Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum

Die Seite wird erstellt Levi Herzog
 
WEITER LESEN
Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum
Datum: 5. Juli 2022

Höherer Mindestlohn betrifft mehr als
jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis
Christiane Keitel, Martin Schludi

Gemäß Beschluss des Bundestags wird der gesetzliche Mindestlohn ab Oktober 2022 auf 12
Euro erhöht. Ein wissenschaftliches Team des IAB skizziert in einem IAB-Kurzbericht, auf wie
viele Beschäftigungsverhältnisse sich die Erhöhung voraussichtlich auswirken wird. Die
Redaktion des IAB-Forum hat bei den Autorinnen und Autoren nachgefragt.

Wie groß wird die Reichweite des neuen Mindestlohns ausfallen?

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 1
Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum
Datum: 5. Juli 2022

Dr. Mario Bossler ist
Mitarbeiter des
Forschungsbereichs
“Arbeitsmarktprozesse
und Institutionen” am IAB
und leitet die
Arbeitsgruppe
Mindestlohn.

Mario Bossler: Wenn man die geschätzten Löhne von 2021 zugrunde legt, betrifft die
Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis in
Deutschland. In der Gruppe der Minijobs werden sogar fast drei von vier Jobs mit höchstens
12 Euro entlohnt. Der Mindestlohn steigt im Laufe dieses Jahres um insgesamt 22 Prozent.
Diese Zahlen verdeutlichen die große Reichweite des Mindestlohns, die – was die Anzahl der
betroffenen Beschäftigten angeht – sogar noch deutlich größer ist als zur
Mindestlohneinführung 2015.

Erik-Benjamin Börschlein: Interessant ist dabei auch, dass die Zahl der Beschäftigten, die
zum bisherigen Mindestlohn entlohnt wurden, im Zeitverlauf sogar gesunken ist. Diese
Entwicklung ist plausibel, weil unsere Auswertungen zeigen, dass die Erhöhungen des
Mindestlohns bis 2021 bislang hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurückgeblieben sind.

     Unter Minijobbern ist über alle Branchen hinweg mindestens die Hälfte der
     Beschäftigten von der Mindestlohnerhöhung betroffen, häufig jedoch weitaus
     mehr.

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 2
Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum
Datum: 5. Juli 2022

In welchen Jobs werden die Beschäftigten im Herbst besonders vom höheren
Mindestlohn profitieren?

Erik-Benjamin Börschlein
ist Mitarbeiter im
Forschungsbereich
“Arbeitsmarktprozesse
und Institutionen” am
IAB.

Erik-Benjamin Börschlein: Der Anteil der Beschäftigten, für die ein höherer Lohn durch die
Mindestlohnanpassung zu erwarten ist, unterscheidet sich relativ stark zwischen den
Branchen. Unter den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten wird in der Landwirtschaft
und im Gastgewerbe aktuell etwa jeder zweite Beschäftigte unterhalb von 12 Euro entlohnt.
Unter Minijobbern ist über alle Branchen hinweg mindestens die Hälfte der Beschäftigten von
der Mindestlohnerhöhung betroffen, häufig jedoch weitaus mehr. Bei stabiler Beschäftigung
würde die Mindestlohnerhöhung einen höheren Lohn für 9 von 10 Minijobbern im
Gastgewerbe mit sich bringen. In ähnlichem Ausmaß könnten auch geringfügig Beschäftigte
personennaher Dienstleistungen, dem Handel, der Landwirtschaft und der
Unterhaltungsbranche profitieren. Inwiefern sich die Höhe der Lohnsteigerung bei
Mindestlohnbetroffenen in unterschiedlichen Branchen unterscheidet, können wir mit unseren
Analysen leider nicht ermitteln.

Gehen Sie davon aus, dass sich die Mindestlohnerhöhung indirekt auch auf
diejenigen Beschäftigten auswirken wird, die aktuell knapp oberhalb der Grenze
von 12 Euro liegen?

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 3
Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum
Datum: 5. Juli 2022

Prof. Dr. Nicole Gürtzgen
leitet den
Forschungsbereich
“Arbeitsmarktprozesse
und Institutionen” am
IAB.

Nicole Gürtzgen: Die Mindestlohnforschung, etwa zur Mindestlohneinführung in Deutschland,
hat gezeigt, dass sich der Mindestlohn vereinzelt auch auf Löhne weiter oben in der
Lohnverteilung auswirkt und so im Durchschnitt der gesamte Niedriglohnbereich profitiert.
Ob das jetzt wieder der Fall sein wird, hängt jedoch ganz wesentlich davon ab, ob sich die
Arbeitgeber solche Lohnsteigerungen über den Mindestlohn hinaus leisten können. Durch die
gestiegene Inflation wird der Druck auf Löhne entlang der gesamten Lohnverteilung zwar
steigen, es wird sich jedoch zeigen, ob das wirtschaftliche Umfeld in den nächsten Monaten
so positiv bleibt, dass solche nicht unmittelbar durch den Mindestlohn hervorgerufenen
Lohnsteigerungen möglich sind.

     Die Betroffenheit der Mindestlohnanhebung beschreibt ein klares Ost-West-
     Gefälle.

Sehen Sie Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 4
Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis - IAB-Forum
Datum: 5. Juli 2022

Dr. Christian Teichert ist
Mitarbeiter der IAB-
Regionaleinheit in
Hessen.

Christian Teichert: Ja. Eine regional differenzierte Betroffenheit der Mindestlohnanhebung
zeigt sich deutlich und beschreibt ein klares Ost-West-Gefälle. Die Diskrepanz reicht nach
unseren Berechnungen von fast 32 Prozent betroffener Beschäftigter in Brandenburg bis
knapp 18 Prozent in Baden-Württemberg. Innerhalb der westdeutschen Flächenländer treten
Nord-Süd-Unterschiede auf. So liegt die hochgerechnete Betroffenheit von der Anhebung auf
12 Euro in Schleswig-Holstein bei rund 24 Prozent und in Bayern beispielsweise nur bei rund
18 Prozent.

Mario Bossler: Ein ähnliches Muster hat sich bereits zur Mindestlohneinführung 2015 gezeigt.
Auch hier waren Beschäftigungsverhältnisse in ostdeutschen Bundesländern deutlich
häufiger betroffen. Die weitestgehend sehr positiven Effekte der Mindestlohneinführung
haben dann dazu geführt, dass sich die Monatslöhne zwischen Ost und West einander ein
Stück weit angenähert haben. Man kann also hoffen, dass der Mindestlohn jetzt eine weitere
Angleichung bewirkt.

Mit dem Mindestlohn gingen immer schon sowohl Befürchtungen als auch
Hoffnungen einher. Können Sie aufgrund bisheriger Erfahrungen schon
abschätzen, welche Folgen die Erhöhung insgesamt auf den Arbeitsmarkt haben
wird?

Nicole Gürtzgen: Eine wichtige Befürchtung richtet sich natürlich auf einen möglichen
Beschäftigungsabbau. Die wesentlich höhere Reichweite der Mindestlohnerhöhung auf 12

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 5
Datum: 5. Juli 2022

Euro im Vergleich zur Einführung bedeutet nicht zwingend, dass es nun zu Einbrüchen der
Gesamtbeschäftigung kommen muss. Tatsächlich kann es Einbußen bei der Beschäftigung
geben, wenn Arbeitgeber aufgrund der Erhöhung weniger Arbeitskräfte nachfragen und
schlimmstenfalls ihre Geschäftstätigkeit einstellen. Es gibt jedoch auch Bereiche des
Arbeitsmarkts, in denen Beschäftigte unterhalb ihrer Produktivität entlohnt werden. Hier kann
die Mindestlohnerhöhung auch die Beschäftigung ankurbeln, zum Beispiel wenn
Arbeitsuchende häufiger für sie akzeptable Jobangebote erhalten als zu einem niedrigeren
Mindestlohn. Unabhängig davon kann ein höherer Mindestlohn auch das Angebot an
Arbeitskräften erhöhen. Welche dieser Mechanismen überwiegen, wird letztlich eine
empirische Frage sein.

     Wenn wir von einer Preissteigerung in Höhe von 7,9 Prozent ausgehen, bedeutet
     das eine reale Entwertung des ab 1. Oktober 2022 geltenden Mindestlohns um
     rund einen Euro.

Aktuell sind auch Preissteigerungen ein großes Thema. Wie wirkt sich die Inflation
auf den Mindestlohn aus?

Mario Bossler: Wenn wir mittlerweile von einer Preissteigerung in Höhe von 7,9 Prozent
ausgehen, bedeutet das eine reale Entwertung des ab 1. Oktober dieses Jahres geltenden
Mindestlohns um rund einen Euro – und damit eine Abschwächung der Erhöhung des
Mindestlohn gegenüber 2021. Die reale Kaufkraft der Mindestlohnbeschäftigten sinkt deutlich
durch die hohe Inflation. Es bleibt deshalb abzuwarten, wie sich die Inflation auf die gesamte
Lohnentwicklung in den kommenden Jahren auswirken wird – und natürlich auf die nächste
Entscheidung der Mindestlohnkommission, die im Juni 2023 ansteht.

Literatur
Erik-Benjamin Börschlein; Mario Bossler; Nicole Gürtzgen; Christian Teichert (2022):
Mindestlohnerhöhung im Oktober 2022: 12 Euro Mindestlohn betreffen mehr als jeden fünften
Job. IAB-Kurzbericht Nr. 12.

doi: 10.48720/IAB.FOO.20220705.01

                                                                                   Quelle:
https://www.iab-forum.de/hoeherer-mindestlohn-betrifft-mehr-als-jedes-fuenfte-beschaeftigun
                                                                         gsverhaeltnis/ | 6
Sie können auch lesen