Hans J. Wulff: Der Krieg im Angesicht der Kinder: Bemerkungen zu Schildkröten können fliegen (2004)
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Hans J. Wulff: Der Krieg im Angesicht der Kinder: Bemerkungen zu Schildkröten können fliegen (2004) Die Druckfassung dieses Artikels erschien in: Kinder und Film. Hrsg. v. Thomas Koebner. München: Text + Kritik 2013, S. 141-151 (Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film. 7.). URL der Online-Fassung: http://www.derwulff.de/2-189. Kinderfilme sind Filme mit Kindern und solche für Ende als Subjekte moralisch verhalten und positio- Kinder (und manchmal sogar von Kindern). Nicht nieren zu können. Die Frage bleibt, wie weit man alle Filme, die Kinder darstellen und von ihren gehen darf, in Realismus der Darstellung und Kom- Schicksalen erzählen, sind auch für Kinder geeignet, plexität des Dargestellten. Kinderfilme zeigten eine die man sogar vor diesen Filmen in Schutz nehmen geschönte Welt und transformierten das Reale in möchte. Aber: Es ist das Urteil von Erwachsenen, einen symbolischen Centerpark, tönt manche Kritik das besagt, dass der Film für Kinder ungeeignet sei. (und hat bei manchen Filmen recht, die Zuckerwatte ausbreiten, in Bobonfarben malen und ein Quiet- Kinder verdienen demnach Schutz. Schutz vor Prü- sche-Enten-Universum entwerfen); und doch er- gel, Ausbeutung, Vergewaltigung ebenso wie vor der weckt der Einwand angesichts vieler Filme, die für Berührung mit Themen, die ihr geistiges Gleichge- Kinder gemacht sind, Zweifel. wicht stören und innere Unruhe verursachen könnte, Themen wie Tod, Verlust der Nächsten, Verstümme- Die Öffnung zur Welt, verbunden mit der Unbe- lung, Folter, Sex – und Krieg. Schutz meint Verbot, flecktheit des Blicks und der Fähigkeit des Staunens, Unterdrückung der Themen oder zumindest ihre Ab- auch die Fähigkeit, das Zustoßende als Erlittenes milderung. Man müsse das Erzählte filtern, um es ganz zu vereinnahmen, hat Kinder immer wieder zu den Kindern nicht zu nahe kommen zu lassen. Es den Figuren gemacht, durch deren Augen Filme eine könnte sie gefährden. Das Urteil der Erwachsenen Welt gezeigt haben, die aus den Fugen geraten ist. fußt auf der Annahme: Keine Altersstufe ist so emp- Dinge der Realität, die dem Erwachsenen selbstver- findsam und so der Welt geöffnet, wie die der Kin- ständlich geworden sind, treten dem Kind entgegen, der. Sie können staunen. Sich in Spiel und Freude ohne bereits auf die Resignation der Älteren zu tref- ganz dem Augenblick hingeben. Aber sie sind auch fen. Darum erzählen Filme wie Komm und sieh (Idi i ungeschützt ihren Affekten ausgeliefert, die durch smotri, UdSSR 1985, Elem Klimow) oder schon nichts abgemildert werden, die sie ganz ergreifen. Iwans Kindheit (Iwanowo detstwo, UdSSR 1962, Das so populäre Urteil besagt, dass Kinder weder Andrei Tarkowski) den Krieg aus den Augen von zur Skepsis noch zur Ironie fähig seien, dass noch Kindern. Es sind Filme mit, aber nicht für Kinder. In die Pubertät wie ein Sturm von Affekten und Emo- Karel Kachýnas Film Der Zug in die Station Himmel tionen über die jungen Gemüther hinwegwehe, dass (Vlak do stanice nebe, CSSR 1972) ergreifen Kinder die Macht der Gefühle immer noch stärker sei als die intuitiv Partei, beschließen einen Plan, mit dem sie Kontrolle, die das Subjekt über sie ausüben können; die deutschen Besatzungstruppen vertreiben wollen; erst wenn es kontrollfähig geworden sei, sei die der Film endet mit einem Sieg der Partisanen, feiert Kindheit zu Ende. die Kinder als Helden. Für die Pädagogik des Kinderfilms bleibt der Wider- Doch die Klarheit der Fronten, die Eindeutigkeit, spruch unauflösbar, dass die kindlichen Adressaten wer zu den Guten und wer zu den Bösen zählt, wird auch mit den dunklen Seiten der Erfahrung vertraut im Verlauf der letzten Jahrzehnte immer undurch- zu machen sind, mit Gegenständen, vor denen sie sichtiger. Krieg schafft eine Lernbedingung nicht nur geschützt sein sollten. „Kinder bauchen Märchen!“, für die dargestellten, sondern auch für die zuschau- hatte Bruno Bettelheim konstatiert, weil es die einfa- enden Kinder, die sie weder kognitiv noch als Han- chen Formen des Erzählens seien, die Kinder an die delnde immer weniger beherrschen können, weil die Möglichkeit des Bösen und damit an die dunklen Gegner fern und ungreifbar sind. Gerade das Ende Seiten des Lebens und der Affekte heranzuführen von Komm und sieh deutet aber darauf hin, dass und sie moralisch darauf vorzubereiten, sich am Kinder sich auch in den politischen Kräften, zwi-
schen die sie geraten, zu orientieren lernen müssen: kannt geworden ist, einen Film über einen Zwölfjäh- Als der Junge in verzweifelter Wut eine ganze Reihe rigen, der zum Kriminellen wird, um seine Familie von Schüssen auf ein Hitler-Bild abgibt, als wolle er zu ernähren. Schildkröten war der erste Film, der es „erschießen“, zeigt sein Tun auf ein fundamenta- nach dem Irakkrieg und dem Sturz Saddam Hussein les Verstehen hin, dass das, was er erdulden mußte, im Irak gedreht wurde. in einen größeren – militärischen, politischen und ideologischen – Kontext gehört, den er in seiner gan- Der Film spielt im Irak, unmittelbar an der türki- zen Tragweite wohl noch gar nicht begriffen hat. Der schen Grenze. Noch haben die Amerikaner den äu- Junge gewinnt aber zumindest symbolisch eine ßersten Norden des Landes nicht erreicht. Es ist ein Handlungsmacht wieder, weil er sich in die Fronten aus Zelten bestehendes Flüchtlingslager, in dem fast einordnet. Unter den Bedingungen der „neuen Krie- nur Kinder leben. Der dreizehnjährige Kak, der auf ge“, die ethnisch, politisch oder ideologisch moti- den Rufnamen „Satellit“ hört, ist eine Art heimlicher viert sind, schwinden selbst diese Möglichkeiten. Chef des Lagers. Er hatte sich eine Satellitenantenne gebaut und – weil er als einziger ein wenig Englisch Das Bild des Kindes in Zeiten des Krieges ist in Be- versteht – ist der einzige, der die CNN-Nachrichten wegung geraten – bis in die Extremform des Kinder- kennt und darum ahnen kann, wann die US-Truppen soldaten, der selbst als Akteur und nicht mehr nur als das Lager erreichen werden. Er fährt mit einem Opfer am Krieg beteiligt ist, ohne dabei genau zu buntgeschmückten Fahrrad im Lager herum, als Ma- wissen, für was er sein Leben aufs Spiel setzt. Es nager all jener Arbeiten, die wenigstens etwas Geld sind Filme wie der 2005 auf der Berlinale mit dem zum Überleben in das Lager bringen. Der Junge Gläsernen Bären als „Bester Spielfilm“ im Wettbe- kommandiert eine ganze Brigade von Kindern, die werb 14plus preisgekrönte mexikanische Film Voces die umliegende Gegend nach Minen absucht, mit de- inocentes (2004) von Luis Mandoki über Kindersol- nen Sadam Hussein Krieg gegen die kurdische Be- daten in El Salvador, Johnny Mad Dog völkerung des Irak geführt hatte. Die Suche ist äu- (Frankreich/Belgien/Liberia 2008, Jean-Stéphane ßerst gefährlich. Viele Kinder sind dabei gestorben, Sauvaire) über eine Kindersoldaten-Kompanie in Li- viele sind verstümmelt; und doch schwärmen sie im- beria oder der Dokumentarfilm Lost Children (2005, mer wieder aus, bringen neue todbringende Hinter- Ali Samadi Ahadi, Oliver Stoltz) über die Kinderar- lassenschaften des vergangenen Krieges ins Lager, meen in Nord-Uganda, die auf diese Verunklarung entschärfen sie dort. Aus vielen werden Kochtöpfe der Rolle der Kinder im Kriegsgeschehen hindeuten. gemacht. Andere werden an Waffenhändler in der Sind diese Filme Indizien dafür, dass sich der nahen Stadt verkauft. Schutz, den Kinder in allen Militärkonventionen ge- nossen, auflöst? Dass „Kinderfilm“ eine Redeweise Satellit ist glühender Verehrer der Amerikaner, dort ist, die Kinder in ein protektionistisch umsorgtes ge- gibt es Bruce Lee und Mister Bush, „der die Welt in sellschaftliches Schutzreservat hineindenkt, das un- den Händen hält“ – und ausgerechnet seine erste ter den Vorzeichen der Globalisierung, der allgemei- Liebe ist am Ende der Handlung tot, als die Befreier- nen Kommerzialisierung und der zunehmend größe- armee eintrifft. Am Ende ist auch ihm klar, dass sei- ren Ubiquität und Unkontrollierbarkeit der Interes- ne USA-Verehrung eine rein imaginäre Wunschvor- sen, der Medien und vor allem angesichts der daraus stellung war. Selbst von einer amerikanischen Mine entstehenden Realität längst in Auflösung begriffen schwer verletzt, nimmt er den finalen Aufzug der ist? US-Truppen teilnahmslos zur Kenntnis. Schon die obigen Beispiele zeigen, dass das Böse Aus Schwertern Pflugscharen schmieden – auch jene kaum noch namhaft gemacht werden kann, nicht der Bibel entstammende Parole der Friedens- einmal in der Form der Symbole. Eines der bemer- bewegung klingt auf. Die bittere Absurdität des Ge- kenswertesten Beispiele jüngster Vergangenheit, in schehens ist bereits in den Objekten verankert – na- dem es um Kinder im Krieg geht, ist Schildkröten türlich sind Husseins Minen amerikanischer Her- können fliegen (Lakposhtha parvaz mikonand, kunft; und der dubiose Zwischenhändler, der den Iran/Frankreich/Irak 2004) von dem im Iran leben- Kindern den Schrott für ein Handgeld abnimmt, ver- den kurdischen Filmemacher Bahman Ghobadi, der kauft sie mit riesigen Gewinnen ausgerechnet an die mit seinem Film Zamani barayé masti asbha (Zeit UNO. Im Krieg und in der Beseitigung dessen, was der trunkenen Pferde, 2000) auch im Westen be- er als Erbe für die Jungen hinterlässt, manifestiert
sich ein am Ende ökonomisch-kapitalistischer Pro- sie, dass sie nur dann überleben können, wenn sie zeß, in dem es um Gewinnspannen geht. Begriffe ein Substitut von Familie, eine Ersatzform sozialer wie Freiheit, Selbstbestimmung, Frieden klingen an- Nähe und moralischer Dichte finden. gesichts der Präsenz der Minen und der blinden Zer- störung, die sie anrichten, hohl. Tod und Verstümme- Es gehört wiederum zum politischen Diskurs des lung der Anwesenden sind aber (der Argumentation Films, dass auch „Tradition“ nicht gegen das Gegen- des Films folgend) nur eine Begleiterscheinung, die wärtig-Reale gesetzt und als identitätsstiftender Rah- von denen in Kauf genommen wird, die in Macht- men in Funktion treten kann. Die Hussein‘sche Un- sphären, geostrategischen Plänen und Gewinn-Er- terdrückung aller kurdischen und westlichen Medien wartungen denken. Man möchte schon die Grund- scheint im Krieg aufgehoben zu sein; doch ange- konstellation, die der Film entfaltet, wie eine Allego- sichts von CNN und vor allem MTV wenden sich rie lesen, in der die Kinder für die Machtlosen ste- die Älteren ab. Das Doppel von Befreiung und (zu- hen, die mit den Beschädigungen an Körper und mindest medial verbreiteter) Modernisierung sowie Seele bezahlen müssen, was in den entfernten Sphä- das tiefere Problem der kurdischen Oppression und ren der Macht erdacht und veranlasst wurde. Sie der ethnischen Verfolgung bleiben auch angesichts können keinen Einfluss ausüben, müssen die ver- der gelegentlich im Bild auftauchenden MG-besetz- minte Welt als die Realität nehmen, die sie vorfinden ten Wachtürme auf der türkischen Seite der Grenze und in der sie leben müssen. Es nimmt nicht wunder, in den Szenarien des Films präsent. Als die Amerika- dass die wenigen Erwachsenen im Lager in völlige ner mit großem Tamtam als „Befreier“ einrücken, Resignation und Untätigkeit versunken sind und nur siegestrunken und selbstgewiss, beschränkt sich ihr die Kinder daran gehen, ihre Welt wieder belebbar Tun auf das gemeinsame Anschauen der bis dahin zu machen. Auf eine vertrackte Art handelt der Film verbotenen TV-Kanäle. Das im Hintergrund immer auch von der Verantwortung der kriegtreibenden präsente politische Dilemma der Teilung des kurdi- Mächte, der (irakischen) Militärs ebenso wie der schen Siedlungsgebiets über die Staatsgebiete der (westlichen) Waffenindustrien. Türkei, des Iran und des Irak und der Verfolgungen in allen drei Ländern spielt für ihre Mission und ihr Die Geschichte, die der Film erzählt, setzt ein, als Selbstverständnis keine Rolle. Wahrscheinlich wis- Hengoa, ein Teenager, der beide Arme verloren hat, sen sie nicht einmal, in welchem politisch-ethni- mit seiner fünfzehnjährigen Schwester Agrin im La- schen Konflikt sie eigentlich agieren. ger eintrifft. Das Mädchen wurde von fünf Soldaten während eines Scharmützels vergewaltigt; Digah, Der Film setzt dem fatalen politischen Dilemma die das blinde zweijährige Baby, das sie bei sich hat, Tragödie der Kinder entgegen, von der er erzählt. wurde damals gezeugt. Die Erfahrung der Gewalt Und er lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, geht in neue Gewalt über; Agrin misshandelt das dass es hier kein Happy-End geben wird, sondern Baby, und würde Hengoa es nicht schützen, würde dass die Figuren den Weg, der ihnen aufgezwungen sie es vielleicht töten. Die mildernde Präsenz der Fa- wurde, bis zum Ende gehen werden. Es sind vor al- milie ist in all diesem ebenso zerstört wie die gelebte lem die Flashforwards, die die Geschichte zu ihren Sicherheit der Tradition. Wie schon in der Zeit der dunklen Seiten hin aufrauhen: Kaum zwei Minuten, trunkenen Pferde lokalisiert Ghobadi seine Figuren nachdem Agrin im Lager eingetroffen ist, springt sie in einer Welt des Zusammenbrechens der Orientie- in den Tod – es ist eine Sequenz, der man hier zu- rungsrahmen und einer erzwungenen Rationalität nächst lesen könnte als subjektive Einlassung, die des Handelns, die alle ethischen Werte und sozialen die tiefe und suizidale Melancholie des Mädchens Verpflichtungen außer Kraft setzen muss – zum rei- filmisch zum Ausdruck bringt. Später wird sich er- nen Zweck des Überlebens der Figuren: Dort musste weisen, dass es sich um einen Vorgriff handelt, eine ein Zwölfjähriger seine Schwester verkaufen und zu- Ankündigung und Drohung. Eine ganze Reihe ande- dem noch als Schmuggler arbeiten, um Geld für die rer Zeitvorgriffe bereiten auf die weitere Geschichte Ernährung der Familie und die Operation eines be- vor. Erst viel später im Film geben Flashbacks auch hinderten Familienmitglieds zu verdienen. Auch in Hinweise auf die Vorgeschichte, vor allem auf die Schildkröten können fliegen fehlen alle sicheren Vergewaltigung Agrins. Schildkröten ist aber keine Rahmen, in denen sich spätkindliche oder jugendli- Geschichte über Traumatisierung und finale Hei- che Identität entwickeln könnte. Die soziale Bindung lung, keine success story, an dem das traumatisierte der Kinder aneinander ist ungebrochen, als wüssten Subjekt am Ende regeneriert ist. Die Ausweglosig-
keit der Lage Agrins und das sich in der Geschichte Und doch ist der Film keine dokumentarische Gro- immer weiter ausbreitende Tragische werden früh tesk-Komödie über den Krieg: Es sind die Nah- und ausgewiesen, bleiben immer präsent. Auch die zen- Großaufnahmen vor allem Agrins (eine von ihnen ist trale Liebesgeschichte endet fatal: Der so optimisti- auch zum Titelbild des Filmplakats geworden), die sche und agile Satellit verliebt sich sofort in die in die schmutzige Erdigkeit des Environments aufrei- sich gekehrte, manchmal wie traumwandlerisch sich ßen, es zu den Zuschauern hin öffnen, als trügen die bewegende Agrin. Die Beziehung zwischen den so Figuren ihr Innerstes in die Bilder hinein. Zudem verschiedenen Beiden mag sich kaum entwickeln, zu sind die Großaufnahmen oft mit langen Optiken auf- sehr ist Agrin in Depressionen und Selbstmordphan- genommen, so dass die Hintergründe in pastelliger tasien versunken. Als sie ihr Baby in einer Minenre- Unschärfe verschwimmen. Vor allem diese Bilder gion aussetzt, erfährt Satellit davon, sucht das Kind zwingen den Zuschauer in einen Dialog mit den Fi- zu bergen, tritt dabei aber auf eine Mine und wird guren hinein, der für Ironisierungen keinen Raum schwer am Fuß verletzt. Zwar ist er bald wieder be- lässt. In einen Dialog mit den Kindern und in eine weglich, doch kann auch er Agrins Selbstmord, der Reflexion über das, was über den Krieg berichtet so früh im Film schon angekündigt war, nicht ver- wurde, möchte man ergänzen. Die tiefe Angerührt- hindern: Kurz vor der Ankunft der US-Truppen er- heit, die Schildkröten können fliegen auslöst, rührt tränkt sie das Baby in einem See und stürzt sich auch daher, dass dem Zuschauer das so sicher Ge- selbst von einem Felsen hinab. glaubte in ein neues Licht gerät, dass er einen „Wis- sens-Schock“ erleidet, der das Kriegsgeschehen, den Der Film ist on location gedreht; die Darsteller sind von Bush ausgelobten war against terror und das ausschließlich Laien. Der Handlungsraum kennt auf der Leinwand so präsente Leid der Kinder mit- kein Außen – das Lager ist von Minenfeldern um- einander kollidieren lässt. säumt, zur Türkei hin mit Stacheldraht abgeschottet. Es ist nur dieses Stückchen weitgehend unfruchtbare Der Titel Schildkröten können fliegen kam dem Re- Erde, in der die Figuren agieren müssen. Sie müssen gisseur Bahman Ghobadi in den Sinn, als er eine sich ganz darin einfinden, als müssten sie selbst zu kurze Unterwasser-Szene für den Film inszenierte jener Erde werden. Aus den dominanten Braun- und und eine Schildkröte durch das Wasser glitt – schwe- Blautönungen der Bilder stickt nur das rote Kleid relos, mit den Beinen rudernd, ohne dass es sie anzu- Agrins heraus, das sie am Tage ihrer Vergewaltigung strengen schien, unbeeinträchtigt durch die Schwere trug. Die Farbe der Erde und die der Nacht umgrei- ihres Schildes. Das Tier kam ihm vor wie eine sym- fen das gesamte Geschehen. Eine der unvergess- bolische Darstellung seines Volkes, das jahrhunder- lichsten Szenen des Films zeigt den armlosen Hen- telang von Verfolgung, Vertreibung, Mord und Un- goa, der mit dem Mund eine Mine entschärft, die ihn terdrückung heimgesucht wurde, ohne dieses je zum zerreißen könnte; wie eine Schlange nähert er sich Teil seines nationalen oder ethnischen Selbstver- dem gefährlichen Objekt an. Gerade die Szenen, die ständnisses zu machen. Der in sich widersprüchliche im Offenen spielen, gemahnen an surrealistische Titel ist selbst Allegorie, bildgewordene Vision einer Szenarien. An die Strategien des Absurden oder des Existenz, die sich von allem Ballast freimacht und Bizarren schließen sich auch die Figuren an, immer zu einer Freiheit der Bewegung befähigt, wie wir sie auf einer Grenzlinie zum Komischen hin – der in den zahllosen Bildern des Vogels manifestiert, der Freund Satellits, der einen verkrüppelten Fuß hat sich in die Luft wirft, sich aus der Erdenschwere löst und wie eine Antilope springend sich vorwärts be- und in völliger Souveränität am Himmel die Erde wegt, oder ein Junge, der bei jeder sich bietenden hinter sich läßt. Ist der sich aufschwingende Vogel Gelegenheit in Tränen ausbricht, Kinder, die mit Ke- eines der elementarsten Symbole der Freiheit, das rosin ihre Zahnschmerzen zu mildern suchen, oder der Film hervorgebracht hat, so steht der Titel hier auch die Alten, die sich so blödsinnig darüber är- wie ein Motto über dem Film, wie eine Aufforde- gern, dass das Fernsehen die „verbotenen Kanäle“ rung, trotz oder vielleicht sogar wegen aller Be- zeige. Auf die explizite Darstellung von Gewalt und schwernisse und Beschädigungen den Mut und die Verstümmelung verzichtet der Film, zeigt in einfa- Kraft zu finden, sich zum Flug über die Erde zu er- chen Symboliken als Traumgesichte oder Meta- heben. phern, was die Akteure erlitten haben. Von der im westlichen Kino so wichtigen Hand- lungsmacht, die das Subjekt gegen alle Widerfahr-
nisse des Lebens immunisiert und die es wiederzuer- ralisch verantwortliche Subjekte auch politisch han- langen gilt, wenn es sie einmal verloren haben sollte, deln wollen)? ist in Schildkröten keine Rede mehr. Die so zarte Liebe zwischen Satellit und Agrin, die ein Vorschein Bettelheim hatte von der Fähigkeit der Märchen ge- eines Herauskommens aus der blinden und perspek- sprochen, Kinder mit den dunklen Seiten des Lebens tivlosen Einkerkerung im Lager sein könnte, wird und der Affekte vertraut zu machen. Der narrativ so nur angedeutet, dann aber brutal abgebrochen. Und einfach gebaute Film Schildkröten können fliegen er- auch das Verhalten der amerikanischen Befreier deu- weist sich als ein Modell, an dem sich auch kindli- tet eher auf eine neue kulturelle Unterdrückung, ja che moralische Identität entfalten kann – weil es die sogar Kolonisierung der kurdischen Kinder (oder gar Zuschauer in eine moralische Auseinandersetzung der ganzen Bevölkerung) hin, weil sie nichts zu ken- hineinzieht, die auf dem Mitleid mit den Figuren nen scheinen als die Vergnügungen amerikanischer aufruht. Welches Bild des Kindes haben wir im Alltagskultur. Für die kriegführenden Amerikaner ist Kopf, wenn wir es für möglich und vielleicht sogar die Realität des Krieges möglicherweise in eine wünschenswert halten, Kindern eine so komplexe große, technologisch ermöglichte Entfernung ge- Auseinandersetzung mit einem Film nicht nur zuzu- rückt; für die Opfer dagegen dringt sie in tiefste Be- trauen, sondern sogar zuzumuten? reiche ihres emotionalen Lebens und in die Phantasi- en ein. Einmal sehen wir das blinde Kleinkind, das in einem Zelt mit einer Gasmaske spielt und dabei – Filmographische Angaben: Lakposhtha hâm parvaz mikonand wie es Kinder in aller Welt zu tun pflegen – nicht nur Schildkröten können fliegen Phrasen einer Phantasiesprache lautiert, sondern IT: Turtles Can Fly auch das Geräusch explodierender Bomben nach- Iran/Frankreich/Irak 2004 ahmt. R/B: Bahman Ghobadi P: Mij Film Co., Bac Films K: Shahriar Assadi Ein Film über Kinder in den Randregionen des Krie- S: Mostafa Kherghehpoosh, Hayedeh Safiyari ges, eine Allegorie über moderne Stellvertreter-Krie- M: Hossein Alizadeh ge dazu. Ein Film mit Kindern. Aber auch ein Film D: Soran Ebrahim (Kak / Satellite), Avaz Latif (Agrin), für Kinder? Am Ende bleiben Fragen an die Erwach- Saddam Hossein Feysal (Pashow), Hiresh Feysal Rahman senen, die darüber entscheiden, was als kindgerecht (Hengov), Abdol Rahman Karim (Digah), Ajil Zibari (Shirkooh). zu gelten hat oder nicht. Warum muss man Kinder 98min, Farbe, Dolby-Stereo, 1,85:1. vor dem tragischen Affekt des Pathos schützen? UA: 10.9.2004 (Toronto International Film Festival) Oder vor der Darstellung einer Welt, in der das Gute und das Böse keinen Namen mehr tragen und nicht mehr durch Figuren der Handlung repräsentiert Literatur: [*] Das Problem, das der obige Artikel anschneidet, ist sind? Der Film ist mit Preisen überhäuft worden seit dem Irakkrieg auch in der Medienpädagogik mehr- (darunter mehrere Friedensfilmpreise). Gerade dar- fach thematisiert worden; vgl. dazu neben Horst Schäfers um stellt sich die Frage nach seinen Adressaten. Buch Kinder, Krieg und Kino. Filme über Kinder und Ju- Schildkröten können fliegen ist ein Film über Opfer. gendliche in Kriegssituationen und Krisengebieten (Kon- Niemand trägt Schuld (wie noch in der Aristoteli- stanz: UVK 2008) vor allem das Themenheft Krieg im Kinderfernsehen der Zeitschrift TelevIZIon (16,2, 2003, schen Dramatik gefordert), keiner ist mit den (politi- online: http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publi- schen) Akteuren des Krieges verstrickt; sie sind Op- kation/televizion/16_2003_2.htm.). In eine ähnliche medi- fer des Krieges außerhalb seiner Parteien, Opfer au- enpädagogische Richtung argumentiert Ruth R. Caillouet: ßerhalb der Geschichte; von ihnen wird niemand be- „The Other Side of Terrorism and the Children of Afgha- richten. Keine Schuldigen. Aber der Film wirft die nistan“ (in: The English Journal 96,2, Nov. 2006, S. 28- 33). Frage nach der Schuld auf – und gehörte er darum Eine genauere textuelle Analyse des Films versucht nicht vor die Augen von Kindern, die lernen müssen, Khaleghpanah Kamal: „Semiotics and Film Analysis: A auch in Zeiten der Globalisierung das Problem der Semiotic Investigation of Turtles Can Fly“ (in: Cultural politischen Verantwortung anzugehen? Entspringt Studies 4,12, Fall 2008, S. 163-182). Eine kulturwissen- dem Mitleid mit den Opfern vielleicht eine funda- schaftliche Analyse ist Fran Hassencahl: „Experiencing ‚Hüzün/Pooch‘ through the Loss of Life, Limb, and Love mentale Haltung zur Welt, die von Zuschauern er- in Turtles Can Fly“ (in: Lost and Othered Children in lernt werden muss (vor allem dann, wenn sie als mo- Contemporary Cinema. Ed. by Debbie Olson & Andrew Scahill. Lanham, Maryland: Lexington Books 2012, S.
307-323), basierend auf dem Gefühl von Trauer, Machtlo- Magazine: Media & Education Magazine, 145, 2005, S. sigkeit und Isolation, das nach dem Verlust von Angehöri- 70-75). Von den zahlreichen Rezensionen des Films sei gen auftritt und im Türkischen hüzün genannt wird. Vgl. einzig hingewiesen auf Bert Cardullo: „War Games: On darüber hinaus Farhang Erfani: „Deafening Silence: Bah- Bahman Ghobadi‘s Turtles Can Fly“ (in: Waves from the man Ghobadi's Turtles Can Fly and Marginal Politics“ (in East: New World Cinema, Asian Style; Essays and Inter- seinem: Iranian Cinema and Philosophy. Shooting Truth. views. Ed. by Bert Cardullo. Newcastle upon Tyne: Cam- New York: Palgrave Macmillan 2012, S. 157-192). bridge Scholars Publishing 2010, S. 55-60) sowie das lan- Ein längeres Interview mit Ghobadi findet sich als: ge Interview der Cineaste-Herausgeber mit Ghobadi (in: Trbic, Boris: „Turtles Can Fly and Tales of Lost Youth: ebd., S. 61-69). An Interview with Bahman Ghobadi“ ([online in:] Metro
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