopplung oder Entkopplung zwischen Akteur
meist gegebene raumzeitliche Entkopplung im Studio
                                                                     und Objekt wird durch die Erweiterung der Kopplungs-
deutlich flexibler. Hier übernimmt vor allem der Produ-
                                                                     beschränkungen um virtuelle Objekte ermöglicht. Die
zent in seiner Rolle als Experte und seiner physischen
                                                                     Erweiterung der Autoritätsbeschränkungen um virtu-
Anwesenheit im Studio eine interaktionsbasierte Koordi-
                                                                     elle Mitgliedschaften ermöglicht die Erhebung virtueller
nationsfunktion.
                                                                     Zugangsbeschränkungen zu virtuellen Räumen und
     Trotz der sehr unterschiedlichen raumzeitlichen
                                                                     Bündel. Zusätzlich zur empirischen Erhebung raum-
Beschränkungen des kollaborativen Arbeitsprozesses
                                                                     zeitlicher Aktivitätsmuster in kollaborativen Prozessen
ist beiden erhobenen Raum-Zeit-Trajektorien gemein,
                                                                     bietet das erarbeitete Konzept ein methodisches In-
dass sowohl das Labor (bedingt durch das Objekt) als
                                                                     strument zur vergleichenden Analyse unterschiedlicher
auch das Studio (bedingt durch den Produzenten) als
                                                                     Raum-Zeit-Trajektorien. Ziel dieser Erweiterung war es,
physische Anker für physische wie virtuelle kollaborative
                                                                     einen methodischen Werkzeugkasten zu entwickeln, der
(Arbeits)praktiken von zentraler Bedeutung sind.
                                                                     kleinste Veränderungen in den Kapazitäts-, Kopplungs-
                                                                     und Autoritätsbeschränkungen und ihre Interdepen-
                                                                     denzen systematisch konzeptualisieren und empirisch
32        Alice Melchior, Benjamin Schiemer, Gernot Grabher

Tabelle 4: Übersicht der durch die Erweiterung der Zeitgeographie erfassbaren Kontexte

                                    Erfassbare Kontexte mit Hägerstrand        Zusätzlich erfassbare Kontexte mit qualitativer
                                                                               Erweiterung

Kapazitätsbeschränkungen            Physische Kopräsenzen                      Synthetische Situationen, virtuelle Kopräsenzen

Kopplungsbeschränkungen             Kopplung durch physische                   Kopplung/Entkopplung durch Virtualisierung von
                                    Objekteigenschaften                        Objekten

Autoritätsbeschränkungen            Zugangsbeschränkungen zu physischen        Zugangsbeschränkungen zu virtuellen Lokalitäten
                                    Lokalitäten und physischen Bündeln         und virtuellen Bündeln

abbilden kann. Eine derartige methodische Erweiterung              Literatur
kann jedoch keine inhaltliche Interpretation zum Verlauf
von Raum-Zeit-Trajektorien in kollaborativen Prozes-               Bathelt, H.; Turi, P. (2011): Local, global and virtual buzz: The
                                                                         importance of face-to-face contact in economic interaction and
sen bieten, sondern erhebt lediglich den Anspruch, ein
                                                                         possibilities to go beyond. In: Geoforum 42, 5, 520-529. doi:
methodisches Werkzeug zur Erfassung und komparati-
                                                                         10.1016/j.geoforum.2011.04.007
ven Analyse raumzeitlicher Aktivitätsmuster in kollabora-          Campos-Castillo, C. (2012): Copresence in Virtual Environments.
tiven Prozessen bereitzustellen.                                         In: Sociology Compass 6, 5, 425-433. doi: 10.1111/j.1751-
     In methodischer Hinsicht schlagen wir zur Erhebung                  9020.2012.00467.x
der raumzeitlichen Aktivitätsmuster ethnographische                Couclelis, H. (2000): From Sustainable Transportation to
                                                                         Sustainable Accessibility: Can We Avoid a New Tragedy
Erhebungsstrategien wie beispielsweise teilnehmende
                                                                         of the Commons? In: Janelle, D. G.; Hodge, D. C. (Hrsg.):
Beobachtungen oder Netnographien vor. Der Vorzug                         Information, Place, and Cyberspace: Issues in Accessibility.
der Detailtiefe wird bei diesen Erhebungsstrategien                      Berlin, 341-356. doi: 10.1007/978-3-662-04027-0
allerdings mit der Herausforderung erkauft, erhebliche             Couclelis, H. (2004): Pizza over the Internet: e-commerce, the
Datenmengen (die etwa durch eine Vielzahl synchroner                     fragmentation of activity and the tyranny of the region. In:
                                                                         Entrepreneurship and Regional Development 16, 1, 41-54. doi:
kollaborativer Prozesse im Großraumlabor kontinuier-
                                                                         10.1080/0898562042000205027
lich generiert werden) analysieren zu müssen. Entspre-
                                                                   Creswell, J. W. (2007): Qualitative inquiry and research design:
chende Ansprüche an eine hinreichende Granularität                       Choosing among five approaches. London.
sind vielfach nur über eine Beschränkung auf die Analyse           Dijst, M. (2004): ICTs and Accessibility: An Action Space
von Teilprozessen einlösbar. Zudem stellt die Virtualisie-               Perspective on the Impact of New Information and
rung und die Synchronität unterschiedlicher Interaktions-                Communication Technologies. In: Beuthe, M.; Himanen, V.;
                                                                         Reggiani, A.; Zamparini, L. (Hrsg.): Transport Developments
modi in synthetischen Situationen (in der ein Akteur etwa
                                                                         and Innovations in an Evolving World. Berlin, 27-46. doi:
gleichzeitig ein Telefonat führt, On-screen-Projektionen                 10.1007/978-3-540-24827-9
betrachtet und handschriftliche Notizen macht) teilneh-            Farber, S.; Neutens, T.; Miller, H.J.; Li, X. (2013): The Social
mende Beobachtungsstrategien vor grundsätzliche Her-                     Interaction Potential of Metropolitan Regions: A Time-
ausforderungen, die vorläufig nur mit erheblichem Beob-                  Geographic Measurement Approach Using Joint Accessibility.
                                                                         In: Annals of the Association of American Geographers 103, 3,
achtungsmehraufwand bewältigbar scheinen.
                                                                         483-504. doi: 10.1080/00045608.2012.689238
     Trotz dieser methodischen Grenzen des entwickel-
                                                                   Geertz, C. (1973): Thick Description: Toward an Interpretative
ten Instruments konnte mithilfe der Vignetten der Raum-                  Theory of Culture. In: Geertz, C. (Hrsg.): The Interpretation of
Zeit-Trajektorien in Labor und Studio gezeigt werden,                    Cultures. Selected Essays. New York, 310-323.
dass die veränderten raumzeitlichen Bedingungen                    Girtler, R. (2001): Methoden der Feldforschung. Wien.
starken Einfluss auf kollaborative Prozesse haben und              Grabher, G. (2002): Cool Projects, Boring Institutions: Temporary
                                                                         Collaboration in Social Context. In: Regional Studies 36, 3,
die vorgeschlagene qualitativ orientierte Erweiterung des
                                                                         205-214. doi: 10.1080/00343400220122025
zeitgeographischen Modells um eine virtuelle Dimension             Grabher, G.; Ibert, O. (2014): Distance as asset? Knowledge
für komparative empirische Analysen fruchtbar gemacht                    collaboration in hybrid virtual communities. In: Journal of
werden kann.                                                             Economic Geography 14, 1, 97-123. doi: 10.1093/jeg/lbt014
                                                                   Grabher, G.; Maintz, J. (2007): Learning in personal networks:
                                                                         Collaborative knowledge production in virtual forums. In: Hof,
                                                                         H.; Wengenroth, U. (Hrsg.): Innovationsforschung: Ansätze,
                                                                         Methoden, Grenzen und Perspektiven. Hamburg, 187-202. =
                                                                         Innovationsforschung 1.
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