Heinrich Mann: Der Untertan 1906 bis 1918 - Ariane Martin Entstehung und Überlieferung - AISTHESIS ...
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Leseprobe Ariane Martin Heinrich Mann: Der Untertan 1906 bis 1918 Entstehung und Überlieferung Im Anhang: Briefe der russischen Übersetzerin Adele Polotsky-Wolin an Heinrich Mann AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2021
Umschlagabbildung: Die ersten beiden Seiten der frühesten Notizen zum Untertan aus dem Notizbuch A von Heinrich Mann, Akademie der Künste in Berlin, Signatur: Heinrich Mann-Archiv, Nr. 468. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Inter- net über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Aisthesis Verlag Bielefeld 2021 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten Print ISBN 978-3-8498-1752-7 E-Book ISBN 978-3-8498-1765-7 www.aisthesis.de
Inhalt Einleitung 7 Eckdaten 1906, 1912, 1914, 1918 8 Quellen und Werk eines „être collectif “ 13 Vorgeschichte: Ein „Roman um den Kaiser herum“ 24 Der Simplicissimus und die Teilvorabdrucke 27 „Jungborn“ 33 Lesungen aus dem unveröffentlichten Roman 47 Gesamtvorabdruck in Zeit im Bild und ‚work in progress‘ 54 Rezeption der Veröffentlichung in Zeit im Bild 68 Die öffentliche Buchausgabe von 1918 77 Der Untertan – Textzeugen 1906 bis 1918 86 Anhang 136 Briefe der russischen Übersetzerin Adele Polotsky-Wolin 136 an Heinrich Mann Siglenverzeichnis 156 Register 158 Personen 158 Werke Heinrich Manns 160 Zeitungen und Zeitschriften 161
Einleitung Entstehung und Überlieferung von Heinrich Manns Roman Der Untertan stehen derzeit in der Forschung kaum mehr zur Debatte. Edgar Kirsch und Hildegard Schmidt haben vor mehr als sechzig Jahren einen wegweisenden Aufsatz zur Entstehung des Romans veröffentlicht.1 Peter-Paul Schneider informierte auf dieser Grundlage und auf der Grundlage weiteren Materials im Abschnitt zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte2 seiner Untertan-Studienausgabe vor gut dreißig Jahren präzise über den seinerzeit neuesten Stand. Kurz danach hat Peter Sprengel noch einige wichtige Hinweise zur Textgenese in der Konzeptionsphase gegeben.3 Seitdem sind verschiedene ungedruckte und gedruckte Text- zeugen aufgefunden worden, darunter das Notizbuch C (es ent- hält wie die Notizbücher A und B umfangreiche Aufzeichnungen zum Untertan),4 diverse Notizen auf Einzelblättern und mindes- tens zwei weitere Vorabdrucke aus dem Roman. Inzwischen ist in beträchtlichem Umfang auch Kontextmaterial entdeckt worden, das nähere Auskünfte über die Textgeschichte gibt, darunter im Anhang des vorliegenden Bandes mitgeteilte Briefe von Adele Polotsky-Wolin, Übersetzerin der russischen Untertan-Ausgabe (die eigentliche Erstausgabe), an Heinrich Mann. Damit hat sich 1 Vgl. Edgar Kirsch/Hildegard Schmidt: Zur Entstehung des Romans Der Untertan. In: Weimarer Beträge 6 (1960), Heft 1, S. 112-131, 433. 2 Vgl. Peter-Paul Schneider: Zur Entstehungs- und Überlieferungs geschichte. In: Untertan (StE), S. 499-526. 3 Vgl. Peter Sprengel: Kaiser und Untertan. Zur Genese von Heinrich Manns Roman. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 10 (1992), S. 57-73. 4 Die Bezeichnungen der Notizbücher zum Untertan stammen von Heinrich Mann und sind in der Darstellung der Textzeugen entspre- chend erläutert. 7
ein Wissenszuwachs ergeben, über den der vorliegende Band informiert. Die Einleitung gibt einen Überblick über die Ent- stehung und Überlieferung des Romans, will Einsichten in den Schreibprozess und seine Umstände vermitteln und widmet sich auch Aspekten, die für die Textgeschichte relevant sind, bisher aber kaum oder gar nicht berücksichtigt wurden. Anschließend sind auf dieser Grundlage die Textzeugen bis zur ersten öffentli- chen deutschsprachigen Buchausgabe in ihrer chronologischen Folge von 1906 bis 1918 beschrieben. Es folgt der Anhang mit den genannten Briefen. Der vorliegende Band versteht sich als Prolegomena zu einer zukünftigen historisch-kritischen Ausgabe von Heinrich Manns Roman Der Untertan, indem er das bisherige Wissen über die Textzeugen und die in ihnen vergegenständlichte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte bündelt und durch neue For- schungsergebnisse erweitert. Daraus könnten sich editionsphilo- logische Überlegungen ergeben, die bisher für Heinrich Manns wohl bekanntesten Roman – „der erste große satirische politische Roman der deutschen Literatur“5 – noch nicht angestellt wurden. Ihnen soll nicht vorgegriffen werden, da es hier zunächst einmal darum gehen muss, zu rekonstruieren, wie die textgenetische Schichtung sich anhand der Sichtung der Textzeugen im Kontext einer differenzierter als bisher erschlossenen Textgeschichte über- haupt darstellt. Eckdaten 1906, 1912, 1914, 1918 Heinrich Mann hat sich im Rückblick mehrfach über die Entste- hung seines Romans geäußert, gelegentlich auch über die Druck- geschichte bis zur ersten öffentlichen Buchausgabe Der Untertan von 1918. Überblickt man diese Mitteilungen des Autors, dann 5 So Bertolt Brecht am 3. März 1939 über den Untertan in Notizen zu Mut. Heinrich Mann: Mut. Essays. Mit einem Nachwort von Willi Jasper und einem Materialienanhang, zusammengestellt von Peter- Paul Schneider. Frankfurt am Main 1991 (StE), S. 352. 8
ergeben sich bei den von ihm als Eckdaten genannten Jahreszahlen Übereinstimmungen, bei den genaueren Zeitangaben aber gering- fügige Abweichungen und schließlich sogar Unstimmigkeiten. Seine Mitteilungen sind daher kurz zu sichten. Dem Magdeburger Lehrer Eugen Bautz schrieb Heinrich Mann am 17. September 1920 (der Brief ist eigentlich eine Abschrift eines Briefes an den Herausgeber einer englischen Untertan-Aus- gabe, vermutlich Ernest Boyd): „Den Untertan entwarf ich schon 1906, als der politische Niedergang des Reiches noch kaum sicht- bar war, und ich beendete die Arbeit 1914, drei Wochen vor dem Krieg.“6 Damit setzte Heinrich Mann die äußeren Eckdaten der Entstehung seines Romans, denen er dann am 3. April 1922 im Brief an den Schriftsteller Paul Hatvani eine weitere Jahreszahl hinzufügte, mit der er den Beginn der Niederschrift markierte: „1914 vollendete ich […] den ‚Untertan‘, der 1912 begonnen, aber schon 1906 entworfen war.“7 Demnach hat er den Untertan 1906 konzipiert und mit der Niederschrift sechs Jahre später begonnen. In einem Interview, das am 24. Dezember 1927 in der französi- schen Wochenzeitung Les Nouvelles littéraires erschien, hat Hein- rich Mann zunächst den Zeitrahmen der Niederschrift genannt und die Umstände des Erscheinens der öffentlichen Buchaus- gabe skizziert: „De 1912 à 1914, j’ai écrit Sujet, mais ce roman ne put paraître pendant la guerre et il ne fut édité qu’en 1918, à l’armistice.“8 Dann hat er ergänzend auch das Jahr angegeben, in dem er mit der Konzeption begann („La première idée m’en vint dès 1906“9). Darauf hat auch Lyonel Dunin in seiner Einleitung zu der Neuausgabe des Untertan in der von ihm herausgegebenen Reihe „Bücher der Epoche“ im Sieben Stäbe-Verlag hingewiesen: 6 Zitiert nach: Untertan (StE), S. 612. Vgl. Untertan ( JA), S. 553. 7 Brief Heinrich Manns an Paul Hatvani. In: Heinrich Mann. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. 4. Aufl. München 1986 (Sonderband Text + Kritik), S. 4-12, hier S. 9. 8 HMEP 4, S. 432. „Von 1912 bis 1914 habe ich den Untertan geschrie- ben. Aber der Roman konnte während des Krieges nicht erscheinen und wurde erst 1918, beim Waffenstillstand, verlegt.“ Ebd., S. 440. 9 Ebd., S. 432. „Die erste Idee dazu hatte ich 1906“. Ebd., S. 440. 9
„Die ersten Anfänge des vorliegenden Romans gehen auf das Jahr 1906 zurück“10 – die Information dürfte unmittelbar auf Heinrich Mann zurückgehen, da Dunin seinerzeit als dessen Literaturagent tätig und in Berlin oft mit ihm zusammen war. Das Jahr 1906 und weitere entsprechende Jahresangaben finden sich auch in dem Vor- wort zur neuen Ausgabe, das der Autor selbst 1929 zu dieser Neu- ausgabe seines Romans in der Weimarer Republik verfasst hat: „Der Roman ‚Der Untertan‘ wurde von 1912 bis 1914 geschrie- ben. Die ersten Aufzeichnungen sind aus dem Jahre 1906 […].“11 Dieselben Jahreszahlen nannte Heinrich Mann als Eckdaten der Entstehung seines bekanntesten Romans noch im amerikani- schen Exil, zuerst am 3. März 1943 in einem sein Schriftsteller leben skizzierenden Brief an Alfred Kantorowicz, dem er schrieb: „meine ersten Notizen für den ‚Untertan‘ sind von 1906. Geschrie- ben wurde er 1912 bis 14; (erschien bis zum Ausbruch des Krieges in einer Zeitschrift, als Buch erst Dezember 1918; hatte in sechs Wochen 100.000 Auflage).“12 Die Zeitschrift war Zeit im Bild, die den Fortsetzungsvorabdruck des Untertan bei Kriegsbeginn abge- brochen hat. Mit ihr hat der Autor auch die Druckgeschichte vor der Buchausgabe von 1918 bedacht. Diese hat er der hohen Auf- lage wegen mehrfach zur Sprache gebracht, so zum Beispiel am 19. Oktober 1922 in einem Brief an Félix Bertaux („der ‚Unter- tan‘ hat 100 000 Auflage“13). Die mit den Jahreszahlen 1906 und 1914 markierten entstehungsgeschichtlichen Eckdaten sowie das 10 Lyonel Dunin: Einleitung. In: Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. Berlin 1929 (Bücher der Epoche. Bd. 2. Serie A: Deutsche Autoren), S. 7f., hier S. 7. 11 HMEP 4, S. 338. 12 [Heinrich Mann an Alfred Kantorowicz, 3. März 1943.] In: Gedenk- ausstellung. Aus dem Lebenswerk des Dichters Heinrich Mann zu seinem 80. Geburtstag. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste. Berlin 1951, S. 37-42, hier S. 37. Briefabdruck als Faksimile (ohne den Briefschluss). 13 Heinrich Mann/Félix Bertaux. Briefwechsel 1922‒1948. Mit einer Einleitung von Pierre Bertaux. Auf der Grundlage der Vorarbeiten von Sigrid Anger, Pierre Bertaux und Rosemarie Heise bearbeitet von Wolfgang Klein. Frankfurt am Main 2002, S. 38. 10
Druckdatum 1918 nahm Heinrich Mann in seine Erinnerungen Ein Zeitalter wird besichtigt (1946) auf: Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wil- helms des Zweiten dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges […]. Mit dem Roman „Der Untertan“ kam ich früher, als erlaubt. Er mußte die vier Kriegsjahre abwarten. Erst Ende 1918 konnte er gele- sen werden […].14 Die Tatsache, dass die allgemeine Buchausgabe erst nach dem Krieg erscheinen konnte, der Roman aber schon vor dem Krieg im Manuskript abgeschlossen und die Arbeit daran schon viele Jahre davor begonnen war, ist lapidar herausgestellt. Während Heinrich Mann in einer früheren Äußerung (im Brief an Eugen Bautz) drei Wochen vor dem Krieg als Zeit- punkt des Manuskriptabschlusses angegeben hat, sind es hier zwei Monate – das wäre vom Kriegsbeginn am 1. August 1914 aus zurückgerechnet der 1. Juni gewesen. Diesen Monat nannte Heinrich Mann auch am 29. Januar 1947 bei der stichwortarti- gen Beantwortung eines Fragebogens von Karl Lemke, dem er, das Jahr 1912 als Beginn der Niederschrift wieder aufnehmend, zum Untertan angab: „Notizen seit 1906, geschrieben 1912 bis Juni 1914. Veröffentlichung in Zeit im Bild abgebrochen. Dezember 1918 in vier Wochen hunderttausend.“15 Differenzen zu frühe- ren Angaben sind auch bei der Auflage von 100.000 Exemplaren gegeben – hier vier Wochen, während Heinrich Mann gegenüber Alfred Kantorowicz sechs Wochen angegeben hatte. Tatsächlich waren es acht Monate. „Das hundertste Tausend“16 meldete der Kurt Wolff Verlag in einer am 7. Juli 1919 im Börsenblatt für den 14 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit einem Nachwort von Klaus Schröter und einem Materialienanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 1988 (StE), S. 206f. 15 Heinrich Mann: Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus. Hamburg [1964], S. 46. 16 Vgl. das Faksimile der Anzeige: Untertan ( JA), S. 548. 11
Deutschen Buchhandel veröffentlichten ganzseitigen Anzeige des rasch berühmt gewordenen Romans Der Untertan. Nun mag es auf solche Differenzen, die vergleichsweise gering- fügig sind und angesichts der lange zurückliegenden Ereignisse auf erklärlichen Erinnerungsfehlern beruhen, nicht sonderlich ankommen, denn die Tatsachen als solche bleiben ja bestehen – der große Erfolg der Buchausgabe von 1918 unmittelbar nach dem Krieg und der Abschluss des Romanmanuskripts 1914 kurz vor Kriegsbeginn. Dennoch geben die von Heinrich Mann rück- blickend genannten Eckdaten nur einen zeitlichen Rahmen und sind zu ungenau, um die komplexe Entstehungs- und Überliefe- rungsgeschichte des Romans adäquat nachzuvollziehen. Sie wer- fen sogar Fragen auf, vor allem was den Beginn der Niederschrift angeht. Heinrich Mann kann nicht erst im Jahr 1912 mit der Nie- derschrift des Untertan begonnen haben, denn der Romanbeginn wurde bereits am 27. November 1911 im Simplicissimus vorabge- druckt. Schon in einem Brief des Autors vom 6. Oktober 1910 ist von einem vorliegenden „Manuskript des ‚Unterthans‘“17 die Rede und bereits am 12. Juni 1907 hat der Verfasser des Untertan dem Jugendfreund Ludwig Ewers mitgeteilt: „heute habe ich die ersten Sätze niedergeschrieben.“18 Insofern muss der Beginn der Niederschrift des Romans deutlich vor 1912 angenommen wer- den. Bei dem erhaltenen Romanmanuskript, bei dem eine genau- ere Prüfung noch aussteht, handelt es sich wohl nicht um die 1907 begonnene Niederschrift, sodass von mindestens einem verschol- lenen handschriftlichen Textzeugen auszugehen ist (es dürften auf der Ebene von Notizen eine ganze Reihe gewesen sein). So oder so liegt auf der Hand, dass die überlieferten Textzeugen des Untertan in ihren historischen Zusammenhängen zur Kenntnis zu nehmen sind, um sich ein differenziertes Bild von der Text geschichte machen zu können. Dazu gehören auch die Quellen und Umstände der Arbeit am Roman. 17 ABH a248.71. Brief an Julia Mann. 18 Heinrich Mann: Briefe an Ludwig Ewers 1889‒1913. Hg. von Ulrich Dietzel und Rosemarie Eggert. Berlin, Weimar 1980, S. 431. 12
Quellen und Werk eines „être collectif “ Die Quellen des Untertan, die für die Entstehung des Romans ein wesentliches und ganz eigenes weites Feld bilden, bleiben bei der Darstellung der Textzeugen unberücksichtigt und sind daher hier anzusprechen. Wilhelm Schröders im Frühjahr 1907 veröf- fentlichte Broschüre Das persönliche Regiment. Reden und sons- tige öffentliche Äußerungen Wilhelms II.19 bildet sicherlich, was die zahlreichen im Roman zitierten Kaiserworte angeht, die seit langem bekannte Hauptquelle des Untertan.20 Darüber hinaus hat Heinrich Mann eine Fülle weiterer Quellen im Text verarbeitet, die erst ansatzweise dingfest gemacht worden sind.21 Sie sind von den Textsorten her äußerst disparat. So umfassen sie, um diese zuerst anzuführen, bisher noch nicht identifizierte Buchpublika- tionen, wie Korrespondenz des Autors mit seiner Mutter belegt. Julia Mann, die seinerzeit in Polling wohnte, bewahrte dort zwischenzeitlich ein noch unvollendetes Romanmanuskript und Material dazu auf. Sie schrieb ihrem Sohn Ende August 1910 dar- über: „Bitte schreib mir, ob ich ‚Der Untertan‘ noch in P. lassen oder es Dir gleich n. München senden soll“22, um ihm dann noch mitzuteilen, sie „fahre wohl erst Dienstag“ – das war der 6. Sep- tember 1910 – „nach P[olling], schreib mir bitte dann, ob Du ‚Untertan‘ bald geschickt haben möchtest, denn mir ist das nicht 19 Die Broschüre ist in der Wiener Tageszeitung Die Zeit angezeigt, die Heinrich Mann regelmäßig las. Vgl. Büchereinkauf. In: Die Zeit, Jg. 6, Nr. 1622, 31. März 1907, Morgenblatt, S. 42. 20 Vgl. Hartmut Eggert: Das persönliche Regiment. Zur Quellen- und Entstehungsgeschichte von Heinrich Manns Untertan. In: Neophi- lologus 55 (1971), S. 298-316. 21 So hat der Autor zum Beispiel für die Gestaltung der Figur des alten Buck Literatur aus dem Vormärz verarbeitet. Vgl. Ariane Martin: Der alte Buck. 1848 und der Vormärz in Heinrich Manns Roman Der Untertan In: Heinrich Mann-Jahrbuch 39 (2021) [Druck in Vorbereitung]. 22 Julia Mann: Ich spreche so gern mit meinen Kindern. Erinnerun- gen, Skizzen, Briefwechsel mit Heinrich Mann. Hg. von Rosemarie Eggert. Berlin, Weimar 1991, S. 197. 13
erinnerlich.“23 Sie schickte ihm das Manuskript zunächst noch nicht – Heinrich Mann hielt sich vor seiner Reise nach Vene- dig nur bis zum 7. September 1910 in München auf. Nachdem die Mutter wohl nochmals nachgefragt hatte, schrieb er ihr am 22. September 1910 aus Venedig: „Besten Dank daß Du an die Sachen denkst. Vergiß nicht […] das Packet ‚Unterthan‘“24; zurück in München bestätigte er ihr am 6. Oktober 1910, er habe das Paket mit dem Manuskript erhalten, vermisse aber für den Roman als Quellen benötigte Bücher: Dank für das Packet. Aber das Manuskript des „Unterthans“ war doch, wenn ich mich nicht sehr irre, zusammengebunden mit einem kleinen Haufen Bücher. Die brauche ich, um den Roman zu schrei- ben. Kannst Du sie noch finden? Dann bringe sie, bitte, mit, wenn Du herkommst. Früher ist’s nicht nöthig. […] Vergiß also nicht die Bücher für den Unterthan.25 Welche Bücher genau das waren, die Heinrich Mann als Quel- len für seinen Roman nutzte, ist unklar. Julia Mann hat sie ihm geschickt, zumindest einige von ihnen, denn der Sohn schrieb ihr am 10. Oktober 1910: „Besten Dank für die Bücher, es genügt so.“26 Die Quellen des Untertan umfassen außer Buchpublikati- onen diverse Presseartikel (der Autor hat ausschweifend Zei- tung gelesen), alltagskulturelle Versatzstücke der Kaiserzeit wie Redensarten und floskelhafte Wendungen, Bildmedien (sie doku- mentieren Heinrich Manns Interesse an „der Ikonographie des Wilhelminismus“27), außerdem briefliche Berichte von Freunden und Bekannten sowie aus der Familie. Bekanntlich gab Thomas Mann in seinem Brief an den Bru- der vom 27. April 1912 mit der Schilderung seiner eigenen 23 Ebd., S. 198. Hervorhebung original. 24 ABH a248.70. 25 ABH a248.71. 26 ABH a248.72. 27 Sprengel: Kaiser und Untertan (s. Anm. 3), S. 60. 14
Musterung Anregungen für eine Passage im Kapitel I, versehen mit Einschätzungen, was davon er für den Roman des Bruders „sehr geeignet“ fand, und Empfehlungen, was dieser in seinen Roman „einflechten“28 könnte. Bekannt und durch einige Briefe substantiell dokumentiert ist auch, dass der mit Heinrich Mann befreundete Lyriker und Rechtsanwalt Maximilian Brantl dem Autor juristische Auskünfte für die Gestaltung des Majestätsbe- leidigungsprozesses im Kapitel IV gab. Heinrich Mann bedankte sich am 29. Dezember 1912 bei ihm für die „prozessualen Rathschläge.“29 Nach dem Tod Heinrich Manns schrieb Maximi- lian Brantl, sich an die lange zurückliegenden Münchner Jahre mit ihm erinnernd, am 31. März 1950 an Felix Braun, dass er selbst am Untertan „zeitweise mitarbeitete.“30 Seine produktive Anteil- nahme am Romanprojekt des Freundes war besonders ausgeprägt. Es leisteten auch andere Personen tatkräftige Unterstützung (oder waren dazu bereit), die bisher weniger oder noch gar nicht in den Blick geraten sind und von Heinrich Mann insbesondere in der Konzeptionsphase seines Romans angesprochen wurden. So wandte er sich in seinem Brief vom 31. Oktober 1906, in dem er die Grundkonzeption des geplanten Romans darlegte („Sein Held soll der durchschnittliche Neudeutsche sein, einer, der den Ber- liner Geist in die Provinz trägt; vor allem ein Byzantiner bis ins allerletzte Stadium. Ich habe vor, daß er eine Papierfabrik haben soll“), an Ludwig Ewers. Der alte Schulfreund, der inzwischen als Redakteur bei der Königsberger Allgemeinen Zeitung tätig war und dort Leitartikel schrieb, sollte spezifische Auskünfte im Zusam- menhang mit der Hauptfigur geben: 28 Thomas Mann/Heinrich Mann: Briefwechsel 1900‒1949. Hg. von Hans Wysling. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main 1984, S. 122f. 29 Ulrich Dietzel: Heinrich Manns Briefe an Maximilian Brantl. In: Weimarer Beiträge 14 (1968), Heft 2, S. 393-422, hier S. 405. 30 Zitiert nach: „Ganz entre nous“. Thomas Mann im Briefwechsel mit dem Juristen und Lyriker Maximilian Brantl. Hg. von Holger Pils, Britta Dittmann und Manfred Eickhölter. Lübeck 2015, S. 186. 15
Als Papierfabrikant ist er mit dem Regierungsblatt seines Kreises liiert. Hier möchte ich Dich um Rat fragen. Kann solch ein offiziöses Kreisblatt eine hohe Auflage haben? Auf welche Summen mag sich dabei das Geschäft des Papierfabrikanten belaufen? Mit welchen Regierungsbeamten hat er dabei zu rechnen? Sitzt in einem Kreise ein Landrat? – Hast Du als Redakteur irgendwelche Erfahrungen mit Regierungsleuten gehabt? Weißt Du etwas von solchem Byzan- tiner? Züge bürgerlicher Niedrigkeit oder ähnliches? Ich hoffe, Du findest gelegentlich etwas für mich und erlaubst mir, Dir auch später noch Fragen vorzulegen über den Gegenstand. Wenn ich einmal mit Dir sprechen könnte, wäre mir’s noch lieber.31 Der Freund erklärte sich bereit, „Fingerzeige zu geben“32 (Hein- rich Mann an Ludwig Ewers, 13. November 1906), ein geplantes Treffen kam aber nicht zustande und so bat Heinrich Mann ihn am 11. Dezember 1906: „Wenn Du mir brieflich doch noch gele- gentlich Beiträge zu meinem Stoff geben kannst, werde ich Dir sehr danken. Vielleicht darf ich Dir manchmal Fragen stellen?“33 Ludwig Ewers erklärte sich bereit, Fragen zu beantworten, Hein- rich Mann aber schrieb ihm am 26. Dezember 1906, er werde erst in einigen Monaten weiter an seinem Romanprojekt arbeiten: „Dann kriegst Du meine Fragen.“34 Unklar ist, ob er sie gestellt hat. Entscheidend ist, dass Ludwig Ewers zu dem Personenkreis gehörte, der Informationen für den entstehenden Roman beisteu- ern sollte. Der Publizist Wilhelm Herzog darf ebenfalls zu diesem Per- sonenkreis gezählt werden.35 Er schätzte Heinrich Mann sehr und sah ihn öfter, so am 27. März 1907 in München, als er den Schrift- steller besuchte und dieser ihm von dem soeben abgeschlossenen 31 Heinrich Mann: Briefe an Ludwig Ewers (s. Anm. 18), S. 422f. 32 Ebd., S. 424. 33 Ebd., S. 428. 34 Ebd., S. 429. 35 Wilhelm Herzog, der später zahlreiche Texte Heinrich Manns im Pan, im März, im Forum publizierte, war dem Autor auch privat ver- bunden. Heinrich Mann war bei Wilhelm Herzogs Heirat mit Erna Morena am 22. Dezember 1914 in München Trauzeuge. 16
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