Wandel der Sprach- und Debattenkultur - Verbindlichkeit - Artikulation - Meinung Christian Bermes

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Wandel der Sprach- und Debattenkultur
Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung

Christian Bermes

                                           www.kas.de
Impressum

Herausgeberin:
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. 2019, Berlin

Ansprechpartner:
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Thomas Köhler
Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung
Hauptabteilung Politik und Beratung
T: +49 30 / 26 996-3550
thomas.koehler@kas.de

Sabine Stoye
Projektkoordinatorin Wandel der Sprach- und Debattenkultur
Hauptabteilung Politik und Beratung
T: +49 30 / 26 996-3517
sabine.stoye@kas.de

Daphne Wolter
Koordinatorin Medienpolitik
Hauptabteilung Politik und Beratung
T: +49 30 / 26 996-3607
daphne.wolter@kas.de

Gestaltung und Satz: yellow too Pasiek Horntrich GbR
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Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 inter-
national”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecommons.org/licenses/
by-sa/4.0/legalcode.de).

ISBN 978-3-95721-539-0
Wandel der Sprach-
  und Debattenkultur

Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung

Christian Bermes
Überblick

    In der politischen und öffentlichen Diskussion wird in den letzten
    Jahren vermehrt kritisch auf Schmähungen, Beschimpfungen und
    Beleidigungen hingewiesen, die als Ausdruck einer riskanten oder
    toxischen Rhetorik angesehen werden. Der damit einhergehende
    Wandel der Sprach- und Debattenkultur wird in der Öffentlichkeit
    häufig unter den Schlagworten „Verrohung“ oder „Radikalisierung“
    gefasst. Mit diesen Ausdrücken werden Erfahrungen von Defiziten
    in der gesellschaftlichen sowie politischen Kommunikation zum
    Ausdruck gebracht. Die entfachte Kontroverse ist motiviert durch
    Invektiven, die in den digitalen Medien und populistischen Ten-
    denzen der zeitgenössischen Politik zum Ausdruck kommen und
    den Bereich der gesellschaftlichen Selbstverständigung insgesamt
    betreffen. Die Diagnosen und Stellungnahmen werden in einem
    Überblick zusammengestellt und die Komplexität des Problem-
    felds strukturiert, indem die Befunde zum Wandel der Sprach- und
    Debattenkultur mit Blick auf die Aspekte Sprache und Verbindlich-
    keit, Kultur und Artikulation sowie Orientierung und Meinung the-
    matisiert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich ebenso ein
    vertieftes Verständnis des diagnostizierten Wandels erzielen. Denn
    die aktuellen Problemdiagnosen, die die öffentliche und politische
    Sprache betreffen, machen auf eine Krisis der Repräsentation auf-
    merksam. Von einer Krisis der Repräsentation kann gesprochen
    werden, wenn die Momente der Stellvertretung und der symbo-
    lischen Vermittlung, die beide die Repräsentation auszeichnen,
    auseinandertreten. Dies hat Konsequenzen für die Funktion der
    öffentlichen Sprache und die Rolle der Stellvertretung und damit
    für die Verfassung einer liberalen demokratischen Ordnung.

2
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung                                                  5

  1.1 Problemaufriss und Systematik                            5
  1.2 Zeitdiagnosen und Forschungsverbünde                     7
        a. Politische und gesellschaftliche Zeitdiagnosen      7
        b. Auswahl von Forschungsverbünden zum Themengebiet   10

2. Problemfelder und Perspektiven                             15

  2.1 Sprache und Verbindlichkeit                             15
        Zwischenfazit                                         19

  2.2 Kultur und Artikulation                                 19
        Zwischenfazit                                         24

  2.3 Orientierung und Meinung                                24
        Zwischenfazit                                         28

  2.4 Krisis der Repräsentation                               29
        Zwischenfazit                                         31

3. Perspektiven und Zusammenfassung                           35

  3.1 Sprache und Verbindlichkeit                             36
  3.2 Kultur und Artikulation                                 36
  3.3 Orientierung und Meinung                                37
  3.4 Krisis der Repräsentation                               37

Bibliographie                                                 39

                                                                   3
1. Einleitung

1.1 Problemaufriss und Systematik                     registriert werden. Ziel der öffentlichen und poli-
                                                      tischen Verständigung muss es daher sein, diesen
Die Gesellschaft reagiert sensibel auf Ver-           Befunden Rechnung zu tragen und sie in der Form
änderungen des öffentlichen Sprachgebrauchs.          zu kontextualisieren, zu strukturieren und aufzu-
Unter dem Topos einer Verrohung der Sprache           arbeiten, dass Perspektiven für eine nachhaltige
meldeten sich im Jahr 2018 vermehrt Schrift-          öffentliche und wissenschaftliche Diskussion dar-
steller, Politiker und Verbände zu Wort, um auf       aus entstehen.
einen Wandel aufmerksam zu machen, der neuer-
dings zu beobachten sei. Anlässe dafür bieten         Wenn auch zu beobachten ist, dass der Wandel
die Kontoversen um populistische Tendenzen            der Sprach- und Debattenkultur zumindest teil-
in der Politik sowie Entwicklungen, die in den        weise unter dem Schlagwort der „Verrohung“
sogenannten sozialen Medien zu beobachten sind.       geführt wird, so ist eine solche begriffliche Fixie-
Getrieben wird die Diskussion durch u. a. die Aus-    rung zwar kommunikativ hoch anschlussfähig,
einandersetzung mit Fake News, Verschwörungs-         weil Zustimmung und Kritik reflexartig provoziert
theorien, Filter-‚ oder Informationsblasen sowie      werden, sie ist jedoch analytisch unterbestimmt.
Alternativen Fakten und Hate Speech, also dem         Denn es stellt sich nicht nur die Frage, an wel-
Umgang mit Schmähungen, Beleidigungen sowie           chem Maßstab eine „Verrohung“ (und ihr Gegen-
Beschimpfungen, die im Zuge der politischen Ver-      teil) zu messen ist. Sondern der Begriff mit den
ständigung um die Einwanderungs- und Zuzugs-          Konnotationen des Verfalls und des Verlusts
problematik – aber nicht nur in diesem Rahmen –       evoziert auch normative (Untergangs-)Bilder, die
eine besondere Brisanz erhalten haben.                unter Umständen und ungewollt entweder wohl-
                                                      feile Zustimmung oder problematischen Wider-
Im Kontext dieser Stellungnahmen wird zugleich        spruch hervorrufen.
darauf hingewiesen, dass die Auseinander-
setzung im öffentlichen Raum rauer geworden           Die begriffliche Unschärfe, die in dem Konzept der
sei und sich in einer veränderten Debattenkultur      „Verrohung“ liegt, kann nicht bestritten werden;
niederschlage. Die Sprache habe sich radikali-        gleichzeitig aber lassen sich Motive, Gründe und
siert, Grenzen der Sprache würden überschritten,      Ziele, die vermittels einer solchen Diagnose zum
verschoben oder ausgetestet. Von solchen Ten-         Ausdruck gebracht werden, explizieren und ein-
denzen bleibe die politische Auseinandersetzung       ordnen, um dem Befund gerecht zu werden. Sie
nicht verschont – im Gegenteil: Die Form der          betreffen dann nicht nur den engeren Bereich der
politischen Debatte und die Sprache der politi-       Politik, sondern den weiteren Raum der kultu-
schen Auseinandersetzung werden als gefährdet         rellen Selbstverständigung – und sie verweisen
und prekär wahrgenommen.                              letztlich auf grundlegende Fragen der sozialen
                                                      Ordnung. Denn der diagnostizierte Wandel in der
Unabhängig davon, dass der Sprachgebrauch in          Sprach- und Debattenkultur öffnet – implizit oder
historischer Perspektive immer durch Wandlun-         explizit – weitere Fragehorizonte und Problem-
gen ausgezeichnet ist und auch die sprachliche        felder, die in Rechnung zu stellen sind. Mindes-
und institutionelle Formierung von Debatten im        tens drei Dimensionen lassen sich hier identi-
Laufe der Geschichte eine hohe Plastizität besitzt,   fizieren: 1) Unter welcher Perspektive lässt sich
lassen sich die Stellungnahmen gleichsam als          die öffentliche und politische Sprache fassen, um
seismographische Ausschläge verstehen, durch          einen Wandel der Sprach- und Debattenkultur zu
die zwar (noch) keine Erschütterungen und Beben,      verstehen? 2) Welche Bedeutung hat der Rekurs
aber manifeste Irritationen und Verunsicherungen      auf die Kultur, wenn ein solcher Wandel diagnos-

                                                                                                             5
Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       tiziert wird? 3) Wie kann sich trotz – oder vielleicht       populistische Tendenzen in Teilen der zeit-
       auch aufgrund von – Verunsicherungen Orientie-               genössischen Politik und der damit einher-
       rung ergeben?                                                gehenden Orientierungsdefizite das Konzept
                                                                    der Meinung wieder so gefasst werden, dass
       Das Problemfeld, das die Beiträge anlässlich                 es für die politische Kommunikation eine
       der Auseinandersetzungen um den Wandel der                   Rolle spielt? Oder anders ausgedrückt: Wie
       Sprach- und Debattenkultur aufspannen, ist damit             kann Meinungsbildung gelingen, wenn in
       weiter und vielschichtiger als die Verkürzung auf            der Kommunikation der sogenannten sozia-
       ein einzelnes Konzept. Will man den Befunden                 len Medien und in einer riskanten Rhetorik
       somit Rechnungen tragen, so lassen sich die Leit-            populistischer Äußerungen nicht mehr klar
       fragen weiter spezifizieren, um die Komplexität              ist, was „Meinung“ zum Ausdruck bringt?
       der Probleme zu illustrieren:
                                                                Die drei angeführten Fragekomplexe erlauben es
       1.   Die öffentliche und politische Sprache ist auf      einerseits, die gegenwärtigen Verunsicherungen
            Verbindlichkeit ausgerichtet. Wie kann Verbind-     einzuordnen und sie in einer neuen Perspektive
            lichkeit gefasst werden? Auf welche Verbind-        verständlich zu machen. Sie führen aber anderer-
            lichkeiten ist die politische und öffentliche       seits ebenso zu einem vertieften Verständnis,
            Sprache angewiesen, um eine demokratische           worauf der aktuelle Wandel in der Sprach- und
            Meinungsbildung zu ermöglichen? Werden              Debattenkultur gründet. Das Konzept der Reprä-
            solche Verbindlichkeiten verhandelt? Welche         sentation kann einen Zugang zu einem solchen
            Form von Verbindlichkeit kann die öffentli-         vertieften Verständnis der gegenwärtigen Situ-
            che und politische Rede in Anspruch nehmen          ation eröffnen. Denn auch mit Blick auf die Idee
            oder muss sie in ihrem Diskurs voraussetzen?        und die Realität der Repräsentation wird gegen-
                                                                wärtig nicht selten von einer Krise gesprochen.
       2.   Die öffentliche und politische Sprache voll-        Sicherlich ist beim Gebrauch des Ausdrucks
            zieht sich nicht in einem eigenen und eigen-        „Krise“ Vorsicht und Zurückhaltung geboten.
            ständigen Sprachraum, sondern ist selbst            Denn erstens kann in sehr unterschiedlicher Hin-
            Teil der Kultur. Wie lässt sich in diesem Sinne     sicht von Krisen gesprochen werden und zwei-
            Kultur als Medium der Artikulation von Selbst-      tens entwickeln sich Demokratien fortwährend
            und Weltverhältnissen verstehen, wenn sie           weiter und sind auch dadurch ausgezeichnet,
            mit Blick auf den Wandel in der Sprach- und         dass sie nicht bei jeder Krise zusammen-
            Debattenkultur zum Thema wird? Kann in              brechen, sondern diese auch bewältigen kön-
            diesem Kontext ein normativ neutraler Begriff       nen. Wird „Krise“ im Sinne von „Krisis“ – also als
            der Kultur gefasst werden? Oder kommt der           Auseinandertreten – verstanden, so kann der
            Kultur eine normative Kraft zu, die auch für        Ausdruck ein Problemfeld markieren. Denn es
            die öffentliche und politische Sprache von          lässt sich eine Krisis oder ein Auseinandertreten
            Bedeutung ist? In welchem Verhältnis steht          beschreiben, wenn das Konzept der Repräsenta-
            die Ausweitung und Intensivierung digitaler         tion auf zwei seiner Merkmale hin diskutiert wird,
            Kommunikation zur Artikulation, in der sich         deren Zusammenhang aber gegenwärtig prekär
            qualifizierte und souveräne Selbst- und Welt-       geworden zu sein scheint: Mit dem Begriff der
            verhältnisse ausbilden?                             Repräsentation ist erstens der Aspekt der Stell-
                                                                vertretung angesprochen, so dass ‚im Namen
       3.   Gegenwärtige Orientierungsdefizite zeigen           von Anderer und „im Angesicht von Anderer“
            sich nicht zuletzt in dem unklar gewordenen         das Wort ergriffen und gehandelt wird. Zum
            Konzept der Meinung. Wenn nicht mehr klar           anderen ist mit der Idee der Repräsentation der
            ist, was Meinung bedeutet, kann eine poli-          Aspekt des Symbolischen, der Medialität bzw. der
            tische Meinungsbildung auch nicht mehr              Vermittlung angesprochen. Repräsentationen
            gelingen. Wie kann angesichts der Ent-              verwirklichen sich in symbolischen oder media-
            wicklungen in den sozialen Medien sowie             len Ordnungen. Stellvertretungen bedürfen der

6
1. Einleitung

sprachlichen, körperlichen oder institutionellen      Die Konzepte der Verbindlichkeit, der Artikula-
Vermittlung. Treten diese beiden Aspekte – die        tion und der Meinung können somit die Problem-
Stellvertretung und die symbolische Vermittlung –     felder konturieren, die mittels des Schlagworts
auseinander, lässt sich von einer Krisis der Reprä-   „Verrohung“ angesprochen werden. Und die
sentation sprechen.                                   Explikation des Wandels in der Sprach- und
                                                      Debattenkultur kann zentriert werden auf das
Der gegenwärtig diagnostizierte Wandel in             Auseinandertreten von Stellvertretung und sym-
der Sprach- und Debattenkultur kann hieran            bolischer Vermittlung.
anschließend so gefasst werden, dass sich die
sprachliche Vermittlung in der Öffentlichkeit von     Ein solcher Ansatz erlaubt es, die politischen
der Funktion der politischen Stellvertretung ent-     und gesellschaftlichen Zeitdiagnosen in eine
koppelt. Ein solcher Prozess führt zu zwei sich       syste­matische Form zu bringen und ein Feld von
ergänzenden, unter Umständen auch sich ver-           Forschungsfragen zu eröffnen, in dem die Geistes-,
stärkenden Konsequenzen: Politische Repräsen-         Kultur- und Sozialwissenschaften engagiert sind
tation im Sinne der sprachlichen Vermittlung          und neue Impulse setzen können. Denn es stellt
reduziert sich dann auf bloße Aneignung und           sich die vielleicht nicht neue, aber gegenwärtig
Wiederholung von Einstellungen (und nicht mehr        durchaus brisante Frage, wie mit einer solchen
deren Stellvertretung im Horizont der Öffentlich-     Krisis unter den Bedingungen digitaler Kommuni-
keit). Stellvertretung wird dann auf Gefolgschaft     kation bei gleichzeitig sich verstärkenden popu-
reduziert, indem Einstellungen reproduziert wer-      listischen Tendenzen in der Politik umgegangen
den. Und öffentliche Sprache, die sich nicht mehr     werden kann.
im Horizont der Stellvertretung realisiert, redu-
ziert sich auf die Kundgabe und Wiederholung
von Stimmungen und Affekten. Symbolische Ver-         1.2 Zeitdiagnosen und
mittlung ist dann nichts anderes als Verstärkung      Forschungsverbünde
dieser Stimmungen und Affekte.
                                                      a. Politische und gesellschaftliche
Solche Tendenzen finden sich sowohl in den            Zeitdiagnosen
sogenannten sozialen Medien als auch in popu-         Es zeigt sich ein reichhaltiges und vielfältiges Bild,
listischen Sprachverwendungen. Wenn auf Social        wenn das Panorama aufgespannt wird, in dem
Media Plattformen damit geworben wird „Finde          aktuelle Tendenzen eines Wandels der Sprach-
heraus, was gerade in der Welt los ist“, und die      und Debattenkultur registriert werden. Einen
erste Handlungsmaxime „Folge deinen Interes-          ersten Einblick kann die folgende – nicht auf Voll-
sen“ lautet, dann reduziert sich nicht nur die Welt   ständigkeit zielende – Übersicht eröffnen.
recht schnell auf ein Minimum, an die Stelle von
Auseinandersetzung, Diskurs und Debatte tritt         In einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit
die Kundgabe von Einstellungen. Und wenn im           vom 20. Oktober 2016 spricht der damalige öster-
Namen des Populismus die Stimme des Volkes            reichische Bundeskanzler Christian Kern im Kon-
zu Gehör gebracht werden soll, dann ist nicht         text der Auseinandersetzung um den Umgang mit
nur ein vereinfachtes Konzept des Volkes ein          Flüchtlingen und Migranten von einer „Verrohung
Problem, sondern ebenso die Autosuggestion            der Sprache“: „Wir erleben eine Verrohung der
der einen Stimme. Diese wird eigentlich nicht zu      Sprache, eine unglaubliche Respektlosigkeit, die
Gehör gebracht, ohne sich mit ihrem Gehalt aus-       Bereitschaft, persönlich vernichtend mit Personen
einanderzusetzen, sondern sie wird zum Klingen        umzugehen. Wir wissen aus der Geschichte, dass
gebracht. Und auch hier kann von einer Debatte        der Gewalt der Worte irgendwann die Gewalt der
nicht mehr die Rede sein. Debatten erfordern viel-    Taten folgt. Das macht mich besorgt.“ (Kern 2016)
mehr Vermittlung, Distanz und Stellvertretung         Als Option, mit diesem Umstand politisch umzu-
gleichermaßen.                                        gehen, formuliert Kern: „Wir müssen versuchen,
                                                      möglichst alle in ein Boot zu bekommen und zu

                                                                                                                   7
Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       verstehen, dass es ein gemeinsames Ziel geben         nicht nur formell. Daher muss die pluralistische
       muss, das uns verbindet und vereint.“ (Kern 2016)     Demokratie auch gegen jene vom rechten und lin-
                                                             ken Rand verteidigt werden, die sie unter Schwen-
       Am 26. April 2017 weist der Bundespräsident           ken der Flagge der Meinungsfreiheit in einen Ort
       der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter          verwandeln wollen, an dem nur noch eine Mei-
       Steinmeier, anlässlich eines Besuchs der Ludwig-      nung gilt: ihre. Dem müssen aufrechte Demokraten
       Maximilians-Universität in München darauf hin,        entgegentreten – auch dadurch, dass sie wahrlich
       dass im Kontext der digitalen Kommunikations-         Unsägliches weiter unsäglich nennen und es nicht
       möglichkeiten „die Grenze zwischen dem Sagbaren       achselzuckend hinnehmen, wenn es in „das Sag-
       und dem Unsäglichen immer mehr verloren geht,         bare“ umbenannt werden soll.“ (Kohler 2018)
       wo ein Like mehr zählt als die Unterscheidung
       zwischen Fakt und Lüge“. (Steinmeier 2017)            Norbert Lammert hat sich in vielfältigen Stellung-
       Zur Eröffnung der Veranstaltung „Deutschland          nahmen zur öffentlichen Sprach- und Debatten-
       spricht“ am 23. September 2018 kam der Bundes-        kultur in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit
       präsident auf diese Diagnose wieder zurück: „Ich      dem Ziel geäußert, diese sowohl im Parlament
       glaube übrigens, es sind nicht einzelne Lügen         als auch außerhalb desselben zu wahren und zu
       oder gezielte Fehlinformationen, sondern es           sichern. (vgl. u. a.: Lammert 2010; ­Lammert 2011b;
       ist die schiere Überflutung, das tägliche Feuer-      Lammert 2011a) In einem Interview im Deutsch-
       werk von Beschimpfungen und Beleidigungen,            landfunk vom 30. August 2017 mit dem schei-
       das die Grenze zwischen dem Sagbaren und              denden Bundestagspräsidenten kommt die Rede
       dem Unsäglichen immer weiter verschwimmen             auf die „zunehmende sprachliche Verrohung“
       lässt, vor allem aber das moralische Immun-           im Internet. Lammert konstatiert, dass die Aus-
       system hoch beansprucht und erodieren lässt.          breitung der digitalen Medien einen „kontinuier-
       Die Kommunikationsexplosion im Netz bedeutet          lichen, aber tiefgreifenden Veränderungsprozess“
       jedenfalls nicht nur mehr Kommunikation – was         bewirkt, der „Folgen für das Urteilsvermögen
       an sich ja zu begrüßen ist –, sondern vor allem       einer Gesellschaft“ habe: „Der Rückgang der
       lauter, schriller.“ (Steinmeier 2018a) Kurz zuvor,    Beschäftigung mit Zeitungen, mit längeren Tex-
       am 07. Juni 2018, bemerkt Steinmeier in einem         ten, mit von anderen professionell ausgewählten
       Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit: „Demo-      Informationen und deren Verdrängung durch
       kratie verlangt Kritik und braucht Opposition, aber   selbst nachgefragte Themen und dafür verfüg-
       manches in den sozialen Medien erinnert in der        bare Informationen, oft im jeweils gleichen Kon-
       Sprache inzwischen an die Missachtung und Ver-        text von Leuten, die sich nicht nur für das glei-
       ächtlichmachung der demokratischen Institutionen      che Thema interessieren, sondern auch gleiche
       in der Weimarer Demokratie.“ (Steinmeier 2018c)       Einschätzungen von diesem Thema haben, hat
       Im Sommerinterview des ZDF vom 08. Juli 2018          Wirkungen auf die Wahrnehmung von Themen,
       kommt Steinmeier darauf zurück und bemerkt,           ihrer Relevanz und ihrer erwarteten Behandlung“.
       dass in den digitalen Medien „die Grenze des Sag-     (Lammert 2017b) In seiner Abschiedsrede als
       baren“ zu „verschwimmen“ „drohe“ – und er fügt        Bundestagspräsident macht Lammert darauf auf-
       hinzu: sie sei zum Teil „schon verschwommen“.         merksam, dass die Debatte im Parlament nicht
       (Steinmeier 2018b)                                    mit einem Referat verwechselt werden dürfe,
                                                             dass vielmehr die Debattenkultur wiederzu-
       In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentiert    gewinnen sei: Bei „selbstkritischer Betrachtung
       Berthold Kohler am 13. Juli 2018 unter dem Titel      sollten wir einräumen, dass in der Regel hier im
       „Das Sagbare und das Unsägliche“ diese Stellung-      Hause immer noch zu häufig geredet und zu
       nahmen mit folgenden Worten: „Die Erinnerung          wenig debattiert wird“. Es müsse, so ergänzt er
       Steinmeiers daran, was am Anfang vom Ende der         weiter, auch zukünftig in der politischen Debatte
       Weimarer Republik stand, ist keine Übertreibung.      möglich sein, „bei den ganz großen Problemen
       Eine Demokratie verdient nur dann ihren Namen,        und Streitfragen, die polarisieren und das Land zu
       wenn in ihr Meinungsfreiheit herrscht, und zwar       spalten drohen, Mehrheiten in diesem Parlament

8
1. Einleitung

zu suchen und zu finden, die größer oder anders       fragen sich, was da los ist. Die meisten sind
sind als die Mehrheiten, über die eine jeweilige      ohne Kompass, kreiseln verwirrt in alle Richtun-
Koalition ohnehin verfügt.“ (Lammert 2017a)           gen, kein Gespräch, in dem die Verunsicherung
                                                      nicht um sich greift. Denn nun rächt es sich, dass
2017 thematisiert der Schriftsteller Durs Grün-       der Lateinunterricht abgeschafft ist, die Rechts-
bein in einem Interview in der Wochenzeitung Der      lage ungeklärt, die Grundregel einer Demokratie
Spiegel die politische Rhetorik, die sich im Zuge     unbekannt und niemand mehr Vergleichsmöglich-
des Umgangs mit Flüchtlingen eingestellt hat. Ziel    keiten hat und ein inneres, historisch geschultes
dieser Rhetorik sei es, „Angst zu erzeugen“. Dies     Ohr.“ (Grünbein 2019)
habe auch Auswirkungen auf die parlamentari-
sche Demokratie: „Man überlässt die Rhetorik den      Claudia Roth verweist am 05. Juli 2018 mit deut-
Rechten. Ich sehe mit Schrecken, dass die Markt-      lichen Worten auf die Veränderungen der Sprach-
platzredner zurückkehren. Die parlamentarische        kultur im Parlament: „Es ist aggressiv, sexistisch
Demokratie scheint in einer diffusen Krise zu sein.   und beleidigend geworden. Wir erleben oft die
Das bedeutet, dass die Politik wieder eher auf        Entgrenzung von Sprache, die eher an Bierzelte als
der Straße spielt. Nun kommen alle diese ganzen       an Bundestag erinnert.“ (Roth 2018) Robert Habeck
Demagogen, drehen die Begriffe um, peitschen          versammelt die Befunde in der aktuellen (Sprach-)
niedrigste Instinkte auf. Ich glaube, dass man das    Politik und setzt sich 2018 mit den Befunden eben-
auffangen muss, indem man die gemäßigte poli-         falls vor dem Hintergrund einer „Sprachverrohung“
tische Sprache wieder lebendiger macht.“ (Grün-       auseinander: „Nach einer langen Zeit der politi-
bein 2017). Am 10. Januar 2019 veröffentlichte        schen Sprachlosigkeit ist eine des politischen Brül-
Grünbein in der Wochenzeitung Die Zeit einen          lens und Niedermachens angebrochen. Kränkun-
Beitrag unter dem Titel „Wie aus Sprache Gewalt       gen lösen Argumente ab, Beleidigungen werden
wird“. Im Anschluss an den dystopischen Entwurf       probates Mittel der gesellschaftlichen Diskussion.“
Orwells in seinem Buch 1984 und mit Blick auf die     (Habeck 2018, S. 9)
aktuellen politischen Debatten sowie den nicht
mehr zählbaren Beschimpfungen und Schmä-              Im Nachgang zu der Diskussion zwischen den
hungen im Kontext der Auseinandersetzung mit          Schriftstellern Durs Grünbein und Uwe Tellkamp
der Migration in den sozialen Medien beschreibt       am 08. März 2018 wurden die unterschiedlichen
er die neue Tonlage der Debatten. „Zu konsta-         Aspekt des Themas weiter diskutiert. Durs Grün-
tieren ist eine Radikalisierung des öffentlichen      bein bemerkt in einem Interview im Deutschland-
Sprechens, zwischen den Nationen wie im Umfeld        funk vom 05. Juni 2018, dass eine „ganz klare
jedes Einzelnen, im Streit der Parteien wie in den    Radikalisierung“ zu beobachten sei. „Und diese
Kneipen, im Parlament wie auf der Straße. Da ist      Radikalisierung, meine ich, hat nichts zu tun mit
zum einen der Gebrauch herabsetzender Formeln         dem, was wir sonst immer mal als Entgleisung
für den politischen Gegner, die Diskriminierung       kannten, sondern es sind bewusste, gesetzte
von Menschengruppen, die in ihrer Schwäche zu         Provokationen.“ (Grünbein 2018) Die Schrift-
Opfern der Weltpolitik werden. Da ist zum ande-       steller Kerstin Preiwuß und Marcel Beyer grei-
ren aber auch ein allgemeiner Verfall der ethi-       fen dies in einem Interview im Deutschlandfunk
schen Standards, eine Versumpfung der Spra-           am 01. Oktober 2018 auf. Marcel Beyer hatte
che in den Boulevardblättern wie in den sozialen      zuvor, am 26. Mai 2018, unter dem Titel Tabu.
Netzwerken. Jeder beklagt das mittlerweile, aber      Zur geistigen Situation unserer Zeit (Beyer 2018)
keiner kennt das Rezept, herauszufinden aus die-      im Rahmen des Symposiums Baustelle Demo-
sem Labyrinth.“ In Zeiten „verschärfter Rhetorik“,    kratie. Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsver-
so Grünbein weiter, sei auch unklar geworden,         trag? den Sprachwandel zu fassen versucht mit
wie mit dem Befund umgegangen werden kann,            den Fragen: „An welcher letzten Grenze kommt
wie und wo Lösungen zu suchen sind: „Journalis-       das Menschliche abhanden? Wie von alldem
ten tappen im Dunkeln, gebildete Zeitgenossen,        erzählen?“ Im Interview mit dem Deutschlandfunk
eben noch cool und mit allen Wassern gewaschen,       bemerkt Beyer: „Da gibt es ein gewisses Vakuum,

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Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       und in dieses Vakuum kommt nun Vokabular               b. Auswahl von Forschungsverbünden
       hinein und mit einer gewissen Aggressivität, das       zum Themengebiet
       eigentlich so viel älter ist, das eigentlich aus der   Die Entwicklung von Medienordnungen und
       tiefsten Geschichte und auch eigentlich viel aus       Kommunikationstechniken und deren Auswirkung
       der Mottenkiste herausgeholt wird, und man ver-        auf das Gelingen bzw. Misslingen von Öffentlich-
       sucht, dieses Vakuum zu füllen und eine, sagen         keit, die Etablierung einer gesellschaftlichen
       wir: gemeinschaftsstiftende Sprache zu finden.“        Ordnung sowie die Ermöglichung von Partizipa-
       (Beyer & Preiwuß 2018)                                 tion an (politischen und gesellschaftlichen) Ent-
                                                              scheidungsprozessen ist Thema unterschiedlicher
       Auch Verbände artikulieren sich in Deutschland         Disziplinen. Sozial- und Humanwissenschaften,
       zu dem Wandel im öffentlichen Sprachgebrauch.          Medien- und Kulturwissenschaften sind in diesem
       Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband          Feld in verschiedenen Hinsichten engagiert. Mit
       BLLV veröffentlicht bereits 2016 ein Manifest          dem Prozess der Digitalisierung, der Entwicklung
       unter dem Titel Haltung zählt. Mit „größter Sorge“     digitaler Kommunikationstechniken und der ver-
       wird darauf hingewiesen, „wie sich die Stim-           breiteten Nutzung sozialer Medien gewinnt das
       mung, die Kommunikation in den sozialen Netz-          klassische Themenfeld neue Brisanz für die politi-
       werken und die alltäglichen Umgangsformen              schen und gesellschaftlichen Akteure. Forschungs-
       in unserer Gesellschaft verändern“. Lehrer und         projekte greifen die damit einhergehenden Fragen
       Pädagogen erlebten „eine Aggressivität, eine           auf, indem diese nicht zuletzt in interdisziplinären
       Sprache des Hasses, der Geringschätzung und            Verbünden – z. T. auch unter Einbeziehung der
       Diskriminierung, persönliche Beleidigungen,            technischen Wissenschaften – thematisiert wer-
       bewusste Kränkungen und Ausgrenzung in Wort            den. Eine kleine Auswahl an Forschungsverbün-
       und Handeln“. Appelliert wird „an alle, unsere         den kann dies illustrieren.
       Gesellschaft vor Spaltung, Brutalität, Rücksichts-
       losigkeit und Radikalisierung zu schützen und so       Das Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesell-
       unsere Demokratie zu bewahren“. (Bayerischer           schaft (Weizenbaum-Institut) wurde 2017 als Deut-
       Lehrer- und Lehrerinnenverband 2016)                   sches Internet-Institut in Berlin etabliert. Dem Ver-
                                                              bund gehören die vier Berliner Universitäten sowie
       Im November 2018 hat die Deutsche Psycho-              die Universität Potsdam, das Fraunhofer-Institut
       therapeutenvereinigung das Thema unter dem             für Offene Kommunikationssysteme sowie das
       Titel Macht Sprache Gewalt im Rahmen einer Ver-        Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
       anstaltung in Berlin aufgegriffen. Es wird aufmerk-    an. Vor dem Hintergrund der Veränderungen,
       sam darauf gemacht, „wie sich die Atmosphäre           die sich in dem offenen Prozess der Digitalisie-
       und Sprache in unserer Gesellschaft zum Nega-          rung einstellen, werden die Entwicklungen mit
       tiven verändert“. „Durch einen negativ gefärbten       dem Ziel untersucht, politische und wirtschaft-
       Sprachgebrauch“, so wird weiter herausgestellt,        liche Handlungsoptionen zu skizzieren. Unter den
       „wird die Wahrnehmung verändert, und in Folge          zwanzig Forschungsgruppen beschäftigen sich
       auch das Verhalten. Die Realisierung, was nur bis      vier mit dem Themenfeld Demokratie, Partizipa-
       an die Grenze geht und was diese deutlich über-        tion und Öffentlichkeit. Untersucht wird, wie poli-
       schreitet, wird inzwischen oftmals verwischt“.         tische Akteure, Bürger und soziale Bewegungen
       (Deutsche Psychotherapeutenvereinigung 2018)           digitale Techniken nutzen sowie weiterentwickeln
                                                              und welche Transformationen sie in diesem Pro-
                                                              zess selbst durchlaufen. In Frage steht, wie sich
                                                              unter den Bedingungen medialer Kommunika-
                                                              tion die Rolle des Bürgers, die Rationalität poli-
                                                              tischer Kommunikation und die Qualität öffent-
                                                              licher Meinungsbildung verändert. Im Einzelnen
                                                              handelt es sich um folgende Themenfelder, die in
                                                              diesem Kontext in Forschungsgruppen erarbeitet

10
1. Einleitung

werden: a) Demokratie und Digitalisierung, b) Digi-     Der an der TU Dresden angesiedelte Sonder-
tal Citizenship, c) Nachrichten, Kampagnen und die      forschungsbereich Invektivität. Konstellationen und
Rationalität öffentlicher Diskurse sowie d) Digitali-   Dynamiken der Herabsetzung (Invektivität) erforscht
sierung und transnationale Öffentlichkeit. In einem     epochen- und kulturübergreifend die Phänomene
weiteren Themenfeld zu Governance und Norm-             der Schmähung, Beschämung und Bloßstellung
setzung sind weitere drei Forschungsgruppen             als „Fundamentaloperationen gesellschaftlicher
engagiert, die sich mit der Frage beschäftigen,         Kommunikation“ und erweitert damit den Blick
wie staatliche Regelwerke und Institutionen unter       auf die aktuellen Phänomene, die beispielsweise
den Bedingungen der Digitalisierung ihre Wir-           unter Hate Speech gefasst werden. Die in dem
kung e ­ ntfalten, ob und inwieweit sich hier Ver-      Sonderforschungsbereich angesiedelten Projekte
schiebungen ergeben und welche Regulierungen            reichen von der Antike über das Mittelalter, die
sich einstellen oder notwendig werden.                  Neuzeit bis zur Gegenwart und thematisieren in
                                                        verschiedenen Zugängen historische Formen der
Das Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg, das          Invektivität, so dass aktuelle Entwicklungen ein-
seit 2019 als Leibniz-Institut tätig ist, widmet sich   geordnet und konturiert werden können. In dem
der medienvermittelten öffentlichen Kommunika-          Verbundprojekt Bewältigung von Krisen öffentlicher
tion in einem interdisziplinären Zugang, um den         Kommunikation im Themenfeld Flüchtlinge, Migra-
Strukturwandel in den gesellschaftlichen Syste-         tion, Ausländer (NOHATE) wird an der Freien Uni-
men von Politik über Wirtschaft bis hin zu Bil-         versität Berlin sowie an der Beuth Hochschule
dung und Familie zu erforschen. Hierzu zählen           für Technik der Frage nachgegangen, wie das
u. a. folgende laufende Forschungsprojekte, die         Phänomen des Hate Speech in den unterschied-
unter Beteiligung des Hans-Bredow-Instituts durch-      lichen digitalen Formen präventiv erkannt wer-
geführt werden: Das Forschungsprojekt The Peo-          den kann und welche Deeskalationsmöglichkeiten
ple‘s Internet beschäftigt sich im internationalen      im digitalen Raum eingesetzt werden können.
Vergleich zwischen China, Europa und den Ver-           Das Forschungsprojekt Radikalisierung im digita-
einigten Staaten mit den Interdependenzen zwi-          len Zeitalter – Risiken, Verläufe und Strategien der
schen Zivilgesellschaft, Markt und Staat, die durch     Prävention (RadigZ) untersucht, insbesondere
die Digitalisierung neu formiert werden. In einem       aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts,
weiteren Projekt, unter dem Titel Was Journalis-        Fragestellungen der Radikalisierung im Inter-
ten sollen – und wollen, wird eine repräsentative       net mit Blick auf Akteure mit extremistischem
Erhebung zu der Frage durchgeführt, welche              Hintergrund. An diesem Projekt sind neben dem
Aufgaben in Deutschland von der Bevölkerung             Kriminologischen Forschungsinstitut Nieder-
dem Journalismus zugeschrieben werden. Dies             sachsen und der Deutschen Hochschule der Poli-
ermöglicht es, anschließend die Ergebnisse mit          zei, die Institute für Strafrecht, Kriminologie oder
dem journalistischen Rollenbild zu vergleichen.         Psychologie der Universitäten in Greifswald, Jena,
In diesem Kontext stellt sich auch die Frage der        Göttingen, Köln und Hannover beteiligt.
Beziehung von Journalisten zu ihren Lesern unter
den aktuellen Bedingungen digitaler Kommunika-          Unter dem Titel Die populistische Herausforderung
tion, die in einem weiteren Projekt mit dem Titel       in den Parlamenten (Populistische-Heraus-
Journalismus und sein Publikum. Die Re-Figuration       forderung) wird aus Sicht der Politikwissen-
einer Beziehung und ihre Folgen für journalistische     schaft in einem Forschungsprojekt, an dem die
Aussagenentstehung thematisiert wird. Ein weiteres      Universität Duisburg-Essen, die Universität der
Themenfeld betrifft die Sozialisation in einer sich     Bundeswehr in Hamburg, die Universität Greifs-
wandelnden Medienumgebung. Im Fokus steht hier          wald und die Universität Mannheim beteiligt
die Frage, wie Kinder und Jugendliche unter den         sind, untersucht, wie sich mit dem Einzug popu-
Bedingungen digitaler Techniken soziale Kontakte        listischer Parteien in die Parlamente der demo-
und kommunikative Praktiken gestalten und wie           kratische Wettbewerb verändert. Das Forschungs-
sich der Einsatz digitaler Techniken in den unter-      projekt verfolgt u. a. das Ziel, die Rhetorik und
schiedlichen Entwicklungsphasen verändert.              das Framing von Themen zu untersuchen, um

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Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       aufzuklären, wie sich die Interaktionen zwischen      projekte durchgeführt, die die Dynamik und die
       den Akteuren in den Parlamenten modifizieren.         Entwicklung aktueller Protestbewegungen in
       Dabei werden die verschiedenen politischen Stra-      Deutschland und Frankreich zum Gegenstand
       tegien in den Landtagen untersucht, die unter-        haben und diese vor dem Hintergrund der Frage
       schiedlichen Formen der Interaktion zwischen den      nach der (politischen und gesellschaftlichen)
       Fraktionen und die Art und Weise, welche Mittel       Repräsentation diskutieren. Der Forschungs-
       eingesetzt werden, um Entscheidungsprozesse           schwerpunkt Kommunikation, Medien und Poli-
       herbeizuführen.                                       tik (KoMePol) untersucht am Campus Landau im
                                                             Zusammenspiel von Sozialwissenschaften und
       Am Campus Landau der Universität Koblenz-­            Psychologie die Wahrnehmung und Verarbeitung
       Landau sind zwei Forschungsschwerpunkte und           politisch relevanter aktueller Diskurse. In diesem
       eine Forschungsstelle zur Politikvermittlung in       Rahmen werden u. a. Forschungsprojekte zu den
       dem Themenfeld aktiv. Der geistes- und kultur-        Themen a) Sich verstärkende Vertrauensspiralen,
       wissenschaftliche Forschungsschwerpunkt Kultu-        b) Wirkungen von Wahlversprechen auf das politi-
       relle Orientierung und normative Bindung (Kultur-     sche Vertrauen und die Wahlentscheidung der Bürger
       Norm) erforscht die normativen Aspekte, die sich      oder c) zur Negativität in der Twitter-Kommunikation
       aus der Ausdifferenzierung von faktischer Vor-        von Politikern durchgeführt. Das Frank-Loeb-Institut
       gegebenheit und normativer Geltung von kultu-         (FLI) widmet sich als Forschungsstelle der poli-
       rellen Tatsachen ergeben und die sich unter den       tischen Kommunikationsforschung den Fragen
       Bedingungen medialer Vermittlung beschleunigt.        der Politikvermittlung sowie der europäischen
       Dieser Frage wird in drei Forschungslinien nach-      und internationalen Politik. Dabei liegt ein weite-
       gegangen: a) Kultur und Lebensform, b) Verkör­        rer Schwerpunkt auf dem Thema, wie durch die
       perung und Kultur und c) Kulturelle Öffentlichkeit    Schaffung von Diskursräumen in die Gesellschaft
       und die Verbindlichkeit der Sprache. Weiterhin wer-   hineingewirkt werden kann.
       den in internationalen Kooperationen Forschungs-

12
2. Problemfelder
		und Perspektiven

Das Panorama der Stellungnahmen zum Wandel             mus allmählich gewandelt habe, indem diese nach
der Sprach- und Debattenkultur im öffentlichen         und nach von Wörtern als „Giftstoffen“ „infiziert“
und politischen Raum (vgl. 1.2a) ist beeindruckend     wurde: „Und wenn nun die gebildete Sprache aus
und vielfältig zugleich. Deutlich wird in den          giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von
Gegenwartsdiagnosen, dass eingespielte Prakti-         Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein
ken der Sprachverwendung, der kulturellen Ver-         wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt
ständigung und der Orientierung im öffentlichen        verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun,
Raum angesichts der Entwicklung und Nutzung            und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.
von neuen Kommunikationstechniken und popu-            Wenn einer lange genug für heldisch und tugend-
listischen Interventionen in Frage gestellt werden.    haft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich,
Im Folgenden werden daher die mit Sprache (2.1),       ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne
Kultur (2.2) und Orientierung (2.3) angezeigten        Fanatismus könne man kein Held sein.“ (Klemperer
Bereiche diskutiert und Perspektiven ihrer The-        1975, S. 21)
matisierung entwickelt. Verbindlichkeit, Artikula-
tion und Meinung bzw. Meinungsbildung markieren        Klemperers Schrift ist einer der markantes-
die Perspektiven, die es erlauben, den Wandel          ten öffentlichen Bezugspunkte hinsichtlich der
der Sprach- und Debattenkultur systematisch zu         Beschäftigung mit der Sprache im National-
erschließen und für weitere Diskussionen zu öff-       sozialismus. In Erinnerung zu rufen ist auch das
nen. Zusammengeführt und konzentriert wird die         gemeinsam von Dolf Sternberger, Gerhard Storz
komplexe Problemsituation, indem auf eine Krisis       und Wilhelm E. Süskind verfasste Wörterbuch des
der Repräsentation (2.4) hingewiesen wird.             Unmenschen, das erstmals als Buch im Jahr 1957
                                                       erschienen ist und nicht nur auf die Sprache des
                                                       Nationalsozialismus beschränkt war, sondern
2.1 Sprache und Verbindlichkeit                        auch die anschließenden Kontinuitätslinien im
                                                       Blick hatte. Sternberger formuliert deutlich den
In den unterschiedlichen Problemdiagnosen              Zusammenhang von Sprachverfall und Sitten-
wird – nicht zuletzt von Seiten der Schriftsteller –   verfall: „Und jedes Wort“, das Menschen nutzen,
wiederkehrend auf Victor Klemperers erstmals           „wandelt die Welt“. „Darum ist nichts gleichgültig
1947 erschienene Schrift LTI. Lingua Tertii Imperii    an der Sprache, und nichts so wesentlich wie
Bezug genommen, um die Gegenwart zu verstehen          die façon de parler. Der Verderb der Sprache ist
bzw. um ihr einen Spiegel vorzuhalten. Klemperer       der Verderb des Menschen.“ (Sternberger 1962,
dokumentiert akribisch und mit dem geschärften         S. 9) Es liegt nahe, diese Form von Sprachkritik
Auge eines Philologen, wie durch die Sprache „der      als eine „moralische Wortkritik“ (Kilian, Niehr &
Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge“ über-      Schiewe 2016, S. 35 ff.) zu verstehen. Weiterhin
gegangen sei, indem Redewendungen und Wörter           wäre mit Blick auf den Nationalsozialismus auf
größtenteils „mechanisch und unbewusst über-           sprachwissenschaftliche Arbeiten hinzuweisen,
nommen“ wurden. (Klemperer 1975, S. 21) Mit sei-       die wenige Jahre später entstanden sind wie
nen sprachkritischen Beobachtungen zielt Klem-         z. B. Sprachwandel im Dritten Reich aus dem Jahr
perer darauf ab, dass einzelne Wörter „wie winzige     1961 (Seidel 1961) oder Vom ‚Abstammungsnach-
Arsendosen“ wirken können. In diesem Sinne             weis‘ zum ‚Zuchtwart‘. Vokabular des Nationalsozialis-
sucht er nach den „toxischen“ Bestandteilen in der     mus, die über eine Wortkritik hinausgehen (Ber-
Sprache, die sich während des Nationalsozialis-        ning 1964).1

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Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       Nicht zuletzt die Schrift Klemperers kann bis heute       Wengeler 1995; Diekmannshenke & Klein 1996;
       sensibilisieren, denn wenn auch „Worte“ nicht             Böke, Liedtke & Wengeler 1996; Jung, Wengeler &
       „die Sprache“ sind, so zeigt sich an Worterfin-           Böke 1997; Burkhardt & Pape 2000; Diekmanns-
       dungen und am spezifischen Gebrauch einzelner             henke & Meißner 2001; Heringer 2015)
       Worte doch einiges. Bei Worten kann eine Sprach-
       analyse nicht stehen bleiben, aber an Worten              „Linguistische Sprachkritik verfolgt“ dabei „ein
       kann sich eine öffentliche Diskussion entzünden.          positives, konstruktives Ziel: Es geht ihr in erster
       Klemperers Schrift ist in der Folge in der Sprach-        Linie gar nicht darum, unangemessenen Sprach-
       wissenschaft dementsprechend auch kritisch                gebrauch aufzudecken und zu kritisieren, sondern
       eingeordnet worden. Denn die sprachliche Ent-             darum, für angemessenen Sprachgebrauch zu
       wicklung verläuft kontinuierlich und dynamisch, so        werben. Das ist eine Aufgabe für Schule und Uni-
       dass Wörterbücher den durchaus riskanten Ein-             versität, aber auch für eine Akademie wie die für
       druck erwecken können, es gäbe für die Sprache            Sprache und Dichtung.“ (Schiewe 2016, S. 19) Der
       während des Nationalsozialismus gleichsam einen           Hinweis auf „Angemessenheit“ als eine Kategorie
       fixen Zeitraum. Auch stellen sich Fragen nach             der Sprachreflexion und Sprachkritik ist sicher-
       der Berücksichtigung des Kontextes, der jeweili-          lich hilfreich. Berücksichtigt doch dieses Konzept
       gen Text- oder Sprachform, in der die Worte bzw.          neben grammatischer und semantischer Stimmig-
       Redewendungen gebraucht werden, oder auch                 keit ebenso den Bezug auf die Situation, auf
       die Frage nach der Pragmatik bzw. der Einordnung          ästhetische Normen und kulturelle Bedingungen.
       der Worte in Diskursräume. Innerhalb der Sprach-          (Schiewe 2016, S. 17 ff.)
       wissenschaft ist dies bereits frühzeitig ausführlich
       diskutiert worden. (Niehr 2014, S. 17 ff.)                Hinsichtlich des spezifischen Verhältnisses von
                                                                 Sprache und Politik hat sich in den letzten 20 Jah-
       Auch wenn der Bezug auf Klemperers LTI                    ren die Politolinguistik ausgebildet und überaus
       erhellend ist und die Augen bzw. die Ohren öffnen         dynamisch entwickelt. (Niehr 2014; Niehr, Kilian
       kann, so trifft er die Gegenwart nicht vollständig.       & Wengeler 2017; Girnth 2016) Die Politolinguistik
       Denn die aktuelle Situation zeichnet sich dadurch         „versteht sich als Teil der deskriptiven Linguistik,
       aus, dass erstens Sprachkritik und Sprachreflexion        die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sprachliche
       nicht im Hintergrund und nicht nachlaufend for-           Phänomene zu beschreiben und zu erklären, ohne
       muliert werden und zweitens Sprachreflexion und           sie jedoch einer Wertung zu unterziehen“. (Niehr
       Sprachkritik nicht mehr nur auf einzelne Personen         2014, S. 18) Dabei ist sie nicht auf die „Sprache
       oder die Sprachwissenschaft beschränkt sind, son-         der Politik“ beschränkt, sondern bezieht sich auf
       dern auch in den Medien, nicht zuletzt den digita-        die „politische Sprache“, die an vielfältigen Orten
       len Medien, Tag für Tag stattfindet. (Jacob 2014)         präsent ist und zum Einsatz kommt.
       Die Blogs, Webseiten und Einträge zur Sprach-
       kritik sind nicht mehr zählbar. Es ist vielleicht nicht   Freilich stellt sich gerade bei einer Analyse der
       überspitzt formuliert, wenn man darauf hinweist,          öffentlichen und insbesondere der politischen
       dass der öffentliche Sprachgebrauch in der digita-        Sprache die Frage, ob eine linguistische Klä-
       len Welt unter einer Dauerobservation steht. Und          rung nicht stets auch einen kritischen Blick auf
       daran sind nicht nur Philologen beteiligt, sondern        den Sprecher notwendig macht und damit die
       viele, die sich aus den unterschiedlichsten Moti-         Deskription überschritten wird oder werden muss:
       ven heraus dazu berufen fühlen.                           „Sprachkritik, auch eine sprachwissenschaftlich
                                                                 fundierte“, ist nicht „einfach nur Kritik an Sprache“,
       Sprachkritik und Sprachreflexion begleiten dem-           „ohne die Sprecher mitzudenken“. (Janich 2013,
       nach die aktuellen Auseinandersetzungen. Dies             S. 357) Rückt auch der Sprecher in den Fokus,
       zeigen nicht nur die angeführten Stellungnahmen           wandelt sich das Vorhaben der Deskription in das
       aus dem Bereich der Politik, sondern auch die             einer Aufklärung: Dann „sollte“ Sprachkritik „die
       produktive sprachwissenschaftliche Forschung              Sprachkultivierung der Sprecher zum Ziel haben,
       der letzten Jahre und der Gegenwart. (Stötzel &           d. h. deren Kompetenz zum sprachlichen Han-

16
2. Problemfelder und Perspektiven

deln befördern und sie zu mündigen Sprechern          lich geklärt werden kann und dabei die norma-
machen. Das bedeutet, dass Sprachkritik nicht         tive Dimension zum Ausdruck gebracht wird.
nur die Wahl der Mittel zu bewerten hat, sondern      Neben Politischer Philosophie und Soziologie ist
auch die Zwecksetzung, um Folgenverantwort-           hier ebenfalls die Politikvermittlung einschlägig.
lichkeit vor dem Hintergrund einer schlechthin        (Sarcinelli 2011) Denn nicht nur das Konzept der
vernünftigen und der Gemeinschaft geschuldeten        Sprache, auch das des Politischen ist zu klären,
Kooperativität zu schulen. [...] Sprachkultiviert-    wenn die politische Sprache zum Gegenstand der
heit ist damit – pointiert ausgedrückt – ein auf      Untersuchung wird.
Sprecher bezogenes normatives Ziel des sprach-
lichen Könnens und kommunikativen Wollens,            Dabei zeigt sich in Teilen des politischen und
ohne dabei auch schon Festlegungen hinsichtlich       vorpolitischen Raums ein manipulativer Zugang
bestimmter Ausdrucksnormen zu treffen.“ (Janich       zur Sprache – zu einzelnen Worten und Rede-
2013, S. 370 f.)                                      wendungen –, in dem mehr als ein Wording oder
                                                      der geschickte Einsatz von Sprache intendiert
Wird linguistische Sprachkritik zur Sprach-           wird. Dies kann auf der Ebene der Zeichen, aber
kultivierung weiterentwickelt, dann teilt sie ein     auch der Worte und des Wortgebrauchs zum Aus-
Anliegen mit der Rhetorik.2 Und wenn die Frage        druck kommen. Ein derartiger Zugang hält sich
nach der Sprachkultivierung nicht normativ neu-       nicht an politische Distinktionen wie links oder
tral gestellt werden kann, dann stellt sich die       rechts, er findet sich vielmehr sowohl auf dieser
weitergehende Frage, welche Auswirkungen              als auch auf jener Seite. Dabei handelt es sich
dies auf die linguistische Analyse hat, zumindest     nicht um das „Besetzen von Begriffen“ (die man
dann, wenn die öffentliche Sprache mit Blick          ja auch immer räumen kann), auch ist damit nicht
auf den Gebrauch politischer Konzepte – wie           einfach das Suchen und Finden von politischen
etwa dem der „Demokratie“ – untersucht wird:          Ausdrücken als Marketinginstrument gemeint (wie
„Wie kann sich ein Fach, das (nach einer kur-         etwa im Wahlkampf). Es handelt sich eher um den
zen Phase der heillosen Überschätzung und             Versuch, die öffentliche Sprache zu manipulieren,
Erwartungsüberfrachtung in den 60er und 70er          um keinen Zweifel an dem „richtigen“ Deutungs-
Jahren des vorigen Jahrhunderts) längst wieder        muster aufkommen zu lassen. Sprache im poli-
in dem Ruf steht, Glasperlenspiele zu pflegen,        tischen Raum ist dann allerdings kein Medium
in die Verhältnisse aktiv einmischen, von deren       mehr, in dem Differenzen verhandelt, Übergänge
sprachlich-kommunikativer Ökonomie es selbst          gestaltet und Kompromisse gesucht werden, sie
abhängt?“ (Knobloch 2015, S. 16) „Die ‚Grammatik‘     wird eingesetzt, um Perspektiven zu manipulieren
der Demokratie durchsichtig und verständlich zu       und Differenzen zu verschieben bzw. Alternativen
machen, gehört jedenfalls zu den Aufgaben einer       zu eliminieren. Solche Versuche sind zwar nicht
sich kritisch verstehenden Diskurswissenschaft        immer, aber häufig simpel, wissenschaftlich wenig
ebenso wie zu denen einer strikt deskriptiven         abgesichert – und vor allen Dingen werden sie
Politolinguistik. Hybris wäre es indessen, wenn       schnell durchschaut. Die (Sprach-)Sensibilität auf-
die Sprach- und Kommunikationswissenschaftler         geklärter Bürger wird hier meist unterschätzt.
glaubten, sie könnten das aus ihrer Profession
heraus besser als andere Beobachter der Gesell-       Wird Sprache derart manipuliert, dann wird
schaft.“ (Knobloch 2015, S. 16)                       ihre Bedeutung für den öffentlichen Raum ein-
                                                      geschränkt, wenn nicht sogar der öffentliche Raum
Die politische Sprache der Gegenwart wird             des Sprechens limitiert wird. Denn der öffentliche
von der sprachwissenschaftlichen Forschung            Sprachgebrauch misst sich nicht einfach an den –
begleitet. Die zu berücksichtigenden Facetten         gelegentlich doch eher zufälligen – Interessen,
sind vielfältig und die Ergebnisse einschlägig für    Vorstellungen und Wünschen einzelner oder meh-
die aktuelle politische und öffentliche Diskussion.   rerer Sprecher, er eröffnet vielmehr einen Raum
Und es stellt sich die durchaus brisante Frage,       der gemeinsamen und kontroversen Auseinander-
wie die politische Sprache sprachwissenschaft-        setzung, an dem verschiedene Akteure und Institu-

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Wandel der Sprach- und Debattenkultur

       tionen beteiligt sind, um solche Intentionen in der     Vor diesem Hintergrund und angesichts der Zeit-
       Sprache zu verhandeln und zu adjustieren. Spra-         diagnosen stellt sich ebenso die Frage, wie die
       che ist nicht einfach ein Mittel des Ausdrucks von      politische und öffentliche Rede verstanden und
       Ideen oder der Umsetzung von Interessen, sie ist        beschrieben werden kann, wenn die Frage nach
       zugleich ein Medium der Stiftung von Öffentlich-        der Verbindlichkeit in den Fokus rückt. Zeigen
       keit, in der unterschiedliche Perspektiven ver-         doch die zeitkritischen Befunde, dass der Verlust
       mittelt werden.                                         des Vertrauens in die Politik und die politischen
                                                               Institutionen mit einem Verlust der Verbindlichkeit
       Dabei ist es auf der einen Seite trivial, darauf hin-   der öffentlichen und politischen Sprache einher-
       zuweisen, dass Sprache und Politik miteinander          geht – sei ein solcher Verlust nun hervorgerufen
       verwoben sind, dass Sprache Politik konstituiert,       durch die Techniken der Digitalisierung oder aktu-
       dass Politik und Sprache Hand in Hand gehen             elle Tendenzen des Populismus.
       oder dass Politik Sprache bedingt. Auf der ande-
       ren Seite ist es jedoch nicht trivial, die Beziehung    Das Konzept der Verbindlichkeit verweist auf min-
       genauer zu bestimmen. Im Unterschied zu einer           destens vier Aspekte (Bermes 2019), die es lohnt
       Manipulation der Sprache, durch die Differen-           darzustellen, um darauf aufbauend den Bezug
       zen ausgeschaltet werden sollen, kann Sprache           zur Sprache und zum Sprachgebrauch zu skizzie-
       genutzt, eingesetzt, geformt und gestaltet werden,      ren: Verbindlichkeit betrifft erstens die Person und
       um Begriffe zu besetzen, Mehrheiten zu gewin-           deren Verfassung oder Qualifikation. Eine Per-
       nen, Akzeptanz zu erhöhen oder Interessen zu            son kann beispielsweise als verbindlich im Sinne
       artikulieren – jeweils mit Blick auf konkurrierende     von standhaft und zuverlässig qualifiziert werden.
       Meinungen und Interessen. Es lässt sich hier von        Zweitens kann Verbindlichkeit im Sinne der Öko-
       einem instrumentellen Sprachgebrauch sprechen,          nomie und des Rechts als Verpflichtung benutzt
       der mit Öffentlichkeit rechnet und sie nicht elimi-     werden und meint dann die (asymmetrische)
       niert. Sprache steht hier im Dienst des politischen     Beziehung eines Schuldners gegenüber dem Gläu-
       Handelns. Und politisches Handeln ist ohne einen        biger. Jemand steht in der Schuld eines anderen
       solchen instrumentellen Sprachgebrauch kaum             bzw. steht diesem gegenüber in der Pflicht. Drit-
       denkbar.                                                tens wird von Verbindlichkeiten gesprochen, wenn
                                                               Regeln des Handelns und Praktiken regelgemäß
       Doch ebenso richtig ist auch, dass Politik und          realisiert bzw. verstanden werden. Sprachspiele
       Sprache nicht auf eine derartige Zweck-Mittel-­         lassen sich durch verbindliche Regeln beschreiben
       Relation reduziert werden können. Werden im             und sind durch diese ausgezeichnet. Und vier-
       öffentlichen Raum Begriffe besetzt, Slogans ent-        tens schließlich beanspruchen bestimmte Über-
       worfen oder neuerdings auch Gesetze werbe-              zeugungen oder Gewissheiten Verbindlichkeit. In
       wirksam getauft (wie etwa das Gute-KiTa-Gesetz          der menschlichen Selbst- und Weltorientierung
       oder das Starke-Familien-Gesetz), dann wird Spra-       finden sich (keineswegs immer explizite) Über-
       che zum Mittel der politischen Intervention, um         zeugungen, die Verbindlichkeit beanspruchen,
       Akzeptanz zu schaffen oder zu erhöhen. Doch             ohne dass ihnen eigens eine Verbindlichkeit
       der öffentliche und politische Sprachgebrauch –         zugesprochen werden müsste, und ohne dass sie
       daran darf erinnert werden – ist mehr als die           durch eine unabhängige Begründungsinstanz ihr
       Herstellung von Akzeptanz oder das Erzielen             verbindliches Potential ausweisen müssten.
       von Zustimmung: Kulturelle und politische Ver-
       ständigung ist auf Verbindlichkeit ausgerichtet.        Diese vier Aspekte, die sich ebenso durch die
       (Bermes 2019; Nullmeier 2004) Der politisch-­           Geschichte und Systematik der Sprachphilosophie
       praktische Sprachgebrauch, wie er in genuin             (Bermes 1999; Bermes 2006) illustrieren ließen,
       politischen Debatten zum Ausdruck kommt und             lassen sich nutzen, um den Gebrauch der Spra-
       in dem politisches Handeln und Sprechen nur             che in der Öffentlichkeit in einer neuen Perspek-
       begrifflich unterschieden werden können, zielt          tive zu strukturieren und zu beschreiben. Wird
       damit auf die Stiftung von Öffentlichkeit.              öffentliche und politische Sprache unter dem

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