InfoEuropa01/2019 Wind of Change - Protest und Kultur entlang der Donau
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InfoEuropa Informationen über den Donauraum und Mitteleuropa 01/2019 Wind of Change Protest und Kultur entlang der Donau Kulturführer Mitteleuropa 2019
Inhalt Editorial Erneuter Aufstand gegen autoritäre Mit den revolutionären Ereignissen rund Regime in Ostmitteleuropa? 3 um das Jahr 1989 erlebten viele Men- TOBIAS SPÖRI schen in Mitteleuropa ein Jahr Null, das die Geschichte in ein Davor und ein Da- Zwischen Toleranz und Ignoranz 5 nach einteilt. Irgendwo dazwischen liegen LADISLAV ZIKMUND-LENDER die Trümmer sozialistischer Regime, über Kunst zur Rettung der Menschheit? 8 die wir teils heute noch stolpern. 30 Jahre JAŚ KAPELA nach 1989 steht der Kulturführer Mitteleu- ropa 2019 im Zeichen der Veränderungs- »Wir wollen das Recht haben, unsere kraft. Denn jede Mauer bekommt zuerst Risse bevor sie einstürzt Geschichten selbst zu erzählen« 11 und jeder Wandel hat Menschen, die ihn ermöglichen. Welche DANIELA NEUBACHER Rolle nahmen KünstlerInnen und Kulturschaffende in diesem Um- Schwarze Löcher, weiße Räume 13 bruch ein? Welche Gegen- und Subkulturen brachten den Wind GERGELY NAGY of Change in die Köpfe der Menschen? Und mit welchen Mitteln erkämpfen sie heute ihre Freiheit? GastautorInnen aus Österreich, »Die Musik ist unschuldig« 16 Ungarn, Rumänien, Polen, Tschechien und Bosnien Herzegovina ANDRA-OCTAVIA CIOLTAN-DRĂGHICIU beschäftigen sich in dieser Ausgabe mit den vielfältigen Aspekten Rebellion der Ränder 18 von Kultur und Protest: Sie erzählen von subversiven Rockern im IRINA WOLF Rumänien der Achtzigerjahre, verlieren sich in den Fluchtpunk- ten des ungarischen Undergrounds, suchen die Symbole von »Pravda za Davida« – damals auf den Straßen von heute und werfen einen hoffnungs- Protest gegen die Kultur der Angst 20 vollen Blick in die kreativen Nischen kritischer Gegenwartskunst. IGOR STIPIĆ So nachdenklich und schrill, so queer und konservativ, so simpel Proteste in Rumänien: und widersprüchlich zugleich kann Protestkultur sein – kein Bild Symbole und Gewalt erinnern an 1989 22 in schwarz-weiß, sondern ein faszinierendes Kaleidoskop voller JOACHIM PRANZL Reflexionen. Protest*Kultur zum Anschauen, Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen! Durchblättern und Praktizieren 24 Daniela Neubacher, Chefredaktion Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) www.idm.at Impressum Mit freundlicher Unterstützung von: Medieninhaber und Verleger Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) A-1090 Wien, Hahngasse 6/1/24 Tel.: +43 1 319 72 58, Fax: +43 1 319 72 58-4 idm@idm.at, www.idm.at Chefredaktion & Lektorat Mag.(FH) Daniela Neubacher, MA | d.neubacher@idm.at Gefördert durch das Land Niederösterreich Redaktion Daniela Neubacher, GastautorInnen Anzeigenverkauf Heidi Lorenz | h.lorenz@idm.at Mediadaten 2019 (PDF) https://bit.ly/2IluIDo Gefördert von der Grafische Gestaltung Andrej Waldegg (amt7.at) Kulturabteilung der Stadt Cover ©Archivaufnahmen aus dem Archiv der Staatspolizei in Wien, Wissenschafts- und Rumänien (Securitate) (ACNSAS D010784, Bd. 30) Forschungsförderung Erscheinungsweise 3 × jährlich Grundlegende Richtung Informationen zur erweiterten EU und Zusammenarbeit im Donauraum, Mittel- und Südosteuropa Druck Druck Styria GmbH & CoKG, Styriastraße 20, 8042 Graz Abonnement 40,-/15,- (ermäßigt für StudentInnen, ForscherInnen, IDM-Mitglieder), Tel.: +43 1 319 72 58
TOBIAS SPÖRI A N A LY S E Erneuter Aufstand gegen autoritäre Regime in Ostmitteleuropa? Vor 30 Jahren gingen Zehntausende auf die Straße und verlangten Veränderung. Zuerst kam die Hoffnung, dann die Enttäuschung. Heute demonstrieren sie wieder: in Budapest, Bukarest und Prag. Was haben diese Proteste mit 1989 zu tun? TOBIAS SPÖRI über den Wandel der Protestkultur in Ostmitteleuropa. Anti- © Daniela Neubacher Regierungs- proteste in Budapest im Zuge der Migrationskrise, September 2015 Eine zentrale Erzählung über den Niedergang zen der kommunistischen Parteien. Die erfolg- des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa reiche Massenmobilisierung ging 1989 in eine betont den Aufstieg von alternativen, staatsun- generelle Aufbruchsstimmung über, verbunden abhängigen Bewegungen und Ideen aus der Zi- mit der Erwartung, die Länder Zentral- und Ost- vilgesellschaft. Die erfolgreiche Massenmobili- europas würden sich nun der wohlhabenderen sierung um 1989 kam für viele überraschend, da westlichen Welt anschließen, indem sie deren die Erfahrungen mit der Niederschlagung von politisches und wirtschaftliches System über- Protestbewegungen zu Zeiten des Staatssozia- nehmen. Diese teils überzogenen Erwartungen lismus negativ waren, beispielsweise in der DDR wurden allerdings schon in der ersten Dekade (1953), Ungarn (1956), der Tschechoslowakei der Transformation größtenteils enttäuscht. (1968) oder in Polen (um 1980). Dass die Proteste um 1989 zum Systemwechsel beitragen konn- Das Ausbleiben von Protesten in der ten, hängt stark mit dem Wandel des Staatsso- Transformation zialismus zusammen. In den Achtzigerjahren erreichte die ideologische Erosion und die da- Die Enttäuschungen der BürgerInnen über die mit verbundene Legitimationskrise der Regime politischen und wirtschaftlichen Entwicklun- einen Höhepunkt. In den meisten Ländern kam gen spiegeln sich auch in den Einstellungen zur eine pragmatischere politische Elite an die Spit- Politik und der aktiven Beteiligung darin wi- InfoEuropa 3
A N A LY S E der. Studien zeigen, dass die Zufriedenheit der Wissenschaft schwierig, die tatsächliche Unter- Bevölkerung mit der Demokratie schon in den stützung einer Regierung seitens der Bevölke- 1990er Jahren stark abnahm. Dies gilt auch für rung zu erfassen. das Vertrauen in politische Institutionen, das Aufgrund der wiederkehrenden Proteste Interesse an Politik oder politische Teilnahme. sprach Ivan Krastev 2016 am Beispiel Bulgari- Grund für die wachsende politische Apa- ens von einer Endlosschleife aus Wahlen und thie ist das Zusammenspiel zwischen dem Erbe Protesten. Die regelmäßige Abfolge von Wahlen des Staatssozialismus, den hohen Erwartungen und Protesten, im Sinne einer Willensäußerung an den Systemwandel 1989 und den negativen der Bevölkerung zwischen den Wahlen, ist natur- Erfahrungen seit der Transformation. Wenn gemäß wünschenswert. Laut Krastev haben aber existentielle Sorgen den Alltag der Menschen weder Wahlen noch Proteste in Zentral- und Ost- dominieren, rücken Fragen der politischen Be- europa einen Wandel der Wirtschafts- und Sozi- teiligung in den Hintergrund. Im neuen neolibe- alpolitik herbeiführen können. Dies hat mit den ralen System war nun jede/r des eigenen Glückes alten politischen Systemen zu tun, das oftmals Schmied; Armut wurde als individuelles Problem für neue, progressive Kräfte verschlossen bleibt. betrachtet. Angesichts der großen Massenmobi- Es zeigt sich vermehrt, dass die Regierungen lisierung um 1989 ist es allerdings erstaunlich, dort versuchen, beispielsweise durch institutio- dass es lange Zeit kaum zivilen Widerstand ge- nelle Reformen, ihre Abwahl zu erschweren und gen diese Reformen gab. kein Interesse am Dialog mit den Protestieren- den besteht. Der ausbleibende Wandel hat aber auch mit den Protestbewegungen selbst zu tun. Anknüpfen an die Proteste um 1989? Selten bildete sich daraus eine politische Partei, Seit 2010 nehmen Proteste in der Region wieder da die Protestierenden nicht Teil des politischen zu, auch als Reaktion auf die gesellschaftlichen Establishments werden wollten. Dieser Trend Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese wandelt sich in letzter Zeit, da bei Lokalwahlen lassen sich allerdings nicht nur auf Widerstand im urbanen Raum unabhängige beziehungswei- gegen strenge Haushaltspolitik zurückführen. se aus neuen Parteien stammende Personen be- In den letzten Jahren kam es zu einer Reihe achtliche Erfolge erzielen konnten, wie zuletzt in von vielfältigen Protesten, wie beispielsweise Bratislava, Prag oder Chișinău. die Umweltproteste gegen den Goldabbau in Roșia Montană in Rumänien (2013), die Protes- Schnelle Umbrüche möglich te gegen die geplante Internetsteuer in Ungarn (2014) oder die Protestbewegung »U ime obitelji« Die Länder in der Region haben 1989 gezeigt, (Im Namen der Familie) gegen die Ehe für alle dass ein großes Mobilisierungspotential gegen in Kroatien (2013). In vielen Ländern haben sich autoritäre Systeme möglich ist. Dieses Potential diese anlassbezogenen Proteste zu breiteren hat aktuell wieder stark zugenommen, vor allem Bewegungen gegen die korrupte und autoritäre im urbanen Raum. Die Entwicklung von Pro- Politik der regierenden Elite transformiert. Das testbewegungen seit der Transformation ist aus zeigte sich unter anderem in Bulgarien (2013), heutiger Sicht annähernd parabelförmig verlau- Bosnien und Herzegowina (2014 und 2018), Po- fen. Ob der aktuelle Höhepunkt der Mobilisie- len (seit 2016), Rumänien (seit 2017), der Slowa- rung groß genug ist, um den speziellen Protest- kei (2018), Ungarn (seit 2018) oder auch bei den Wahl-Zyklus zu durchbrechen, hängt von vielen aktuellen Protesten in Serbien »#1od5miliona« länderspezifischen Faktoren ab. Das Jahr 1989 (Einer von fünf Millionen). hat aber gelehrt, dass Umbrüche in der Region sehr schnell vollzogen werden können. Wie frei sind die Wahlen? Die Proteste sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierungen durch Wahlen legitimiert sind. In vielen Ländern stellt Dr. Tobias Spöri forscht und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. sich aktuell die Frage, wie frei eine Wahl wirk- Seine Schwerpunkte sind politische Partizi- lich sein kann, wenn unabhängige Medien, die pation, das Erbe des Staatssozialismus sowie Korruptionsbekämpfung oder auch die instituti- die Transformationsprozesse in Zentral- und Osteuropa seit 1989. onelle Kontrolle der Regierung beschädigt oder kaum existent sind. Dies macht es auch für die 4 InfoEuropa
LADISLAV ZIKMUND-LENDER TSCHECHIEN Zwischen Toleranz und Ignoranz mit freundlicher Unterstützung von East Art Mags Es ist eine wechselvolle Geschichte der Ablehnung und Ausgrenzung, aber auch der Freiräume und Gemeinschaft, die das Leben von Nicht- Heteros bis heute begleitet. Der Kunsthistoriker LADISLAV ZIKMUND- LENDER gibt einen Einblick in die queere Kunst seines Heimatlandes. © Libuše Jarcovjáková / www.jarcovjakova.com Tschechoslowakei 1982 Die als queere Kunst bezeichneten Objekte ent- Jahren dank vieler herausragender homosexu- sprechen selten den traditionellen Vorstellun- eller FilmemacherInnen und -managerInnen gen eines kunstvollen Artefakts – eines großen, Queer-Personen anzog, und nicht zuletzt die goldgerahmten Bildes, einer Statue aus Marmor Wohnungen von Sammlern, deren thematisch oder einer farbenprächtigen Vase. Vielmehr einschlägige Bilder- oder Büchersammlungen handelt es sich dabei um scheinbar alltägliche zum Zentrum der queeren Kultur vor und nach Dinge wie Ansichtskarten, Bücher, Fotos, Mo- dem Zweiten Weltkrieg avancierten. deaccessoires oder Sammlerstücke vom Trödel- markt. Unter dieser Oberfläche des Vertrauten Homosexualität im Sozialismus entwickelten sie allerdings schon immer sub- versive Aktivität. Bedeutsam sind sie auch in Eine Queer Community der 50er Jahre war die ihrer Funktion als Zeugnisse, Requisiten und bereits seit zwei Jahrzehnten existierende Grup- Kulissen der queeren Soziabilität im Verlauf des pe um die Filmateliers Barrandov. Deren Direk- ganzen 20. Jahrhunderts. Exemplarisch dafür tor der Vorkriegszeit, der Unternehmer Miloš stehen etwa Ateliers von Gay-KünstlerInnen, in Havel, hat sich ganz offen zu seiner Homosexu- denen Künstlerkreise und Queer-Kommunen alität bekannt. Es figurieren hier bekannte Na- zusammenkamen und sich vernetzten, oder men von Gay-Künstlern wie der des Regisseurs die Filmindustrie, die bereits seit den 1930er- Václav Krška, František Čáp, des Schauspielers InfoEuropa 5
RUBRIKTITEL LOREM IPSUM Michelle Eduard Cupák oder des Kostümbildners und darstellen können.« Der Historiker Jan Seidl Adlerová: Malers Fernand Vácha. Es gibt eine Anekdote macht deutlich, wie immens die Tragweite von Untouched, photograph darüber, wie der extravagante Vácha in den 50er Freunds Untersuchungen war: 1961 wurde in der on aluminium, Jahren, also zur Zeit des härtesten Stalinismus, Tschechoslowakei als einem der ersten Länder series of two, 70 × 110 cm einen spontanen Karnevalsumzug durch Prag Europas die Strafbarkeit von Homosexualität each, 2011. initiierte. Man sollte sich nicht gleich den heuti- abgeschafft. Dies bedeutet allerdings nicht auto- gen Christopher Street Day vorstellen, die relati- matisch, dass es keine alltägliche Erniedrigung ve Offenheit vieler prominenter Prager Homose- oder Diskriminierung nicht gegeben hätte. xueller weist jedoch darauf hin, dass man weder Die andere Seite der Medaille war der Zu- für das kommunistische Regime stalinistischer sammenhalt der Queer-Communities, die sich Prägung in den 50ern noch für den staatlichen in sogenannten Salons trafen. Hier spielte sich Sozialismus in der Tschechoslowakei der 60er Kultur ab, wurden romantische Liebesbeziehun- bis 80er Jahre unreflektiert von einer simplen gen geknüpft, hier fand man therapeutische Hil- Fortsetzung der unverhohlen ideologischen Re- fe. Zu den berühmteren gehörten beispielsweise pression in der Kriegszeit ausgehen kann. die Prager Ateliers des Malers Karel Laštovka oder des Architekten Tomáš Fragner. Bei Karel Laštovka standen auch viele seiner Gäste Modell Salon-Kultur im Sozialismus für die zuweilen sehr offen homoerotischen Akte Für eine differenziertere Betrachtung sprechen oder Porträts. Die Zusammenarbeit vieler promi- auch der zeitgenössische medizinische wie juris- nenter Homosexueller, die solche Queer-Salons tische Diskurs: In den 50er Jahren wurden vom führten, mit dem Staatsapparat hatte zur Folge, Sexuologen Kurt Freund diverse Untersuchun- dass die um sie gruppierten Communities nicht gen zur Wirksamkeit der Konversionstherapie im Visier der Geheimpolizei und Staatsmacht durchgeführt. Die veröffentlichten Ergebnisse standen. Sie waren damit nicht ständig der Ver- wiesen nach, dass diese Therapie keine »Hei- folgung und den Repressalien der Mächtigen lung« bringen kann. Freund kam dann auch ganz ausgesetzt. explizit zum Schluss, dass »erwachsene Männer, die sexuellen Verkehr mit anderen erwachsenen Männern haben, nur in Ausnahmefällen für Ju- gendliche und wohl nie für Kinder eine Gefahr 6 InfoEuropa
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