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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2020; 78(2): 185–201 Beitrag / Article Open Access Grischa Frederik Bertram*, Uwe Altrock Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen Towards Normality: Planning-related Protests and Reactions by Planning https://doi.org/10.2478/rara-2019-0059 Eingegangen: 11. Februar 2019; Angenommen: 14. Oktober 2019 Kurzfassung: Der Beitrag plädiert für eine stärkere Unterscheidung von Planungsprotesten, die Teil der täglichen Planungspraxis sind. Es wird argumentiert, dass die Unterschiedlichkeit auch für differenzierte Reaktionen der Planungsakteure genutzt werden kann. Skizziert wird der Forschungsstand sozialwissenschaftlicher Protest- und Bewegungsforschung sowie die Besonderheit planungsbezogenen politischen Protests. Planungsprotest wird dabei als kollektives Handeln und Form kommunalpolitischer Partizipation verstanden, die unabhängig von lokalstaatli- chen Beteiligungsangeboten stattfindet und einen Bezug zur lokalen räumlichen Planung aufweist. Basierend auf einer empirischen Erhebung und statistischen Untersuchung von mehr als 400 planungsbezogenen Bürgerprotes- ten in Berlin zwischen 2005 und 2015, die durch zwei qualitative Fallstudien ergänzt werden, wird eine – orts- und zeitspezifische –Typologie von neun Protestarten entwickelt. Die im Framing der Protestakteure artikulierten Pro- testanlässe und Protestanliegen werden als alternative Problemlösungsansätze verstanden. Unterschieden werden situationsbezogene und planungsabhängige sowie initiative und reaktive Protestformen. Diese inhaltliche Unter- scheidung erscheint zwar in besonderem Maße für das aktuelle Protestgeschehen von Bedeutung und unterstreicht dessen politischen Charakter, sie ist allerdings nur ein Teil der phänomenologischen Vielfalt. Auch die Reaktionen sind fallspezifisch zu unterscheiden, wie das Merkmal der Betroffenheit bzw. Nicht-Betroffenheit der Protestakteure verdeutlicht. Schlüsselwörter: Protest, Partizipation, Planungsinhalte, Typologie, Berlin Abstract: The paper argues for a stronger distinction within planning protests, which is today an everyday part of planning practice. Furthermore, it is argued that the diversity of planning protest can also be used for differentiated reactions of planning practitioners. It is possible and sensible to adopt theories from protest and social movements research to better understand protest in planning, yet specifications for planning-related protest are needed. Plan- ning protests are understood as collective action and form of local political participation, which takes place indepen- dently participation offers and has a relation to local spatial planning. Based on an empirical survey and statistical analysis of more than four hundred planning-related citizen protests in Berlin between 2005 and 2015, supported by two qualitative case studies, a typology of nine protest types will be developed, that is specific in time and place. The causes and claims articulated in the framing of protesters are understood as alternative approaches to solving plan- ning problems. In particular, a distinction is made between situational and planning-dependent as well as initiative *Corresponding author: Dr. Grischa Frederik Bertram, Universität Kassel, Stadterneuerung und Planungstheorie, Gottschalkstraße 22, 34127 Kassel, Deutschland, E-Mail: grischa.bertram@uni-kassel.de Prof. Dr. Uwe Altrock, Universität Kassel, Stadterneuerung und Planungstheorie, Gottschalkstraße 22, 34127 Kassel, Deutschland Open Access. © 2020 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock, published by Sciendo. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
186 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock and reactive types of protest. Differences in content appear to be of special importance for the current protests, but also underline its political character. Yet, they are only part of the phenomenological diversity of planning protest and reactions therefore are to be differentiated for every individual case. This will be highlighted with regard to protests that are organised either by affected or unaffected citizens. Keywords: Protest, Participation, Planning policy, Typology, Berlin 1 Planungsprotest: Eine Planungspraxis darstellen kann. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, dass ein solcher analytischer Begriff, der weder Einführung zu stark vereinfacht noch normativ ist, auf der Grundlage der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungs- Planungsprotest scheint derzeit in Planungspraxis und forschung zunächst zu zwei Perspektivwechseln führt: Fachdebatten allgegenwärtig. Spätestens, seitdem mit Einerseits wird Planungsprotest als normaler Bestand- „Stuttgart 21“ ein lokaler planungsbezogener Protest teil stadtpolitischer Prozesse angesehen und anderer- auch bundesweit Schlagzeilen machte, sind Bürger- seits werden für seine Analyse nicht die Instrumente proteste und ihre (vermeintliche) Zunahme ein häufi- und Verfahren, sondern Planungs- bzw. Protestinhalte ges Thema. Dabei scheint der Stuttgarter Fall kaum in den Mittelpunkt gestellt. Im dritten Kapitel wird disku- verallgemeinerbar. Gibt es überhaupt so etwas wie tiert, inwiefern sich ein eigenständiger planungswissen- typische Planungsproteste? Oder verschiedene Arten? schaftlicher Protestbegriff von sozialwissenschaftlichen Planungstheorie und Planungsforschung sind bislang Ansätzen emanzipieren muss. Im vierten Kapitel werden kaum in der Lage, hierauf Antworten zu geben (vgl. aber empirische Daten zu planungsbezogenem Bürgerpro- erste Ansätze bei Othengrafen/Sondermann 2015), fehlt test in Berlin, die im Rahmen des DFG-geförderten For- ihnen doch schon ein Protestbegriff, der nicht allein der schungsprojekts „Muezzine, Fluglärm, Touristification & Umgangssprache entlehnt ist. Dies ist insofern verwun- mehr“ erhoben worden sind, beispielhaft für eine ana- derlich, als es nicht nur erhebliche Unterschiede zwi- lytische Unterscheidung unterschiedlicher Protestarten schen dem Selbstverständnis der Protestierenden und genutzt, die auch Möglichkeiten für eine Generalisierung der Zuschreibung durch Planende gibt, sondern auch erkennen lassen. Anschließend wird der Frage nach- innerhalb der Planung selbst: Die einen sehen Protestie- gegangen, ob eine solche Typologie auch einen diffe- rende als „Störenfriede“ (Selle 2011a: 1) an und Protest in renzierten planungspraktischen Umgang mit Protesten der Planung wird als Protest gegen Planung verstanden, ermöglicht (vgl. Kapitel 5). Im sechsten Kapitel wird dis- der das normale Planungsverfahren durch irrationales kutiert, inwiefern Planungsprotest als Normalität Teil von und affektives Verhalten störe und zu einem „Ausnah- Demokratisierungsbemühungen in der lokalen räumli- mezustand“ führe (Selle 2013: 24). Bei anderen besteht chen Planung sein kann. eine empathische Fürsprache, die nicht zuletzt aus der Entzauberung des rationalen Planungsmodells durch Protest herrührt, in dessen Folge in der Disziplin selbst ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat (Holm/Kuhn 2 Politischer Protest 2010: 107; Haughton/Gilchrist/Swyngedouw 2016: 486). Überraschenderweise führt beides bislang nicht zu einer in der Protest- und tiefergehenden Analyse, und es besteht im Wesentlichen Bewegungsforschung Einigkeit darüber, dass bessere Planungsverfahren die beste Antwort auf Planungsprotest sind (Krau 2011): ent- In den Sozialwissenschaften wird Protest als kollektives weder weil so die Fehlinterpretationen der Protestieren- politisches Handeln und als Form politischer Partizipa- den durch bessere Kommunikation aufgedeckt oder weil tion unabhängig von Wahlen und weiteren kommuna- Fehler in der Planung korrigiert werden könnten (Lopes len und staatlichen Beteiligungsangeboten verstanden de Souza 2006: 338; Selle 2011b: 2). (Rucht 2001; vgl. auch Bertram/Altrock 2017). Demnach Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, ob ein führen rationale Entscheidungen zu Protest und nicht analytischer Begriff von Planungsprotest eine planungs- kollektives Verhalten (Melucci 1985; Tarrow 2011). Bis zu theoretische Unterscheidung ermöglicht und einen einem Paradigmenwechsel ab Ende der 1960er-Jahre Ansatzpunkt für einen angemesseneren Umgang in der wurden Proteste als emergente Phänomene innerhalb
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 187 weitgehend ungesteuerter Massen angesehen, die (1977) mittlerweile durch eine Vielzahl von Autoren und affekthaft auf Strukturbrüche reagieren, und ihr Auftre- Autorinnen bestehen (etwa Mayer 2008; Künkel/Mayer ten sozialpsychologisch erklärt (Tarrow 2011: 22). Heute 2012; Vogelpohl/Vollmer/Vittu et al. 2017; vgl. dazu kri- hingegen gelten Proteste als normale Ausdrucksform tisch Bertram 2013). gut informierter, kompetenter und mit den notwendigen So wurde bereits im Forschungsprojekt zunächst Ressourcen ausgestatteter Bürgerinnen und Bürger, die eine Begrenzung auf lokal- bzw. stadtpolitischen Protest Protestnetzwerke gründen. Damit folgt die Analyse letzt- vorgenommen. Planungsproteste sind lokalpolitisch, lich der Forschung zu den seit den 1970er-Jahren viel- wenn sie im Sinne von Fainstein und Fainstein (1985: fach untersuchten so genannten Bürgerinitiativen (vgl. 189) „[are] rooted in collectivities with a communal base etwa Eckert 1970; Schiller 1970; Guggenberger 2009). and/or with the local state as their target of action”. Nicht Kern der Definitionsansätze ist die Vorstellung von berücksichtigt wurden insbesondere solche Proteste, die anlassbezogenen Zusammenschlüssen, die sich weit- den Stadtraum als „Bühne“ (Lindner 1996: 414) nutzten, gehend ad hoc, aber eben nicht „spontan“, während der aber auf überlokale Politiken bezogen waren. Auf eine sozialen Konstruktion des Protests gründen (Roth/Rucht Unterscheidung zwischen Kommunal- und Landespolitik 2008: 17) und sich „um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens wurde in diesem Beitrag verzichtet. bemühen“ (Guggenberger 2009: 40). Proteste werden in diesem Beitrag als planungs- Der Begriff „Initiative“ hebt aufgrund des häufig reakti- bezogen betrachtet, wenn dieser Bezug innerhalb des ven Charakters für Guggenberger (2009: 39) eher auf „das sozialen Konstruktionsprozesses der Protestformation Moment des unmittelbaren Tätigwerdens des Bürgers“ hergestellt wird. Dabei wurde maßgeblich das strate- und nicht auf Inhalte ab, doch wird darin auch eine „dop- gische Framing der Protestakteure zugrunde gelegt, pelte Signatur“ des Protests deutlich, auf die vor allem eine Mobilisierungsstrategie von Protestakteuren zur Rucht (2001: 9) hinweist: Protestierende richten sich nicht Verstärkung und Erweiterung von Anlässen, Anliegen nur gegen eine als Herausforderung wahrgenommene und Motivationen (Snow/Benford 1988). Entsprechend Situation, Norm oder Planung, sondern treten zugleich können Aussagen von Protestakteuren genutzt werden, für eine Änderung ein und fordern gegebenenfalls sogar um zu prüfen, ob sie ihre Anlässe und/oder Anliegen im die Einleitung eines Planungsverfahrens. Hierin wird ein Bereich der lokalen räumlichen Planung sehen: Werden politischer Charakter des Planungsprotests deutlich (vgl. Planungsinhalte oder Planungsverfahren als Herausfor- Kapitel 5.1): Protest wird in der sozialwissenschaftlichen derung bzw. Problem beschrieben, weil der Konflikt ver- Literatur aufgrund des Willens zur gesellschaftlichen ursacht, verstärkt oder nicht zufriedenstellend bearbeitet Veränderung und wegen seines kollektiven Charakters wird, wird die lokale räumliche Planung zum Protestan- als politisch betrachtet (Goodwin/Jasper 2003: 3; Tarrow lass. Werden Planungsinhalte oder Planungsverfahren 2011: 7). Gamson (1975: 14, 143) hebt hervor, dass daraus von den Protestierenden als (Teil der) Problem- bzw. eine ähnliche Motivationsvielfalt resultiert wie für andere Konfliktlösungen gefordert, wird sie zum Protestanlie- politische Strategien: Ziele können Einfluss, Mobilisierung gen. Unabhängig vom Framing wird der Bezug herge- von Anhängerinnen und Anhängern sowie (politischer) stellt, indem Planungsinstitutionen direkt oder indirekt Nutzen sein. Erfolgreicher Protest kann dazu führen, dass adressiert werden, ihnen also von Protestierenden, den Protestierende Teil der politischen Elite werden. Protestobjekten oder Dritten eine Rolle im Konflikt zuge- schrieben wird. Angesichts der divergierenden Auffassung darüber, 3 Die Besonderheit wo die Grenzen der „Rubrik ‚Planung‘“ (Lennon 2017: 147; eigene Übersetzung) verlaufen, wurde der Bezug planungsbezogenen politischen graduell in vier Stufen unterschieden: Werden Verfahren Protests und Inhalte der lokalen räumlichen Planung einschließ- lich gemeindlicher/städtischer sektoraler Planungen mit Die diesem Beitrag zugrunde liegenden empirischen Bodenrecht direkt benannt, ist der Bezug am größten, Untersuchungen zeigen, dass der wertfreie sozialwis- etwa dort, wo Planwerke oder Flächennutzungen kriti- senschaftliche Protestbegriff planungswissenschaftlich siert werden. Werden hingegen nur ‚Beiträge zur räumli- adaptiert werden kann. Zugleich erscheint es erforder- chen Entwicklung‘ stadtpolitischer Akteure benannt, wird lich, ihn planungsbezogen zu spezifizieren – gerade von einem losen Planungsbezug ausgegangen. Hierun- auch in Abgrenzung zu vielfältigen Angeboten zu ‚städ- ter fallen etwa viele mietenpolitische Proteste, die in der tischen‘ Bewegungen, wie sie ausgehend von Castells Erhebung dokumentiert wurden. Proteste mit nur losem
188 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock Planungsbezug werden im Beitrag nicht berücksichtigt. lich wurden über leitfadengestützte Experteninterviews Aufgenommen wurde jedoch ein breites Spektrum von und Beobachtungen städtischer Räume weitere Daten- Protesten mit Bezug zu Verfahren, Maßnahmen und quellen erschlossen. Dieser Methodenmix diente dazu, Vorhaben, die der kommunalen räumlichen Planung die Wahrnehmungsschwelle von Tageszeitungen zu nach- oder übergeordnet sind, sowie zu Inhalten, die überwinden und Proteste mit geringerer Öffentlichkeits- (potenziell) Teil raumbezogener Stadt(teil)entwicklungs- wirkung einzubeziehen. Sämtliche hinreichend doku- pläne sind. mentierten, planungsbezogenen und stadtpolitischen Protestereignisse (im Sinne der Operationalisierung in Kapitel 3) zwischen 2005 und Juni 2015 und einem Anlassort innerhalb der Berliner Landesgrenze wurden 4 Zur Vielfalt des in einer Datenbank erfasst und mit 31 Merkmalen zur Planungsprotests am Beispiel Vereinheitlichung der Daten und statistischen Analysen mittels PSPP, einer Software zur Analyse statistischer der Protestinhalte Daten, verschränkt (Häufigkeiten, Erwartungswerte, Kreuztabellierung). Zwei Protestereignisse wurden in 4.1 Methodischer Zugang und qualitativen Fallstudien in Bezug auf Verlauf, Akteurhan- empirischer Hintergrund deln und Voraussetzungen vertieft untersucht. Als ein erstes Ergebnis bestätigt die Erhebung Wendet man die im vorherigen Kapitel skizzierte Defini- die Annahme, dass es in den letzten Jahren zu einem tion auf die empirische Erhebung an, wird deutlich, wie Anstieg der Zahl bürgerschaftlicher lokaler Planungs- alltäglich und vielgestaltig Planungsproteste inzwischen proteste gekommen ist (vgl. Walter 2013). Greift man geworden sind. Um sie angemessen in die planungswis- aus dem Untersuchungszeitraum nur die Jahre 2007 bis senschaftliche Prozessforschung einordnen zu können, 2013 heraus, in denen ein Protest mit einer durchschnitt- ist eine Typologisierung erforderlich. lichen Dauer von gut zweieinhalb Jahren von Anfang Den empirischen Hintergrund des Beitrags bildet bis Ende erfasst werden konnte und somit eine valide das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Muezzine, Aussage zur Fallzahlentwicklung möglich ist, so hat sich Fluglärm, Touristification & mehr – Vorstudie zu aktuel- die Anzahl in diesem Zeitraum beinahe verdoppelt. Auch lem bürgerschaftlichen Protest in der lokalen räumlichen wenn man davon ausgeht, dass die Fallzahlen der Inter- Planung in Berlin“, in dessen Rahmen für den Zeitraum netanalyse schon aufgrund der Bedeutungszunahme von 2005 bis 2015 416 Planungsproteste in Berlin iden- des Mediums und wegen der Löschung von Internet- tifiziert und näher untersucht worden sind (vgl. Bertram seiten ansteigen müssen und die Werte entsprechend 2019). Der Beginn des Untersuchungszeitraums wurde rechnerisch korrigiert werden, bleibt es bei einem deutli- so gewählt, dass damit einige Jahre vor einer vermu- chen Anstieg der Fallzahlen. Abbildung 1 zeigt, wie viele teten Wachstumsphase zwischen 2008 und 2011 abge- Proteste in den Jahren 2007 bis 2013 begonnen und deckt waren. Da die Erhebung in den Jahren 2015 und beendet wurden (bzw. für die erst- bzw. letztmalig Pro- 2016 stattfand, konnten spätere Protestereignisse nicht testereignisse registriert wurden) sowie die Summe aller erfasst werden. Grundlegende Erhebungsmethode war zum jeweiligen Zeitpunkt begonnenen, aber noch nicht die Protestereignisanalyse, die im Rahmen der bun- beendeten Proteste (auch bei einem Beginn vor 2007 desweiten Längsschnitterhebung PRODAT1 entwickelt oder einer Phase der Latenz). und erprobt worden war, sich allerdings auf eine struk- Erstaunlich ist die Anzahl der Teilnehmerinnen und turierte Inhaltsanalyse von Zeitungen beschränkte (vgl. Teilnehmer: Unabhängig vom jeweiligen Umfang der Rucht/Ohlemacher 1992). Im genannten Projekt wurde Protestaktivität haben sich zwischen Januar 2005 und das inhaltsanalytische Verfahren deshalb ergänzend Juni 2015 mindestens 2,6 Mio. Menschen nachweislich auf Internetseiten, soziale Medien und Polizeidaten zu an Planungsprotesten in Berlin beteiligt.2 Dem stehen im politisch motivierter Kriminalität ausgeweitet. Zusätz- 2 Zur Ermittlung dieser Zahl wurde die höchste in der Datengrundlage genannte Teilnehmerzahl eines Planungsprotests 1 Das Forschungsprojekt „Dokumentation und Analyse von festgehalten und für alle Proteste addiert. Relativierend muss Protestereignissen in der Bundesrepublik“ (PRODAT) wurde hier eingeräumt werden, dass auch die mehr als 700.000 zwischen 1993 und 2007 am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) Teilnehmenden am Bürgerbegehren zum Tempelhofer Feld in durchgeführt. Dabei wurde insbesondere eine lange Zeitreihe die Gesamtzahl eingingen und viele Protestierende vermutlich politischer Proteste für die Jahre 1950 bis 2002 erstellt. mehr als einmal gezählt wurden. Dem steht gegenüber, dass bei
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 189 160 aufstrebenden Dienstleistungsökonomie (vgl. Brake 140 2012). Die wachsende Bevölkerung traf und trifft unter 120 anderem auf ehemalige Hausbesetzer und Hausbeset- 100 zerinnen, ein kreatives Prekariat sowie ehemalige Ost- 80 Berliner Regimekritiker und Regimekritikerinnen, sodass 60 gute Ausgangsbedingungen beispielsweise für einen 40 Protest eher kapitalismuskritischer Milieus gegen global 20 agierende Investoren bestehen. 0 Überregionale Aufmerksamkeit und lokalen Wider- 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 erstes bekanntes Protestereignis letztes bekanntes Protestereignis stand hat etwa der Vorhabenkomplex „Mediaspree“ zur laufende Proteste Überformung des Friedrichshain-Kreuzberger Spree- ufers durch international agierende Medienkonzerne Abbildung 1: Fallzahlentwicklung für laufende Planungsproteste, ausgelöst (vgl. Dohnke 2014). Die Auseinandersetzung erste und letzte Protestereignisse in Berlin zwischen 2007 und um die Zukunft des teilweise öffentlich zugänglichen 2013 (korrigierte Werte; N = 416) Uferbereichs und dessen befürchtete Privatisierung kul- minierte 2008 in einem Bürgerentscheid, der Investoren Untersuchungszeitraum insgesamt 5,4 Mio. Menschen und Senat mindestens zu einem Strategiewechsel bei gegenüber, die irgendwann in Berlin gemeldet waren3 deren Durchsetzung zwang. und bei drei Abgeordnetenhauswahlen insgesamt 2,9 Doch man sollte sich nicht täuschen: Vielfach Mio. Zweitstimmen abgegeben haben. Politischen Par- handelt es sich bei den Protesten gar nicht um den Aus- teien gehörten als Mitglieder zirka 74.000 Menschen an. druck von Widerstand gegen spektakuläre Übernahmen Im Durchschnitt dauerten die identifizierten Proteste 2,7 kreativ zwischengenutzter innerstädtischer Flächen Jahre, sodass im Mittel jeweils 107 gleichzeitig liefen – durch Akteure eines global vernetzten Kapitalismus. Im bei maximal 190 zu einem Zeitpunkt laufenden Protesten wohl bekanntesten Fall, dem Protest gegen eine Teilbe- im Jahr 2014. bauung des ehemaligen Tempelhofer Flugfelds in West- Planungsproteste können insofern mit Fug und Berlin, trauten die Gegnerinnen und Gegner gerade Recht als alltägliche Ereignisse betrachtet werden. Dies dem lange Zeit beliebten Senat aus einer Koalition von ist nicht allein als Abgrenzung zu umfassenderen Pro- SPD und Die Linke unter Klaus Wowereit nicht mehr. Er testen auf übergeordneten politischen Ebenen anzuse- hatte unter anderem versprochen, landeseigene Woh- hen (vgl. Haughton/Gilchrist/Swyngedouw 2016). Viel- nungsgesellschaften mit der Realisierung von Sozial- mehr zeigt sich darin ihre Selbstverständlichkeit und wohnungen zu betrauen und verstreut angesiedelte schiere Häufigkeit. Man kann vermuten, dass dieser Bibliotheksstandorte zu vereinen. Zumeist stellen sich Befund der besonderen politischen Möglichkeitsstruk- die Proteste weniger spektakulär und oft gewisserma- tur in Berlin geschuldet ist – (West-)Berlin ist nicht nur ßen ‚bürgerlicher‘ dar als im Beispiel „Mediaspree“. Dro- als Hochburg der Studierendenbewegung und alterna- hende Mietsteigerungen durch Sanierungsmaßnahmen tiver Bewegungen bekannt geworden. Den 15 bis 25 gehören genauso dazu wie die Bebauung von Baulü- Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung liegenden cken, die als wichtige kleine Freiflächen in einer dicht Untersuchungszeitraum prägten die Folgen eines mas- bebauten Innenstadt betrachtet werden. Die Fällung von siven sozioökonomischen Transformationsprozesses, Bäumen, der Abriss von Gebäuden, die Einführung einer der vielerorts zur Notwendigkeit geführt hat, die Pro- Parkraumbewirtschaftung oder die Erhebung von Stra- duktion städtischer Räume neu zu verhandeln. Dabei ßenausbaubeiträgen werden genauso zum Gegenstand ging es nach dem Abbau der Berlin-Subventionen und von Protesten wie der Unmut über Bahnlärm oder das der Wiedergewinnung der Hauptstadtfunktion um Ent- Fehlen eines Zebrastreifens. Die Zahlen der Beteiligten wicklungen von der Wiedernutzung vormals brachgefal- und die Aktionsformen deuten darauf hin, dass Proteste lener Flächen bis zum Umgang mit einem inzwischen mit eindeutigerem Planungsbezug tendenziell umfang- beträchtlichen Bevölkerungswachstum im Umfeld einer reicher und in gewisser Weise auch ‚spektakulärer‘ sind. Besonders augenfällig bringen die zwei im DFG- Projekt in Fallstudien vertieft untersuchten Vorhaben auf vielen Protesten gar keine Teilnehmerzahl bekannt ist, die in die Ermittlung der Gesamtzahl hätte eingehen können. den Punkt, dass sich Planungsproteste in Berlin pau- 3 Zugleich waren maximal 3,7 Mio. Menschen zu einem Zeitpunkt schalen Darstellungen entziehen. Das erste Vorhaben, gleichzeitig in Berlin ansässig. im Südosten Berlins, betrifft die Planung einer größe-
190 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock ren überbezirklichen Hauptverkehrsstraße im Umfeld NIMBY-Proteste4 zu, denen aufgrund einer (vermeintli- eines weitgehend durch Einfamilienhäuser geprägten chen) Abwehrhaltung eine geringe Gemeinwohlorien- Stadtteils. Entgegen der Vermutung, dass die Sorge vor tierung unterstellt wird (vgl. dazu kritisch Lake 1993). In zusätzlichem Verkehr und dessen Auswirkungen eine der angloamerikanischen Literatur werden dem Begriff prinzipielle Ablehnung vor Ort hätte auslösen können, weitere Akronyme zur Seite gestellt (vgl. Menzl 2014), ging es dort aber gar nicht um die grundsätzliche Sinn- sodass hier so etwas wie eine Typologie ablehnender haftigkeit der Straße. Vielmehr setzten sich die Protes- Fremdzuschreibungen entsteht. Da Planungsproteste tierenden für die Umsetzung einer abgeänderten Pla- häufig gemeinsam mit städtischen Bewegungen betrach- nungsalternative ein, die vor Ort im Planungsprozess tet werden, gibt es in der entsprechenden Literatur eine durchaus in Betracht gezogen worden war. Die Protes- Vielzahl von Unterscheidungs- bzw. Abgrenzungsan- tierenden erreichten mit ihrer konstruktiven Mitwirkung sätzen. So unterscheidet bereits Castells (1977) urbane eine Neubewertung der Alternativen, die letztlich zu „Soziale Bewegungen“ und Proteste nach ihrem revolu- einer veränderten Einschätzung der jeweils zu erwarten- tionären oder reformorientierten Potenzial. Künkel und den Auswirkungen führte. Mayer (2012) greifen beispielsweise aus aktuellen städ- Das zweite Vorhaben drehte sich um die Umwand- tischen Mobilisierungen solche heraus, die sich gegen lung einer innenstadtnahen Kleingartenfläche in der den städtischen Neoliberalismus richten und Vollmer westlichen Innenstadt in ein Wohnquartier. Möglich (2017) unterscheidet munizipalistische und rechtspopu- geworden ist sie nicht etwa deswegen, weil in Zeiten listische Bewegungen entsprechend ihrer Zielsetzun- einer entfesselten Wohnungsnachfrage die städtische gen. Politik auf eine forcierte Überbauung drängte. Vielmehr Innerhalb solch vielfältiger Unterscheidungsansätze versuchte der Bezirk über lange Zeit vergeblich, die wird hier ein empirisch begründetes analytisches Vor- Fläche als Kleingartenfläche zu sichern. Er scheiterte gehen gewählt, um Planungsproteste systematisch und aber, als nach einem Grundstücksgeschäft Entschädi- vollständig zu erfassen. Entgegen den häufig dominie- gungsansprüche durch den neuen Eigentümer aufgrund renden prozessualen Fragen – Welche Verfahren und der rechtlich umstrittenen Tragweite eines historischen, Beteiligung? Zu welchem Zeitpunkt? – werden hierfür aber gleichwohl weiterhin gültigen Plans befürchtet die Protest- bzw. Planungsinhalte herangezogen. wurden. Der anfängliche Kleingärtnerprotest gipfelte Anders als im NIMBY-Diskurs werden sie allerdings schließlich in einem Bürgerentscheid, der weit über die aus den Selbstbeschreibungen der Protestierenden lokalen Akteure hinaus Zustimmung fand und mit dem bestimmt. Die Untersuchung prozessualer Faktoren ist Willen der bezirklichen Politik übereinstimmte. dann ein zweiter Schritt (vgl. Kapitel 5), der sich durch Schon diese Einblicke machen deutlich, wie komplex die vorangestellte Analyse der Inhalte auch nicht allein die Protestwirklichkeit in Berlin ist. Die im Folgenden dar- auf Möglichkeiten zur ‚Verhinderung‘ von Planungspro- gestellten empirischen Befunde sollen im Zusammen- test begrenzen muss. hang mit dem Versuch einer Protest-Typologie einen Ausgangspunkt ist das „strategische Framing“, das ersten Schritt auf dem Weg zu einem solchen vertieften seit Snow/Rochford/Worden et al. (1986; vgl. Kapitel 1.2) Verständnis ermöglichen. als ein wichtiges Protestmittel Eingang in die Protest- forschung gefunden hat. Die von Protestakteuren diag- nostizierten Probleme werden dabei als Anlässe, prog- 4.2 Planungsinhalte als zentraler Anlass nostizierte Lösungsvorschläge als Anliegen bezeichnet. für Planungsproteste Anders als in der planerischen Debatte spielen unter den 416 Fällen des Forschungsprojektes verfahrens- In der deutschsprachigen Literatur entwickelten Othen- bezogene Anlässe und Anliegen kaum eine Rolle (vgl. grafen und Sondermann (2015: 12 f.) eine Einteilung Abbildung 2). Nur sehr wenige Protestierende bemän- nach Protestursachen mit vier sich gegebenenfalls geln hauptsächlich fehlende Beteiligung oder Verfah- überlagernden Konfliktarten (Ziel-, Werte-, Mittel- sowie rensfehler. Meist beziehen sie sich in der Hauptsache strukturelle Konflikte). Planungsproteste seien stets auf materielle Konflikte in der gegenwärtigen räumlichen Betroffenenproteste. In ähnlicher Weise sind es auch an Situation oder als Ergebnis eines bestehenden Trends, anderer Stelle eher Abgrenzungen einzelner phänome- einer vorgeschlagenen Planung oder eines angestreb- nologisch begründeter Protestarten, die nur ansatzweise ten Bauvorhabens. Ihr wesentliches Ziel ist ein konkreter zutreffend charakterisiert werden. Das trifft insbesondere auf die in der internationalen Literatur häufig benannten 4 NIMBY = Not in my backyard.
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 191 Anlass Anliegen 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 Planungsinhalte Planungsverfahren Abbildung 2: Anteil der Planungsinhalte und Planungsverfahren als Anlässe und Anliegen von Planungsprotesten in Berlin zwischen 2005 und 2015 (N = 416) Lösungsvorschlag zu einem Stadtentwicklungsproblem, zu bringen, was das Bezirksamt verweigerte. Das Bei- eine Alternative zu bestehenden Plänen. In anderen spiel zeigt, dass die Problemlösungsansätze konflikthaft Fällen besteht das Anliegen gerade darin, als negativ sind und widersprüchliche Ansätze für Gegenwart und wahrgenommene Situationen oder ‚ungeplante‘ Ent- Zukunft der gebauten Umwelt beschreiben. Es bedeutet wicklungen als Planungsaufgabe zu erkennen. aber auch, dass Protestforderungen häufig weder unan- gemessen noch unerfüllbar sind. Obwohl Anlässe und Anliegen dem strategischen 4.3 Planungsproteste als alternative Framing der Protestierenden entstammen, lassen sie Problemlösungsansätze: eine sich auch als Basis für eine analytische Unterscheidung planungsbezogene Typologie von von Planungsprotesten nutzen. Da sich die zumeist Protestarten konkreten Lösungsansätze stark auf die lokale Planung beziehen, ist eine auf ihnen aufbauende Typologie Betrachtet man das Gesamtspektrum der erfassten grundsätzlich bedeutsam. Dennoch ist der Erklärungsan- Proteste überwiegt zunächst der Eindruck der Vielfalt. satz beschränkt auf Zeit und Ort der empirischen Basis. Einzelne Planungsproteste können danach unterschie- Die in Tabelle 1 gezeigten und im Folgenden beschrie- den werden, ob sich Betroffene oder Nichtbetroffene benen neun Protestarten sind für Berlin zwischen 2005 beteiligen (vgl. Kapitel 5.3), welche Planungsfelder und und 2015 gültig. Die analytisch gebildeten Kategorien Planungsinstrumente angesprochen werden und welche erscheinen aber prinzipiell übertragbar. Insofern wird Organisationsform die Protestnetzwerke ausbilden. Die Berlin als empirische Grundlage im Folgenden vor allem hier vorgenommene Fokussierung auf Problemlösungs- als Illustration der grundsätzlichen analytischen Unter- ansätze stellt insofern eine deutliche Reduktion der scheidungen verwendet. Komplexität dar. Zugleich zeigt sich bereits eine hohe Um zu einer Kategorisierung der Protestarten zu Diversität. gelangen, werden die vielfältigen Anlässe und Anliegen Im Gegensatz zu überlokalen Protesten und sozialen jeweils anhand stark vereinfachter Kriterien unterschie- Bewegungen sind Anlässe und Anliegen von Planungs- den (in Tabelle 1 durch Linien voneinander getrennt). protest in der Regel konkret. Protestierende benennen Anlässe werden danach unterschieden, ob sie sich auf beispielsweise ein bestimmtes Planungsdokument oder bestehende Situationen im Stadtraum beziehen (situati- die vorgesehene Zerstörung eines historischen Gebäu- onsbezogene Anlässe) oder ein Planungsvorhaben den des als Anlass und fordern, dies zu verhindern, abzu- Ausgangspunkt bildet (planungsabhängige Anlässe). schwächen oder zu verändern. In einigen Fällen schla- Diese einfache Differenzierung zeigt zunächst, ob Pro- gen sie auch konkrete alternative Lösungen, manchmal testierende eine Veränderung der gebauten Umwelt sogar eigene Pläne vor. Damit ist es im Planungskontext einschließlich ihrer ‚ungeplanten‘ Dynamiken wünschen möglich, die ‚doppelte Signatur‘ aus Anlass und Anlie- oder ob die lokale räumliche Planung eine Veränderung gen als alternativen Problemlösungsansatz aufzufas- vorsieht und damit den Protest verursacht. Die Anliegen sen. Protestierende greifen dabei oft unberücksichtigte werden in die drei Kategorien Ablehnung, Änderungen Alternativen aus offiziellen Planungsdokumenten auf. Im und Eigeninitiativen eingeteilt. Während die genaue Fall der Berliner Kleingärten forderten sie etwa, einen Form der Ablehnung vom Anlass abhängt (vgl. nach- beschlossenen Bebauungsplanentwurf zur Rechtskraft folgend unter „Planungsabhängige Planungsproteste“),
192 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock Tabelle 1: Schematische Aufteilung der Arten aktueller planungsbezogener Proteste in Berlin Anlass Anliegen primär reaktiv primär initiativ Ablehnung Änderung planungsabhängig Neubauabwehrproteste Planungsänderungsproteste Abwehrinitiativproteste Zerstörungsabwehrproteste Umstrukturierungsabwehrproteste Gestaltungsabwehrproteste Wirkungsabwehrproteste situativ Situationsabwehrproteste Situationsinitiativproteste Tabelle 2: Anteile der Planungsprotestarten in Berlin zwischen 2005 und 2015 (N = 416) Protestart Anteil planungsabhängig Neubauabwehrproteste 16 % zusammen Zerstörungsabwehrproteste 9% 53 % Umstrukturierungsabwehrproteste 7% (Planungsabwehrproteste) Gestaltungsabwehrproteste 9% Wirkungsabwehrproteste 12 % Planungsänderungsproteste 12 % Abwehrinitiativproteste 7% situativ Situationsabwehrproteste 17 % Situationsinitiativproteste 10 % wollen Änderungsproteste Planungen nicht gänzlich Situationsbezogene Planungsproteste verhindern, sondern abwandeln. Eine sehr deutliche Der wesentliche Anlass von mehr als einem Viertel der Abgrenzung zu ablehnenden Protesten findet sich in dokumentierten Proteste ist nicht ein Planungsprozess, einer der beiden Fallstudien: Die Bürgerinitiative formu- sondern eine bestehende Situation (27 %). Letztere stellt lierte hier als Motto: „[Schnellstraße] ja, aber nicht so!“. sich für die Protestierenden dabei durchaus unterschied- Eine dritte Kategorie umfasst sämtliche Forderungen, lich dar. Situationsbezogene Planungsproteste zeigen die eigene (Planungs-)Ideen der Protestierenden in den die kleinen und großen Probleme, die Bürgerinnen und Vordergrund stellen. Wo Bürgerinnen und Bürger initiativ Bürger in der gebauten Umwelt wahrnehmen. Gleichzei- werden und nicht (nur) reaktiv bleiben, wird für viele der tig bleibt die geforderte planerische Lösung dieser Prob- positive Aspekt von Protest am deutlichsten. leme häufig unscharf. Tabelle 2 zeigt, dass mehr als die Hälfte der erfassten Gentrifizierung und andere Formen städtischer Proteste Planungsabwehrproteste sind. Entsprechend Restrukturierung zählen zu den häufigsten Anlässen von der abgelehnten Planungsinhalte wurden hier fünf Pro- Situationsabwehrprotesten. Bemerkenswert ist, dass testarten unterschieden. Die nachfolgende Beschreibung diese auch im Stadtentwicklungsdiskurs der vergange- gliedert sich anhand der prinzipiellen Unterscheidung in nen Jahre zentralen Themen durch die Protestakteure situationsbezogene und planungsabhängige sowie reak- eben nicht direkt mit Planungen in Verbindung gebracht, tive und initiative Planungsproteste. Da reaktive Proteste sondern als allgemeine Trends dargestellt werden. Situ- die Mehrheit der situationsbezogenen und planungsab- ationsinitiativproteste sind hingegen in der Regel klein- hängigen Proteste darstellen und ohnehin dem gängi- teilig und formulieren ‚einfache‘ Lösungen für das direkte gen Protestverständnis am nächsten kommen, ist eine Lebensumfeld. Ein Schwerpunkt ist der Straßenverkehr eigenständige Erläuterung entbehrlich. – Lösungen reichen von Tempolimits über Ampeln bis hin zu Fußgängerüberwegen.
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 193 Tabelle 3: Unterschiede planungsabhängiger Planungsproteste in Berlin 2005 bis 2015 anhand der häufigsten Ausprägungen ausgewählter Merkmale (N = 416) Merkmal Art des planungsabhängigen Planungsprotests Neubau Zerstörung Umstrukturierung Gestaltung Häufigster Anlass Abwehr (58 %) Erhalt (76 %) Erhalt (72 %) Abwehr (68 %) Häufigstes Planungsfeld Wohnen (44 %) soziale Infrastruktur (40 %) Wohnen (56 %) Stadterneuerung (34 %) Häufigstes Bauleitplanung (38 %) sonstige öffentliche Bauleitplanung (46 %) private Instrumente Planungsinstrument Instrumente (44 %) (42 %) Häufigste verantwortliche Gesamtstadt (51 %) Bezirk (62 %) Bezirk (78 %) Bezirk (75 %) Verwaltungsebene Anteil Betroffenen 53 % 71 % 91 % 77 % proteste Durchschnittlich Beteiligte 32.000 14.000 18.000 4.500 Planungsabhängige Planungsproteste Eine zusätzliche planungsabhängige Protestart wird Werden planungsabhängige Proteste betrachtet, die nicht hinsichtlich der Anlässe unterschieden, sondern sich auf ein laufendes Planungsverfahren beziehen, so durch die vorgebrachten Anliegen. Dabei werden häufig zeigt sich, welche inhaltlichen Probleme Bürgerinnen detaillierte Planänderungen gefordert. In einigen Fällen und Bürger in der lokalen räumlichen Planung sehen geht es um die Minimierung von negativen Auswirkun- und welche Lösungen sie vorschlagen. Hier können gen, in anderen um eine Abwandlung von Entwurf, Ablehnung, Änderung und Initiative als modellhafte Ver- Gestaltung oder Nutzung. Kann man die fünf übrigen kürzung eines kontinuierlichen Spektrums verschiede- planungsabhängigen Proteste klischeehaft auf ein ‚Nein‘ ner Anliegen zwischen den drei Polen blanke Abwehr, zum vorgesehenen Plan reduzieren, so wird hier – wie Detailveränderung und unabhängiger Gegenvorschlag im Fall der Ostberliner Schnellstraße – ein ‚Ja, aber‘ erachtet werden. geäußert. Eine siebte Art, das ‚Nein, aber‘ der Abwehrin- Ablehnung bedeutet, dass der soziale Wandel als itiativen, wird nachfolgend beschrieben. Anliegen politischen Protests nur implizit artikuliert wird oder einer Umkehrlogik folgt: Protestierende Bür- Planungsproteste als Planungsinitiativen gerinnen und Bürger lehnen den sozialen Wandel ab, Ein knappes Viertel aller untersuchten Planungspro- den Planung oder gegenwärtige Entwicklungstrends teste sind Initiativen, die Planung weniger als ‚Gegner‘, bringen, und wünschen – positiv formuliert – den Erhalt sondern vor allem als Adressatin einer Forderung der bestehenden Situation. Insofern ist es häufig eine ansehen: „Gestaltet unseren Quartiersplatz!“, „Errichtet reine Frage des Framings, ob ein Protest sich gegen eine Ampel!“, „Baut einen Abenteuerspielplatz!“ Dies die Zerstörung oder Veränderung des Bestandes oder wird von Planenden häufig nicht als Protest wahrgenom- für dessen Erhalt einsetzt. Wie oben ausgeführt, wurden men, sondern als (willkommenes) zivilgesellschaftliches diese Proteste in der Typologie anhand der spezifischen Engagement. Dennoch bestehen Ähnlichkeiten mit den Anlässe bzw. Planungsinhalte differenziert. Tabelle 3 übrigen Protestarten, zunächst und vor allem beim (teil- zeigt, wie stark sich diese fünf Protestarten unterschei- weise impliziten) Widerspruch zur offiziellen Planung, den: Einige betonen die Abwehr, andere hingegen den die häufig als Nicht-Planung wahrgenommen wird. Erhalt. Auslöser sind die öffentliche Bauleitplanung oder Auch werden Forderungen nicht offen formuliert und in private Instrumente bzw. Bautätigkeit. Auffällig ist auch, der Regel findet eine Festlegung auf einen bestimm- dass Betroffene insbesondere bei Umstrukturierungs- ten Lösungsansatz statt. Schließlich muss der positive abwehrprotesten auftreten, während gegen Neubauvor- Anspruch an Planung nicht dazu führen, dass der Wider- haben – beispielsweise bei neuen Stadtquartieren auch spruch weniger deutlich wäre. aus Mangel an direkter Betroffenheit – im Protest vor Letzteres gilt insbesondere für Abwehrinitiativpro- allem Gemeinwohlinteressen artikuliert werden. teste. Sie reagieren nicht auf eine Situation, sondern sind planungsabhängig. Ihre eigenständig vorgetragene
194 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock Idee erwächst aus der Ablehnung einer bestehenden facher wie eindeutiger Ablehnung planerischer Eingriffe Planung. In Berlin bilden sie den kleineren Teil der Ini- bis hin zu sehr konkreten, ausgewogenen Änderungs- tiativproteste, doch wird in ihnen die ‚doppelte Signatur‘ wünschen ist möglich. Die Vielfalt zeigt allerdings auch, am deutlichsten: Anstelle des hegemonialen Problemlö- dass eine ernsthafte planerische Auseinandersetzung sungsansatzes entwickeln die Bürgerinnen und Bürger mit dem Phänomen ebenso vielfältige Reaktionen her- durch sie eine konkrete Alternative, etwa ein Nachbar- vorrufen müsste. schaftszentrum in einem Innenhof, der für eine Nach- verdichtung mit Wohnnutzung vorgesehen ist, die Grün- dung einer Stiftung zur Errichtung neuer Wohngebäude statt eines Investors oder ein Kultur- anstelle eines 5 Differenzierte planerische Einkaufszentrums. Entsprechend besitzen sie stärkere Reaktionen auf vielfältige Bezüge zur lokalen Planung als die oben beschriebenen situationsbezogenen Initiativen. Proteste 5.1 Vielfältiger Protest fordert 4.4 Vielfalt von Protest jenseits der differenzierte Konfliktanalysen und Typologie Reaktionen heraus Im Gegensatz zu den in Kapitel 4.2 angeführten Unter- Für Planungspraktikerinnen/-praktiker oder Politikerin- scheidungen stellen die neun Protestarten eine Mög- nen/Politiker, die erstaunt über die vielen Bürgerproteste lichkeit dar, das gesamte Protestspektrum überschnei- sind, halten mehr als 40 Jahre Protestforschung eine dungsfrei einzuteilen und dabei die fachliche, nicht aber recht eindeutige Erkenntnis bereit: „[p]eople do not risk die normative Perspektive der räumlichen Planung ein- their own skin or sacrifice their time to engage in con- zunehmen. Trotzdem zeigen sie nur einen Ausschnitt tentious politics unless they have good reason to do so“ aus der aktuellen Vielfalt (vgl. Tabelle 4): Bürgerinnen (Tarrow 2011: 10 f.). Protest ist also als rationale, normale und Bürger wollen in verschiedenen Bereichen mit politische Strategie mit Erfolgschance anzusehen. Die vielfältigen Gründen und Zielen unterschiedlich an der empirischen Befunde aus Berlin machen deutlich, dass Planung teilhaben. Die Protestierenden sind häufig, aber diese Normalität Eingang in die Planungswirklichkeit nicht immer betroffen, sie lassen sich nur selten eindeu- gefunden hat und Planungsprotest weder als Krisenphä- tig den überlokalen Sozialen Bewegungen zuordnen nomen noch als Ausdruck fehlgeleiteter Planung zu ver- und nutzen verschiedene Aktionsformen, um auf ihre stehen ist (Herkenrath 2011: 32). Er kann unterschied- Anliegen aufmerksam zu machen. Die meisten Proteste lichen politischen Zielen wie der Mobilisierung oder werden auf Bezirksebene und von anlassbezogen gebil- Einflussnahme dienen (Gamson 1975). Im Berliner Fall deten Bürgerinitiativen durchgeführt. Nicht zuletzt sind handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine inhalt- viele unterschiedliche Planungsfelder und Planungsinst- liche Einflussnahme. Protest ist also Ausdruck eines rumente Gegenstand der Proteste. veränderten Machtbegriffs, als Anwendung von „power Dies liegt zunächst daran, dass die lokale räumliche to“ anstatt von „power over“ (Wrong 2009). Es erscheint Planung selbst vielfältig ist. Die Bandbreite der Instru- einleuchtend, dass kaum jemand mit Protest nur Pla- mente, Ziele und Eingriffstiefen führt zwangsläufig zu nungsprozesse, sondern meist auch Inhalte verändern einer Diversität in den Anlässen und Anliegen von pla- möchte. Dies unterscheidet Planungsprotest von vielen nungsbezogener politischer Partizipation. In einer indi- überlokalen Protesten, Bewegungen und nicht zuletzt vidualisierten, zugleich aber vernetzten Gesellschaft Revolutionen, bei denen auch immaterielle Rechte und ist davon auszugehen, dass sich das Protestspektrum demokratische Verfahren im Mittelpunkt stehen können. diversifiziert, wie das etwa für die beteiligten Personen- Wenn Protest jedoch nur eine Ausdrucksform städ- gruppen seit Langem beobachtet wird (Rucht 2006: tischer Politik unter vielen darstellt, wird es wesentlich 205). Dennoch überraschen die unterschiedlichen Pro- einfacher, seine vielschichtigen Beziehungen zur räum- testarten und die sich daraus ergebenden, zum Teil lichen Planung zu untersuchen. Seine Normalität drückt entgegengesetzten Bezugnahmen auf die Planung: Sie sich auch in der großen Bandbreite von Anwendungen kann (Mit-)Auslöserin sein, aber auch als Problemlöserin im Rahmen von Planungsverfahren durch viele Men- angefragt werden. Protest kann auf Planung reagieren, schen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen aus sie aber auch initiieren. Ein breites Spektrum von ein- (vgl. Rucht 2006). Es ist zu vermuten, dass unter den
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 195 Tabelle 4: Übersicht über Anteile der wichtigsten Merkmalsausprägungen (N = 416) Anlass Anliegen Begründung Betroffenheit Vorhaben (57 %) Ablehnung (60 %) Bestand (36 %) ausschließlich Betroffene Situation (19 %) eigene Vorstellung (25 %) Vorhaben (35 %) (58 %) Framing Wirkung (14 %) Änderung (13 %) Verfahren (4 %) ausschließlich Nicht- Trend (8 %) Partizipation (2 %) Grundsätze (2 %) Betroffene (21 %) Verfahren (1 %) Protestumfang (0,2 %) Betroffene und Nicht- Bewegung (0,2 %) Betroffene (12 %) keine Angaben (1 %) keine Angaben (0,4 %) keine Angaben (24 %) keine Angaben (10 %) Planungsinstrument Planungsfeld Verfahrensstand sonstige öffentliche soziale Infrastruktur (20 %) laufend (unspezifisch, Instrumente (22 %) Mobilität, technische Infrastruktur 31 %) Auslösende Momente private Instrumente (12 %) (19 %) vorzeitig (26 %) Bauleitplanung (9 %) Stadterneuerung (18 %) spät (18 %) nachgeordnete Verfahren (5 %) Wohnen (14 %) früh (14 %) Fachplanung (5 %) Freiflächen (10 %) nachträglich (6 %) informelle Konzepte (2 %) Migration (7 %) Beteiligung (2 %) Gewerbe/Einzelhandel (5 %) Neubau unspezifisch (2 %) Immobilienwirtschaft (2 %) Sonstiges (1 %) keine Angaben (42 %) keine Angaben (1 %) keine Angaben (12 %) Organisationsform Bewegungszugehörigkeit Anzahl Beteiligte Aktionsformen anlassbezogene Vereinigung keine Zugehörigkeit (66 %) zwischen 100 und 10.000 demonstrative (21 %) (77 %) stadtpolitischer Protestkomplex (25 %) Sammlungen (17 %) Einzelperson (8 %) (18 %) unter 100 (15 %) digitale (17 %) Nichtregierungsorganisation soziale Bewegung (16 %) über 10.000 (5 %) informative (15 %) Trägerschaft (7 %) expressive (5 %) Unternehmen (4 %) plakative (4 %) Sonstige (2 %) Sonstiges (4 %) Klage/Einspruch (4 %) Bürger-/Volksbegehren (3 %) direkte (2 %) direkte Ansprache (2 %) keine Angaben (3 %) keine Angaben (55 %) keine Angaben (9 %) Objektart Planungsebene nur Verwaltung (32 %) Bezirk (54 %) Verwaltung und Politik (17 %) Gesamtstadt (41 %) Protestobjekte Verwaltung, Politik und Sonstige (11 %) nur Sonstige (10 %) Verwaltung und Sonstige (5 %) nur Politik (5 %) Politik und Sonstige (3 %) keine Angaben (17 %) keine Angaben (6 %)
196 Grischa Frederik Bertram, Uwe Altrock Wirkung 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 Planungsinhalte Planungsverfahren beide keine Abbildung 3: Anteil der veränderten Planungsinhalte und Planungsverfahren als Wirkung von Planungsprotesten in Berlin zwischen 2005 und 2015 (N = 416) ‚guten Gründen‘ zu protestieren auch einige den gemein- besserten Argumentationen der öffentlichen Hand. So wohlorientierten Zielen der Planung entsprechen. So können nicht unmittelbar aus dem Planungsvorhaben lässt die große Zahl von Protestbeteiligten ohne direkte erkennbare Gemeinwohlinteressen oder weitergehende Betroffenheit darauf schließen, dass sich hinter dem ver- Entwicklungsüberlegungen besser im Kontext erläutert meintlichen Eigennutz der Protestierenden auch soziale werden. Verantwortung verbergen kann. Die vielfältigen Kom- Eine schwierige Herausforderung ist die Integration binationen von Anlässen und Zielen machen deutlich, von normal gewordenem Protest in die Planungsrouti- dass Planungsproteste um alternative Ansätze und Ver- nen der Verwaltung. Meist bestehen weder Verfahrens- ständnisse von einer gerechten Stadt ringen. Ein Blick regeln, die den Verwaltungen bestimmte Reaktionen darauf, worauf Aktivisten mit ihrer Politik abzielen („what vorgeben, noch übergeordnete Behörden, die nötigen- […] activists [..] are tilting their politics at“; Mitchell/Attoh/ falls intervenieren. Doch auch wenn auf Protest durch Staeheli 2015: 2646) sowie eine Untersuchung ihrer aufwendige Beteiligungsverfahren reagiert wird, können Lösungsvorschläge zeigt die politische Dimension ihres diese nicht immer zu einer Befriedung beitragen. Eine Handelns auf. Antwort darauf, wie „diese unregierbare Stadt“ (Inter- Die beschriebene Vielfalt legt nahe, mögliche view mit einem leitenden Berliner Senatsmitarbeiter im Reaktionen der Planenden künftig systematischer zu Herbst 2014) mit Instrumenten der Beteiligung und Kon- betrachten. Proteste wurden bislang vielfach ignoriert fliktbewältigung planerisch entwickelt werden sollte und oder allenfalls über kollaborative Prozesse eingebunden welche Rolle dabei Proteste spielen, ist also offenbar und entschärft (Othengrafen/Sondermann 2015: 14 ff.). bislang nicht in Sicht. In Abbildung 3 werden Fälle berücksichtigt, in denen Veränderungen durch Bürgerentscheide und ähnli- che politische Entscheidungen außerhalb der Planung 5.2 Differenzierung der Reaktionen nach durchgesetzt wurden. Selbst wo Proteste als Teil eines Protestarten pluralistischen politischen Alltags anerkannt werden, unterbleibt bislang eine weitergehende Analyse. Auch Gleichwohl lassen sich erste Überlegungen zu einem in der Planungspraxis lohnt es sich, genauer hinzuse- Umgang mit Protesten in Anbetracht der vorgestellten hen und die vielfältigen Anlässe und Ziele von Protest Typologie anstellen. So können situationsbezogene Pro- differenziert zu betrachten, um angemessene und faire teste politische Frühwarnsysteme ergänzen, wenn die Reaktionen zu entwickeln. Die in den Protestarten orts- Bevölkerung mit baulich-räumlichen Verhältnissen unzu- und zeitspezifisch ausformulierten Protestarten können frieden ist. Protest entsteht hier, weil nach Ansicht von hier einen Analyseansatz darstellen, der aber durch Bürgerinnen und Bürgern die lokale räumliche Planung weitere Einordnungen ergänzt werden muss (vgl. Kapitel für eine Problemlösung zu kurz greift. Zwar können 5.3). In vielen Fällen kann ein gründlicheres Nachden- situationsbezogene Proteste weder unmittelbar in Pla- ken zu verbesserten Problemlösungen und differenzier- nungsinitiativen umgesetzt werden, noch stellt die in teren planerischen Antworten führen – und zwar nicht ihnen geäußerte Unzufriedenheit immer ein zuverlässi- nur aus Sicht der Protestierenden. Im umgekehrten ges Stimmungsbild der Bevölkerung dar. Doch ein Moni- Sinn zwingen Protestforderungen, die aus planerischer toring situationsbezogener Proteste kann im Zusam- Sicht individuellen Interessen deutlich den Vorrang menspiel mit anderen Mechanismen der Kommunikation gegenüber Gemeinwohlinteressen einräumen, zu ver- wahrgenommener Missstände Stadtentwicklungspro-
Auf dem Weg zur Normalität: Planungsbezogener Protest und planerische Reaktionen 197 zesse qualifizieren. Neben traditionellen Formen, der- sorgfältig aufzugreifen. Die Vehemenz, mit denen sie artige Meinungsäußerungen zu kanalisieren und im bisweilen vorgetragen werden, erfordert eine angemes- Idealfall zu nutzen (etwa Petitionsrecht), wäre über eine sene Behandlung und Abwägung der Argumente sowie Stärkung regulärer Feedback-Systeme nachzudenken. eine sachliche Kommunikation. Nur so kann auch im Dies könnte Bürgerinnen und Bürgern niedrigschwel- Falle einer Zurückweisung sichergestellt werden, dass lig Möglichkeiten der Mitteilung eröffnen – ernsthaft, keine grundsätzliche Vernachlässigung der dahinterste- aber ohne direkte Hoffnung auf sofortige Veränderung. ckenden Belange vermutet wird. In diesem Zuge ist ins- Inwiefern solche Angebote eine Alternative zur „unkon- besondere eine Kontextualisierung erforderlich, die über ventionellen“ (Barnes/Kaase 1979: 151) Partizipation den gerade verhandelten Einzelfall hinaus aufzeigt, wo durch Protest darstellen und Möglichkeiten bieten, über und wann diese Belange ‚zu ihrem Recht‘ kommen. Die den Mobilisierungs(miss)erfolg zu bemessen, wie breit Schwierigkeit der Reaktion auf diese in Berlin besonders die öffentliche Unterstützung ist (Tilly 2004: 3 f.), wäre häufigen Proteste liegt darin, dass die Differenz zwi- gesondert zu diskutieren. schen offiziellem und alternativem Lösungsansatz am In besonderem Maße gilt dies für Situationsinitia- größten ist und es nicht selten zu Anfeindungen von tiven, die eine bestimmte Planungsaktivität einfordern. Entscheidungsträgern/-trägerinnen, gegebenenfalls Durch ihre Konkretheit und die oft ‚einfachen‘ vorge- auch Planerinnen/Planern, kommt. Letztere sind aber schlagenen Lösungen ist einerseits der Handlungsdruck auch dafür verantwortlich, nicht einfach den am lautes- höher, andererseits ein zeitnahes Aufgreifen durch ten vorgetragenen Argumenten zu folgen, sondern im Politik und Verwaltung möglich. Ignorieren scheint ange- Sinne des Gemeinwohls Belange Dritter hinreichend zu sichts der immer wieder betonten Bedeutung zivilgesell- berücksichtigen. Planungsabwehrinitiativen verkompli- schaftlichen Engagements für die Demokratie (vgl. die zieren diese Situation, wenn sie Gegenvorschläge zur Beiträge in Becker/Gualini/Runkel et al. 2010) besonders aktuellen Planung unterbreiten, die sorgfältig argumen- problematisch. Eine sorgfältige planerische Prüfung und tativ abgewogen werden müssen. Der alternative Prob- Abwägung der in der Regel laienhaften, interessengelei- lemlösungsansatz ermöglicht dann auch eine öffentliche teten Vorschläge scheint jedoch unerlässlich. Diskussion um Vorzüge und Nachteile beider Varianten. Reaktive Proteste dürften die größte Prominenz Angesichts des hohen Konfliktpotenzials reaktiver im Planungsalltag genießen. Durch die beschriebene Proteste ist es wichtig, Planungsänderungsproteste zu innere Vielfalt zwischen Ablehnung, Änderung und Ini- erkennen. Hier ist der materielle ‚Streitwert‘ geringer, tiative sind aber gerade hier ein genauer Blick und eine Berücksichtigung innerhalb der Planung wird in Differenzierung notwendig. Gemeinsam ist den reak- der Regel einfacher und der Vorschlag der Protestak- tiven Protesten, dass die von ihnen vorgeschlagenen teure zugleich weiter ausgearbeitet und ausführlicher Lösungsansätze Alternativen bereithalten. Hinsicht- begründet sein. Die empirischen Befunde zeigen, dass lich der Problembeschreibungen sind hingegen von hier nicht selten auch fachliche Kompetenzen beste- Fall zu Fall Unterschiede erkennbar. Viele Protestak- hen. Dies ermöglicht eine Kommunikation, die auf die teure werden der planerischen Problembeschreibung vorhandene Expertise eingeht. Freilich muss es nicht zumindest teilweise zustimmen, gegebenenfalls aber zwangsläufig dazu führen, dass sich die Protestierenden bestimmte einzelne Aspekte anders bewerten. Nur in der Abwägung aller Interessen durchsetzen. Das oben selten stimmen die Auffassungen hier überhaupt nicht genannte Fallbeispiel der Schnellstraße zeigt, dass überein. Im Gegensatz zu situationsbezogenen Pro- auch Akteure in Planungsänderungsprotesten zunächst testen löst das Planungshandeln die reaktiven Proteste von der Neutralität der Planenden überzeugt werden mit aus, und damit werden die Planenden zumindest wollen, bevor eine erfolgreiche Kommunikation möglich von den Protestierenden häufig als Konfliktpartei wahr- wird, mit der beispielsweise Klagen vorgebeugt werden genommen, der zugleich die Verfahrenshoheit und die kann. Zugleich zeigt sich, dass Planungsänderungen Rolle des Mittlers zukommt. einer genauen Auseinandersetzung mit den Unterschie- Angesichts der Angst, durch Planungsabwehrpro- den zwischen offiziellem und alternativem Problem- teste in den Möglichkeiten einer Steuerung der räum- lösungsansatz bedürfen: Wurde die Schnellstraße in lichen Entwicklung behindert zu werden, erscheint es der Planung als Lösung für eine Reihe von Problemen nachgerade unerlässlich, sich ihre Normalität zu verge- betrachtet, galt sie den Betroffenen primär als Lösung genwärtigen. „Stuttgart 21“ und das „Tempelhofer Feld“ für die starke Belastung anderer Verkehrswege. Daraus in Berlin zeigen, dass es sich lohnt, frühzeitig mit ihnen resultierten deutliche Unterschiede in der Bewertung ein- zu rechnen und die in ihnen vertretenen Argumente zelner Lösungsvarianten. Das dort gewählte Partizipati-
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