Wandel der Sprach- und Debattenkultur - Verbindlichkeit - Artikulation - Meinung Christian Bermes
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Wandel der Sprach- und Debattenkultur Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung Christian Bermes www.kas.de
Impressum Herausgeberin: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. 2019, Berlin Ansprechpartner: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Thomas Köhler Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung Hauptabteilung Politik und Beratung T: +49 30 / 26 996-3550 thomas.koehler@kas.de Sabine Stoye Projektkoordinatorin Wandel der Sprach- und Debattenkultur Hauptabteilung Politik und Beratung T: +49 30 / 26 996-3517 sabine.stoye@kas.de Daphne Wolter Koordinatorin Medienpolitik Hauptabteilung Politik und Beratung T: +49 30 / 26 996-3607 daphne.wolter@kas.de Gestaltung und Satz: yellow too Pasiek Horntrich GbR Die Printausgabe wurde bei der Druckerei copy print Kopie & Druck GmbH, Berlin gedruckt. Printed in Germany. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland. Der Text dieser Publikation ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 inter- national”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecommons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de). ISBN 978-3-95721-539-0
Wandel der Sprach- und Debattenkultur Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung Christian Bermes
Überblick In der politischen und öffentlichen Diskussion wird in den letzten Jahren vermehrt kritisch auf Schmähungen, Beschimpfungen und Beleidigungen hingewiesen, die als Ausdruck einer riskanten oder toxischen Rhetorik angesehen werden. Der damit einhergehende Wandel der Sprach- und Debattenkultur wird in der Öffentlichkeit häufig unter den Schlagworten „Verrohung“ oder „Radikalisierung“ gefasst. Mit diesen Ausdrücken werden Erfahrungen von Defiziten in der gesellschaftlichen sowie politischen Kommunikation zum Ausdruck gebracht. Die entfachte Kontroverse ist motiviert durch Invektiven, die in den digitalen Medien und populistischen Ten- denzen der zeitgenössischen Politik zum Ausdruck kommen und den Bereich der gesellschaftlichen Selbstverständigung insgesamt betreffen. Die Diagnosen und Stellungnahmen werden in einem Überblick zusammengestellt und die Komplexität des Problem- felds strukturiert, indem die Befunde zum Wandel der Sprach- und Debattenkultur mit Blick auf die Aspekte Sprache und Verbindlich- keit, Kultur und Artikulation sowie Orientierung und Meinung the- matisiert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich ebenso ein vertieftes Verständnis des diagnostizierten Wandels erzielen. Denn die aktuellen Problemdiagnosen, die die öffentliche und politische Sprache betreffen, machen auf eine Krisis der Repräsentation auf- merksam. Von einer Krisis der Repräsentation kann gesprochen werden, wenn die Momente der Stellvertretung und der symbo- lischen Vermittlung, die beide die Repräsentation auszeichnen, auseinandertreten. Dies hat Konsequenzen für die Funktion der öffentlichen Sprache und die Rolle der Stellvertretung und damit für die Verfassung einer liberalen demokratischen Ordnung. 2
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 1.1 Problemaufriss und Systematik 5 1.2 Zeitdiagnosen und Forschungsverbünde 7 a. Politische und gesellschaftliche Zeitdiagnosen 7 b. Auswahl von Forschungsverbünden zum Themengebiet 10 2. Problemfelder und Perspektiven 15 2.1 Sprache und Verbindlichkeit 15 Zwischenfazit 19 2.2 Kultur und Artikulation 19 Zwischenfazit 24 2.3 Orientierung und Meinung 24 Zwischenfazit 28 2.4 Krisis der Repräsentation 29 Zwischenfazit 31 3. Perspektiven und Zusammenfassung 35 3.1 Sprache und Verbindlichkeit 36 3.2 Kultur und Artikulation 36 3.3 Orientierung und Meinung 37 3.4 Krisis der Repräsentation 37 Bibliographie 39 3
1. Einleitung 1.1 Problemaufriss und Systematik registriert werden. Ziel der öffentlichen und poli- tischen Verständigung muss es daher sein, diesen Die Gesellschaft reagiert sensibel auf Ver- Befunden Rechnung zu tragen und sie in der Form änderungen des öffentlichen Sprachgebrauchs. zu kontextualisieren, zu strukturieren und aufzu- Unter dem Topos einer Verrohung der Sprache arbeiten, dass Perspektiven für eine nachhaltige meldeten sich im Jahr 2018 vermehrt Schrift- öffentliche und wissenschaftliche Diskussion dar- steller, Politiker und Verbände zu Wort, um auf aus entstehen. einen Wandel aufmerksam zu machen, der neuer- dings zu beobachten sei. Anlässe dafür bieten Wenn auch zu beobachten ist, dass der Wandel die Kontoversen um populistische Tendenzen der Sprach- und Debattenkultur zumindest teil- in der Politik sowie Entwicklungen, die in den weise unter dem Schlagwort der „Verrohung“ sogenannten sozialen Medien zu beobachten sind. geführt wird, so ist eine solche begriffliche Fixie- Getrieben wird die Diskussion durch u. a. die Aus- rung zwar kommunikativ hoch anschlussfähig, einandersetzung mit Fake News, Verschwörungs- weil Zustimmung und Kritik reflexartig provoziert theorien, Filter-‚ oder Informationsblasen sowie werden, sie ist jedoch analytisch unterbestimmt. Alternativen Fakten und Hate Speech, also dem Denn es stellt sich nicht nur die Frage, an wel- Umgang mit Schmähungen, Beleidigungen sowie chem Maßstab eine „Verrohung“ (und ihr Gegen- Beschimpfungen, die im Zuge der politischen Ver- teil) zu messen ist. Sondern der Begriff mit den ständigung um die Einwanderungs- und Zuzugs- Konnotationen des Verfalls und des Verlusts problematik – aber nicht nur in diesem Rahmen – evoziert auch normative (Untergangs-)Bilder, die eine besondere Brisanz erhalten haben. unter Umständen und ungewollt entweder wohl- feile Zustimmung oder problematischen Wider- Im Kontext dieser Stellungnahmen wird zugleich spruch hervorrufen. darauf hingewiesen, dass die Auseinander- setzung im öffentlichen Raum rauer geworden Die begriffliche Unschärfe, die in dem Konzept der sei und sich in einer veränderten Debattenkultur „Verrohung“ liegt, kann nicht bestritten werden; niederschlage. Die Sprache habe sich radikali- gleichzeitig aber lassen sich Motive, Gründe und siert, Grenzen der Sprache würden überschritten, Ziele, die vermittels einer solchen Diagnose zum verschoben oder ausgetestet. Von solchen Ten- Ausdruck gebracht werden, explizieren und ein- denzen bleibe die politische Auseinandersetzung ordnen, um dem Befund gerecht zu werden. Sie nicht verschont – im Gegenteil: Die Form der betreffen dann nicht nur den engeren Bereich der politischen Debatte und die Sprache der politi- Politik, sondern den weiteren Raum der kultu- schen Auseinandersetzung werden als gefährdet rellen Selbstverständigung – und sie verweisen und prekär wahrgenommen. letztlich auf grundlegende Fragen der sozialen Ordnung. Denn der diagnostizierte Wandel in der Unabhängig davon, dass der Sprachgebrauch in Sprach- und Debattenkultur öffnet – implizit oder historischer Perspektive immer durch Wandlun- explizit – weitere Fragehorizonte und Problem- gen ausgezeichnet ist und auch die sprachliche felder, die in Rechnung zu stellen sind. Mindes- und institutionelle Formierung von Debatten im tens drei Dimensionen lassen sich hier identi- Laufe der Geschichte eine hohe Plastizität besitzt, fizieren: 1) Unter welcher Perspektive lässt sich lassen sich die Stellungnahmen gleichsam als die öffentliche und politische Sprache fassen, um seismographische Ausschläge verstehen, durch einen Wandel der Sprach- und Debattenkultur zu die zwar (noch) keine Erschütterungen und Beben, verstehen? 2) Welche Bedeutung hat der Rekurs aber manifeste Irritationen und Verunsicherungen auf die Kultur, wenn ein solcher Wandel diagnos- 5
Wandel der Sprach- und Debattenkultur tiziert wird? 3) Wie kann sich trotz – oder vielleicht populistische Tendenzen in Teilen der zeit- auch aufgrund von – Verunsicherungen Orientie- genössischen Politik und der damit einher- rung ergeben? gehenden Orientierungsdefizite das Konzept der Meinung wieder so gefasst werden, dass Das Problemfeld, das die Beiträge anlässlich es für die politische Kommunikation eine der Auseinandersetzungen um den Wandel der Rolle spielt? Oder anders ausgedrückt: Wie Sprach- und Debattenkultur aufspannen, ist damit kann Meinungsbildung gelingen, wenn in weiter und vielschichtiger als die Verkürzung auf der Kommunikation der sogenannten sozia- ein einzelnes Konzept. Will man den Befunden len Medien und in einer riskanten Rhetorik somit Rechnungen tragen, so lassen sich die Leit- populistischer Äußerungen nicht mehr klar fragen weiter spezifizieren, um die Komplexität ist, was „Meinung“ zum Ausdruck bringt? der Probleme zu illustrieren: Die drei angeführten Fragekomplexe erlauben es 1. Die öffentliche und politische Sprache ist auf einerseits, die gegenwärtigen Verunsicherungen Verbindlichkeit ausgerichtet. Wie kann Verbind- einzuordnen und sie in einer neuen Perspektive lichkeit gefasst werden? Auf welche Verbind- verständlich zu machen. Sie führen aber anderer- lichkeiten ist die politische und öffentliche seits ebenso zu einem vertieften Verständnis, Sprache angewiesen, um eine demokratische worauf der aktuelle Wandel in der Sprach- und Meinungsbildung zu ermöglichen? Werden Debattenkultur gründet. Das Konzept der Reprä- solche Verbindlichkeiten verhandelt? Welche sentation kann einen Zugang zu einem solchen Form von Verbindlichkeit kann die öffentli- vertieften Verständnis der gegenwärtigen Situ- che und politische Rede in Anspruch nehmen ation eröffnen. Denn auch mit Blick auf die Idee oder muss sie in ihrem Diskurs voraussetzen? und die Realität der Repräsentation wird gegen- wärtig nicht selten von einer Krise gesprochen. 2. Die öffentliche und politische Sprache voll- Sicherlich ist beim Gebrauch des Ausdrucks zieht sich nicht in einem eigenen und eigen- „Krise“ Vorsicht und Zurückhaltung geboten. ständigen Sprachraum, sondern ist selbst Denn erstens kann in sehr unterschiedlicher Hin- Teil der Kultur. Wie lässt sich in diesem Sinne sicht von Krisen gesprochen werden und zwei- Kultur als Medium der Artikulation von Selbst- tens entwickeln sich Demokratien fortwährend und Weltverhältnissen verstehen, wenn sie weiter und sind auch dadurch ausgezeichnet, mit Blick auf den Wandel in der Sprach- und dass sie nicht bei jeder Krise zusammen- Debattenkultur zum Thema wird? Kann in brechen, sondern diese auch bewältigen kön- diesem Kontext ein normativ neutraler Begriff nen. Wird „Krise“ im Sinne von „Krisis“ – also als der Kultur gefasst werden? Oder kommt der Auseinandertreten – verstanden, so kann der Kultur eine normative Kraft zu, die auch für Ausdruck ein Problemfeld markieren. Denn es die öffentliche und politische Sprache von lässt sich eine Krisis oder ein Auseinandertreten Bedeutung ist? In welchem Verhältnis steht beschreiben, wenn das Konzept der Repräsenta- die Ausweitung und Intensivierung digitaler tion auf zwei seiner Merkmale hin diskutiert wird, Kommunikation zur Artikulation, in der sich deren Zusammenhang aber gegenwärtig prekär qualifizierte und souveräne Selbst- und Welt- geworden zu sein scheint: Mit dem Begriff der verhältnisse ausbilden? Repräsentation ist erstens der Aspekt der Stell- vertretung angesprochen, so dass ‚im Namen 3. Gegenwärtige Orientierungsdefizite zeigen von Anderer und „im Angesicht von Anderer“ sich nicht zuletzt in dem unklar gewordenen das Wort ergriffen und gehandelt wird. Zum Konzept der Meinung. Wenn nicht mehr klar anderen ist mit der Idee der Repräsentation der ist, was Meinung bedeutet, kann eine poli- Aspekt des Symbolischen, der Medialität bzw. der tische Meinungsbildung auch nicht mehr Vermittlung angesprochen. Repräsentationen gelingen. Wie kann angesichts der Ent- verwirklichen sich in symbolischen oder media- wicklungen in den sozialen Medien sowie len Ordnungen. Stellvertretungen bedürfen der 6
1. Einleitung sprachlichen, körperlichen oder institutionellen Die Konzepte der Verbindlichkeit, der Artikula- Vermittlung. Treten diese beiden Aspekte – die tion und der Meinung können somit die Problem- Stellvertretung und die symbolische Vermittlung – felder konturieren, die mittels des Schlagworts auseinander, lässt sich von einer Krisis der Reprä- „Verrohung“ angesprochen werden. Und die sentation sprechen. Explikation des Wandels in der Sprach- und Debattenkultur kann zentriert werden auf das Der gegenwärtig diagnostizierte Wandel in Auseinandertreten von Stellvertretung und sym- der Sprach- und Debattenkultur kann hieran bolischer Vermittlung. anschließend so gefasst werden, dass sich die sprachliche Vermittlung in der Öffentlichkeit von Ein solcher Ansatz erlaubt es, die politischen der Funktion der politischen Stellvertretung ent- und gesellschaftlichen Zeitdiagnosen in eine koppelt. Ein solcher Prozess führt zu zwei sich systematische Form zu bringen und ein Feld von ergänzenden, unter Umständen auch sich ver- Forschungsfragen zu eröffnen, in dem die Geistes-, stärkenden Konsequenzen: Politische Repräsen- Kultur- und Sozialwissenschaften engagiert sind tation im Sinne der sprachlichen Vermittlung und neue Impulse setzen können. Denn es stellt reduziert sich dann auf bloße Aneignung und sich die vielleicht nicht neue, aber gegenwärtig Wiederholung von Einstellungen (und nicht mehr durchaus brisante Frage, wie mit einer solchen deren Stellvertretung im Horizont der Öffentlich- Krisis unter den Bedingungen digitaler Kommuni- keit). Stellvertretung wird dann auf Gefolgschaft kation bei gleichzeitig sich verstärkenden popu- reduziert, indem Einstellungen reproduziert wer- listischen Tendenzen in der Politik umgegangen den. Und öffentliche Sprache, die sich nicht mehr werden kann. im Horizont der Stellvertretung realisiert, redu- ziert sich auf die Kundgabe und Wiederholung von Stimmungen und Affekten. Symbolische Ver- 1.2 Zeitdiagnosen und mittlung ist dann nichts anderes als Verstärkung Forschungsverbünde dieser Stimmungen und Affekte. a. Politische und gesellschaftliche Solche Tendenzen finden sich sowohl in den Zeitdiagnosen sogenannten sozialen Medien als auch in popu- Es zeigt sich ein reichhaltiges und vielfältiges Bild, listischen Sprachverwendungen. Wenn auf Social wenn das Panorama aufgespannt wird, in dem Media Plattformen damit geworben wird „Finde aktuelle Tendenzen eines Wandels der Sprach- heraus, was gerade in der Welt los ist“, und die und Debattenkultur registriert werden. Einen erste Handlungsmaxime „Folge deinen Interes- ersten Einblick kann die folgende – nicht auf Voll- sen“ lautet, dann reduziert sich nicht nur die Welt ständigkeit zielende – Übersicht eröffnen. recht schnell auf ein Minimum, an die Stelle von Auseinandersetzung, Diskurs und Debatte tritt In einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit die Kundgabe von Einstellungen. Und wenn im vom 20. Oktober 2016 spricht der damalige öster- Namen des Populismus die Stimme des Volkes reichische Bundeskanzler Christian Kern im Kon- zu Gehör gebracht werden soll, dann ist nicht text der Auseinandersetzung um den Umgang mit nur ein vereinfachtes Konzept des Volkes ein Flüchtlingen und Migranten von einer „Verrohung Problem, sondern ebenso die Autosuggestion der Sprache“: „Wir erleben eine Verrohung der der einen Stimme. Diese wird eigentlich nicht zu Sprache, eine unglaubliche Respektlosigkeit, die Gehör gebracht, ohne sich mit ihrem Gehalt aus- Bereitschaft, persönlich vernichtend mit Personen einanderzusetzen, sondern sie wird zum Klingen umzugehen. Wir wissen aus der Geschichte, dass gebracht. Und auch hier kann von einer Debatte der Gewalt der Worte irgendwann die Gewalt der nicht mehr die Rede sein. Debatten erfordern viel- Taten folgt. Das macht mich besorgt.“ (Kern 2016) mehr Vermittlung, Distanz und Stellvertretung Als Option, mit diesem Umstand politisch umzu- gleichermaßen. gehen, formuliert Kern: „Wir müssen versuchen, möglichst alle in ein Boot zu bekommen und zu 7
Wandel der Sprach- und Debattenkultur verstehen, dass es ein gemeinsames Ziel geben nicht nur formell. Daher muss die pluralistische muss, das uns verbindet und vereint.“ (Kern 2016) Demokratie auch gegen jene vom rechten und lin- ken Rand verteidigt werden, die sie unter Schwen- Am 26. April 2017 weist der Bundespräsident ken der Flagge der Meinungsfreiheit in einen Ort der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter verwandeln wollen, an dem nur noch eine Mei- Steinmeier, anlässlich eines Besuchs der Ludwig- nung gilt: ihre. Dem müssen aufrechte Demokraten Maximilians-Universität in München darauf hin, entgegentreten – auch dadurch, dass sie wahrlich dass im Kontext der digitalen Kommunikations- Unsägliches weiter unsäglich nennen und es nicht möglichkeiten „die Grenze zwischen dem Sagbaren achselzuckend hinnehmen, wenn es in „das Sag- und dem Unsäglichen immer mehr verloren geht, bare“ umbenannt werden soll.“ (Kohler 2018) wo ein Like mehr zählt als die Unterscheidung zwischen Fakt und Lüge“. (Steinmeier 2017) Norbert Lammert hat sich in vielfältigen Stellung- Zur Eröffnung der Veranstaltung „Deutschland nahmen zur öffentlichen Sprach- und Debatten- spricht“ am 23. September 2018 kam der Bundes- kultur in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit präsident auf diese Diagnose wieder zurück: „Ich dem Ziel geäußert, diese sowohl im Parlament glaube übrigens, es sind nicht einzelne Lügen als auch außerhalb desselben zu wahren und zu oder gezielte Fehlinformationen, sondern es sichern. (vgl. u. a.: Lammert 2010; Lammert 2011b; ist die schiere Überflutung, das tägliche Feuer- Lammert 2011a) In einem Interview im Deutsch- werk von Beschimpfungen und Beleidigungen, landfunk vom 30. August 2017 mit dem schei- das die Grenze zwischen dem Sagbaren und denden Bundestagspräsidenten kommt die Rede dem Unsäglichen immer weiter verschwimmen auf die „zunehmende sprachliche Verrohung“ lässt, vor allem aber das moralische Immun- im Internet. Lammert konstatiert, dass die Aus- system hoch beansprucht und erodieren lässt. breitung der digitalen Medien einen „kontinuier- Die Kommunikationsexplosion im Netz bedeutet lichen, aber tiefgreifenden Veränderungsprozess“ jedenfalls nicht nur mehr Kommunikation – was bewirkt, der „Folgen für das Urteilsvermögen an sich ja zu begrüßen ist –, sondern vor allem einer Gesellschaft“ habe: „Der Rückgang der lauter, schriller.“ (Steinmeier 2018a) Kurz zuvor, Beschäftigung mit Zeitungen, mit längeren Tex- am 07. Juni 2018, bemerkt Steinmeier in einem ten, mit von anderen professionell ausgewählten Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit: „Demo- Informationen und deren Verdrängung durch kratie verlangt Kritik und braucht Opposition, aber selbst nachgefragte Themen und dafür verfüg- manches in den sozialen Medien erinnert in der bare Informationen, oft im jeweils gleichen Kon- Sprache inzwischen an die Missachtung und Ver- text von Leuten, die sich nicht nur für das glei- ächtlichmachung der demokratischen Institutionen che Thema interessieren, sondern auch gleiche in der Weimarer Demokratie.“ (Steinmeier 2018c) Einschätzungen von diesem Thema haben, hat Im Sommerinterview des ZDF vom 08. Juli 2018 Wirkungen auf die Wahrnehmung von Themen, kommt Steinmeier darauf zurück und bemerkt, ihrer Relevanz und ihrer erwarteten Behandlung“. dass in den digitalen Medien „die Grenze des Sag- (Lammert 2017b) In seiner Abschiedsrede als baren“ zu „verschwimmen“ „drohe“ – und er fügt Bundestagspräsident macht Lammert darauf auf- hinzu: sie sei zum Teil „schon verschwommen“. merksam, dass die Debatte im Parlament nicht (Steinmeier 2018b) mit einem Referat verwechselt werden dürfe, dass vielmehr die Debattenkultur wiederzu- In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommentiert gewinnen sei: Bei „selbstkritischer Betrachtung Berthold Kohler am 13. Juli 2018 unter dem Titel sollten wir einräumen, dass in der Regel hier im „Das Sagbare und das Unsägliche“ diese Stellung- Hause immer noch zu häufig geredet und zu nahmen mit folgenden Worten: „Die Erinnerung wenig debattiert wird“. Es müsse, so ergänzt er Steinmeiers daran, was am Anfang vom Ende der weiter, auch zukünftig in der politischen Debatte Weimarer Republik stand, ist keine Übertreibung. möglich sein, „bei den ganz großen Problemen Eine Demokratie verdient nur dann ihren Namen, und Streitfragen, die polarisieren und das Land zu wenn in ihr Meinungsfreiheit herrscht, und zwar spalten drohen, Mehrheiten in diesem Parlament 8
1. Einleitung zu suchen und zu finden, die größer oder anders fragen sich, was da los ist. Die meisten sind sind als die Mehrheiten, über die eine jeweilige ohne Kompass, kreiseln verwirrt in alle Richtun- Koalition ohnehin verfügt.“ (Lammert 2017a) gen, kein Gespräch, in dem die Verunsicherung nicht um sich greift. Denn nun rächt es sich, dass 2017 thematisiert der Schriftsteller Durs Grün- der Lateinunterricht abgeschafft ist, die Rechts- bein in einem Interview in der Wochenzeitung Der lage ungeklärt, die Grundregel einer Demokratie Spiegel die politische Rhetorik, die sich im Zuge unbekannt und niemand mehr Vergleichsmöglich- des Umgangs mit Flüchtlingen eingestellt hat. Ziel keiten hat und ein inneres, historisch geschultes dieser Rhetorik sei es, „Angst zu erzeugen“. Dies Ohr.“ (Grünbein 2019) habe auch Auswirkungen auf die parlamentari- sche Demokratie: „Man überlässt die Rhetorik den Claudia Roth verweist am 05. Juli 2018 mit deut- Rechten. Ich sehe mit Schrecken, dass die Markt- lichen Worten auf die Veränderungen der Sprach- platzredner zurückkehren. Die parlamentarische kultur im Parlament: „Es ist aggressiv, sexistisch Demokratie scheint in einer diffusen Krise zu sein. und beleidigend geworden. Wir erleben oft die Das bedeutet, dass die Politik wieder eher auf Entgrenzung von Sprache, die eher an Bierzelte als der Straße spielt. Nun kommen alle diese ganzen an Bundestag erinnert.“ (Roth 2018) Robert Habeck Demagogen, drehen die Begriffe um, peitschen versammelt die Befunde in der aktuellen (Sprach-) niedrigste Instinkte auf. Ich glaube, dass man das Politik und setzt sich 2018 mit den Befunden eben- auffangen muss, indem man die gemäßigte poli- falls vor dem Hintergrund einer „Sprachverrohung“ tische Sprache wieder lebendiger macht.“ (Grün- auseinander: „Nach einer langen Zeit der politi- bein 2017). Am 10. Januar 2019 veröffentlichte schen Sprachlosigkeit ist eine des politischen Brül- Grünbein in der Wochenzeitung Die Zeit einen lens und Niedermachens angebrochen. Kränkun- Beitrag unter dem Titel „Wie aus Sprache Gewalt gen lösen Argumente ab, Beleidigungen werden wird“. Im Anschluss an den dystopischen Entwurf probates Mittel der gesellschaftlichen Diskussion.“ Orwells in seinem Buch 1984 und mit Blick auf die (Habeck 2018, S. 9) aktuellen politischen Debatten sowie den nicht mehr zählbaren Beschimpfungen und Schmä- Im Nachgang zu der Diskussion zwischen den hungen im Kontext der Auseinandersetzung mit Schriftstellern Durs Grünbein und Uwe Tellkamp der Migration in den sozialen Medien beschreibt am 08. März 2018 wurden die unterschiedlichen er die neue Tonlage der Debatten. „Zu konsta- Aspekt des Themas weiter diskutiert. Durs Grün- tieren ist eine Radikalisierung des öffentlichen bein bemerkt in einem Interview im Deutschland- Sprechens, zwischen den Nationen wie im Umfeld funk vom 05. Juni 2018, dass eine „ganz klare jedes Einzelnen, im Streit der Parteien wie in den Radikalisierung“ zu beobachten sei. „Und diese Kneipen, im Parlament wie auf der Straße. Da ist Radikalisierung, meine ich, hat nichts zu tun mit zum einen der Gebrauch herabsetzender Formeln dem, was wir sonst immer mal als Entgleisung für den politischen Gegner, die Diskriminierung kannten, sondern es sind bewusste, gesetzte von Menschengruppen, die in ihrer Schwäche zu Provokationen.“ (Grünbein 2018) Die Schrift- Opfern der Weltpolitik werden. Da ist zum ande- steller Kerstin Preiwuß und Marcel Beyer grei- ren aber auch ein allgemeiner Verfall der ethi- fen dies in einem Interview im Deutschlandfunk schen Standards, eine Versumpfung der Spra- am 01. Oktober 2018 auf. Marcel Beyer hatte che in den Boulevardblättern wie in den sozialen zuvor, am 26. Mai 2018, unter dem Titel Tabu. Netzwerken. Jeder beklagt das mittlerweile, aber Zur geistigen Situation unserer Zeit (Beyer 2018) keiner kennt das Rezept, herauszufinden aus die- im Rahmen des Symposiums Baustelle Demo- sem Labyrinth.“ In Zeiten „verschärfter Rhetorik“, kratie. Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsver- so Grünbein weiter, sei auch unklar geworden, trag? den Sprachwandel zu fassen versucht mit wie mit dem Befund umgegangen werden kann, den Fragen: „An welcher letzten Grenze kommt wie und wo Lösungen zu suchen sind: „Journalis- das Menschliche abhanden? Wie von alldem ten tappen im Dunkeln, gebildete Zeitgenossen, erzählen?“ Im Interview mit dem Deutschlandfunk eben noch cool und mit allen Wassern gewaschen, bemerkt Beyer: „Da gibt es ein gewisses Vakuum, 9
Wandel der Sprach- und Debattenkultur und in dieses Vakuum kommt nun Vokabular b. Auswahl von Forschungsverbünden hinein und mit einer gewissen Aggressivität, das zum Themengebiet eigentlich so viel älter ist, das eigentlich aus der Die Entwicklung von Medienordnungen und tiefsten Geschichte und auch eigentlich viel aus Kommunikationstechniken und deren Auswirkung der Mottenkiste herausgeholt wird, und man ver- auf das Gelingen bzw. Misslingen von Öffentlich- sucht, dieses Vakuum zu füllen und eine, sagen keit, die Etablierung einer gesellschaftlichen wir: gemeinschaftsstiftende Sprache zu finden.“ Ordnung sowie die Ermöglichung von Partizipa- (Beyer & Preiwuß 2018) tion an (politischen und gesellschaftlichen) Ent- scheidungsprozessen ist Thema unterschiedlicher Auch Verbände artikulieren sich in Deutschland Disziplinen. Sozial- und Humanwissenschaften, zu dem Wandel im öffentlichen Sprachgebrauch. Medien- und Kulturwissenschaften sind in diesem Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband Feld in verschiedenen Hinsichten engagiert. Mit BLLV veröffentlicht bereits 2016 ein Manifest dem Prozess der Digitalisierung, der Entwicklung unter dem Titel Haltung zählt. Mit „größter Sorge“ digitaler Kommunikationstechniken und der ver- wird darauf hingewiesen, „wie sich die Stim- breiteten Nutzung sozialer Medien gewinnt das mung, die Kommunikation in den sozialen Netz- klassische Themenfeld neue Brisanz für die politi- werken und die alltäglichen Umgangsformen schen und gesellschaftlichen Akteure. Forschungs- in unserer Gesellschaft verändern“. Lehrer und projekte greifen die damit einhergehenden Fragen Pädagogen erlebten „eine Aggressivität, eine auf, indem diese nicht zuletzt in interdisziplinären Sprache des Hasses, der Geringschätzung und Verbünden – z. T. auch unter Einbeziehung der Diskriminierung, persönliche Beleidigungen, technischen Wissenschaften – thematisiert wer- bewusste Kränkungen und Ausgrenzung in Wort den. Eine kleine Auswahl an Forschungsverbün- und Handeln“. Appelliert wird „an alle, unsere den kann dies illustrieren. Gesellschaft vor Spaltung, Brutalität, Rücksichts- losigkeit und Radikalisierung zu schützen und so Das Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesell- unsere Demokratie zu bewahren“. (Bayerischer schaft (Weizenbaum-Institut) wurde 2017 als Deut- Lehrer- und Lehrerinnenverband 2016) sches Internet-Institut in Berlin etabliert. Dem Ver- bund gehören die vier Berliner Universitäten sowie Im November 2018 hat die Deutsche Psycho- die Universität Potsdam, das Fraunhofer-Institut therapeutenvereinigung das Thema unter dem für Offene Kommunikationssysteme sowie das Titel Macht Sprache Gewalt im Rahmen einer Ver- Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung anstaltung in Berlin aufgegriffen. Es wird aufmerk- an. Vor dem Hintergrund der Veränderungen, sam darauf gemacht, „wie sich die Atmosphäre die sich in dem offenen Prozess der Digitalisie- und Sprache in unserer Gesellschaft zum Nega- rung einstellen, werden die Entwicklungen mit tiven verändert“. „Durch einen negativ gefärbten dem Ziel untersucht, politische und wirtschaft- Sprachgebrauch“, so wird weiter herausgestellt, liche Handlungsoptionen zu skizzieren. Unter den „wird die Wahrnehmung verändert, und in Folge zwanzig Forschungsgruppen beschäftigen sich auch das Verhalten. Die Realisierung, was nur bis vier mit dem Themenfeld Demokratie, Partizipa- an die Grenze geht und was diese deutlich über- tion und Öffentlichkeit. Untersucht wird, wie poli- schreitet, wird inzwischen oftmals verwischt“. tische Akteure, Bürger und soziale Bewegungen (Deutsche Psychotherapeutenvereinigung 2018) digitale Techniken nutzen sowie weiterentwickeln und welche Transformationen sie in diesem Pro- zess selbst durchlaufen. In Frage steht, wie sich unter den Bedingungen medialer Kommunika- tion die Rolle des Bürgers, die Rationalität poli- tischer Kommunikation und die Qualität öffent- licher Meinungsbildung verändert. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Themenfelder, die in diesem Kontext in Forschungsgruppen erarbeitet 10
1. Einleitung werden: a) Demokratie und Digitalisierung, b) Digi- Der an der TU Dresden angesiedelte Sonder- tal Citizenship, c) Nachrichten, Kampagnen und die forschungsbereich Invektivität. Konstellationen und Rationalität öffentlicher Diskurse sowie d) Digitali- Dynamiken der Herabsetzung (Invektivität) erforscht sierung und transnationale Öffentlichkeit. In einem epochen- und kulturübergreifend die Phänomene weiteren Themenfeld zu Governance und Norm- der Schmähung, Beschämung und Bloßstellung setzung sind weitere drei Forschungsgruppen als „Fundamentaloperationen gesellschaftlicher engagiert, die sich mit der Frage beschäftigen, Kommunikation“ und erweitert damit den Blick wie staatliche Regelwerke und Institutionen unter auf die aktuellen Phänomene, die beispielsweise den Bedingungen der Digitalisierung ihre Wir- unter Hate Speech gefasst werden. Die in dem kung e ntfalten, ob und inwieweit sich hier Ver- Sonderforschungsbereich angesiedelten Projekte schiebungen ergeben und welche Regulierungen reichen von der Antike über das Mittelalter, die sich einstellen oder notwendig werden. Neuzeit bis zur Gegenwart und thematisieren in verschiedenen Zugängen historische Formen der Das Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg, das Invektivität, so dass aktuelle Entwicklungen ein- seit 2019 als Leibniz-Institut tätig ist, widmet sich geordnet und konturiert werden können. In dem der medienvermittelten öffentlichen Kommunika- Verbundprojekt Bewältigung von Krisen öffentlicher tion in einem interdisziplinären Zugang, um den Kommunikation im Themenfeld Flüchtlinge, Migra- Strukturwandel in den gesellschaftlichen Syste- tion, Ausländer (NOHATE) wird an der Freien Uni- men von Politik über Wirtschaft bis hin zu Bil- versität Berlin sowie an der Beuth Hochschule dung und Familie zu erforschen. Hierzu zählen für Technik der Frage nachgegangen, wie das u. a. folgende laufende Forschungsprojekte, die Phänomen des Hate Speech in den unterschied- unter Beteiligung des Hans-Bredow-Instituts durch- lichen digitalen Formen präventiv erkannt wer- geführt werden: Das Forschungsprojekt The Peo- den kann und welche Deeskalationsmöglichkeiten ple‘s Internet beschäftigt sich im internationalen im digitalen Raum eingesetzt werden können. Vergleich zwischen China, Europa und den Ver- Das Forschungsprojekt Radikalisierung im digita- einigten Staaten mit den Interdependenzen zwi- len Zeitalter – Risiken, Verläufe und Strategien der schen Zivilgesellschaft, Markt und Staat, die durch Prävention (RadigZ) untersucht, insbesondere die Digitalisierung neu formiert werden. In einem aus Sicht der Kriminologie und des Strafrechts, weiteren Projekt, unter dem Titel Was Journalis- Fragestellungen der Radikalisierung im Inter- ten sollen – und wollen, wird eine repräsentative net mit Blick auf Akteure mit extremistischem Erhebung zu der Frage durchgeführt, welche Hintergrund. An diesem Projekt sind neben dem Aufgaben in Deutschland von der Bevölkerung Kriminologischen Forschungsinstitut Nieder- dem Journalismus zugeschrieben werden. Dies sachsen und der Deutschen Hochschule der Poli- ermöglicht es, anschließend die Ergebnisse mit zei, die Institute für Strafrecht, Kriminologie oder dem journalistischen Rollenbild zu vergleichen. Psychologie der Universitäten in Greifswald, Jena, In diesem Kontext stellt sich auch die Frage der Göttingen, Köln und Hannover beteiligt. Beziehung von Journalisten zu ihren Lesern unter den aktuellen Bedingungen digitaler Kommunika- Unter dem Titel Die populistische Herausforderung tion, die in einem weiteren Projekt mit dem Titel in den Parlamenten (Populistische-Heraus- Journalismus und sein Publikum. Die Re-Figuration forderung) wird aus Sicht der Politikwissen- einer Beziehung und ihre Folgen für journalistische schaft in einem Forschungsprojekt, an dem die Aussagenentstehung thematisiert wird. Ein weiteres Universität Duisburg-Essen, die Universität der Themenfeld betrifft die Sozialisation in einer sich Bundeswehr in Hamburg, die Universität Greifs- wandelnden Medienumgebung. Im Fokus steht hier wald und die Universität Mannheim beteiligt die Frage, wie Kinder und Jugendliche unter den sind, untersucht, wie sich mit dem Einzug popu- Bedingungen digitaler Techniken soziale Kontakte listischer Parteien in die Parlamente der demo- und kommunikative Praktiken gestalten und wie kratische Wettbewerb verändert. Das Forschungs- sich der Einsatz digitaler Techniken in den unter- projekt verfolgt u. a. das Ziel, die Rhetorik und schiedlichen Entwicklungsphasen verändert. das Framing von Themen zu untersuchen, um 11
Wandel der Sprach- und Debattenkultur aufzuklären, wie sich die Interaktionen zwischen projekte durchgeführt, die die Dynamik und die den Akteuren in den Parlamenten modifizieren. Entwicklung aktueller Protestbewegungen in Dabei werden die verschiedenen politischen Stra- Deutschland und Frankreich zum Gegenstand tegien in den Landtagen untersucht, die unter- haben und diese vor dem Hintergrund der Frage schiedlichen Formen der Interaktion zwischen den nach der (politischen und gesellschaftlichen) Fraktionen und die Art und Weise, welche Mittel Repräsentation diskutieren. Der Forschungs- eingesetzt werden, um Entscheidungsprozesse schwerpunkt Kommunikation, Medien und Poli- herbeizuführen. tik (KoMePol) untersucht am Campus Landau im Zusammenspiel von Sozialwissenschaften und Am Campus Landau der Universität Koblenz- Psychologie die Wahrnehmung und Verarbeitung Landau sind zwei Forschungsschwerpunkte und politisch relevanter aktueller Diskurse. In diesem eine Forschungsstelle zur Politikvermittlung in Rahmen werden u. a. Forschungsprojekte zu den dem Themenfeld aktiv. Der geistes- und kultur- Themen a) Sich verstärkende Vertrauensspiralen, wissenschaftliche Forschungsschwerpunkt Kultu- b) Wirkungen von Wahlversprechen auf das politi- relle Orientierung und normative Bindung (Kultur- sche Vertrauen und die Wahlentscheidung der Bürger Norm) erforscht die normativen Aspekte, die sich oder c) zur Negativität in der Twitter-Kommunikation aus der Ausdifferenzierung von faktischer Vor- von Politikern durchgeführt. Das Frank-Loeb-Institut gegebenheit und normativer Geltung von kultu- (FLI) widmet sich als Forschungsstelle der poli- rellen Tatsachen ergeben und die sich unter den tischen Kommunikationsforschung den Fragen Bedingungen medialer Vermittlung beschleunigt. der Politikvermittlung sowie der europäischen Dieser Frage wird in drei Forschungslinien nach- und internationalen Politik. Dabei liegt ein weite- gegangen: a) Kultur und Lebensform, b) Verkör rer Schwerpunkt auf dem Thema, wie durch die perung und Kultur und c) Kulturelle Öffentlichkeit Schaffung von Diskursräumen in die Gesellschaft und die Verbindlichkeit der Sprache. Weiterhin wer- hineingewirkt werden kann. den in internationalen Kooperationen Forschungs- 12
2. Problemfelder und Perspektiven Das Panorama der Stellungnahmen zum Wandel mus allmählich gewandelt habe, indem diese nach der Sprach- und Debattenkultur im öffentlichen und nach von Wörtern als „Giftstoffen“ „infiziert“ und politischen Raum (vgl. 1.2a) ist beeindruckend wurde: „Und wenn nun die gebildete Sprache aus und vielfältig zugleich. Deutlich wird in den giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Gegenwartsdiagnosen, dass eingespielte Prakti- Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein ken der Sprachverwendung, der kulturellen Ver- wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt ständigung und der Orientierung im öffentlichen verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, Raum angesichts der Entwicklung und Nutzung und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. von neuen Kommunikationstechniken und popu- Wenn einer lange genug für heldisch und tugend- listischen Interventionen in Frage gestellt werden. haft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, Im Folgenden werden daher die mit Sprache (2.1), ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Kultur (2.2) und Orientierung (2.3) angezeigten Fanatismus könne man kein Held sein.“ (Klemperer Bereiche diskutiert und Perspektiven ihrer The- 1975, S. 21) matisierung entwickelt. Verbindlichkeit, Artikula- tion und Meinung bzw. Meinungsbildung markieren Klemperers Schrift ist einer der markantes- die Perspektiven, die es erlauben, den Wandel ten öffentlichen Bezugspunkte hinsichtlich der der Sprach- und Debattenkultur systematisch zu Beschäftigung mit der Sprache im National- erschließen und für weitere Diskussionen zu öff- sozialismus. In Erinnerung zu rufen ist auch das nen. Zusammengeführt und konzentriert wird die gemeinsam von Dolf Sternberger, Gerhard Storz komplexe Problemsituation, indem auf eine Krisis und Wilhelm E. Süskind verfasste Wörterbuch des der Repräsentation (2.4) hingewiesen wird. Unmenschen, das erstmals als Buch im Jahr 1957 erschienen ist und nicht nur auf die Sprache des Nationalsozialismus beschränkt war, sondern 2.1 Sprache und Verbindlichkeit auch die anschließenden Kontinuitätslinien im Blick hatte. Sternberger formuliert deutlich den In den unterschiedlichen Problemdiagnosen Zusammenhang von Sprachverfall und Sitten- wird – nicht zuletzt von Seiten der Schriftsteller – verfall: „Und jedes Wort“, das Menschen nutzen, wiederkehrend auf Victor Klemperers erstmals „wandelt die Welt“. „Darum ist nichts gleichgültig 1947 erschienene Schrift LTI. Lingua Tertii Imperii an der Sprache, und nichts so wesentlich wie Bezug genommen, um die Gegenwart zu verstehen die façon de parler. Der Verderb der Sprache ist bzw. um ihr einen Spiegel vorzuhalten. Klemperer der Verderb des Menschen.“ (Sternberger 1962, dokumentiert akribisch und mit dem geschärften S. 9) Es liegt nahe, diese Form von Sprachkritik Auge eines Philologen, wie durch die Sprache „der als eine „moralische Wortkritik“ (Kilian, Niehr & Nazismus […] in Fleisch und Blut der Menge“ über- Schiewe 2016, S. 35 ff.) zu verstehen. Weiterhin gegangen sei, indem Redewendungen und Wörter wäre mit Blick auf den Nationalsozialismus auf größtenteils „mechanisch und unbewusst über- sprachwissenschaftliche Arbeiten hinzuweisen, nommen“ wurden. (Klemperer 1975, S. 21) Mit sei- die wenige Jahre später entstanden sind wie nen sprachkritischen Beobachtungen zielt Klem- z. B. Sprachwandel im Dritten Reich aus dem Jahr perer darauf ab, dass einzelne Wörter „wie winzige 1961 (Seidel 1961) oder Vom ‚Abstammungsnach- Arsendosen“ wirken können. In diesem Sinne weis‘ zum ‚Zuchtwart‘. Vokabular des Nationalsozialis- sucht er nach den „toxischen“ Bestandteilen in der mus, die über eine Wortkritik hinausgehen (Ber- Sprache, die sich während des Nationalsozialis- ning 1964).1 15
Wandel der Sprach- und Debattenkultur Nicht zuletzt die Schrift Klemperers kann bis heute Wengeler 1995; Diekmannshenke & Klein 1996; sensibilisieren, denn wenn auch „Worte“ nicht Böke, Liedtke & Wengeler 1996; Jung, Wengeler & „die Sprache“ sind, so zeigt sich an Worterfin- Böke 1997; Burkhardt & Pape 2000; Diekmanns- dungen und am spezifischen Gebrauch einzelner henke & Meißner 2001; Heringer 2015) Worte doch einiges. Bei Worten kann eine Sprach- analyse nicht stehen bleiben, aber an Worten „Linguistische Sprachkritik verfolgt“ dabei „ein kann sich eine öffentliche Diskussion entzünden. positives, konstruktives Ziel: Es geht ihr in erster Klemperers Schrift ist in der Folge in der Sprach- Linie gar nicht darum, unangemessenen Sprach- wissenschaft dementsprechend auch kritisch gebrauch aufzudecken und zu kritisieren, sondern eingeordnet worden. Denn die sprachliche Ent- darum, für angemessenen Sprachgebrauch zu wicklung verläuft kontinuierlich und dynamisch, so werben. Das ist eine Aufgabe für Schule und Uni- dass Wörterbücher den durchaus riskanten Ein- versität, aber auch für eine Akademie wie die für druck erwecken können, es gäbe für die Sprache Sprache und Dichtung.“ (Schiewe 2016, S. 19) Der während des Nationalsozialismus gleichsam einen Hinweis auf „Angemessenheit“ als eine Kategorie fixen Zeitraum. Auch stellen sich Fragen nach der Sprachreflexion und Sprachkritik ist sicher- der Berücksichtigung des Kontextes, der jeweili- lich hilfreich. Berücksichtigt doch dieses Konzept gen Text- oder Sprachform, in der die Worte bzw. neben grammatischer und semantischer Stimmig- Redewendungen gebraucht werden, oder auch keit ebenso den Bezug auf die Situation, auf die Frage nach der Pragmatik bzw. der Einordnung ästhetische Normen und kulturelle Bedingungen. der Worte in Diskursräume. Innerhalb der Sprach- (Schiewe 2016, S. 17 ff.) wissenschaft ist dies bereits frühzeitig ausführlich diskutiert worden. (Niehr 2014, S. 17 ff.) Hinsichtlich des spezifischen Verhältnisses von Sprache und Politik hat sich in den letzten 20 Jah- Auch wenn der Bezug auf Klemperers LTI ren die Politolinguistik ausgebildet und überaus erhellend ist und die Augen bzw. die Ohren öffnen dynamisch entwickelt. (Niehr 2014; Niehr, Kilian kann, so trifft er die Gegenwart nicht vollständig. & Wengeler 2017; Girnth 2016) Die Politolinguistik Denn die aktuelle Situation zeichnet sich dadurch „versteht sich als Teil der deskriptiven Linguistik, aus, dass erstens Sprachkritik und Sprachreflexion die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sprachliche nicht im Hintergrund und nicht nachlaufend for- Phänomene zu beschreiben und zu erklären, ohne muliert werden und zweitens Sprachreflexion und sie jedoch einer Wertung zu unterziehen“. (Niehr Sprachkritik nicht mehr nur auf einzelne Personen 2014, S. 18) Dabei ist sie nicht auf die „Sprache oder die Sprachwissenschaft beschränkt sind, son- der Politik“ beschränkt, sondern bezieht sich auf dern auch in den Medien, nicht zuletzt den digita- die „politische Sprache“, die an vielfältigen Orten len Medien, Tag für Tag stattfindet. (Jacob 2014) präsent ist und zum Einsatz kommt. Die Blogs, Webseiten und Einträge zur Sprach- kritik sind nicht mehr zählbar. Es ist vielleicht nicht Freilich stellt sich gerade bei einer Analyse der überspitzt formuliert, wenn man darauf hinweist, öffentlichen und insbesondere der politischen dass der öffentliche Sprachgebrauch in der digita- Sprache die Frage, ob eine linguistische Klä- len Welt unter einer Dauerobservation steht. Und rung nicht stets auch einen kritischen Blick auf daran sind nicht nur Philologen beteiligt, sondern den Sprecher notwendig macht und damit die viele, die sich aus den unterschiedlichsten Moti- Deskription überschritten wird oder werden muss: ven heraus dazu berufen fühlen. „Sprachkritik, auch eine sprachwissenschaftlich fundierte“, ist nicht „einfach nur Kritik an Sprache“, Sprachkritik und Sprachreflexion begleiten dem- „ohne die Sprecher mitzudenken“. (Janich 2013, nach die aktuellen Auseinandersetzungen. Dies S. 357) Rückt auch der Sprecher in den Fokus, zeigen nicht nur die angeführten Stellungnahmen wandelt sich das Vorhaben der Deskription in das aus dem Bereich der Politik, sondern auch die einer Aufklärung: Dann „sollte“ Sprachkritik „die produktive sprachwissenschaftliche Forschung Sprachkultivierung der Sprecher zum Ziel haben, der letzten Jahre und der Gegenwart. (Stötzel & d. h. deren Kompetenz zum sprachlichen Han- 16
2. Problemfelder und Perspektiven deln befördern und sie zu mündigen Sprechern lich geklärt werden kann und dabei die norma- machen. Das bedeutet, dass Sprachkritik nicht tive Dimension zum Ausdruck gebracht wird. nur die Wahl der Mittel zu bewerten hat, sondern Neben Politischer Philosophie und Soziologie ist auch die Zwecksetzung, um Folgenverantwort- hier ebenfalls die Politikvermittlung einschlägig. lichkeit vor dem Hintergrund einer schlechthin (Sarcinelli 2011) Denn nicht nur das Konzept der vernünftigen und der Gemeinschaft geschuldeten Sprache, auch das des Politischen ist zu klären, Kooperativität zu schulen. [...] Sprachkultiviert- wenn die politische Sprache zum Gegenstand der heit ist damit – pointiert ausgedrückt – ein auf Untersuchung wird. Sprecher bezogenes normatives Ziel des sprach- lichen Könnens und kommunikativen Wollens, Dabei zeigt sich in Teilen des politischen und ohne dabei auch schon Festlegungen hinsichtlich vorpolitischen Raums ein manipulativer Zugang bestimmter Ausdrucksnormen zu treffen.“ (Janich zur Sprache – zu einzelnen Worten und Rede- 2013, S. 370 f.) wendungen –, in dem mehr als ein Wording oder der geschickte Einsatz von Sprache intendiert Wird linguistische Sprachkritik zur Sprach- wird. Dies kann auf der Ebene der Zeichen, aber kultivierung weiterentwickelt, dann teilt sie ein auch der Worte und des Wortgebrauchs zum Aus- Anliegen mit der Rhetorik.2 Und wenn die Frage druck kommen. Ein derartiger Zugang hält sich nach der Sprachkultivierung nicht normativ neu- nicht an politische Distinktionen wie links oder tral gestellt werden kann, dann stellt sich die rechts, er findet sich vielmehr sowohl auf dieser weitergehende Frage, welche Auswirkungen als auch auf jener Seite. Dabei handelt es sich dies auf die linguistische Analyse hat, zumindest nicht um das „Besetzen von Begriffen“ (die man dann, wenn die öffentliche Sprache mit Blick ja auch immer räumen kann), auch ist damit nicht auf den Gebrauch politischer Konzepte – wie einfach das Suchen und Finden von politischen etwa dem der „Demokratie“ – untersucht wird: Ausdrücken als Marketinginstrument gemeint (wie „Wie kann sich ein Fach, das (nach einer kur- etwa im Wahlkampf). Es handelt sich eher um den zen Phase der heillosen Überschätzung und Versuch, die öffentliche Sprache zu manipulieren, Erwartungsüberfrachtung in den 60er und 70er um keinen Zweifel an dem „richtigen“ Deutungs- Jahren des vorigen Jahrhunderts) längst wieder muster aufkommen zu lassen. Sprache im poli- in dem Ruf steht, Glasperlenspiele zu pflegen, tischen Raum ist dann allerdings kein Medium in die Verhältnisse aktiv einmischen, von deren mehr, in dem Differenzen verhandelt, Übergänge sprachlich-kommunikativer Ökonomie es selbst gestaltet und Kompromisse gesucht werden, sie abhängt?“ (Knobloch 2015, S. 16) „Die ‚Grammatik‘ wird eingesetzt, um Perspektiven zu manipulieren der Demokratie durchsichtig und verständlich zu und Differenzen zu verschieben bzw. Alternativen machen, gehört jedenfalls zu den Aufgaben einer zu eliminieren. Solche Versuche sind zwar nicht sich kritisch verstehenden Diskurswissenschaft immer, aber häufig simpel, wissenschaftlich wenig ebenso wie zu denen einer strikt deskriptiven abgesichert – und vor allen Dingen werden sie Politolinguistik. Hybris wäre es indessen, wenn schnell durchschaut. Die (Sprach-)Sensibilität auf- die Sprach- und Kommunikationswissenschaftler geklärter Bürger wird hier meist unterschätzt. glaubten, sie könnten das aus ihrer Profession heraus besser als andere Beobachter der Gesell- Wird Sprache derart manipuliert, dann wird schaft.“ (Knobloch 2015, S. 16) ihre Bedeutung für den öffentlichen Raum ein- geschränkt, wenn nicht sogar der öffentliche Raum Die politische Sprache der Gegenwart wird des Sprechens limitiert wird. Denn der öffentliche von der sprachwissenschaftlichen Forschung Sprachgebrauch misst sich nicht einfach an den – begleitet. Die zu berücksichtigenden Facetten gelegentlich doch eher zufälligen – Interessen, sind vielfältig und die Ergebnisse einschlägig für Vorstellungen und Wünschen einzelner oder meh- die aktuelle politische und öffentliche Diskussion. rerer Sprecher, er eröffnet vielmehr einen Raum Und es stellt sich die durchaus brisante Frage, der gemeinsamen und kontroversen Auseinander- wie die politische Sprache sprachwissenschaft- setzung, an dem verschiedene Akteure und Institu- 17
Wandel der Sprach- und Debattenkultur tionen beteiligt sind, um solche Intentionen in der Vor diesem Hintergrund und angesichts der Zeit- Sprache zu verhandeln und zu adjustieren. Spra- diagnosen stellt sich ebenso die Frage, wie die che ist nicht einfach ein Mittel des Ausdrucks von politische und öffentliche Rede verstanden und Ideen oder der Umsetzung von Interessen, sie ist beschrieben werden kann, wenn die Frage nach zugleich ein Medium der Stiftung von Öffentlich- der Verbindlichkeit in den Fokus rückt. Zeigen keit, in der unterschiedliche Perspektiven ver- doch die zeitkritischen Befunde, dass der Verlust mittelt werden. des Vertrauens in die Politik und die politischen Institutionen mit einem Verlust der Verbindlichkeit Dabei ist es auf der einen Seite trivial, darauf hin- der öffentlichen und politischen Sprache einher- zuweisen, dass Sprache und Politik miteinander geht – sei ein solcher Verlust nun hervorgerufen verwoben sind, dass Sprache Politik konstituiert, durch die Techniken der Digitalisierung oder aktu- dass Politik und Sprache Hand in Hand gehen elle Tendenzen des Populismus. oder dass Politik Sprache bedingt. Auf der ande- ren Seite ist es jedoch nicht trivial, die Beziehung Das Konzept der Verbindlichkeit verweist auf min- genauer zu bestimmen. Im Unterschied zu einer destens vier Aspekte (Bermes 2019), die es lohnt Manipulation der Sprache, durch die Differen- darzustellen, um darauf aufbauend den Bezug zen ausgeschaltet werden sollen, kann Sprache zur Sprache und zum Sprachgebrauch zu skizzie- genutzt, eingesetzt, geformt und gestaltet werden, ren: Verbindlichkeit betrifft erstens die Person und um Begriffe zu besetzen, Mehrheiten zu gewin- deren Verfassung oder Qualifikation. Eine Per- nen, Akzeptanz zu erhöhen oder Interessen zu son kann beispielsweise als verbindlich im Sinne artikulieren – jeweils mit Blick auf konkurrierende von standhaft und zuverlässig qualifiziert werden. Meinungen und Interessen. Es lässt sich hier von Zweitens kann Verbindlichkeit im Sinne der Öko- einem instrumentellen Sprachgebrauch sprechen, nomie und des Rechts als Verpflichtung benutzt der mit Öffentlichkeit rechnet und sie nicht elimi- werden und meint dann die (asymmetrische) niert. Sprache steht hier im Dienst des politischen Beziehung eines Schuldners gegenüber dem Gläu- Handelns. Und politisches Handeln ist ohne einen biger. Jemand steht in der Schuld eines anderen solchen instrumentellen Sprachgebrauch kaum bzw. steht diesem gegenüber in der Pflicht. Drit- denkbar. tens wird von Verbindlichkeiten gesprochen, wenn Regeln des Handelns und Praktiken regelgemäß Doch ebenso richtig ist auch, dass Politik und realisiert bzw. verstanden werden. Sprachspiele Sprache nicht auf eine derartige Zweck-Mittel- lassen sich durch verbindliche Regeln beschreiben Relation reduziert werden können. Werden im und sind durch diese ausgezeichnet. Und vier- öffentlichen Raum Begriffe besetzt, Slogans ent- tens schließlich beanspruchen bestimmte Über- worfen oder neuerdings auch Gesetze werbe- zeugungen oder Gewissheiten Verbindlichkeit. In wirksam getauft (wie etwa das Gute-KiTa-Gesetz der menschlichen Selbst- und Weltorientierung oder das Starke-Familien-Gesetz), dann wird Spra- finden sich (keineswegs immer explizite) Über- che zum Mittel der politischen Intervention, um zeugungen, die Verbindlichkeit beanspruchen, Akzeptanz zu schaffen oder zu erhöhen. Doch ohne dass ihnen eigens eine Verbindlichkeit der öffentliche und politische Sprachgebrauch – zugesprochen werden müsste, und ohne dass sie daran darf erinnert werden – ist mehr als die durch eine unabhängige Begründungsinstanz ihr Herstellung von Akzeptanz oder das Erzielen verbindliches Potential ausweisen müssten. von Zustimmung: Kulturelle und politische Ver- ständigung ist auf Verbindlichkeit ausgerichtet. Diese vier Aspekte, die sich ebenso durch die (Bermes 2019; Nullmeier 2004) Der politisch- Geschichte und Systematik der Sprachphilosophie praktische Sprachgebrauch, wie er in genuin (Bermes 1999; Bermes 2006) illustrieren ließen, politischen Debatten zum Ausdruck kommt und lassen sich nutzen, um den Gebrauch der Spra- in dem politisches Handeln und Sprechen nur che in der Öffentlichkeit in einer neuen Perspek- begrifflich unterschieden werden können, zielt tive zu strukturieren und zu beschreiben. Wird damit auf die Stiftung von Öffentlichkeit. öffentliche und politische Sprache unter dem 18
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