Homiletische Monatshefte - 10/11 12. Sonntag nach Trinitatis bis 20. Sonntag nach Trinitatis

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Homiletische Monatshefte - 10/11 12. Sonntag nach Trinitatis bis 20. Sonntag nach Trinitatis
ISSN 0018-4276   H 3844

Homiletische
Monatshefte
            Für Predigt und Gottesdienst
10/11        95. Jg. 2019/2020 Reihe II Heft 10/11 Juli/August 2020

12. Sonntag nach Trinitatis
bis 20. Sonntag nach Trinitatis
Homiletische Monatshefte · Für Pre dig t und G otte sdiens t

Herausgeber:	Dr. Karl Friedrich Ulrichs, Lietzenburger Straße 39,
              10789 Berlin, E-Mail: kfulrichs@gmx.de
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Druck- und Bindearbeiten: a Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen

Gedruckt auf chlorfreiem Papier.

ISSN (Printausgabe): 0018-4276, ISSN (online): 2196-8012
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Inhalt

Predigtreihe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
     Jan Janssen
     12. Sonntag nach Trinitatis j 30. 8. 2020
     1. Korinther 3,9–17 – Betreten der Baustelle erbeten. . . . . . . . . . . . . 547
     Hans-Gerd Krabbe
     13. Sonntag nach Trinitatis j 6. 9. 2020
     Apostelgeschichte 6,1–7 – Konflikte lösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
     Kerstin Menzel
     14. Sonntag nach Trinitatis j 13. 9. 2020
     Lukas 19,1–10 – Eine Geschichte für die Profiteure der
     Ungerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
     Judith E. Filitz
     15. Sonntag nach Trinitatis j 20. 9. 2020
     1. Mose 2,4b–9(10–14)15(18–25) – Paradise Lost?. . . . . . . . . . . . . . . 572
     Florian Kunz
     16. Sonntag nach Trinitatis j 27. 9. 2020
     2. Timotheus 1,7–10 – Hoffnung lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
     Alfred Mengel
     Erntedank j 4. 10. 2020
     Markus 8,1–9 – Jesus Christus – Brot in der Wüste. . . . . . . . . . . . . . 586
     Michael Heymel
     18. Sonntag nach Trinitatis j 11. 10. 2020
     5. Mose 30,11–14 – Ein Gebot für heute: „Sei a Mensch!“ . . . . . . . . 594
     Angelika Volkmann
     19. Sonntag nach Trinitatis j 18. 10. 2020
     Epheser 4,22–32 – Die Seele nach Hause finden lassen . . . . . . . . . . . 602
     Manuel Schilling
     20. Sonntag nach Trinitatis j 25. 10. 2020
     Markus 2,23–28 – Von Sabbatheiligung und Sonntagsruhe . . . . . . . 608
Christina Costanza
Michaelistag j 29. 9. 2020
Offenbarung 12,7–12 – Erzengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617

Homiletische Monatshefte 95. Jg., S. 545–546, ISSN (Printausgabe): 0018-4276, ISSN (online): 2196-8012
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546   Inhalt

Holger Treutmann
Männersonntag j 18. 10. 2020
1. Mose 3,19 – Im Schweiße deines Angesichts – das ist es mir wert. . . 625
Jan Vicari
Erntedank Familiengottesdienst j 4. 10. 2020
Markus 8,1–9 – Für das Wenige danken – eine Rückengeschichte. . . . . 632
12. Sonntag nach Trinitatis – 30. August 2020                                           1. Korinther 3,9–17

Betreten der Baustelle erbeten
Jan Janssen

Auslegung

Paulus nimmt auf dem Weg zum Predigttext den aktuellen Anlass seines
ersten Briefes nach Korinth aus Kapitel 1 wieder auf: Es gibt Streit in der
Gemeinde. Der eine zählt sich zu dem einen, die andere ordnet sich der
anderen zu. Das hieße aber Christus aufteilen. Mehr noch: Spaltungen wie
diese bedeuteten eine „Zerstückelung“ Christi, sagt Paulus (1.Kor 1,12 f.).
Wer zu wem, wer mit wem – alles Gerede nach „Menschenweise“, betont er
nachdrücklich (1.Kor 3,3+4).
   Hatte sich Kapitel 2 um das Verhältnis von Weisheit und Torheit in etwas
höheren Sphären bemüht, scheint es nun wieder um die Gemeindearbeit vor
Ort zu gehen. Paulus redet von sich selbst im Gegenüber zu den Geschwis-
tern in Korinth (1.Kor 3,1 ff.) – wie eine Amme, die dem Säugling Milch gibt,
wie eine Mutter, die einfach mal dazwischengehen muss, wenn Eifer(-Sucht)
und Zankerei der lieben Kleinen untereinander zu groß werden.
   Von diesen praktisch-pädagogischen Fragen aus führt Paulus seine
Adressaten vor dem Predigttext wieder zu einem grundsätzlicheren Ge-
danken. Alle aus der Gemeinde genannten Menschen dienen, pflanzen,
gießen, haben Gaben und Aufgaben – einer wie der andere, ohne „etwas zu
sein“, das besonders beim Namen genannt werden müsste (V. 7). Gott gibt
das Gedeihen. Und wo er doch die Gaben austeilt und die Aufgaben verteilt,
wird er auch den Lohn zuteilen (V. 8).
   Dass dieser Text nur leitende Mitarbeitende anspricht, kann ich nicht
erkennen. Der Gerichtsgedanke leuchtet zwar deutlich auf, scheint mir aber
vor allem in der hier erstmals differenzierenden Betrachtung von Person und
Werk wichtig zu sein (vgl. Feldmeier, 490 f.).
   Das Mitbauen und Mitwirken als Partizipation der Menschen am Werk
Gottes gibt einem Kernanliegen Raum, das Paulus in seinen Briefen nach
Korinth nicht weniger als zwanzigmal anspricht: das, was aufbaut. Mit sei-
nen fünf Nennungen dessen führt der Predigttext dorthin, wo Paulus später
Leitworte für das Gemeindeleben setzen wird: „Alles ist erlaubt, aber nicht
alles baut auf“ (1.Kor 10,23, vgl. 2.Kor 10,8). Und positiv formuliert: „Lasst
es alles geschehen zur Erbauung!“ (1.Kor 14,26, vgl. 2.Kor 12,19).

Homiletische Monatshefte 95. Jg., S. 547–554, ISSN (Printausgabe): 0018-4276, ISSN (online): 2196-8012
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548   12. Sonntag nach Trinitatis – 30. 8. 2020

   Darum ist es sinnvoll, dass die neue Perikopenordnung den Predigttext
nicht damit abschließt, dem Feuer entronnen zu sein (vgl. Kirsner, 134),
sondern die Verse 16 f. in den Predigttext einbindet. Der dreifache Genitiv
„Gottes“ vom Anfang in V. 9 klingt so am Schluss wieder auf und gibt den
Bauarbeiten Vision und Ziel: aus Mitarbeitenden, Ackerfeld und Bautätig-
keit wird am Ende der Tempel als Wohnort Gottes.
   Dem anfangs von ihm kritisierten genitivus possessivus (Eisinger, 353)
– nämlich nicht einem Menschen wie Apollos oder Paulus oder sonst wem
zu gehören, auch nicht irgendwelchen Mächten (zu V. 22 vgl. Röm 8,38 ! ) –
wird Paulus noch Positives entgegenhalten. Denn der denkbar knappe
Schlussakkord des Kapitels lautet schlicht : „Ihr seid Christi, Christus ist
Gottes“ (1.Kor 3,23). Nichts und niemand schiebt sich dazwischen und
könnte uns trennen.

Umsetzung

Konkretion in der Mitarbeit am Bau ist gefragt. Und so könnte auch eine
Predigt zu diesen Paulusworten beginnen. Der Monatswechsel nach dem 12.
Sonntag nach Trinitatis lädt zu einer Kontextualisierung ein, die mein Ar-
beitsfeld prägt. Machen wir auf die vielen Freiwilligen aufmerksam, die gerade
den Beginn ihres Einsatzjahres vor sich haben und nicht erwerbsorientiert
arbeiten. Sicher lassen sich dafür Beispiele aus der unmittelbaren Umgebung
der Gemeinde anführen, vielleicht sogar Menschen in diesem Dienst vor-
stellen und an diesem Sonntag mit Segenswünschen auf den Weg senden.
   Pflanzen und Bauen bleiben elementare Bilder der Bibel und des Glaubens
– beide sind u. a. bei Jeremia angelegt (Jer 1,10, dazu Conzelmann, 101). Als
noch sprechender kann an die Existenz des Gottesvolkes im Exil erinnert
werden: „Baut Häuser, pflanzt Gärten!“ (Jer 29,5). Diese grundlegenden,
erfahrungsgefüllten Bilder sollten auch in der Moderne nicht einfach ad acta
gelegt werden. Und doch dürfen sie aus Text und Kontext (Pflanzen und
Gießen, Gründen und Aufbauen, Ackerfeld und Bau usw.) getrost in aktuelle
Lebenswelten weitergedacht werden, die nicht mehr von Landwirtschaft
oder Handwerk geprägt sind. Schon die Aufgaben in der Gemeinde von der
Küche über den Friedhof bis ins Büro bieten ausreichend Assoziationen: Der
eine schnippelt, der andere würzt; die eine mäht, der andere fegt; die eine
druckt, die andere faltet. Komplexere Vorgänge brauchen gewiss mehr als
eine Aufgabenverteilung an einzelne Mitwirkende. So sollten zum Beispiel
Brainstormings und Konzeptionen ebenso wie Redaktionen und Be-
schlussfassungen unbedingt immer gemeinsame Sache sein.
   Ob sich neben Gärtner und Baumeisterin neue Bilder für Anregungen zum
Gemeindeaufbau lohnen, überlasse ich den jeweils kontextuellen Arbeitswelten:
1. Korinther 3,9–17   549

eine Regisseurin im Team, ein Kranführer im Bautrupp, eine Journalistin in der
Redaktion, ein Pfleger in seiner Schicht, eine Kapitänin und ihre Crew?
   Bei einer rein pragmatischen Lesart sollte die Predigt allerdings nicht
stehen bleiben. Schlussfolgerungen für das, wofür Gemeinde Raum sein
könnte und Raum geben sollte, sehe ich in der Perspektive, auf die dieser
Predigttext für die angeschriebene und angeredete Gemeinde zusteuert: Auf
dem gelegten Fundament entsteht ein aufgerichteter Tempel – auf der
Grundlage Christi erwächst eine Wohngemeinschaft Gottes.
   Interessant ist es, das Sonntagsevangelium mit dem Predigttext zu ver-
binden. Die detaillierte Rezeptur Jesu für den namenlosen tauben Menschen
rückt nahe heran an das Renovierungsanliegen des Paulus für die Gemeinde.
Heilung und Erbauung ergänzen sich dann mehr, als der erste Blick auf die
Sonntagstexte vermuten lässt. Gott hat „alles wohl gemacht“ (Mk 7,37)
knüpft an die Schöpfung an. Gott und den Menschen dient, was heilsam und
aufbauend ist. Auch im Gemeindeaufbau will Gott „die Tauben hören und die
Sprachlosen reden“ machen.
   Weil für Paulus das Stichwort der (Auf-)Erbauung eines der wichtigsten
Kriterien für die Frage der Gemeindegestaltung ist, soll die Predigt sich in
ihren drei Schritten auch an seine Wahl in Wort und Bild anlehnen: Noch vor
Arbeitsbeginn – Bei der Aufgabenverteilung – Aufbauendes Anpacken.

Literatur

Charles Campbell, Called to build an odd building. Göttinger Predigtme-
ditationen 68, 2014, 399–405
Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, NTD 7, Göttingen 21981
Walther Eisinger, 12. Sonntag nach Trinitatis, 1. Kor 3,9–15, Göttinger Pre-
digtmeditationen 50, 1996, 351–357
Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen.
Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011
Inge Kirsner/Harald Schroeter-Wittke, Kein Spiel mit dem Feuer. Predigt-
studien IV/2. 2007/08

Liturgie
Lesungen
Psalm 147,1–6.11
Jesaja 29,17–24 oder mit dem Wochenspruch Jesaja 42,1–9
1. Korinther 3,9–17
Markus 7,31–37
550      12. Sonntag nach Trinitatis – 30. 8. 2020

Lieder
Von den alternativen Wochenliedern greife ich eher zu EG 289, weil es Gottes
„Wohltat“ und Heilung unserer Schwachheit und unsere „Gründung“ im
Vertrauen betont. Dagegen scheint mir „Wir haben Gottes Spuren festge-
stellt“ mit der dezidierten Verlagerung „in längst vergangene Tage“ den
garstigen Graben zwischen damals und heute eher breiter zu machen, als
Brücken darüber zu bauen.
   EG 252,1–4 könnte z. B. nach der Lesung oder ganz zum Schluss mit den
Stimmen der vielfältig Mitarbeitenden das „eine Haupt der Gemeinde“ be-
singen.
   EG 254 lässt sich nach der Predigt wie ein Lied zum Aufbruch von Wan-
derarbeitern singen – nicht nur wegen des hoffentlich gut aufgestellten
„Baugerüstes“, auch weil damit die mitwirkende Gemeinde unverzagt „nach
Arbeit fragt“.
   Auch Paul Gerhardt sortiert in EG 497 zwischen „Werk von dir“ und
„Menschentun“. Dieses Lied sieht einerseits deutlich unsere Partizipation
am Bau der Gemeinde, erwartet aber andererseits die Gaben Licht, Weisheit
und Rat, sowie den Anfang und das Ende wohltuend aus Gottes Hand.

Tagesgebet
Barmherziger Gott,
Du hast den Anfang gemacht, Du hast das Ziel im Blick – darüber sind wir froh.
Lass uns erkennen, wie wir unterwegs von dem einen zum anderen finden.
Lehre uns, was zugewandt und heilsam wäre.
Und hilf uns befreiend und konstruktiv mitzuwirken.
Führe uns zueinander, damit wir in Gaben und Aufgaben gemeinsam handeln.
Nimm es gnädig unter die Lupe und stelle es in dein freundliches Licht.
So bitten wir in der Hoffnung und im Vertrauen auf Jesus Christus.
Amen.

Predigt

Noch vor Arbeitsbeginn
Heute und morgen noch einmal Luft holen. Aber übermorgen ist es endlich
soweit. Heute oder morgen kommen die meisten der jungen Leute an ihren
Einsatzstellen an. Und dann – am wörtlich zu nehmenden Dienst-Tag – geht
es richtig los. Oft sind sie auch das erste Mal richtig weg von Zuhause. Und
treten Aufgaben mit mehr Perspektive an als mit der eines bloßen Ferien-
1. Korinther 3,9–17   551

jobs. Schließlich geht es in dem vor ihnen liegenden Jahr eben nicht nur um
einen Job, sondern um Orientierung, Bildung vor einem weiteren Horizont,
Einsatz in einem sozialen Umfeld, in dem Menschen frische Ideen und tat-
kräftige Unterstützung brauchen.
   Mit dem 1. September beginnt die Arbeit vor Ort für die vielen jungen
Menschen, die sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr entschieden haben. Land
auf, Land ab, aber auch international und weltweit ist Arbeitsbeginn von
Freiwilligen.
   Sie leisten an vielen Stellen, vom Kindergarten bis zur Diakonie, von der
Gedenkstätte bis zur Seemannsmission und in Entwicklungsprojekten einen
kostbaren, biblisch gesagt: einen köstlichen Dienst. Sozial, kulturell oder
ökologisch – sie bringen sich ein. Sie seien gesegnet in ihrem freiwilligen
Dienst und werden ein Segen sein für Kirche und Gesellschaft und Welt!
   Nein, es ist kein Zufall des Kalenders, dass ich heute auf diesen Dienst
hinweise. Denn von der Freiheit eines Christenmenschen führt der Weg sehr
direkt zur Freiwilligkeit der in der Kirche Mitwirkenden. Noch im selben
Brief an die Gemeinde in Korinth heißt es später über das Mitwirken: „Tue
ich es freiwillig, so wird es mir gelohnt.“ (1.Kor 9,17). Solcher Lohn – auch
wenn er anders aussieht als ein Taschengeld oder ein Monatsgehalt – ist
denen verheißen, die wirksam und bleibend am Bau der Gemeinde mit-
wirken.
   Schauen wir genauer, was uns als Bautrupp hier mit auf den Weg gegeben
wird.

Bei der Aufgabenverteilung
So deutlich Paulus hier auch von den „Mitarbeitenden“ spricht und viele von
ihnen vor allem am Schluss seiner Briefe freundlich grüßend beim Namen
nennen kann, so wenig geht es ihm hier irgendwie darum, individuelle
Einzelfiguren herauszuheben. Die Mitarbeitenden haben hier gemeinsam
das Amt. Nicht „Du bist es“, sondern: „Ihr seid es!“ So kann Paulus auch
„Wir sind es“ sagen. Damit stellt er sich den anderen nicht gegenüber,
sondern bezieht sie und sich ein, weil er nur mit all den andern gemeinsam
wirken kann, die neben ihm und nach ihm auch noch bauen. Paulus entlässt
sie sogar in einen Dienst eigener Freiheit, hat er doch nur anfangs beim
Legen des Fundamentes mit angepackt. Das Weiterbauen darauf kann und
will er nicht leisten, da werden andere schon zupacken. So wird es ganz am
Schluss auf das einzige weitere Mal in diesem Brief zulaufen, dass Paulus die
Mitarbeitenden als solche anredet. Er empfiehlt ihnen und uns, einander
wechselseitig zu Diensthabenden zu werden: „Ordnet auch ihr euch solchen
unter und allen, die mitarbeiten und sich mühen“ (1.Kor 16,16).
   Dass hier von dem längst gelegten Fundament Jesus Christus gesprochen
552   12. Sonntag nach Trinitatis – 30. 8. 2020

wird, lässt bei mir keinen Fundamentalismus-Verdacht aufkommen. In den
äußeren Herausforderungen des Stadtlebens von Korinth, dem melting pot
von Menschen verschiedener Kulturen, Sprachen, Religionen, und im in-
neren Durch-einander der Gemeinde darf es fundamental werden, niemals
aber fundamentalistisch. Von einem Alleinbesitz der Weisheit, von einem
Herabsetzen anderer, von jeglicher Gewalt kann und darf bei uns nicht
einmal die Rede sein.
   Das Bild vom Fundament macht den Menschen in der quirligen Hafen-
stadt Korinth deutlich, dass da ein Anfang gemacht ist, dass es da einen Halt
gibt, dass niemand auf Sand oder im Morast bauen muss. Hier ist fester
Boden unter den Füßen, ein Stück Land zum Festmachen. Kein Betonklotz,
aber auch nicht irgendeine Brache, sondern von Gott bereits erschlossener
Grund, ein Ankerplatz.
   Dazu passt, dass am Ende nicht wirklich ein neues Tempelgebäude ent-
steht – fest gemauert mit vier Wänden, hohen Toren und spitzen Türmen.
Der „Tempel des Heiligen Geistes“ (1.Kor 6, 19) wird überhaupt kein Ge-
bäude sein. Es ist der Leib der Gemeinde, der so genannt wird. Ja, uns wird es
hier gemeinsam zugetraut: „Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes“
(2.Kor 6,16).
   Auf dieser Basis muss kein Beton angerührt werden. Sie gibt der vielfäl-
tigen Gemeinschaft, die darauf baut, einen stabilen Halt, aber auch weiten
Raum.
   Auf welche Steine würden wir bauen? In Korinth galten Weisheit, Ehre,
Macht als solche Bausteine. Und gewiss sind auch damals schon Wohlstand,
Bildung, Sicherheit und ähnliche Faktoren vermeintlich Felsen in der
Brandung gewesen. Die Grundlage „Jesus Christus“ aber, die hier als schon
„gelegt“ bezeichnet wird, war zuvor in eine Krippe gelegt worden und nach
der Kreuzigung in eine Grabkammer. Wenn also dieses gekreuzigte Men-
schenkind das Fundament der Gemeinde ist, dann braucht es für die Bau-
tätigkeit darauf kaum einen Bausparvertrag noch Architekturzeichnungen
noch Mittelkalkulationen noch Pflichtenhefte. Selbst jener „weise Bau-
meister“, der unter den vielen anderen Mitarbeitenden eben Paulus hieß,
hatte ja etwas von der Weisheit abbekommen, die Gott neu definiert hatte als
eine von Jesus Christus durchkreuzte Weisheit.
   Wir setzen also auf einem Fundament auf, das in der Welt des Bauens von
Eigenheimvillen und Wolkenkratzern wohl als höchst vage und wackelig
gelten würde. Es stellt sogar andere Fundamente destabilisierend vor die
Frage nach den vermeintlichen Sicherheiten, auf denen da gebaut wird.
1. Korinther 3,9–17   553

Aufbauendes Anpacken
Auf der in Jesus Christus gelegten Grundlage darf mit allen möglichen und
auch unmöglichen Materialien gebaut werden. Von Gold bis Stroh ist alles
dabei. Was meinen Sie, welches Material für solch einen Bau haltbarer und
welches sinnvoller wäre, welches nachhaltiger und welches kostengünstiger?
Das Blattgold einer orthodoxen Kirchenkuppel kommt mir in den Sinn, aber
auch das Kupferdach eines evangelischen Kirchturms. Was passt besser auf
jene Basis? Die edel behauenen Granitquadersteine friesischer Wehrkir-
chen? Die Notkirchen der Nachkriegszeit mit ihrem höchst beweglichen
Bausatz aus Holz? Die staubig strohbedeckte Hütte eines dörflichen Ge-
meindehauses im Norden von Ghana?
   Gott sei Dank – es geht hier nicht um derartige Bauprojekte, die allesamt
ihre Zeit, ihren Ort, ihre Nutzung und ihren Verfall haben. Es geht um eine
tiefere Gründung für alle diese Gemeinden, die festen Boden unter ihren
Füßen und ein Dach über ihrem Kopf suchen. Und es wäre schon ein erster
Schritt zum lebendigen Gemeindeaufbau, wenn wir unsere Kirchen, Ge-
meindehäuser und anderen Gebäude allesamt nur als Weiterbauten, als
Aufbauten auf jenem Fundament verstehen würden.
   Ich habe den Verdacht, Paulus vermengt hier absichtlich und spielerisch
zwei Worte miteinander, nämlich die Form des Gebäudes und den Vorgang
des Bauens, etwas Festes und etwas Flexibles. Tun wir ja auch, wenn wir von
Kirche und Kirche reden. „Ihr seid Gottes Bau“ wird wohl kein Fertighaus
meinen, sondern deutlich machen, dass an uns weitergearbeitet wird.
   Es geht um das beständig bewegliche Tun des Bauens, nicht das immer
immobile Objekt eines Gebäudes. Unser Bauwerk auf dem Fundament wird
ja wieder Risse bekommen, reparaturbedürftig werden, wird Renovierung
und Reformierung nötig haben. Vielleicht wird es sogar nicht jedem Sturm
standhalten oder dereinst eine Feuerprobe nicht bestehen. Mag sein, sagt
Paulus hier, das wird sich zeigen. Das Urteil darüber fällt ein anderer, der bei
der Endabnahme unseres Baus gewiss barmherziger sein wird, als wir es
wären. An jenem Tag aber werden wir selbst errettet, so wie das geknickte
Rohr nicht abgebrochen wird. Errettet, nicht weil die von uns errichtete
Fassade so großartig wäre, sondern weil das längst gelegte Fundament ein
auch dann noch tragfähiges für uns bleibt.
   Diese Bauanleitung für Gemeinden in Korinth und anderswo ist noch
nicht fertig. Es ist Paulus ein großes Anliegen, dass die Gemeinde im Sinne
eines Aufgerichtet-Werdens aufgebaut wird. So wie Jesus sich im heutigen
Evangelium dem Menschen zuwendet, der taub ist. Seht hin: Wie er ihn
beiseite nimmt, wie er ihm nahekommt, wie er ihn geradezu zärtlich berührt,
wie er um ihn seufzt, wie er für ihn zum Himmel schreit und wie er ihm
Heilung zuteilwerden lässt. So zugewandt, so aufrichtend, so aufbauend
554    12. Sonntag nach Trinitatis – 30. 8. 2020

sollen wir uns auch im gegenseitigen Miteinander unserer Gemeinde ver-
halten.
   Davon noch weiterzuschreiben wird Paulus in seinem Gemeindebrief
nicht müde – von der Liebe, die aufbaut (1.Kor 8,1) – davon, dass alles erlaubt
ist, aber nicht alles zum Guten dient oder aufbaut (1.Kor 10,23) – von der
visionären Kraft eines prophetischen Redens, das aufbaut (1.Kor 14,4) – von
den Gaben des Geistes, deren Überfluss aufbauen wird (1.Kor 14,12) – von
den Versammlungen, für die es ganz grundlegend heißt: Lasst es alles ge-
schehen zur Erbauung (1.Kor 14,26)!
   In Jesus ist der Anfang gemacht, darauf bauen wir auf! Und ausdrücklich
ist das Betreten der Baustelle erbeten!

Jan Janssen, Pfarrer, arbeitet seit 2018 als Seemannspastor der Deutschen
Seemannsmission in Rotterdam/Niederlande.
jan.janssen@seemannsmission.org
13. Sonntag nach Trinitatis–6. September 2020                                     Apostelgeschichte 6,1–7

Konflikte lösen
Hans-Gerd Krabbe

Auslegung

Wie ist eine Christengemeinde aufgestellt, wie strukturiert, wie organisiert?
Welche Personen braucht es, welche Talente, welche Gnadengaben, also
Charismen? Welche Dienste sind nötig, und wer ist für welche Aufgabe am
besten geeignet? Zudem: Wer entscheidet?
   Apg 6,1–7 gibt Einblick in urchristliche Gemeindebelange und -regelun-
gen. In der Gemeinde zu Jerusalem war ein Konflikt ausgebrochen über der
Frage, wie die Witwen versorgt werden: die Witwen aramäisch sprechender
Juden und die griechisch sprechender Juden. Es ging demnach um eine
sozialethische Frage, um eine karitativ-diakonische. Die Wellen schlugen
hoch, so hoch, dass die Vollversammlung der Gemeinde von „den Zwölfen“,
den Aposteln im Predigtdienst, einberufen wurde mit der Auflage, sieben
Männer „von gutem Ruf, voll Geist und Weisheit“ aus der Gemeinde zu
bestimmen, die die Sache der Armenpflege, den Tischdienst, regeln sollten.
Also nicht „die Zwölf“ entscheiden und beschließen, sondern die versam-
melte Gemeinde. Stephanus wurde an die Spitze gewählt, dazu sechs weitere
hellenistische Diasporajuden, die in Jerusalem ansässig geworden waren,
also insgesamt sieben, die als Diakone im Dienst der Nächstenliebe als Al-
mosenpfleger wirken sollten. Unter Handauflegung wurden sie in diese
Aufgabe gesendet, getragen vom Gebet der ganzen Gemeinde. Diese Ge-
meinde wuchs und wuchs, selbst Priester aus dem Tempeldienst zu Jerusa-
lem schlossen sich ihr an.
   Auf Empfehlung der Zwölf, die im Sinne der Gemeindeleitung agieren,
wird ein neuer Dienst kreiert: der Dienst der Sieben, der späteren Diakone –
wobei diese Bezeichnung offiziell noch nicht eingeführt wurde. Die Rede ist
bisher von „Diakonia“ und vom „Dienen“, eine Amtsbezeichnung findet
sich noch nicht, erst in Phil 1,1 und 1.Tim 3,8–10.12–13. Die Apostelge-
schichte sieht diese Männer als Prediger und Missionare im Verkündi-
gungsdienst – andernfalls hätten sie diejenigen sein müssen, die die Kollekte
aus Antiochien für die Urgemeinde in Jerusalem entgegengenommen hätten.
Die aber haben Presbyter in Empfang genommen (vgl. Apg 11,30). Bei allem
jedoch werden „die Sieben“ als Prototypen der späteren Diakone angesehen

Homiletische Monatshefte 95. Jg., S. 555–562, ISSN (Printausgabe): 0018-4276, ISSN (online): 2196-8012
! 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen
556   13. Sonntag nach Trinitatis – 6. 9. 2020

werden können. Warum nun Stephanus gesteinigt wurde (Apg 7,54–59),
nicht jedoch die weiteren sechs Hellenisten oder einige von ihnen, hat ver-
mutlich mit seinem Verständnis der Thora zu tun. Anlass zu Fragen gibt
ebenso das Spannungsverhältnis „der Zwölf“, der jüdischen Gemeindeleiter,
zu „den Sieben“, den hellenistischen Diasporajuden.

Umsetzung

Dienste und Ämter in der Gemeinde, Hauptamtliche und Ehrenamtliche –
ein ständiges (Reiz-)Thema? Auch die Frage der Ordination (?): Ob also
auch Kirchendiener ordiniert werden soll(t)en? Die ganze Geschichte er-
weist sich als durchaus kollisions- und konfliktträchtig, wenn nicht klar
geregelt wird, wer für was zuständig und verantwortlich ist.
   Damals in der Jerusalemer Urgemeinde, da erkannten „die Zwölf“, dass
sie in der Gemeinde nicht alles tun können. Ihre Aufgabe ist das Gebet und
der Dienst am Wort, nicht aber der Tischdienst bzw. der Sozialdienst. Den
müssen andere übernehmen. Und so wurde diese Aufgabe aus der Ge-
meindeversammlung heraus delegiert an „die Sieben“, Stephanus in der
Mitte. „Die Zwölf“ beteten für sie und legten ihnen die Hände auf, auf dass
Gott sie segnet (vgl. Num 6,27): eine Frühform der Ordination.
   Was war vorausgegangen? Es kriselte in der Gemeinde. Wie immer : Einige
fühlten sich benachteiligt, schließlich rumorte es, etliche murrten (wie die
Hebräer vormals in der Wüste). Wie das Problem angehen, gar lösen? Der
Weg scheint mustergültig auch für heutige Prozesse. Hier steht nun nicht ein
einzelner im Vordergrund, wo im Sinne der Gemeinderegel Mt 18,15–17
verfahren werden sollte, sondern eine größere Gruppe in der Gemeinde. Da
macht es wahrlich Sinn, gleich die Vollversammlung der Gemeinde einzu-
berufen und die Sache im großen Kreis zu klären. Findet sich damit nicht ein
vorbildliches Beispiel für die Streitkultur in einer Kirchengemeinde?
   Da werden die Probleme also nicht unter den Teppich gekehrt, sondern
offen benannt und ausgetragen. Da entsteht Transparenz, da wird die Ent-
scheidung in ihren Kriterien nachvollziehbar, da geht es fair zu. Da wird
allseits Einverständnis und Zustimmung erzielt, da entwickelt sich eine win-
win-Situation, in der es keine Verlierer gibt. Mustergültig – oder etwa nicht?
Galt diese Vorgehensweise nur damals in Zeiten der Jerusalemer Urge-
meinde, sollte diese Vorgehensweise nicht auch heutzutage gelten und
praktiziert werden?
   „Und das Wort Gottes breitete sich immer mehr aus“ – hat das etwa auch
damit zu tun, wie die Gemeinde ihre Probleme anging und löste? Wie
überzeugend sie nach außen wirkte? Wie attraktiv? Hat das etwa auch damit
zu tun, in welchem Maße sich der Segen Gottes auf diese Gemeinde legte?
Apostelgeschichte 6,1–7   557

   Wie ist das heute? Welche Außenwirkung geht heutzutage von der
Christengemeinde aus? Strahlt sie voller Lebensfreude und voller Hoffnung?
So dass andere auf sie aufmerksam werden müssen und zu fragen anfangen
(vgl. 1.Petr 3,15)? Neugierig werden, sich anziehen und anstecken lassen,
mitmachen, sich engagieren und die Gottesdienste als Kraftquelle empfin-
den und liebgewinnen? Glücklich werden in ihrem Christsein?
   Die Christen werden nach Apg 6 als „Jünger“ bezeichnet, in der Nachfolge
ihres Herrn Jesus Christus, ebenso als „Brüder und Schwestern in Christo“
(Apg 1,15). Lässt sich diese Bezeichnung in unserer Zeit noch vorbehaltlos
verwenden, auch im Sinne der dritten These der Theologischen Erklärung
von Barmen (1934), oder hat sich auch in dieser Beziehung Erhebliches
verändert, vesch(r)oben?

Literatur

Ernst Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 5, Göttingen 121959
Hans-Gerd Krabbe, Gottesdienstbuch zum Kirchenjahr, Göttingen 2009,
170–172
Gustav Stählin, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen, 131970
Jörg Zink, Die ersten Christen. Die Apostelgeschichte. Neu in Sprache ge-
fasst, Stuttgart 2001

Liturgie
Lesungen
Psalm 120
Lukas 10,25–37

Lieder
Ein neuer Tag beginnt (EG.Baden-Pfalz 670,1–6)
Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich (EG 547)
So jemand spricht: Ich liebe Gott (EG 412,1–4)
Hilf, Herr meines Lebens (EG 419,1–5)
Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut (EG.Baden-Pfalz 662,1–4)
O Gott, du frommer Gott (EG 495,1–3.5)
Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt (EG.Baden-Pfalz 667,1–4)
Nun singe Lob, du Christenheit (EG 265,1–5)
558   13. Sonntag nach Trinitatis – 6. 9. 2020

Gebete

Eingangsgebet
Wie oft schauen wir vorbei, Herr!
Wie oft hören wir weg!
Wie oft rührt uns das Leid und die Not anderer gar nicht an!
Wie oft übersehen wir den Mitmenschen, den wir sehen sollten!
Wie oft schieben wir gewichtige Gründe vor, die uns verteidigen und
rechtfertigen sollen!
Wie oft handeln wir lieblos, hartherzig, gleichgültig – und dabei willst Du
uns gerade auch durch diese Menschen erreichen und bewegen!
Manches Mal wohl müssen wir uns schämen – manches Mal wohl können
wir uns nicht entschuldigen – manches Mal wohl sind wir einem Mitmen-
schen das schuldig geblieben, worauf auch er ein Anrecht hat: nämlich
menschlich behandelt zu werden!
In der Stille bitten wir um Vergebung für unser Versagen …
Dich, Herr, rufen wir an: Schenk uns wache Augen, ein einfühlsames Herz
und Ohren, die auch die stummen Hilferufe hören!
Herr, erbarme Dich!

Tagesgebet
Wer da großzügig ist, verschwenderisch in der Liebe,
warmherzig und freigiebig,
dem wird es wohlergehen,
der wird auf ewig bleiben und eben nicht vergessen:
Was für eine Zusage, Herr!
Der Gerechte, der Mensch, der nach Dir fragt und lebt, wird nicht verzagen,
sondern kraftvoll aus dem Glauben heraus das Nötige tun:
Dies sei uns geschenkt, Herr!
Wir können Dich nur bitten, dass Du uns hilfst:
nach Deinem Willen zu handeln und Barmherzigkeit zu üben!

Fürbittengebet
Barmherziger Vater in den Himmeln,
wir können schnell in die Gefahr geraten, unsere Schuld kleinzureden,
unsere Schuld auf andere abzuwälzen,
uns rechtfertigen zu wollen, wo wir selbst Schuld auf uns geladen haben.
Auch wir sind schnell dabei, die Schuld beim anderen zu suchen,
zu kneifen, auszuweichen, abzulenken, uns zu drücken.
Hilf Du uns zur Ehrlichkeit und zur Aufrichtigkeit in uns selbst und im
Apostelgeschichte 6,1–7   559

Umgang miteinander!
Lass uns deutlich genug entdecken, was wir dem anderen schuldig sind:
Mitmenschlichkeit, Wohlwollen, Liebe und Güte.
Sprich zu uns durch unsere Gefühle, durch unser Gewissen!
Hilf Du uns zur Barmherzigkeit,
auf dass wir mitfühlen, auch mitleiden,
aber uns genauso auch mitfreuen können.
Hindere alles in uns, was uns tatenlos dabeistehen und zusehen lässt,
mobilisiere alle Kräfte in uns, anzufassen und zu helfen, wo Hilfe nötig ist!
Mache uns zu barmherzigen Samaritern, wo immer wir dazu gefordert sind!
Für die vielen Samariter in den verschiedenen Rettungsdiensten bitten wir
Dich: dass sie die so nötige Ersthilfe leisten können und in aller Anspannung
das Richtige tun!
Für die Ärzte, Schwestern, Pfleger in den Krankenhäusern und Kliniken und
Heimen bitten wir Dich, dass sie ihren Dienst ausüben zum Wohle der ihnen
anvertrauten Menschen! Stärke Du sie immer wieder neu in ihren schweren
Aufgaben!
Für uns selbst bitten wir Dich und nennen Dir in der Stille unsere Sorgen,
unsere Nöte, unsere Wünsche und Hoffnungen! Herr, Dir in die Hände sei
alles gelegt!

Predigt

Das also hat es schon damals gegeben, damals in der Jerusalemer Urge-
meinde: dass man sich nicht einig war, dass kräftig gemurrt wurde, dass es
Zoff gab, Streit, Ärger, Unruhe in der Gemeinde, dass etliche ihrem Ärger
Luft machten: „Das geht doch wohl nicht an!“, tönte es lautstark. „Die he-
bräischen Witwen werden täglich ausreichend mit dem versorgt, was sie
brauchen, aber unsere griechischen Witwen werden übersehen und gehen
leer aus! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Und das in einer Gemeinde, die
sich auf Jesus Christus beruft!“
   Die Jerusalemer Urgemeinde befand sich damals in einem tiefen Konflikt.
Die Frage, wie die Witwen versorgt werden, drohte die Gemeinde zu zer-
spalten. Die griechischen Witwen, die kleinste und schwächste Gruppe in der
Gemeinde, kamen zu kurz. Sie wurden übergangen – im Gegensatz zu den
hebräischen Witwen. Wut und Zorn stiegen auf, manche gar waren nicht
mehr bereit, miteinander zu reden. Manche waren gar dabei, den anderen
das Christsein abzusprechen.
560   13. Sonntag nach Trinitatis – 6. 9. 2020

Wie den Konflikt lösen?
Auffällig war wohl dies: Da wurde nicht gefragt, wer schuld sei. Da wurde
keine schmutzige Wäsche gewaschen. Da wurde nicht in der Vergangenheit
herum-gekramt – nein, da wurde in die Zukunft hinein gefragt, was denn im
konstruktiven Sinn getan werden kann, um den Konflikt offen, zielstrebig,
schnellstmög-lich zu lösen. Die zwölf Apostel beriefen eine Gemeindever-
sammlung ein und legten das Problem der ganzen Gemeinde vor. Alle waren
aufgefordert, nach einer Lösung zu suchen. Einer schließlich machte den
Vorschlag, der dann angenommen wurde: „Wählt sieben Männer aus euren
Reihen und beauftragt sie für diesen Dienst. Sucht neue Mitarbeiter, damit
die bisherigen ihre Arbeit weiterführen können und darin nicht beein-
trächtigt werden!“
   So also: Mit allen aus der Gemeinde, die wollten – so wurde der Konflikt
gelöst. Alle erinnerten sich an die gemeinsame Basis, an das alle zusam-
menhaltende und alle verbindende Fundament, das Jesus Christus heißt –
und alle wussten um den Dienst, zu dem sie alle in die Welt hinausgesandt
waren. Sie wussten, dass es wichtig ist zu beten und zu verkündigen. Sie
beteten inständig zu Gott um die nötige Weisheit: „Schenk uns Weisheit,
schenk uns Mut!“ (EG.Baden-Pfalz 662,1–4). Sie wussten um ihre Aufgaben
und um ihre Verantwortung vor Gott. Gott zur Ehre zu leben und den Mit-
menschen zum Guten: das war ihre Be-stimmung, darin lag der Sinn ihres
Lebens, das wussten sie.

Konflikt in der Jerusalemer Urgemeinde
Vielleicht gar hagelte es heftige Kritik – wie ist das heute, in unseren Ge-
meinden, in unserer Kirche, in unserer Gesellschaft? Wie viel wird da unter
den Teppich gekehrt. Offener Widerspruch regt sich kaum, wenn, dann
hintenherum. Und wenn einmal gestritten wird, dann oftmals so, dass selbst
Christenmenschen sich vergessen und kaum noch wiederzuerkennen sind.
Der gemeinsame Grund: Jesus Christus, sein Gebot der Liebe zu den Men-
schen, gerät schnell aus den Augen, schnell aus dem Sinn. Die eigene
Überzeugung wird mit aller Macht vertreten. Fäuste werden geballt, Messer
in den Hosentaschen gezückt.
   Wie lösen wir Konflikte – in der Gemeinde, in unserer Familie, am Ar-
beitsplatz, in der Schule? Dadurch, dass wir allem aus dem Wege gehen und
abtauchen? Wie verhalten wir uns in Auseinandersetzungen, Streitereien?
So, dass wir die Augen verschließen und von einer heilen Welt träumen, von
früheren Zeiten, in denen alles besser war? Wie gehen wir mit Minderheiten
um in unserer Stadt: Was, wenn Flüchtlinge aus Afghanistan und aus Syrien
in unser Land kommen? Machen wir es ihnen schwerer oder leichter? Reden
Apostelgeschichte 6,1–7   561

wir hintenherum über sie, schauen wir sie schief an, beargwöhnen wir sie, so,
als wollten wir sie nicht aufnehmen?

Die Welt steckt voller Krisen
und Konflikte, voller Kämpfe und Kriege: Schauen wir da nur zu? Mischen
wir uns ein? Melden wir uns gegenüber unseren Politikern zu Wort,
schreiben wir ihnen Briefe und Mails? Oder – was aber der Christen Zier
nicht ist – lassen wir die Dinge laufen? Was da in dieser Welt abgeht, das kann
uns doch nicht kalt und unberührt lassen. Was die Isis-Kämpfer in Syrien
und im Irak anrichten, das kann doch nicht einfach hingenommen werden:
Dagegen muss doch wohl eingeschritten werden! Was läuft da alles schief,
wenn vierhundert Menschen aus unserem Land nach Syrien auswandern,
sich zu Dschihadisten ausbilden lassen, zu sogenannten „Gotteskriegern“?
Es ist an der Zeit, aufzuwachen! – Wie denn steht es um das Kulturgut der
Meinungsfreiheit in unserem Land, wenn man Straftäter mit Migrations-
hintergrund nicht benennen darf ? Wie war das in Nordengland: Polizisten
wussten, dass viele, viele Mädchen vergewaltigt wurden, sagten aber nichts,
weil es sich bei den Tätern um Migranten aus muslimischen Ländern han-
delt. Wie denn steht es um das Kulturgut der Pressefreiheit, wenn die Hamas-
Organisatoren im Gazastreifen die Arbeit der Journalisten zensieren? Wie
denn steht es um das Kulturgut der Religionsfreiheit, wenn jemand aus dem
Islam zum Christentum konvertieren will? Darf man denn vom gesunden
Menschenverstand her noch sagen, was Sache ist?

Wie war das doch –
wie wurde der Konflikt in der Jerusalemer Urgemeinde gelöst? Dadurch,
dass alle zusammenkamen, dass alle ihre Meinung äußern konnten, dass alle
das Gespräch miteinander suchten. Dass sie miteinander sprachen und ge-
meinsam nach dem suchten, was dem Frieden dient. Nicht weglaufen war
angesagt, nicht auseinanderlaufen oder fernbleiben, sondern zusammen-
bleiben, auch bei Differenzen und Meinungsverschiedenheiten. Spannungen
aushalten. Und so wurden sieben Almosenpfleger bestellt und für ihren
Dienst unter Handauflegung gesegnet.

Der Konflikt wurde offen angegangen,
nichts wurde verharmlost, niemand wurde vertröstet. Die Menschen er-
wiesen sich als konfliktlösungsfähig. In gemeinsamer Anstrengung wurde
die richtige Problemlösung gefunden. Gemeinsam zogen sie an einem
Strang: an dem „Strang“ Jesus Christus! Der gemeinsame Glaube, das ge-
meinsame Gebet, der gemeinsame Gottesdienst, die gemeinsame Mahlfeier
562   13. Sonntag nach Trinitatis – 6. 9. 2020

führte und hielt sie zusammen. All das gab ihnen ungemeine Kraft! Güte-
kraft!

Machen wir uns keine Illusionen:
Was damals in Jerusalem gelang, gelingt nicht allerorten. Viele Konflikte
sind festgefahren, verworren, kompliziert, alles andere als mit einfachen
Mitteln lös-bar und mit ein bisschen gutem Willen. Manches Mal hilft nur
dieses Eingeständnis, dass der andere oder die anderen weder konfliktlö-
sungsfähig noch konfliktlösungswillig sind. Manches Mal hilft nur Distanz,
Abstand, die Auf-kündigung der Zusammenarbeit. Jesus von Nazareth riet:
„Dann schüttelt den Staub von euren Füßen!“ (s. Mt 10,14/Lk 9,5). Und geht,
geht unter Protest, auf dass andere vielleicht noch aufwachen und zur Be-
sinnung kommen.

Wer Konflikte lösen will,
muss sie offen und ehrlich angehen, die Missstände klipp und klar benen-
nen, braucht die Gabe der Selbstkritik wie die der Empathie: des Hinein-
fühlens in den anderen, braucht für sich selbst eine klare Position: die des
Kurshaltens – und einen langen Atem. Gutmenschen meinen es womöglich
gut, aber tun sie gut?
   Wer Konflikte lösen will, wird sich an Gott wenden: Gott die Probleme vor
die Füße legen, im Gebet zu Gott flehentlich bitten, von ihm Kraft und
Weisheit erbitten und nicht zuletzt die Gabe, über den Dingen stehen zu
können, also aus dem Sumpf herausgehoben zu sein, um überhaupt handeln
zu können. Manche Konflikte mögen unlösbar bleiben – Gott schenke dann
aber auch dazu die Kraft, damit leben zu lernen und die Lebensfreude nicht
zu verlieren. Diese Lebensfreude, die mich immer wieder herausholt und die
ein kräftiges Gegengewicht darstellt gegenüber allem, was niederdrückt und
mich wie in einem Wasserstrudel herunterzieht.
   Bitten wir Gott um hilfreiche Lebensfreude! Bitten wir ihn um den Mut,
Dinge, die wir ändern können, zu ändern. Bitten wir Gott um Gelassenheit,
Dinge, die wir nicht ändern können, stehen zu lassen. Bitten wir Gott um
Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu können.

Dr. Hans-Gerd Krabbe lebt als Pfarrer i. R. in Achern-Oberachern.
hans-gerd.krabbe@gmx.de
14. Sonntag nach Trinitatis – 13. September 2020                                                Lukas 19,1–10

Eine Geschichte für die Profiteure
der Ungerechtigkeit
Kerstin Menzel

Auslegung

Die Geschichte von Zachäus ist durch die Perikopenrevision vom dritten auf
den 14. Sonntag nach Trinitatis gewandert und hat damit ihren Akzent
verändert – stand vorher die Rettung des Verlorenen im Zentrum, legt nun
der Wochenspruch „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er
dir Gutes getan hat!“ (Ps 103,2) eine stärkere Betonung auf die Reaktion des
Zachäus.
   Die Perikope ist vielfältig in den Kontext des Lukasevangeliums verwoben.
Sie ist Teil der Linie von Kritik an den Reichen, die sich durch die lukanische
Komposition ziehen (Lk 1,46–55; 6,20–26; 12,16–21.33–34; 16,19–31;
18,18–27 [Wolter; Schottroff/Stegemann, 113–153]). Verständlich wird diese
auf dem Hintergrund von sozialen Differenzen in der lukanischen Ge-
meinde, denen Lukas eine Vision von Besitzausgleich und Solidarität ge-
genüberstellt (Schottroff/Stegemann, 138.149 ff., vgl. Apg 2,41–47; 4,32–37).
Die Selbstverpflichtung von Zachäus verbindet sich mit der Forderung, die
Hälfte des Besitzes abzugeben und niemanden zu betrügen, in der Täufer-
predigt (Lk 3,11–14). Das sujovamt̃_ im Bekenntnis von Zachäus (Falsch-
aussage machen, denunzieren, schikanieren, erpressen [Bovon, 276])
kommt auch in 3,14 vor, hier allerdings nicht in Bezug auf die Zöllner,
sondern in Bezug auf die fragenden Soldaten. Die vierfache Rückzahlung der
zu viel gezahlten Steuern entspricht wohl der römischen Rechtssetzung
(Schottroff/Stegemann, 20 Anm.27 und Bovon, 276).
   In sozialgeschichtlicher Perspektive betonen Schottroff und Stegemann
(16–24) den Unterschied zwischen Zollunternehmern, die zur lokalen
Oberschicht gehörten, und den sozial ungeschützten Zollbediensteten,
deren Kriminalität häufig in existenzieller Not begründet war.
   Zwei Begriffe sind für meine Auslegung noch wichtig: Zum einen das in
Bezug auf die Suche nach „Wahrheit, Gesundheit, nach einem Sinn im Leben
oder nach Heil“ (Bovon, 272) im Evangelium häufig gebrauchte Verb fgt_:
Zachäus sucht, Jesus zu sehen und dieser wiederum sucht die Verlorenen. In
beiden Bewegungen steckt Sehnsucht. Die wechselseitige Suche entspricht
Homiletische Monatshefte 95. Jg., S. 563–571, ISSN (Printausgabe): 0018-4276, ISSN (online): 2196-8012
! 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen
564   14. Sonntag nach Trinitatis – 13. 9. 2020

der Doppelbewegung dieser Geschichte ebenso wie der Dialektik des Glau-
bens – allein aus Gnade und doch nicht ohne unser Zutun.
  Zum anderen das Sehen als Metapher der Erkenntnis (Bovon, 273): Zac-
häus will Jesus sehen (jeweils in V. 3 und 4), Jesus sieht hinauf zu Zachäus
(und in vielen Handschriften sogar noch verlangsamter : sah hinauf und sah
ihn [Bovon, 274]). Nicht nur in Jesu Worten und als unfreiwilliger Gastgeber
begegnet Zachäus dem Heil, schon die Blicke weisen auf Veränderung.

Umsetzung

In der weltweiten ökumenischen Bewegung sind seit vielen Jahren sehr
kompetente Überlegungen zu einer gerechteren Wirtschafts- und Finanz-
politik vorangetrieben worden. Diese Prozesse haben die Beteiligung von
Christinnen und Christen aus dem globalen Süden als wesentliche Grund-
lage. Dennoch ist im alltäglichen Gemeindeleben oft wenig über die Ge-
sprächsprozesse bekannt.
   Ausgangspunkt meiner Predigt ist die Initiative des Ökumenischen Rates
der Kirchen, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, des Weltmissi-
onsrates und des Lutherischen Weltbundes „Für eine neue internationale
Finanz- und Wirtschaftsarchitektur“ (engl. abgekürzt NIFEA), in deren
Rahmen 2019 der Vorschlag einer Zachäus-Steuer, d. h. konkreter finanz-
politischer Maßnahmen zum Ausgleich von Folgen des Kolonialismus und
der Sklaverei bei der UN vorgestellt wurde (Kairos).
   Eine Predigt zu diesem Thema läuft mindestens zwei Gefahren: Zum
einen kann sie in eine Gesetzlichkeit und Überforderung der Hörenden
führen. Individuelles Handeln kommt angesichts der komplexen und glo-
balen Verhältnisse schnell an Grenzen. Es geht also zunächst um Bewusst-
seinsbildung und Einbeziehen in Gesprächsprozesse der weiteren Ökumene.
Zum anderen braucht die Komplexität in der Predigt Konkretion. Jedes
Beispiel kann jedoch auf eine Vielzahl von Faktoren und Einflüssen zu-
rückgeführt werden. Es gilt daher, die großen Linien im Auge zu behalten.
Vielleicht wäre das Thema auch mit weiteren Gemeindeveranstaltungen zu
verknüpfen, in denen eine vertiefte Auseinandersetzung möglich ist. Das
Material von Kairos Europa zur Kampagne und die Informationen von
www.erlassjahr.de bieten dafür eine gute Grundlage.
   Ich gehe davon aus, dass Hörende der Predigt nicht nur auf einer privaten
Ebene in diese Themen involviert sind. Sicher wird die Frage nach einem
gerechten Wirtschaftssystem auch in persönlichen Gesprächsrunden zu-
weilen Thema sein. Vielleicht sind unter den Hörenden aber z. B. auch
Journalistinnen, Mitarbeitende in Entwicklungshilfeorganisationen oder im
politischen Bereich, Unternehmerinnen mit internationalen Geschäftsbe-
Lukas 19,1–10   565

ziehungen – auch beruflich leisten viele in unseren Gemeinden einen Beitrag
zur politischen Meinungsbildung und zur wirtschaftlichen Gestaltung in
unserer Gesellschaft.

Literatur

Luise Schottroff/Wolfgang Stegemann, Jesus von Nazareth – Hoffnung der
Armen, Stuttgart u. a. 1978
Michael Wolter, Zachäus: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet,
www.bibelwissenschaft.de/stichwort/56002
Kairos Europa (Hg.), Wirtschaften im Dienst des Lebens. Für eine neue
internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur : Das Zachäus-Projekt
der weltweiten Ökumene, 2019 (bestellbar über www.kairoseuropa.de)
Franz Segbers, Das Zachäus-Programm der Bibel: Gerechtigkeit, Schutz der
Schwachen und Rückerstattung: a. a. O., 17–22
Heike Knops, Jesus und Zachäus – Vertreter der Macht. Eine narrative Be-
gegnung zweier Vertreter ganz unterschiedlicher Mächte: a. a. O., 23–25
FranÅois Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 3. Teilband 15,1–19,27, EKK
III/3, Neukirchen-Vluyn und Düsseldorf/Zürich 2001
Erlassjahr.de, Länderinformation Sierra Leone – von Geld, Schulden und
Entwicklung, https://erlassjahr.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/03/
SLE_Briefing_Sierra_Leone.pdf
Mallence Bart-Williams, Change your Channel, TEDxBerlinSalon, Video vom
26.1.2015: https://www.youtube.com/watch?v=AfnruW7yERA&fbclid=IwAR3
jKmSz3e_OL38CUpnu6FfB2F2MIdRBUtUe4d3N5xXhw2LYtNYtyYfK3lA&app=
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Liturgie
Lesungen
Psalm 146 oder 103
1. Mose 28,10–22
Römer 8,14–17

Lieder
Tut mir auf die schöne Pforte (EG 166, besonders Strophe 2)
Wo Menschen sich vergessen (EG.E 28)
Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 22)
566    14. Sonntag nach Trinitatis – 13. 9. 2020

Komm in unsre stolze Welt (EG 428)
Meine engen Grenzen (EG.E 19)

Gebete

Freie Präfation
Wir danken dir für die Menschen, die uns anvertraut sind
und die unserer Seele wohltun.
Eltern und Partner, Kinder und Enkel, Freunde und Vertraute.
Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen (EG 272)
Wir danken dir, Gott, dass du uns Freude schenkst.
Im Garten und am Meer, in der Nähe zu Tieren und in der Bewegung,
im Essen und Lachen.
EG 272
Wir danken dir, Gott, für Zeichen deiner Nähe.
Im Gefühl der Geborgenheit, in neuen Perspektiven,
im Heilwerden, im Trost auch in schweren Tagen.
EG 272
Wir danken dir, Gott, für alles, was du uns schenkst.
Wie jeder Mensch besonders ist, so gibst du uns auch ganz eigene Gründe zur
Dankbarkeit.
EG 272
Wir danken dir, Gott, für Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Bruder.
Sein Leben gibt uns Richtung und Ziel.
Sein Sterben entmachtet Sünde und Tod.
Seine Auferstehung erfüllt uns mit Hoffnung für alle Welt.

Predigt

Verachtung – mit Gründen
Sie hatten Recht. Als er versuchte, sich durch die Menge zu schieben, schlossen
sie die Reihen und sahen sich über die Schulter nach ihm um. Mit ihm wollten
sie diesen Lehrer nicht teilen. Diesen Lehrer, der ihnen so wichtig war, weil er sie
sah, obwohl sie nicht wussten, woher das Brot am nächsten Tag kommen sollte.
Der sie sah, obwohl sie barfuß dort standen und mit ausgebesserten und
dreimal gestopften Kleidern. Der mit ihnen redete auf Augenhöhe, obwohl sie
mehr Schuldscheine als Ziegen zu Hause hatten.
   Nein, diesen wollten sie nicht zu ihm durchlassen. Mit weicher Kleidung,
Lukas 19,1–10    567

festen Schuhen und klimpernden Münzen in der Tasche: Zachäus, Ober-
zöllner, reich.
   Sie hatten recht damit. Nicht etwa, weil er Steuern eintrieb. Sondern weil er
sich an seinem Vorrecht bereicherte. Nicht legal, sondern unrecht. Vielleicht
hatte er Händler der Zollhinterziehung beschuldigt. Oder seine Angestellten
angewiesen, den Wert der Ware immer ein wenig zu hoch einzuschätzen.
Brückensteuer, Wegesteuer, Marktsteuer, Salzsteuer, Importsteuer. Ihnen
fehlte das Geld, das in seiner Tasche klimpert. Zachäus. Oberzöllner. Reich.
   Zachäus ist kein kleiner Fisch. Kein Angestellter, der froh ist, überhaupt
einen Job zu haben, sozial ungesichert, ohne Schuhe. Keiner wie Levi, der
vom Zolltisch aufsteht und Jesus nachfolgt (Mk 2,14). Keiner von den klei-
nen Zollmitarbeitern, die Jesus verteidigt gegen die feinen Leute, die prekär
Lebenden noch vorwerfen, dass sie sich durchschlagen müssen.
   Nein, Zachäus ist einer von denen, die nur schwer durch das Nadelöhr des
Gottesreiches passen (Lk 18,25). Mit weichen Kleidern und festen Schuhen
steht er im Leben. Ein sündiger Mensch (19,7) – fürwahr. Klimperndes Geld
in der Tasche, erpresst, betrogen, bereichert auf Kosten anderer. Ein Profi-
teur eines Systems von Ungerechtigkeit.

Reich
Ich kenne die Blicke der Menge. Manchmal begegnen sie mir in den Augen
eines Bettelnden. Da mischt sich in die Bitte eine tiefe Verachtung. Vor vielen
Jahren einmal sind sie mir in den Augen der Händler vor den Mauern des
Hotels unter Palmen begegnet. Verachtung für meinen Reichtum. Eine
Deutsche. Erste Welt. Reich.
   In unseren Taschen klimpert das Geld, das anderen fehlt. Wir profitieren
in diesem Land von einem System der Ungerechtigkeit. Ich frage mich, sagt
Mallence aus Sierra Leone, wie es eigentlich kommt, dass 5.000 Einheiten
unserer Währung so viel wert sind wie eine Einheit eurer Währung, wo wir
doch diejenigen sind mit den eigentlichen Goldreserven. Man kann eine
Stecknadel fallen hören in dem Saal in Berlin nach diesem Satz. In Köln ist sie
geboren, Wurzeln in Sierra Leone, wo Menschen zuweilen Gold und Dia-
manten in ihrem Garten finden. Wo es Erdöl, Platin, Coltan, alle vorstell-
baren Edelmetalle und Edelhölzer gibt. Diese Frage ist mich offen geblieben,
sagt Mallence Bart-Williams, auch nachdem ich Finanzen und Wirtschaft an
den besten Universitäten der Welt studiert habe. In Wirklichkeit kommt
doch die Hilfe nicht aus dem Westen nach Afrika, sondern von Afrika in den
Westen. Der Westen ist abhängig von den afrikanischen Rohstoffen, um
seine Flugzeuge, Telefone, Computer und Maschinen anzutreiben. Und na-
türlich das Gold und die Diamanten als Statussymbole und als Grundlage für
die eigene Währung. Und wie sichert der Westen, dass die seltenen Rohstoffe
568   14. Sonntag nach Trinitatis – 13. 9. 2020

weiterhin kommen? Indem er systematisch afrikanische Staaten destabili-
siert und das Bild des hilfebedürftigen, armen Afrika in den eigenen Ländern
aufrechterhält. Eine Hand gibt, während die andere im Schatten stetig zu-
greift. Es ist so freundlich, sagt Mallence, dass ihr mit eurem bunten Papier
zu uns kommt, im Austausch für unser Gold und unsere Diamanten. Statt-
dessen solltet ihr mit leeren Händen kommen – gefüllt mit Integrität und
Ehre.
   Sierra Leone ist nach unseren Maßstäben eines der am wenigsten entwi-
ckelten Länder. Die Zeit britischer Kolonialherrschaft hat in diesem Land
Strukturen geschaffen, die sich immer noch auswirken: der Einfluss von
lokalen Führungspersonen, die Ausrichtung der Wirtschaft auf Export. In-
vestitionen in die örtliche Industrie wurden bewusst ausgebremst, um Ab-
satzmärkte für britische Produkte zu haben. Nach der Unabhängigkeit hat
sich ein System etabliert, dass den Reichtum des Landes nur für wenige zum
Gewinn macht. Aufgrund von unvernünftigen wirtschaftlichen Entschei-
dungen geriet Sierra Leone, wie viele Entwicklungsländer, in den 1970er und
80er Jahren in eine tiefe Schuldenkrise. Westliche Banken finanzierten die
Importe ihrer eigenen Wirtschaft, die Aufrüstung und den elitären Le-
bensstil der herrschenden Elite. Ebenso unverantwortlich. Die Armut hat
viele Gründe. Aber in ihrem Untergrund liegt ein System der Ungerechtig-
keit, das seine Wurzeln im Kolonialismus hat. Das fortgesetzt wird in ge-
genwärtigen wirtschaftlichen Strukturen, die westliche Macht ausnutzen. In
unseren Taschen klimpert das Geld, das anderen fehlt. In unseren Taschen
die Handys mit den Rohstoffen, die andere das Leben kosten.

Deutschland. Exportweltmeister. Reich.
Europa. Weltmarktführer. Reich.
Profiteure systemischen Unrechts.

Alle hier im Raum profitieren vermutlich unterschiedlich von diesem
Reichtum und darüber wäre vieles zu sagen. Aber für heute und jetzt: wir
leben in einem reichen Land.

In der Sehnsucht verfangen
Zachäus mit seinen weichen Kleidern und festen Schuhen nun hört auf, sich
durch die Menge schieben zu wollen. „Er sucht Jesus zu sehen, wer dieser
denn sei.“ (19,3) In ihm gab es eine Sehnsucht nach einer anderen Welt. Er
hatte gehört, dass dieser Lehrer vom Reich Gottes sprach. Neugierig hatte
ihn das gemacht. An eine Sehnsucht in ihm gerührt, dass es anders wäre.
Dass die Welt verwandelt werden könnte. In seinem Namen schon steckt sie,
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