Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen Towards Normality: Planning-related Protests and Reactions by ...

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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2020; 78(2): 185–201

Beitrag / Article                                                                                                Open Access

Grischa Frederik Bertram*, Uwe Altrock

Auf dem Weg zur Normalität:
Planungsbezogener Protest und planerische
Reaktionen
Towards Normality: Planning-related Protests
and Reactions by Planning
https://doi.org/10.2478/rara-2019-0059
Eingegangen: 11. Februar 2019; Angenommen: 14. Oktober 2019

Kurzfassung: Der Beitrag plädiert für eine stärkere Unterscheidung von Planungsprotesten, die Teil der täglichen
Planungspraxis sind. Es wird argumentiert, dass die Unterschiedlichkeit auch für differenzierte Reaktionen der
Planungsakteure genutzt werden kann. Skizziert wird der Forschungsstand sozialwissenschaftlicher Protest- und
Bewegungsforschung sowie die Besonderheit planungsbezogenen politischen Protests. Planungsprotest wird dabei
als kollektives Handeln und Form kommunalpolitischer Partizipation verstanden, die unabhängig von lokalstaatli-
chen Beteiligungsangeboten stattfindet und einen Bezug zur lokalen räumlichen Planung aufweist. Basierend auf
einer empirischen Erhebung und statistischen Untersuchung von mehr als 400 planungsbezogenen Bürgerprotes-
ten in Berlin zwischen 2005 und 2015, die durch zwei qualitative Fallstudien ergänzt werden, wird eine – orts- und
zeitspezifische –Typologie von neun Protestarten entwickelt. Die im Framing der Protestakteure artikulierten Pro-
testanlässe und Protestanliegen werden als alternative Problemlösungsansätze verstanden. Unterschieden werden
situationsbezogene und planungsabhängige sowie initiative und reaktive Protestformen. Diese inhaltliche Unter-
scheidung erscheint zwar in besonderem Maße für das aktuelle Protestgeschehen von Bedeutung und unterstreicht
dessen politischen Charakter, sie ist allerdings nur ein Teil der phänomenologischen Vielfalt. Auch die Reaktionen
sind fallspezifisch zu unterscheiden, wie das Merkmal der Betroffenheit bzw. Nicht-Betroffenheit der Protestakteure
verdeutlicht.

Schlüsselwörter: Protest, Partizipation, Planungsinhalte, Typologie, Berlin

Abstract: The paper argues for a stronger distinction within planning protests, which is today an everyday part of
planning practice. Furthermore, it is argued that the diversity of planning protest can also be used for differentiated
reactions of planning practitioners. It is possible and sensible to adopt theories from protest and social movements
research to better understand protest in planning, yet specifications for planning-related protest are needed. Plan-
ning protests are understood as collective action and form of local political participation, which takes place indepen-
dently participation offers and has a relation to local spatial planning. Based on an empirical survey and statistical
analysis of more than four hundred planning-related citizen protests in Berlin between 2005 and 2015, supported by
two qualitative case studies, a typology of nine protest types will be developed, that is specific in time and place. The
causes and claims articulated in the framing of protesters are understood as alternative approaches to solving plan-
ning problems. In particular, a distinction is made between situational and planning-dependent as well as initiative

*Corresponding author: Dr. Grischa Frederik Bertram, Universität Kassel, Stadterneuerung und Planungstheorie, Gottschalkstraße 22,
34127 Kassel, Deutschland, E-Mail: grischa.bertram@uni-kassel.de
Prof. Dr. Uwe Altrock, Universität Kassel, Stadterneuerung und Planungstheorie, Gottschalkstraße 22, 34127 Kassel, Deutschland

  Open Access. © 2020 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock, published by Sciendo.                 This work is licensed under the
Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
186       Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

and reactive types of protest. Differences in content appear to be of special importance for the current protests, but
also underline its political character. Yet, they are only part of the phenomenological diversity of planning protest and
reactions therefore are to be differentiated for every individual case. This will be highlighted with regard to protests
that are organised either by affected or unaffected citizens.

Keywords: Protest, Participation, Planning policy, Typology, Berlin

1 Planungsprotest: Eine                                       Planungspraxis darstellen kann. Im zweiten Kapitel wird
                                                              gezeigt, dass ein solcher analytischer Begriff, der weder
Einführung                                                    zu stark vereinfacht noch normativ ist, auf der Grundlage
                                                              der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungs-
Planungsprotest scheint derzeit in Planungspraxis und
                                                              forschung zunächst zu zwei Perspektivwechseln führt:
Fachdebatten allgegenwärtig. Spätestens, seitdem mit
                                                              Einerseits wird Planungsprotest als normaler Bestand-
„Stuttgart 21“ ein lokaler planungsbezogener Protest
                                                              teil stadtpolitischer Prozesse angesehen und anderer-
auch bundesweit Schlagzeilen machte, sind Bürger-
                                                              seits werden für seine Analyse nicht die Instrumente
proteste und ihre (vermeintliche) Zunahme ein häufi-
                                                              und Verfahren, sondern Planungs- bzw. Protestinhalte
ges Thema. Dabei scheint der Stuttgarter Fall kaum
                                                              in den Mittelpunkt gestellt. Im dritten Kapitel wird disku-
verallgemeinerbar. Gibt es überhaupt so etwas wie
                                                              tiert, inwiefern sich ein eigenständiger planungswissen-
typische Planungsproteste? Oder verschiedene Arten?
                                                              schaftlicher Protestbegriff von sozialwissenschaftlichen
Planungstheorie und Planungsforschung sind bislang
                                                              Ansätzen emanzipieren muss. Im vierten Kapitel werden
kaum in der Lage, hierauf Antworten zu geben (vgl. aber
                                                              empirische Daten zu planungsbezogenem Bürgerpro-
erste Ansätze bei Othengrafen/Sondermann 2015), fehlt
                                                              test in Berlin, die im Rahmen des DFG-geförderten For-
ihnen doch schon ein Protestbegriff, der nicht allein der
                                                              schungsprojekts „Muezzine, Fluglärm, Touristification &
Umgangssprache entlehnt ist. Dies ist insofern verwun-
                                                              mehr“ erhoben worden sind, beispielhaft für eine ana-
derlich, als es nicht nur erhebliche Unterschiede zwi-
                                                              lytische Unterscheidung unterschiedlicher Protestarten
schen dem Selbstverständnis der Protestierenden und
                                                              genutzt, die auch Möglichkeiten für eine Generalisierung
der Zuschreibung durch Planende gibt, sondern auch
                                                              erkennen lassen. Anschließend wird der Frage nach-
innerhalb der Planung selbst: Die einen sehen Protestie-
                                                              gegangen, ob eine solche Typologie auch einen diffe-
rende als „Störenfriede“ (Selle 2011a: 1) an und Protest in
                                                              renzierten planungspraktischen Umgang mit Protesten
der Planung wird als Protest gegen Planung verstanden,
                                                              ermöglicht (vgl. Kapitel 5). Im sechsten Kapitel wird dis-
der das normale Planungsverfahren durch irrationales
                                                              kutiert, inwiefern Planungsprotest als Normalität Teil von
und affektives Verhalten störe und zu einem „Ausnah-
                                                              Demokratisierungsbemühungen in der lokalen räumli-
mezustand“ führe (Selle 2013: 24). Bei anderen besteht
                                                              chen Planung sein kann.
eine empathische Fürsprache, die nicht zuletzt aus der
Entzauberung des rationalen Planungsmodells durch
Protest herrührt, in dessen Folge in der Disziplin selbst
ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat (Holm/Kuhn            2 Politischer Protest
2010: 107; Haughton/Gilchrist/Swyngedouw 2016: 486).
Überraschenderweise führt beides bislang nicht zu einer
                                                              in der Protest- und
tiefergehenden Analyse, und es besteht im Wesentlichen        Bewegungsforschung
Einigkeit darüber, dass bessere Planungsverfahren die
beste Antwort auf Planungsprotest sind (Krau 2011): ent-      In den Sozialwissenschaften wird Protest als kollektives
weder weil so die Fehlinterpretationen der Protestieren-      politisches Handeln und als Form politischer Partizipa-
den durch bessere Kommunikation aufgedeckt oder weil          tion unabhängig von Wahlen und weiteren kommuna-
Fehler in der Planung korrigiert werden könnten (Lopes        len und staatlichen Beteiligungsangeboten verstanden
de Souza 2006: 338; Selle 2011b: 2).                          (Rucht 2001; vgl. auch Bertram/Altrock 2017). Demnach
     Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, ob ein          führen rationale Entscheidungen zu Protest und nicht
analytischer Begriff von Planungsprotest eine planungs-       kollektives Verhalten (Melucci 1985; Tarrow 2011). Bis zu
theoretische Unterscheidung ermöglicht und einen              einem Paradigmenwechsel ab Ende der 1960er-Jahre
Ansatzpunkt für einen angemesseneren Umgang in der            wurden Proteste als emergente Phänomene innerhalb
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weitgehend ungesteuerter Massen angesehen, die                   (1977) mittlerweile durch eine Vielzahl von Autoren und
affekthaft auf Strukturbrüche reagieren, und ihr Auftre-         Autorinnen bestehen (etwa Mayer 2008; Künkel/Mayer
ten sozialpsychologisch erklärt (Tarrow 2011: 22). Heute         2012; Vogelpohl/Vollmer/Vittu et al. 2017; vgl. dazu kri-
hingegen gelten Proteste als normale Ausdrucksform               tisch Bertram 2013).
gut informierter, kompetenter und mit den notwendigen                 So wurde bereits im Forschungsprojekt zunächst
Ressourcen ausgestatteter Bürgerinnen und Bürger, die            eine Begrenzung auf lokal- bzw. stadtpolitischen Protest
Protestnetzwerke gründen. Damit folgt die Analyse letzt-         vorgenommen. Planungsproteste sind lokalpolitisch,
lich der Forschung zu den seit den 1970er-Jahren viel-           wenn sie im Sinne von Fainstein und Fainstein (1985:
fach untersuchten so genannten Bürgerinitiativen (vgl.           189) „[are] rooted in collectivities with a communal base
etwa Eckert 1970; Schiller 1970; Guggenberger 2009).             and/or with the local state as their target of action”. Nicht
Kern der Definitionsansätze ist die Vorstellung von              berücksichtigt wurden insbesondere solche Proteste, die
anlassbezogenen Zusammenschlüssen, die sich weit-                den Stadtraum als „Bühne“ (Lindner 1996: 414) nutzten,
gehend ad hoc, aber eben nicht „spontan“, während der            aber auf überlokale Politiken bezogen waren. Auf eine
sozialen Konstruktion des Protests gründen (Roth/Rucht           Unterscheidung zwischen Kommunal- und Landespolitik
2008: 17) und sich „um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens          wurde in diesem Beitrag verzichtet.
bemühen“ (Guggenberger 2009: 40).                                     Proteste werden in diesem Beitrag als planungs-
     Der Begriff „Initiative“ hebt aufgrund des häufig reakti-   bezogen betrachtet, wenn dieser Bezug innerhalb des
ven Charakters für Guggenberger (2009: 39) eher auf „das         sozialen Konstruktionsprozesses der Protestformation
Moment des unmittelbaren Tätigwerdens des Bürgers“               hergestellt wird. Dabei wurde maßgeblich das strate-
und nicht auf Inhalte ab, doch wird darin auch eine „dop-        gische Framing der Protestakteure zugrunde gelegt,
pelte Signatur“ des Protests deutlich, auf die vor allem         eine Mobilisierungsstrategie von Protestakteuren zur
Rucht (2001: 9) hinweist: Protestierende richten sich nicht      Verstärkung und Erweiterung von Anlässen, Anliegen
nur gegen eine als Herausforderung wahrgenommene                 und Motivationen (Snow/Benford 1988). Entsprechend
Situation, Norm oder Planung, sondern treten zugleich            können Aussagen von Protestakteuren genutzt werden,
für eine Änderung ein und fordern gegebenenfalls sogar           um zu prüfen, ob sie ihre Anlässe und/oder Anliegen im
die Einleitung eines Planungsverfahrens. Hierin wird ein         Bereich der lokalen räumlichen Planung sehen: Werden
politischer Charakter des Planungsprotests deutlich (vgl.        Planungsinhalte oder Planungsverfahren als Herausfor-
Kapitel 5.1): Protest wird in der sozialwissenschaftlichen       derung bzw. Problem beschrieben, weil der Konflikt ver-
Literatur aufgrund des Willens zur gesellschaftlichen            ursacht, verstärkt oder nicht zufriedenstellend bearbeitet
Veränderung und wegen seines kollektiven Charakters              wird, wird die lokale räumliche Planung zum Protestan-
als politisch betrachtet (Goodwin/Jasper 2003: 3; Tarrow         lass. Werden Planungsinhalte oder Planungsverfahren
2011: 7). Gamson (1975: 14, 143) hebt hervor, dass daraus        von den Protestierenden als (Teil der) Problem- bzw.
eine ähnliche Motivationsvielfalt resultiert wie für andere      Konfliktlösungen gefordert, wird sie zum Protestanlie-
politische Strategien: Ziele können Einfluss, Mobilisierung      gen. Unabhängig vom Framing wird der Bezug herge-
von Anhängerinnen und Anhängern sowie (politischer)              stellt, indem Planungsinstitutionen direkt oder indirekt
Nutzen sein. Erfolgreicher Protest kann dazu führen, dass        adressiert werden, ihnen also von Protestierenden, den
Protestierende Teil der politischen Elite werden.                Protestobjekten oder Dritten eine Rolle im Konflikt zuge-
                                                                 schrieben wird.
                                                                      Angesichts der divergierenden Auffassung darüber,
3 Die Besonderheit                                               wo die Grenzen der „Rubrik ‚Planung‘“ (Lennon 2017:
                                                                 147; eigene Übersetzung) verlaufen, wurde der Bezug
planungsbezogenen politischen                                    graduell in vier Stufen unterschieden: Werden Verfahren
Protests                                                         und Inhalte der lokalen räumlichen Planung einschließ-
                                                                 lich gemeindlicher/städtischer sektoraler Planungen mit
Die diesem Beitrag zugrunde liegenden empirischen                Bodenrecht direkt benannt, ist der Bezug am größten,
Untersuchungen zeigen, dass der wertfreie sozialwis-             etwa dort, wo Planwerke oder Flächennutzungen kriti-
senschaftliche Protestbegriff planungswissenschaftlich           siert werden. Werden hingegen nur ‚Beiträge zur räumli-
adaptiert werden kann. Zugleich erscheint es erforder-           chen Entwicklung‘ stadtpolitischer Akteure benannt, wird
lich, ihn planungsbezogen zu spezifizieren – gerade              von einem losen Planungsbezug ausgegangen. Hierun-
auch in Abgrenzung zu vielfältigen Angeboten zu ‚städ-           ter fallen etwa viele mietenpolitische Proteste, die in der
tischen‘ Bewegungen, wie sie ausgehend von Castells              Erhebung dokumentiert wurden. Proteste mit nur losem
188       Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

Planungsbezug werden im Beitrag nicht berücksichtigt.         lich wurden über leitfadengestützte Experteninterviews
Aufgenommen wurde jedoch ein breites Spektrum von             und Beobachtungen städtischer Räume weitere Daten-
Protesten mit Bezug zu Verfahren, Maßnahmen und               quellen erschlossen. Dieser Methodenmix diente dazu,
Vorhaben, die der kommunalen räumlichen Planung               die Wahrnehmungsschwelle von Tageszeitungen zu
nach- oder übergeordnet sind, sowie zu Inhalten, die          überwinden und Proteste mit geringerer Öffentlichkeits-
(potenziell) Teil raumbezogener Stadt(teil)entwicklungs-      wirkung einzubeziehen. Sämtliche hinreichend doku-
pläne sind.                                                   mentierten, planungsbezogenen und stadtpolitischen
                                                              Protestereignisse (im Sinne der Operationalisierung
                                                              in Kapitel 3) zwischen 2005 und Juni 2015 und einem
                                                              Anlassort innerhalb der Berliner Landesgrenze wurden
4 Zur Vielfalt des                                            in einer Datenbank erfasst und mit 31 Merkmalen zur
Planungsprotests am Beispiel                                  Vereinheitlichung der Daten und statistischen Analysen
                                                              mittels PSPP, einer Software zur Analyse statistischer
der Protestinhalte                                            Daten, verschränkt (Häufigkeiten, Erwartungswerte,
                                                              Kreuztabellierung). Zwei Protestereignisse wurden in
4.1 Methodischer Zugang und                                   qualitativen Fallstudien in Bezug auf Verlauf, Akteurhan-
empirischer Hintergrund                                       deln und Voraussetzungen vertieft untersucht.
                                                                   Als ein erstes Ergebnis bestätigt die Erhebung
Wendet man die im vorherigen Kapitel skizzierte Defini-       die Annahme, dass es in den letzten Jahren zu einem
tion auf die empirische Erhebung an, wird deutlich, wie       Anstieg der Zahl bürgerschaftlicher lokaler Planungs-
alltäglich und vielgestaltig Planungsproteste inzwischen      proteste gekommen ist (vgl. Walter 2013). Greift man
geworden sind. Um sie angemessen in die planungswis-          aus dem Untersuchungszeitraum nur die Jahre 2007 bis
senschaftliche Prozessforschung einordnen zu können,          2013 heraus, in denen ein Protest mit einer durchschnitt-
ist eine Typologisierung erforderlich.                        lichen Dauer von gut zweieinhalb Jahren von Anfang
      Den empirischen Hintergrund des Beitrags bildet         bis Ende erfasst werden konnte und somit eine valide
das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Muezzine,               Aussage zur Fallzahlentwicklung möglich ist, so hat sich
Fluglärm, Touristification & mehr – Vorstudie zu aktuel-      die Anzahl in diesem Zeitraum beinahe verdoppelt. Auch
lem bürgerschaftlichen Protest in der lokalen räumlichen      wenn man davon ausgeht, dass die Fallzahlen der Inter-
Planung in Berlin“, in dessen Rahmen für den Zeitraum         netanalyse schon aufgrund der Bedeutungszunahme
von 2005 bis 2015 416 Planungsproteste in Berlin iden-        des Mediums und wegen der Löschung von Internet-
tifiziert und näher untersucht worden sind (vgl. Bertram      seiten ansteigen müssen und die Werte entsprechend
2019). Der Beginn des Untersuchungszeitraums wurde            rechnerisch korrigiert werden, bleibt es bei einem deutli-
so gewählt, dass damit einige Jahre vor einer vermu-          chen Anstieg der Fallzahlen. Abbildung 1 zeigt, wie viele
teten Wachstumsphase zwischen 2008 und 2011 abge-             Proteste in den Jahren 2007 bis 2013 begonnen und
deckt waren. Da die Erhebung in den Jahren 2015 und           beendet wurden (bzw. für die erst- bzw. letztmalig Pro-
2016 stattfand, konnten spätere Protestereignisse nicht       testereignisse registriert wurden) sowie die Summe aller
erfasst werden. Grundlegende Erhebungsmethode war             zum jeweiligen Zeitpunkt begonnenen, aber noch nicht
die Protestereignisanalyse, die im Rahmen der bun-            beendeten Proteste (auch bei einem Beginn vor 2007
desweiten Längsschnitterhebung PRODAT1 entwickelt             oder einer Phase der Latenz).
und erprobt worden war, sich allerdings auf eine struk-            Erstaunlich ist die Anzahl der Teilnehmerinnen und
turierte Inhaltsanalyse von Zeitungen beschränkte (vgl.       Teilnehmer: Unabhängig vom jeweiligen Umfang der
Rucht/Ohlemacher 1992). Im genannten Projekt wurde            Protestaktivität haben sich zwischen Januar 2005 und
das inhaltsanalytische Verfahren deshalb ergänzend            Juni 2015 mindestens 2,6 Mio. Menschen nachweislich
auf Internetseiten, soziale Medien und Polizeidaten zu        an Planungsprotesten in Berlin beteiligt.2 Dem stehen im
politisch motivierter Kriminalität ausgeweitet. Zusätz-
                                                              2 Zur Ermittlung dieser Zahl wurde die höchste in der
                                                              Datengrundlage genannte Teilnehmerzahl eines Planungsprotests
1 Das Forschungsprojekt „Dokumentation und Analyse von        festgehalten und für alle Proteste addiert. Relativierend muss
Protestereignissen in der Bundesrepublik“ (PRODAT) wurde      hier eingeräumt werden, dass auch die mehr als 700.000
zwischen 1993 und 2007 am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)   Teilnehmenden am Bürgerbegehren zum Tempelhofer Feld in
durchgeführt. Dabei wurde insbesondere eine lange Zeitreihe   die Gesamtzahl eingingen und viele Protestierende vermutlich
politischer Proteste für die Jahre 1950 bis 2002 erstellt.    mehr als einmal gezählt wurden. Dem steht gegenüber, dass bei
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen       189

 160
                                                                                       aufstrebenden Dienstleistungsökonomie (vgl. Brake
 140
                                                                                       2012). Die wachsende Bevölkerung traf und trifft unter
 120
                                                                                       anderem auf ehemalige Hausbesetzer und Hausbeset-
 100
                                                                                       zerinnen, ein kreatives Prekariat sowie ehemalige Ost-
  80                                                                                   Berliner Regimekritiker und Regimekritikerinnen, sodass
  60                                                                                   gute Ausgangsbedingungen beispielsweise für einen
  40                                                                                   Protest eher kapitalismuskritischer Milieus gegen global
  20                                                                                   agierende Investoren bestehen.
   0                                                                                        Überregionale Aufmerksamkeit und lokalen Wider-
       2007       2008       2009           2010        2011        2012        2013
         erstes bekanntes Protestereignis          letztes bekanntes Protestereignis
                                                                                       stand hat etwa der Vorhabenkomplex „Mediaspree“ zur
         laufende Proteste                                                             Überformung des Friedrichshain-Kreuzberger Spree-
                                                                                       ufers durch international agierende Medienkonzerne
Abbildung 1: Fallzahlentwicklung für laufende Planungsproteste,                        ausgelöst (vgl. Dohnke 2014). Die Auseinandersetzung
erste und letzte Protestereignisse in Berlin zwischen 2007 und                         um die Zukunft des teilweise öffentlich zugänglichen
2013 (korrigierte Werte; N = 416)                                                      Uferbereichs und dessen befürchtete Privatisierung kul-
                                                                                       minierte 2008 in einem Bürgerentscheid, der Investoren
Untersuchungszeitraum insgesamt 5,4 Mio. Menschen                                      und Senat mindestens zu einem Strategiewechsel bei
gegenüber, die irgendwann in Berlin gemeldet waren3                                    deren Durchsetzung zwang.
und bei drei Abgeordnetenhauswahlen insgesamt 2,9                                           Doch man sollte sich nicht täuschen: Vielfach
Mio. Zweitstimmen abgegeben haben. Politischen Par-                                    handelt es sich bei den Protesten gar nicht um den Aus-
teien gehörten als Mitglieder zirka 74.000 Menschen an.                                druck von Widerstand gegen spektakuläre Übernahmen
Im Durchschnitt dauerten die identifizierten Proteste 2,7                              kreativ zwischengenutzter innerstädtischer Flächen
Jahre, sodass im Mittel jeweils 107 gleichzeitig liefen –                              durch Akteure eines global vernetzten Kapitalismus. Im
bei maximal 190 zu einem Zeitpunkt laufenden Protesten                                 wohl bekanntesten Fall, dem Protest gegen eine Teilbe-
im Jahr 2014.                                                                          bauung des ehemaligen Tempelhofer Flugfelds in West-
     Planungsproteste können insofern mit Fug und                                      Berlin, trauten die Gegnerinnen und Gegner gerade
Recht als alltägliche Ereignisse betrachtet werden. Dies                               dem lange Zeit beliebten Senat aus einer Koalition von
ist nicht allein als Abgrenzung zu umfassenderen Pro-                                  SPD und Die Linke unter Klaus Wowereit nicht mehr. Er
testen auf übergeordneten politischen Ebenen anzuse-                                   hatte unter anderem versprochen, landeseigene Woh-
hen (vgl. Haughton/Gilchrist/Swyngedouw 2016). Viel-                                   nungsgesellschaften mit der Realisierung von Sozial-
mehr zeigt sich darin ihre Selbstverständlichkeit und                                  wohnungen zu betrauen und verstreut angesiedelte
schiere Häufigkeit. Man kann vermuten, dass dieser                                     Bibliotheksstandorte zu vereinen. Zumeist stellen sich
Befund der besonderen politischen Möglichkeitsstruk-                                   die Proteste weniger spektakulär und oft gewisserma-
tur in Berlin geschuldet ist – (West-)Berlin ist nicht nur                             ßen ‚bürgerlicher‘ dar als im Beispiel „Mediaspree“. Dro-
als Hochburg der Studierendenbewegung und alterna-                                     hende Mietsteigerungen durch Sanierungsmaßnahmen
tiver Bewegungen bekannt geworden. Den 15 bis 25                                       gehören genauso dazu wie die Bebauung von Baulü-
Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung liegenden                                   cken, die als wichtige kleine Freiflächen in einer dicht
Untersuchungszeitraum prägten die Folgen eines mas-                                    bebauten Innenstadt betrachtet werden. Die Fällung von
siven sozioökonomischen Transformationsprozesses,                                      Bäumen, der Abriss von Gebäuden, die Einführung einer
der vielerorts zur Notwendigkeit geführt hat, die Pro-                                 Parkraumbewirtschaftung oder die Erhebung von Stra-
duktion städtischer Räume neu zu verhandeln. Dabei                                     ßenausbaubeiträgen werden genauso zum Gegenstand
ging es nach dem Abbau der Berlin-Subventionen und                                     von Protesten wie der Unmut über Bahnlärm oder das
der Wiedergewinnung der Hauptstadtfunktion um Ent-                                     Fehlen eines Zebrastreifens. Die Zahlen der Beteiligten
wicklungen von der Wiedernutzung vormals brachgefal-                                   und die Aktionsformen deuten darauf hin, dass Proteste
lener Flächen bis zum Umgang mit einem inzwischen                                      mit eindeutigerem Planungsbezug tendenziell umfang-
beträchtlichen Bevölkerungswachstum im Umfeld einer                                    reicher und in gewisser Weise auch ‚spektakulärer‘ sind.
                                                                                            Besonders augenfällig bringen die zwei im DFG-
                                                                                       Projekt in Fallstudien vertieft untersuchten Vorhaben auf
vielen Protesten gar keine Teilnehmerzahl bekannt ist, die in die
Ermittlung der Gesamtzahl hätte eingehen können.
                                                                                       den Punkt, dass sich Planungsproteste in Berlin pau-
3 Zugleich waren maximal 3,7 Mio. Menschen zu einem Zeitpunkt                          schalen Darstellungen entziehen. Das erste Vorhaben,
gleichzeitig in Berlin ansässig.                                                       im Südosten Berlins, betrifft die Planung einer größe-
190       Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

ren überbezirklichen Hauptverkehrsstraße im Umfeld             NIMBY-Proteste4 zu, denen aufgrund einer (vermeintli-
eines weitgehend durch Einfamilienhäuser geprägten             chen) Abwehrhaltung eine geringe Gemeinwohlorien-
Stadtteils. Entgegen der Vermutung, dass die Sorge vor         tierung unterstellt wird (vgl. dazu kritisch Lake 1993). In
zusätzlichem Verkehr und dessen Auswirkungen eine              der angloamerikanischen Literatur werden dem Begriff
prinzipielle Ablehnung vor Ort hätte auslösen können,          weitere Akronyme zur Seite gestellt (vgl. Menzl 2014),
ging es dort aber gar nicht um die grundsätzliche Sinn-        sodass hier so etwas wie eine Typologie ablehnender
haftigkeit der Straße. Vielmehr setzten sich die Protes-       Fremdzuschreibungen entsteht. Da Planungsproteste
tierenden für die Umsetzung einer abgeänderten Pla-            häufig gemeinsam mit städtischen Bewegungen betrach-
nungsalternative ein, die vor Ort im Planungsprozess           tet werden, gibt es in der entsprechenden Literatur eine
durchaus in Betracht gezogen worden war. Die Protes-           Vielzahl von Unterscheidungs- bzw. Abgrenzungsan-
tierenden erreichten mit ihrer konstruktiven Mitwirkung        sätzen. So unterscheidet bereits Castells (1977) urbane
eine Neubewertung der Alternativen, die letztlich zu           „Soziale Bewegungen“ und Proteste nach ihrem revolu-
einer veränderten Einschätzung der jeweils zu erwarten-        tionären oder reformorientierten Potenzial. Künkel und
den Auswirkungen führte.                                       Mayer (2012) greifen beispielsweise aus aktuellen städ-
     Das zweite Vorhaben drehte sich um die Umwand-            tischen Mobilisierungen solche heraus, die sich gegen
lung einer innenstadtnahen Kleingartenfläche in der            den städtischen Neoliberalismus richten und Vollmer
westlichen Innenstadt in ein Wohnquartier. Möglich             (2017) unterscheidet munizipalistische und rechtspopu-
geworden ist sie nicht etwa deswegen, weil in Zeiten           listische Bewegungen entsprechend ihrer Zielsetzun-
einer entfesselten Wohnungsnachfrage die städtische            gen.
Politik auf eine forcierte Überbauung drängte. Vielmehr              Innerhalb solch vielfältiger Unterscheidungsansätze
versuchte der Bezirk über lange Zeit vergeblich, die           wird hier ein empirisch begründetes analytisches Vor-
Fläche als Kleingartenfläche zu sichern. Er scheiterte         gehen gewählt, um Planungsproteste systematisch und
aber, als nach einem Grundstücksgeschäft Entschädi-            vollständig zu erfassen. Entgegen den häufig dominie-
gungsansprüche durch den neuen Eigentümer aufgrund             renden prozessualen Fragen – Welche Verfahren und
der rechtlich umstrittenen Tragweite eines historischen,       Beteiligung? Zu welchem Zeitpunkt? – werden hierfür
aber gleichwohl weiterhin gültigen Plans befürchtet            die Protest- bzw. Planungsinhalte herangezogen.
wurden. Der anfängliche Kleingärtnerprotest gipfelte           Anders als im NIMBY-Diskurs werden sie allerdings
schließlich in einem Bürgerentscheid, der weit über die        aus den Selbstbeschreibungen der Protestierenden
lokalen Akteure hinaus Zustimmung fand und mit dem             bestimmt. Die Untersuchung prozessualer Faktoren ist
Willen der bezirklichen Politik übereinstimmte.                dann ein zweiter Schritt (vgl. Kapitel 5), der sich durch
     Schon diese Einblicke machen deutlich, wie komplex        die vorangestellte Analyse der Inhalte auch nicht allein
die Protestwirklichkeit in Berlin ist. Die im Folgenden dar-   auf Möglichkeiten zur ‚Verhinderung‘ von Planungspro-
gestellten empirischen Befunde sollen im Zusammen-             test begrenzen muss.
hang mit dem Versuch einer Protest-Typologie einen                   Ausgangspunkt ist das „strategische Framing“, das
ersten Schritt auf dem Weg zu einem solchen vertieften         seit Snow/Rochford/Worden et al. (1986; vgl. Kapitel 1.2)
Verständnis ermöglichen.                                       als ein wichtiges Protestmittel Eingang in die Protest-
                                                               forschung gefunden hat. Die von Protestakteuren diag-
                                                               nostizierten Probleme werden dabei als Anlässe, prog-
4.2 Planungsinhalte als zentraler Anlass                       nostizierte Lösungsvorschläge als Anliegen bezeichnet.
für Planungsproteste                                           Anders als in der planerischen Debatte spielen unter
                                                               den 416 Fällen des Forschungsprojektes verfahrens-
In der deutschsprachigen Literatur entwickelten Othen-         bezogene Anlässe und Anliegen kaum eine Rolle (vgl.
grafen und Sondermann (2015: 12 f.) eine Einteilung            Abbildung 2). Nur sehr wenige Protestierende bemän-
nach Protestursachen mit vier sich gegebenenfalls              geln hauptsächlich fehlende Beteiligung oder Verfah-
überlagernden Konfliktarten (Ziel-, Werte-, Mittel- sowie      rensfehler. Meist beziehen sie sich in der Hauptsache
strukturelle Konflikte). Planungsproteste seien stets          auf materielle Konflikte in der gegenwärtigen räumlichen
Betroffenenproteste. In ähnlicher Weise sind es auch an        Situation oder als Ergebnis eines bestehenden Trends,
anderer Stelle eher Abgrenzungen einzelner phänome-            einer vorgeschlagenen Planung oder eines angestreb-
nologisch begründeter Protestarten, die nur ansatzweise        ten Bauvorhabens. Ihr wesentliches Ziel ist ein konkreter
zutreffend charakterisiert werden. Das trifft insbesondere
auf die in der internationalen Literatur häufig benannten      4 NIMBY = Not in my backyard.
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen       191

    Anlass

  Anliegen

             0    50      100    150        200      250     300      350   400    450
                          Planungsinhalte         Planungsverfahren

Abbildung 2: Anteil der Planungsinhalte und Planungsverfahren als Anlässe und Anliegen von Planungsprotesten in Berlin zwischen
2005 und 2015 (N = 416)

Lösungsvorschlag zu einem Stadtentwicklungsproblem,                    zu bringen, was das Bezirksamt verweigerte. Das Bei-
eine Alternative zu bestehenden Plänen. In anderen                     spiel zeigt, dass die Problemlösungsansätze konflikthaft
Fällen besteht das Anliegen gerade darin, als negativ                  sind und widersprüchliche Ansätze für Gegenwart und
wahrgenommene Situationen oder ‚ungeplante‘ Ent-                       Zukunft der gebauten Umwelt beschreiben. Es bedeutet
wicklungen als Planungsaufgabe zu erkennen.                            aber auch, dass Protestforderungen häufig weder unan-
                                                                       gemessen noch unerfüllbar sind.
                                                                            Obwohl Anlässe und Anliegen dem strategischen
4.3 Planungsproteste als alternative
                                                                       Framing der Protestierenden entstammen, lassen sie
Problemlösungsansätze: eine                                            sich auch als Basis für eine analytische Unterscheidung
planungsbezogene Typologie von                                         von Planungsprotesten nutzen. Da sich die zumeist
Protestarten                                                           konkreten Lösungsansätze stark auf die lokale Planung
                                                                       beziehen, ist eine auf ihnen aufbauende Typologie
Betrachtet man das Gesamtspektrum der erfassten                        grundsätzlich bedeutsam. Dennoch ist der Erklärungsan-
Proteste überwiegt zunächst der Eindruck der Vielfalt.                 satz beschränkt auf Zeit und Ort der empirischen Basis.
Einzelne Planungsproteste können danach unterschie-                    Die in Tabelle 1 gezeigten und im Folgenden beschrie-
den werden, ob sich Betroffene oder Nichtbetroffene                    benen neun Protestarten sind für Berlin zwischen 2005
beteiligen (vgl. Kapitel 5.3), welche Planungsfelder und               und 2015 gültig. Die analytisch gebildeten Kategorien
Planungsinstrumente angesprochen werden und welche                     erscheinen aber prinzipiell übertragbar. Insofern wird
Organisationsform die Protestnetzwerke ausbilden. Die                  Berlin als empirische Grundlage im Folgenden vor allem
hier vorgenommene Fokussierung auf Problemlösungs-                     als Illustration der grundsätzlichen analytischen Unter-
ansätze stellt insofern eine deutliche Reduktion der                   scheidungen verwendet.
Komplexität dar. Zugleich zeigt sich bereits eine hohe                      Um zu einer Kategorisierung der Protestarten zu
Diversität.                                                            gelangen, werden die vielfältigen Anlässe und Anliegen
    Im Gegensatz zu überlokalen Protesten und sozialen                 jeweils anhand stark vereinfachter Kriterien unterschie-
Bewegungen sind Anlässe und Anliegen von Planungs-                     den (in Tabelle 1 durch Linien voneinander getrennt).
protest in der Regel konkret. Protestierende benennen                  Anlässe werden danach unterschieden, ob sie sich auf
beispielsweise ein bestimmtes Planungsdokument oder                    bestehende Situationen im Stadtraum beziehen (situati-
die vorgesehene Zerstörung eines historischen Gebäu-                   onsbezogene Anlässe) oder ein Planungsvorhaben den
des als Anlass und fordern, dies zu verhindern, abzu-                  Ausgangspunkt bildet (planungsabhängige Anlässe).
schwächen oder zu verändern. In einigen Fällen schla-                  Diese einfache Differenzierung zeigt zunächst, ob Pro-
gen sie auch konkrete alternative Lösungen, manchmal                   testierende eine Veränderung der gebauten Umwelt
sogar eigene Pläne vor. Damit ist es im Planungskontext                einschließlich ihrer ‚ungeplanten‘ Dynamiken wünschen
möglich, die ‚doppelte Signatur‘ aus Anlass und Anlie-                 oder ob die lokale räumliche Planung eine Veränderung
gen als alternativen Problemlösungsansatz aufzufas-                    vorsieht und damit den Protest verursacht. Die Anliegen
sen. Protestierende greifen dabei oft unberücksichtigte                werden in die drei Kategorien Ablehnung, Änderungen
Alternativen aus offiziellen Planungsdokumenten auf. Im                und Eigeninitiativen eingeteilt. Während die genaue
Fall der Berliner Kleingärten forderten sie etwa, einen                Form der Ablehnung vom Anlass abhängt (vgl. nach-
beschlossenen Bebauungsplanentwurf zur Rechtskraft                     folgend unter „Planungsabhängige Planungsproteste“),
192          Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

Tabelle 1: Schematische Aufteilung der Arten aktueller planungsbezogener Proteste in Berlin

Anlass                      Anliegen
                            primär reaktiv                                                          primär initiativ
                            Ablehnung                             Änderung

planungsabhängig            Neubauabwehrproteste                  Planungsänderungsproteste         Abwehrinitiativproteste

                            Zerstörungsabwehrproteste

                            Umstrukturierungsabwehrproteste

                            Gestaltungsabwehrproteste

                            Wirkungsabwehrproteste

situativ                    Situationsabwehrproteste                                                Situationsinitiativproteste

Tabelle 2: Anteile der Planungsprotestarten in Berlin zwischen 2005 und 2015 (N = 416)

Protestart                                                                  Anteil

planungsabhängig               Neubauabwehrproteste                         16 %
                                                                                              zusammen
                               Zerstörungsabwehrproteste                    9%
                                                                                              53 %
                               Umstrukturierungsabwehrproteste              7%                (Planungsabwehrproteste)

                               Gestaltungsabwehrproteste                    9%

                               Wirkungsabwehrproteste                       12 %

                               Planungsänderungsproteste                    12 %

                               Abwehrinitiativproteste                      7%

situativ                       Situationsabwehrproteste                     17 %

                               Situationsinitiativproteste                  10 %

wollen Änderungsproteste Planungen nicht gänzlich                   Situationsbezogene Planungsproteste
verhindern, sondern abwandeln. Eine sehr deutliche                  Der wesentliche Anlass von mehr als einem Viertel der
Abgrenzung zu ablehnenden Protesten findet sich in                  dokumentierten Proteste ist nicht ein Planungsprozess,
einer der beiden Fallstudien: Die Bürgerinitiative formu-           sondern eine bestehende Situation (27 %). Letztere stellt
lierte hier als Motto: „[Schnellstraße] ja, aber nicht so!“.        sich für die Protestierenden dabei durchaus unterschied-
Eine dritte Kategorie umfasst sämtliche Forderungen,                lich dar. Situationsbezogene Planungsproteste zeigen
die eigene (Planungs-)Ideen der Protestierenden in den              die kleinen und großen Probleme, die Bürgerinnen und
Vordergrund stellen. Wo Bürgerinnen und Bürger initiativ            Bürger in der gebauten Umwelt wahrnehmen. Gleichzei-
werden und nicht (nur) reaktiv bleiben, wird für viele der          tig bleibt die geforderte planerische Lösung dieser Prob-
positive Aspekt von Protest am deutlichsten.                        leme häufig unscharf.
     Tabelle 2 zeigt, dass mehr als die Hälfte der erfassten              Gentrifizierung und andere Formen städtischer
Proteste Planungsabwehrproteste sind. Entsprechend                  Restrukturierung zählen zu den häufigsten Anlässen von
der abgelehnten Planungsinhalte wurden hier fünf Pro-               Situationsabwehrprotesten. Bemerkenswert ist, dass
testarten unterschieden. Die nachfolgende Beschreibung              diese auch im Stadtentwicklungsdiskurs der vergange-
gliedert sich anhand der prinzipiellen Unterscheidung in            nen Jahre zentralen Themen durch die Protestakteure
situationsbezogene und planungsabhängige sowie reak-                eben nicht direkt mit Planungen in Verbindung gebracht,
tive und initiative Planungsproteste. Da reaktive Proteste          sondern als allgemeine Trends dargestellt werden. Situ-
die Mehrheit der situationsbezogenen und planungsab-                ationsinitiativproteste sind hingegen in der Regel klein-
hängigen Proteste darstellen und ohnehin dem gängi-                 teilig und formulieren ‚einfache‘ Lösungen für das direkte
gen Protestverständnis am nächsten kommen, ist eine                 Lebensumfeld. Ein Schwerpunkt ist der Straßenverkehr
eigenständige Erläuterung entbehrlich.                              – Lösungen reichen von Tempolimits über Ampeln bis
                                                                    hin zu Fußgängerüberwegen.
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen          193

Tabelle 3: Unterschiede planungsabhängiger Planungsproteste in Berlin 2005 bis 2015 anhand der häufigsten Ausprägungen
ausgewählter Merkmale (N = 416)

Merkmal                    Art des planungsabhängigen Planungsprotests
                           Neubau                   Zerstörung                  Umstrukturierung         Gestaltung

Häufigster Anlass          Abwehr (58 %)            Erhalt (76 %)               Erhalt (72 %)            Abwehr (68 %)

Häufigstes Planungsfeld    Wohnen (44 %)            soziale Infrastruktur (40 %) Wohnen (56 %)           Stadterneuerung
                                                                                                         (34 %)

Häufigstes                 Bauleitplanung (38 %)    sonstige öffentliche        Bauleitplanung (46 %)    private Instrumente
Planungsinstrument                                  Instrumente (44 %)                                   (42 %)

Häufigste verantwortliche Gesamtstadt (51 %)        Bezirk (62 %)               Bezirk (78 %)            Bezirk (75 %)
Verwaltungsebene

Anteil Betroffenen­        53 %                     71 %                        91 %                     77 %
proteste

Durchschnittlich Beteiligte 32.000                  14.000                      18.000                   4.500

Planungsabhängige Planungsproteste                                        Eine zusätzliche planungsabhängige Protestart wird
Werden planungsabhängige Proteste betrachtet, die                   nicht hinsichtlich der Anlässe unterschieden, sondern
sich auf ein laufendes Planungsverfahren beziehen, so               durch die vorgebrachten Anliegen. Dabei werden häufig
zeigt sich, welche inhaltlichen Probleme Bürgerinnen                detaillierte Planänderungen gefordert. In einigen Fällen
und Bürger in der lokalen räumlichen Planung sehen                  geht es um die Minimierung von negativen Auswirkun-
und welche Lösungen sie vorschlagen. Hier können                    gen, in anderen um eine Abwandlung von Entwurf,
Ablehnung, Änderung und Initiative als modellhafte Ver-             Gestaltung oder Nutzung. Kann man die fünf übrigen
kürzung eines kontinuierlichen Spektrums verschiede-                planungsabhängigen Proteste klischeehaft auf ein ‚Nein‘
ner Anliegen zwischen den drei Polen blanke Abwehr,                 zum vorgesehenen Plan reduzieren, so wird hier – wie
Detailveränderung und unabhängiger Gegenvorschlag                   im Fall der Ostberliner Schnellstraße – ein ‚Ja, aber‘
erachtet werden.                                                    geäußert. Eine siebte Art, das ‚Nein, aber‘ der Abwehrin-
     Ablehnung bedeutet, dass der soziale Wandel als                itiativen, wird nachfolgend beschrieben.
Anliegen politischen Protests nur implizit artikuliert
wird oder einer Umkehrlogik folgt: Protestierende Bür-              Planungsproteste als Planungsinitiativen
gerinnen und Bürger lehnen den sozialen Wandel ab,                  Ein knappes Viertel aller untersuchten Planungspro-
den Planung oder gegenwärtige Entwicklungstrends                    teste sind Initiativen, die Planung weniger als ‚Gegner‘,
bringen, und wünschen – positiv formuliert – den Erhalt             sondern vor allem als Adressatin einer Forderung
der bestehenden Situation. Insofern ist es häufig eine              ansehen: „Gestaltet unseren Quartiersplatz!“, „Errichtet
reine Frage des Framings, ob ein Protest sich gegen                 eine Ampel!“, „Baut einen Abenteuerspielplatz!“ Dies
die Zerstörung oder Veränderung des Bestandes oder                  wird von Planenden häufig nicht als Protest wahrgenom-
für dessen Erhalt einsetzt. Wie oben ausgeführt, wurden             men, sondern als (willkommenes) zivilgesellschaftliches
diese Proteste in der Typologie anhand der spezifischen             Engagement. Dennoch bestehen Ähnlichkeiten mit den
Anlässe bzw. Planungsinhalte differenziert. Tabelle 3               übrigen Protestarten, zunächst und vor allem beim (teil-
zeigt, wie stark sich diese fünf Protestarten unterschei-           weise impliziten) Widerspruch zur offiziellen Planung,
den: Einige betonen die Abwehr, andere hingegen den                 die häufig als Nicht-Planung wahrgenommen wird.
Erhalt. Auslöser sind die öffentliche Bauleitplanung oder           Auch werden Forderungen nicht offen formuliert und in
private Instrumente bzw. Bautätigkeit. Auffällig ist auch,          der Regel findet eine Festlegung auf einen bestimm-
dass Betroffene insbesondere bei Umstrukturierungs-                 ten Lösungsansatz statt. Schließlich muss der positive
abwehrprotesten auftreten, während gegen Neubauvor-                 Anspruch an Planung nicht dazu führen, dass der Wider-
haben – beispielsweise bei neuen Stadtquartieren auch               spruch weniger deutlich wäre.
aus Mangel an direkter Betroffenheit – im Protest vor                   Letzteres gilt insbesondere für Abwehrinitiativpro-
allem Gemeinwohlinteressen artikuliert werden.                      teste. Sie reagieren nicht auf eine Situation, sondern
                                                                    sind planungsabhängig. Ihre eigenständig vorgetragene
194       Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

Idee erwächst aus der Ablehnung einer bestehenden            facher wie eindeutiger Ablehnung planerischer Eingriffe
Planung. In Berlin bilden sie den kleineren Teil der Ini-    bis hin zu sehr konkreten, ausgewogenen Änderungs-
tiativproteste, doch wird in ihnen die ‚doppelte Signatur‘   wünschen ist möglich. Die Vielfalt zeigt allerdings auch,
am deutlichsten: Anstelle des hegemonialen Problemlö-        dass eine ernsthafte planerische Auseinandersetzung
sungsansatzes entwickeln die Bürgerinnen und Bürger          mit dem Phänomen ebenso vielfältige Reaktionen her-
durch sie eine konkrete Alternative, etwa ein Nachbar-       vorrufen müsste.
schaftszentrum in einem Innenhof, der für eine Nach-
verdichtung mit Wohnnutzung vorgesehen ist, die Grün-
dung einer Stiftung zur Errichtung neuer Wohngebäude
statt eines Investors oder ein Kultur- anstelle eines
                                                             5 Differenzierte planerische
Einkaufszentrums. Entsprechend besitzen sie stärkere         Reaktionen auf vielfältige
Bezüge zur lokalen Planung als die oben beschriebenen
situationsbezogenen Initiativen.
                                                             Proteste

                                                             5.1 Vielfältiger Protest fordert
4.4 Vielfalt von Protest jenseits der                        differenzierte Konfliktanalysen und
Typologie                                                    Reaktionen heraus
Im Gegensatz zu den in Kapitel 4.2 angeführten Unter-        Für Planungspraktikerinnen/-praktiker oder Politikerin-
scheidungen stellen die neun Protestarten eine Mög-          nen/Politiker, die erstaunt über die vielen Bürgerproteste
lichkeit dar, das gesamte Protestspektrum überschnei-        sind, halten mehr als 40 Jahre Protestforschung eine
dungsfrei einzuteilen und dabei die fachliche, nicht aber    recht eindeutige Erkenntnis bereit: „[p]eople do not risk
die normative Perspektive der räumlichen Planung ein-        their own skin or sacrifice their time to engage in con-
zunehmen. Trotzdem zeigen sie nur einen Ausschnitt           tentious politics unless they have good reason to do so“
aus der aktuellen Vielfalt (vgl. Tabelle 4): Bürgerinnen     (Tarrow 2011: 10 f.). Protest ist also als rationale, normale
und Bürger wollen in verschiedenen Bereichen mit             politische Strategie mit Erfolgschance anzusehen. Die
vielfältigen Gründen und Zielen unterschiedlich an der       empirischen Befunde aus Berlin machen deutlich, dass
Planung teilhaben. Die Protestierenden sind häufig, aber     diese Normalität Eingang in die Planungswirklichkeit
nicht immer betroffen, sie lassen sich nur selten eindeu-    gefunden hat und Planungsprotest weder als Krisenphä-
tig den überlokalen Sozialen Bewegungen zuordnen             nomen noch als Ausdruck fehlgeleiteter Planung zu ver-
und nutzen verschiedene Aktionsformen, um auf ihre           stehen ist (Herkenrath 2011: 32). Er kann unterschied-
Anliegen aufmerksam zu machen. Die meisten Proteste          lichen politischen Zielen wie der Mobilisierung oder
werden auf Bezirksebene und von anlassbezogen gebil-         Einflussnahme dienen (Gamson 1975). Im Berliner Fall
deten Bürgerinitiativen durchgeführt. Nicht zuletzt sind     handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine inhalt-
viele unterschiedliche Planungsfelder und Planungsinst-      liche Einflussnahme. Protest ist also Ausdruck eines
rumente Gegenstand der Proteste.                             veränderten Machtbegriffs, als Anwendung von „power
     Dies liegt zunächst daran, dass die lokale räumliche    to“ anstatt von „power over“ (Wrong 2009). Es erscheint
Planung selbst vielfältig ist. Die Bandbreite der Instru-    einleuchtend, dass kaum jemand mit Protest nur Pla-
mente, Ziele und Eingriffstiefen führt zwangsläufig zu       nungsprozesse, sondern meist auch Inhalte verändern
einer Diversität in den Anlässen und Anliegen von pla-       möchte. Dies unterscheidet Planungsprotest von vielen
nungsbezogener politischer Partizipation. In einer indi-     überlokalen Protesten, Bewegungen und nicht zuletzt
vidualisierten, zugleich aber vernetzten Gesellschaft        Revolutionen, bei denen auch immaterielle Rechte und
ist davon auszugehen, dass sich das Protestspektrum          demokratische Verfahren im Mittelpunkt stehen können.
diversifiziert, wie das etwa für die beteiligten Personen-        Wenn Protest jedoch nur eine Ausdrucksform städ-
gruppen seit Langem beobachtet wird (Rucht 2006:             tischer Politik unter vielen darstellt, wird es wesentlich
205). Dennoch überraschen die unterschiedlichen Pro-         einfacher, seine vielschichtigen Beziehungen zur räum-
testarten und die sich daraus ergebenden, zum Teil           lichen Planung zu untersuchen. Seine Normalität drückt
entgegengesetzten Bezugnahmen auf die Planung: Sie           sich auch in der großen Bandbreite von Anwendungen
kann (Mit-)Auslöserin sein, aber auch als Problemlöserin     im Rahmen von Planungsverfahren durch viele Men-
angefragt werden. Protest kann auf Planung reagieren,        schen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen aus
sie aber auch initiieren. Ein breites Spektrum von ein-      (vgl. Rucht 2006). Es ist zu vermuten, dass unter den
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen         195

Tabelle 4: Übersicht über Anteile der wichtigsten Merkmalsausprägungen (N = 416)

                      Anlass                          Anliegen                              Begründung                Betroffenheit

                      Vorhaben (57 %)                 Ablehnung (60 %)                      Bestand (36 %)            ausschließlich Betroffene
                      Situation (19 %)                eigene Vorstellung (25 %)             Vorhaben (35 %)           (58 %)
 Framing

                      Wirkung (14 %)                  Änderung (13 %)                       Verfahren (4 %)           ausschließlich Nicht-
                      Trend (8 %)                     Partizipation (2 %)                   Grundsätze (2 %)          Betroffene (21 %)
                      Verfahren (1 %)                                                       Protestumfang (0,2 %)     Betroffene und Nicht-
                      Bewegung (0,2 %)                                                                                Betroffene (12 %)

                      keine Angaben (1 %)             keine Angaben (0,4 %)                 keine Angaben (24 %)      keine Angaben (10 %)

                      Planungsinstrument              Planungsfeld                          Verfahrensstand

                      sonstige öffentliche            soziale Infrastruktur (20 %)          laufend (unspezifisch,
                      Instrumente (22 %)              Mobilität, technische Infrastruktur   31 %)
 Auslösende Momente

                      private Instrumente (12 %)      (19 %)                                vorzeitig (26 %)
                      Bauleitplanung (9 %)            Stadterneuerung (18 %)                spät (18 %)
                      nachgeordnete Verfahren (5 %)   Wohnen (14 %)                         früh (14 %)
                      Fachplanung (5 %)               Freiflächen (10 %)                    nachträglich (6 %)
                      informelle Konzepte (2 %)       Migration (7 %)
                      Beteiligung (2 %)               Gewerbe/Einzelhandel (5 %)
                                                      Neubau unspezifisch (2 %)
                                                      Immobilienwirtschaft (2 %)
                                                      Sonstiges (1 %)

                      keine Angaben (42 %)            keine Angaben (1 %)                   keine Angaben (12 %)

                      Organisationsform               Bewegungszugehörigkeit                Anzahl Beteiligte         Aktionsformen

                      anlassbezogene Vereinigung      keine Zugehörigkeit (66 %)            zwischen 100 und 10.000   demonstrative (21 %)
                      (77 %)                          stadtpolitischer Protestkomplex       (25 %)                    Sammlungen (17 %)
                      Einzelperson (8 %)              (18 %)                                unter 100 (15 %)          digitale (17 %)
                      Nichtregierungsorganisation     soziale Bewegung (16 %)               über 10.000 (5 %)         informative (15 %)
 Trägerschaft

                      (7 %)                                                                                           expressive (5 %)
                      Unternehmen (4 %)                                                                               plakative (4 %)
                      Sonstige (2 %)                                                                                  Sonstiges (4 %)
                                                                                                                      Klage/Einspruch (4 %)
                                                                                                                      Bürger-/Volksbegehren
                                                                                                                      (3 %)
                                                                                                                      direkte (2 %)
                                                                                                                      direkte Ansprache (2 %)

                      keine Angaben (3 %)                                                   keine Angaben (55 %)      keine Angaben (9 %)

                      Objektart                       Planungsebene

                      nur Verwaltung (32 %)         Bezirk (54 %)
                      Verwaltung und Politik (17 %) Gesamtstadt (41 %)
 Protestobjekte

                      Verwaltung, Politik und
                      Sonstige (11 %)
                      nur Sonstige (10 %)
                      Verwaltung und Sonstige (5 %)
                      nur Politik (5 %)
                      Politik und Sonstige (3 %)

                      keine Angaben (17 %)            keine Angaben (6 %)
196         Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock

  Wirkung

            0      20      40       60     80       100    120       140      160   180
                  Planungsinhalte    Planungsverfahren      beide     keine

Abbildung 3: Anteil der veränderten Planungsinhalte und Planungsverfahren als Wirkung von Planungsprotesten in Berlin zwischen
2005 und 2015 (N = 416)

‚guten Gründen‘ zu protestieren auch einige den gemein-               besserten Argumentationen der öffentlichen Hand. So
wohlorientierten Zielen der Planung entsprechen. So                   können nicht unmittelbar aus dem Planungsvorhaben
lässt die große Zahl von Protestbeteiligten ohne direkte              erkennbare Gemeinwohlinteressen oder weitergehende
Betroffenheit darauf schließen, dass sich hinter dem ver-             Entwicklungsüberlegungen besser im Kontext erläutert
meintlichen Eigennutz der Protestierenden auch soziale                werden.
Verantwortung verbergen kann. Die vielfältigen Kom-                         Eine schwierige Herausforderung ist die Integration
binationen von Anlässen und Zielen machen deutlich,                   von normal gewordenem Protest in die Planungsrouti-
dass Planungsproteste um alternative Ansätze und Ver-                 nen der Verwaltung. Meist bestehen weder Verfahrens-
ständnisse von einer gerechten Stadt ringen. Ein Blick                regeln, die den Verwaltungen bestimmte Reaktionen
darauf, worauf Aktivisten mit ihrer Politik abzielen („what           vorgeben, noch übergeordnete Behörden, die nötigen-
[…] activists [..] are tilting their politics at“; Mitchell/Attoh/    falls intervenieren. Doch auch wenn auf Protest durch
Staeheli 2015: 2646) sowie eine Untersuchung ihrer                    aufwendige Beteiligungsverfahren reagiert wird, können
Lösungsvorschläge zeigt die politische Dimension ihres                diese nicht immer zu einer Befriedung beitragen. Eine
Handelns auf.                                                         Antwort darauf, wie „diese unregierbare Stadt“ (Inter-
     Die beschriebene Vielfalt legt nahe, mögliche                    view mit einem leitenden Berliner Senatsmitarbeiter im
Reaktionen der Planenden künftig systematischer zu                    Herbst 2014) mit Instrumenten der Beteiligung und Kon-
betrachten. Proteste wurden bislang vielfach ignoriert                fliktbewältigung planerisch entwickelt werden sollte und
oder allenfalls über kollaborative Prozesse eingebunden               welche Rolle dabei Proteste spielen, ist also offenbar
und entschärft (Othengrafen/Sondermann 2015: 14 ff.).                 bislang nicht in Sicht.
In Abbildung 3 werden Fälle berücksichtigt, in denen
Veränderungen durch Bürgerentscheide und ähnli-
che politische Entscheidungen außerhalb der Planung                   5.2 Differenzierung der Reaktionen nach
durchgesetzt wurden. Selbst wo Proteste als Teil eines                Protestarten
pluralistischen politischen Alltags anerkannt werden,
unterbleibt bislang eine weitergehende Analyse. Auch                  Gleichwohl lassen sich erste Überlegungen zu einem
in der Planungspraxis lohnt es sich, genauer hinzuse-                 Umgang mit Protesten in Anbetracht der vorgestellten
hen und die vielfältigen Anlässe und Ziele von Protest                Typologie anstellen. So können situationsbezogene Pro-
differenziert zu betrachten, um angemessene und faire                 teste politische Frühwarnsysteme ergänzen, wenn die
Reaktionen zu entwickeln. Die in den Protestarten orts-               Bevölkerung mit baulich-räumlichen Verhältnissen unzu-
und zeitspezifisch ausformulierten Protestarten können                frieden ist. Protest entsteht hier, weil nach Ansicht von
hier einen Analyseansatz darstellen, der aber durch                   Bürgerinnen und Bürgern die lokale räumliche Planung
weitere Einordnungen ergänzt werden muss (vgl. Kapitel                für eine Problemlösung zu kurz greift. Zwar können
5.3). In vielen Fällen kann ein gründlicheres Nachden-                situationsbezogene Proteste weder unmittelbar in Pla-
ken zu verbesserten Problemlösungen und differenzier-                 nungsinitiativen umgesetzt werden, noch stellt die in
teren planerischen Antworten führen – und zwar nicht                  ihnen geäußerte Unzufriedenheit immer ein zuverlässi-
nur aus Sicht der Protestierenden. Im umgekehrten                     ges Stimmungsbild der Bevölkerung dar. Doch ein Moni-
Sinn zwingen Protestforderungen, die aus planerischer                 toring situationsbezogener Proteste kann im Zusam-
Sicht individuellen Interessen deutlich den Vorrang                   menspiel mit anderen Mechanismen der Kommunikation
gegenüber Gemeinwohlinteressen einräumen, zu ver-                     wahrgenommener Missstände Stadtentwicklungspro-
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen   197

zesse qualifizieren. Neben traditionellen Formen, der-        sorgfältig aufzugreifen. Die Vehemenz, mit denen sie
artige Meinungsäußerungen zu kanalisieren und im              bisweilen vorgetragen werden, erfordert eine angemes-
Idealfall zu nutzen (etwa Petitionsrecht), wäre über eine     sene Behandlung und Abwägung der Argumente sowie
Stärkung regulärer Feedback-Systeme nachzudenken.             eine sachliche Kommunikation. Nur so kann auch im
Dies könnte Bürgerinnen und Bürgern niedrigschwel-            Falle einer Zurückweisung sichergestellt werden, dass
lig Möglichkeiten der Mitteilung eröffnen – ernsthaft,        keine grundsätzliche Vernachlässigung der dahinterste-
aber ohne direkte Hoffnung auf sofortige Veränderung.         ckenden Belange vermutet wird. In diesem Zuge ist ins-
Inwiefern solche Angebote eine Alternative zur „unkon-        besondere eine Kontextualisierung erforderlich, die über
ventionellen“ (Barnes/Kaase 1979: 151) Partizipation          den gerade verhandelten Einzelfall hinaus aufzeigt, wo
durch Protest darstellen und Möglichkeiten bieten, über       und wann diese Belange ‚zu ihrem Recht‘ kommen. Die
den Mobilisierungs(miss)erfolg zu bemessen, wie breit         Schwierigkeit der Reaktion auf diese in Berlin besonders
die öffentliche Unterstützung ist (Tilly 2004: 3 f.), wäre    häufigen Proteste liegt darin, dass die Differenz zwi-
gesondert zu diskutieren.                                     schen offiziellem und alternativem Lösungsansatz am
     In besonderem Maße gilt dies für Situationsinitia-       größten ist und es nicht selten zu Anfeindungen von
tiven, die eine bestimmte Planungsaktivität einfordern.       Entscheidungsträgern/-trägerinnen,        gegebenenfalls
Durch ihre Konkretheit und die oft ‚einfachen‘ vorge-         auch Planerinnen/Planern, kommt. Letztere sind aber
schlagenen Lösungen ist einerseits der Handlungsdruck         auch dafür verantwortlich, nicht einfach den am lautes-
höher, andererseits ein zeitnahes Aufgreifen durch            ten vorgetragenen Argumenten zu folgen, sondern im
Politik und Verwaltung möglich. Ignorieren scheint ange-      Sinne des Gemeinwohls Belange Dritter hinreichend zu
sichts der immer wieder betonten Bedeutung zivilgesell-       berücksichtigen. Planungsabwehrinitiativen verkompli-
schaftlichen Engagements für die Demokratie (vgl. die         zieren diese Situation, wenn sie Gegenvorschläge zur
Beiträge in Becker/Gualini/Runkel et al. 2010) besonders      aktuellen Planung unterbreiten, die sorgfältig argumen-
problematisch. Eine sorgfältige planerische Prüfung und       tativ abgewogen werden müssen. Der alternative Prob-
Abwägung der in der Regel laienhaften, interessengelei-       lemlösungsansatz ermöglicht dann auch eine öffentliche
teten Vorschläge scheint jedoch unerlässlich.                 Diskussion um Vorzüge und Nachteile beider Varianten.
     Reaktive Proteste dürften die größte Prominenz                Angesichts des hohen Konfliktpotenzials reaktiver
im Planungsalltag genießen. Durch die beschriebene            Proteste ist es wichtig, Planungsänderungsproteste zu
innere Vielfalt zwischen Ablehnung, Änderung und Ini-         erkennen. Hier ist der materielle ‚Streitwert‘ geringer,
tiative sind aber gerade hier ein genauer Blick und           eine Berücksichtigung innerhalb der Planung wird in
Differenzierung notwendig. Gemeinsam ist den reak-            der Regel einfacher und der Vorschlag der Protestak-
tiven Protesten, dass die von ihnen vorgeschlagenen           teure zugleich weiter ausgearbeitet und ausführlicher
Lösungsansätze Alternativen bereithalten. Hinsicht-           begründet sein. Die empirischen Befunde zeigen, dass
lich der Problembeschreibungen sind hingegen von              hier nicht selten auch fachliche Kompetenzen beste-
Fall zu Fall Unterschiede erkennbar. Viele Protestak-         hen. Dies ermöglicht eine Kommunikation, die auf die
teure werden der planerischen Problembeschreibung             vorhandene Expertise eingeht. Freilich muss es nicht
zumindest teilweise zustimmen, gegebenenfalls aber            zwangsläufig dazu führen, dass sich die Protestierenden
bestimmte einzelne Aspekte anders bewerten. Nur               in der Abwägung aller Interessen durchsetzen. Das oben
selten stimmen die Auffassungen hier überhaupt nicht          genannte Fallbeispiel der Schnellstraße zeigt, dass
überein. Im Gegensatz zu situationsbezogenen Pro-             auch Akteure in Planungsänderungsprotesten zunächst
testen löst das Planungshandeln die reaktiven Proteste        von der Neutralität der Planenden überzeugt werden
mit aus, und damit werden die Planenden zumindest             wollen, bevor eine erfolgreiche Kommunikation möglich
von den Protestierenden häufig als Konfliktpartei wahr-       wird, mit der beispielsweise Klagen vorgebeugt werden
genommen, der zugleich die Verfahrenshoheit und die           kann. Zugleich zeigt sich, dass Planungsänderungen
Rolle des Mittlers zukommt.                                   einer genauen Auseinandersetzung mit den Unterschie-
     Angesichts der Angst, durch Planungsabwehrpro-           den zwischen offiziellem und alternativem Problem-
teste in den Möglichkeiten einer Steuerung der räum-          lösungsansatz bedürfen: Wurde die Schnellstraße in
lichen Entwicklung behindert zu werden, erscheint es          der Planung als Lösung für eine Reihe von Problemen
nachgerade unerlässlich, sich ihre Normalität zu verge-       betrachtet, galt sie den Betroffenen primär als Lösung
genwärtigen. „Stuttgart 21“ und das „Tempelhofer Feld“        für die starke Belastung anderer Verkehrswege. Daraus
in Berlin zeigen, dass es sich lohnt, frühzeitig mit ihnen    resultierten deutliche Unterschiede in der Bewertung ein-
zu rechnen und die in ihnen vertretenen Argumente             zelner Lösungsvarianten. Das dort gewählte Partizipati-
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