Investigativer Journalismus in Bulgarien - Eine vom Aussterben bedrohte Art? Petar Karaboev / Hendrik Sittig - Konrad-Adenauer ...
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Quelle: © Stoyan Nenov, Reuters. Investigativer Journalismus in Bulgarien Eine vom Aussterben bedrohte Art? Petar Karaboev / Hendrik Sittig Auslandsinformationen online
Zwar existiert der investigative Journalismus in Bulgarien noch, er befindet sich jedoch im Niedergang. Gleichzeitig wird die Medienfreiheit in dem EU-Land in den vergangenen Jahren immer negativer bewertet. Investigativer Journalismus wird häufig für Imagezwecke missbraucht und alternative Untersu- chungen, die außerhalb der traditionellen Redaktionen und in zivilgesellschaftlichen Gruppen durchgeführt werden, werfen Fragen bezüglich der Einhaltung professioneller Standards auf. Es ist nicht einfach, das Vertrauen in die Medien und die Solidarität der Journalisten wiederherzustellen. Auch schwindet die Motivation für investigative Recherchen, weil die bulgarische Justiz oft nicht auf journalistische Enthüllungen reagiert. Investigative Recherchen sind weltweit ein überhaupt noch existiert. Für diesen Text haben wesentlicher Bestandteil der Arbeit von Jour- die Autoren unter anderem mehrere Journalis- nalisten, für viele sind sie sogar die Krönung ten befragt, die sich im Metier des investigativen des journalistischen Berufs. Immer wieder sor- Journalismus in Bulgarien auskennen. Ihre Aus- gen investigativ recherchierende Reporter, die sagen fließen als Zitate in diesen Beitrag ein. zum Teil über Wochen und Monate an einer Geschichte gearbeitet haben, mit den von ihnen Bulgarien gehört laut der Rangliste von Transpa- aufgedeckten Informationen für Aufsehen und rency International2 seit Jahren zu den korruptesten Schlagzeilen. Sie berichten über Missstände, Ver- Ländern in Europa. Hier sollte es eigentlich eine fehlungen und Korruption in Politik, Wirtschaft Vielzahl von Anlässen für bulgarische Medien und Gesellschaft und erfüllen in besonders geben, investigativ tätig zu werden. Gleichzei- intensiver Art und Weise ihre Rolle als vierte – tig wird Bulgarien seit langem im World Press kontrollierende – Gewalt in der Demokratie. So Freedom Index von Reporter ohne Grenzen3 auf werden Journalisten dem lateinischen Ursprung dem letzten Platz in der EU geführt und ist im des Wortes „investigativ“ gerecht: investigare vergangenen Jahr sogar um einen weiteren Platz bedeutet, jemandem oder einer Sache auf die von 111 auf 112 gesunken – unter anderem, weil Spur zu kommen. ein investigativer Journalist zusammengeschla- gen wurde und ein anderer wegen seiner Arbeit Auch in Bulgarien gibt es hin und wieder schlag- Morddrohungen erhalten hat. „Die Situation in zeilenträchtige Enthüllungen von investigativen den Medien ist sehr besorgniserregend, da nie- Journalisten. Zuletzt mussten 2019 mehrere mand daran interessiert ist, Gewalt gegen Jour- Politiker von ihren Ämtern zurücktreten, weil nalisten zu untersuchen und zu verurteilen“, so bekannt wurde, dass sie ihre Wohnungen unter die Einschätzung der internationalen Organi- den üblichen Marktpreisen kaufen konnten. sation. Die Medienfreiheit in Bulgarien wurde Bekannt wurden die Vorfälle auch international auch von der Europäischen Kommission4, dem unter dem Begriff „Apartment-Gate“.1 Allerdings Europäischen Parlament,5 dem Europarat,6 ist diese Art von Enthüllungen eher selten in Bul- den USA7 und den Vereinten Nationen8 nega- garien. Angesehene Journalisten meinen sogar, tiv bewertet. Das Interesse der bulgarischen das Label „investigativer Journalismus“ sei nur Öffentlichkeit an einzelnen journalistischen noch ein Alibi für sensationsheischende Bericht- Enthüllungen schwindet schnell, da sie nur erstattung und stellen infrage, ob dieses Genre an einem möglichen Endergebnis interessiert Nr. 33 (Februar 2022) 2
ist – etwa dem Rücktritt eines Ministers oder der dies ein vergleichsweise seltenes Phänomen ist. Verurteilung eines hochrangigen Beamten oder Ein Beispiel ist die Zusammenarbeit der Wochen- Unternehmers. Zu nachhaltigen Konsequenzen zeitung Kapital mit dem bekannten international und Verbesserungen bei der Korruptionsbekämp- agierenden investigativen Recherchenetzwerk fung, Rechtsstaatlichkeit oder der Mediensitu- Bellingcat im Jahr 2019 bei der Berichterstattung ation insbesondere im investigativen Bereich über den Anschlag auf den bulgarischen Waffen- kommt es im Regelfall nicht. händler Emilian Gebrev durch russische Geheim- dienstagenten.12 Dieses Thema wurde später Wo steht der investigative Journalismus in unter anderem von der New York Times aufge- Bulgarien? griffen und weiter recherchiert – in einer Reihe über Russlands Geheimdienstaktionen weltweit. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es in kei- Dafür bekam das Blatt 2020 den Pulitzerpreis.13 nem bulgarischen Medium eine spezielle Abtei- Mit ausgezeichnet wurde dabei auch die freie lung für investigativen Journalismus gibt. Dies bulgarische Journalistin Boryana Dzhambazova,14 bedeutet eine erhebliche Entprofessionalisie- die bei der Recherche geholfen hatte. Auch das rung dieses Berufszweigs. Ferner gibt es auch investigativ arbeitende Onlineportal Bivol listet keine Redakteure, unter deren Leitung Journa- auf seiner Seite eine lange Reihe internationaler listenteams wochen- oder gar monatelang an Partnerschaften auf, darunter Kooperationen mit einem Fall recherchieren. Zwar arbeiten in den den Zeitungen Le Monde, der Süddeutschen Zei- Print- und den elektronischen Medien einzelne tung, Le Soir sowie internationalen investigativen Journalisten an längeren Berichten und Reporta- Journalistennetzwerken wie Organized Crime gen – wie etwa bei den beiden größten privaten and Corruption Reporting Project (OCCRP) Fernsehsendern bTV (Sendung „bTV Repor- und International Consortium of Investigative terite“ [bTV Reporter])9 und NOVA („Temata Journalists (ICIJ). Seit 2011 ist Bivol außerdem na NOVA“ [Das Thema auf NOVA]).10 Hier offizieller Partner der Webseite Wikileaks in Bul- sind durchaus auch investigative Themen zu garien und auf dem Balkan.15 sehen, meistens werden jedoch hintergründige, längere Nachrichtenbeiträge produziert. Das Ist das investigativer Journalismus öffentlich-rechtliche Bulgarische Nationalfernse- oder PR? hen (BNT) hat keine erkennbare Rubrik für inves- tigativen Journalismus – die 1994 gegründete „Derzeit gibt es in Bulgarien keinen investigativen Sendung „Otkrito s Valja Ahtschieva“ (Transpa- Journalismus.“ Diese klare Aussage stammt aus renz mit Valja Ahtschieva) wurde 2019 beendet einem Gespräch mit der bTV-Journalistin Kanna (auch wenn sie immer noch auf der Webseite von Ratscheva, die seit Jahrzehnten in den Medien BNT zu finden ist). tätig ist und hauptsächlich zu die Justiz betreffen- den Themen arbeitet. „Eine investigative Recher- Gute Beispiele für investigative Arbeit sind che endet in der Regel nicht mit einem einzelnen in Printmedien wie der Wochenzeitung Kapi- Bericht oder einem Film. Investigativ zu recher- tal und der Tageszeitung Sega (Jetzt) sowie chieren, heißt langfristig zu arbeiten und auf den den Onlineportalen Dnevnik (Tagebuch), Za jeweiligen Erkenntnissen aufzubauen.“ Die Jour- istinata (Für die Wahrheit), KlubZ, Mediapool und nalistin und Produzentin Gena Trajkova sieht OFFNews zu finden. Einige der dort veröffentlich- das etwas optimistischer: „Auch wenn man die ten Beiträge werden später auch im jährlichen Beispiele für guten investigativen Journalismus Sammelband „Schwarzbuch der Verschwendun- in den vergangenen Monaten und insbesondere gen der Regierung in Bulgarien“11 abgedruckt. im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im April 2021 an einer Hand abzählen kann, so Bulgarische Medien arbeiten in der Regel nicht existiert er durchaus noch.“ Es gebe Kolle- zusammen, eher sind sie partnerschaftlich mit gen, die seit Jahren investigativ recherchier- ausländischen Medien verbunden – wobei auch ten und in diesem Genre stark seien. Weil die 3 Auslandsinformationen online
Medien, für die sie arbeiten, jedoch nur ein ausgelegt. Grund dafür sei der Mangel an Tradi- vergleichsweise kleines Publikum erreichen, tion und professionellen Standards im Journalis- bekämen ihre Recherchen nicht die öffentliche mus, so Shikerova. Dies trage auch dazu bei, dass Resonanz, die sie verdienen. Auch Silvia Veli- bestimmte Themen als journalistische Enthül- kova, Moderatorin beim öffentlich-rechtlichen lungen ausgegeben würden, obwohl sie keine Bulgarischen Nationalradio (BNR), sieht oft keine investigative Aufklärung böten.16 Zudem gebe es nachhaltige Wirkung der Ergebnisse investiga- immer wieder Fälle, bei denen Berichte lanciert tiver Recherchen – begründet dies jedoch mit würden, um Maßnahmen der Strafverfolgungs- einer anhaltenden Gleichgültigkeit gegenüber behörden gegen bestimmte Personen einleiten Skandalen. „Aus vielen Gründen haben Jour- zu können. Von den insgesamt 1.580 analysierten nalisten das Vertrauen der Bürger verloren und Sendungen in beiden Fernsehsendern hätten in können nicht mit ihrer Unterstützung rechnen, zehn Jahren nur 155 Ausgaben die Kriterien einer wie wir das aus anderen Ländern nach investi- investigativen Recherche erfüllt – so die ernüch- gativen Recherchen politischer Korruption oder ternde Bilanz der Arbeit. skandalösen Verhaltens von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kennen.“ Und Vessislava Die Skepsis und das mangelnde Vertrauen in Antonova, Journalistin und langjährige Beobach- die journalistische Arbeit bezeugen auch die terin der Beziehungen zwischen Medien und Public Ergebnisse der Meinungsumfragen, die in den Relations, sieht einen stetigen Rückgang inves- vergangenen Jahren vom Medienprogramm für tigativer Recherchen: „Es ist so, als hätten die Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung in Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, ihre Bulgarien in Auftrag gegeben wurden. Im Jahr Rolle in der Demokratie vergessen – nämlich 2018 waren fast zwei Drittel (63 Prozent) der Kritiker der Macht oder, wie es in den Journa Meinung, dass die bulgarischen Medien nicht listik-Lehrbüchern steht, der Wachhund der unabhängig arbeiten können. Nur zehn Prozent Gesellschaft zu sein.“ Diejenigen, die sich nicht glaubten an eine unabhängige Berichterstattung.17 als Kritiker der Machthabenden sehen, so Anto- nova, ständen nicht für Journalismus, sondern Ende 2020 – einem Jahr, das nicht zuletzt geprägt für PR und Propaganda. war von monatelangen Massenprotesten gegen die Regierung – gab mehr als die Hälfte der Eine akademische Studie, die Befragten (56 Prozent) an, der 111. Platz Bulga- Aufmerksamkeit verdient riens im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen sei berechtigt.18 Und in einer Genka Shikerova ist nicht nur eine bekannte Umfrage zur Berichterstattung anlässlich der Autorin von investigativen Beiträgen für die Parlamentswahl im April 2021 antworteten fast privaten Fernsehsender bTV und NOVA, sie 70 Prozent, sie würden definitiv bzw. „eher ja“ promovierte auch 2020 an der Universität St. Abhängigkeiten zwischen Medien und bestimm- Kliment Ohridski in Sofia mit einer Doktorarbeit ten Parteien sehen.19 zum Thema „Investigativer Journalismus zwi- schen Recht und ethischen Standards“. Dabei Alle Umfragen der vergangenen Jahre haben analysierte sie die investigative Berichterstat- zudem gezeigt, dass das Fernsehen nach wie vor tung von bTV und NOVA im Zeitraum 2009 bis die Hauptinformationsquelle der Bulgaren ist. In 2018. Die Schlussfolgerungen, die die Autorin der bereits oben erwähnten Umfrage im Vorfeld über die Funktionalität und den öffentlichen der Parlamentswahl nannte auf die Frage, welche Wert des investigativen Journalismus am Bei- Medien sie am häufigsten nutzen (Mehrfachnen- spiel der bTV-Sendung „bTV Reporterite“ sowie nungen waren möglich), um sich über die Wahlen der NOVA-Sendungen „Razsledvane“ (Ermitt- zu informieren, eine große Mehrheit das Fernse- lung) und „Temata na NOVA“ zieht, klingen hen (59 Prozent Privat-TV und 44 Prozent öffent- keineswegs optimistisch. Der Begriff „investi- lich-rechtliches TV), danach folgten mit weitem gative Recherche“ werde in Bulgarien sehr breit Abstand Soziale Netzwerke und Onlineportale.20 Nr. 33 (Februar 2022) 4
Der breite Einfluss des Fernsehens als Infor- Wo stehen die öffentlich-rechtlichen mationsquelle in Bulgarien erklärt, warum es Medien? so viele pseudo-investigative Recherchen bei bTV und NOVA gibt. Sie zeichnen sich in erster Mit Blick auf das Geschilderte fällt auf, dass die Linie dadurch aus, dass sie das Sensationelle und öffentlich-rechtlichen Sender BNT (Fernsehen) Spektakuläre betonen. In der Regel bleibe dabei und BNR (Radio) bei investigativen Recherchen für das Publikum unklar, welche Motive hinter anscheinend nur eine marginale Rolle spielen. einer derartigen Sendung stehen, schreibt Genka Vessislava Antonova verweist im Gespräch mit Shikerova in ihrer Doktorarbeit.21 Sie zählt fol- den Autoren in diesem Zusammenhang darauf, gende Merkmale dieser Sendungen auf: Es werde dass investigative Recherchen oft Machtmiss- keine oder nur eine Quelle genannt. Die konkre- brauch oder die Veruntreuung öffentlicher Mittel, ten Fakten und Dokumente reichten nicht aus, wie etwa europäischer Fördergelder, aufdecken, um eine objektive These zu formulieren. Die und kommt dann zum Punkt: „Wir dürfen Beweise stammten aus ethisch fragwürdigen nicht vergessen, dass die öffentlich-rechtlichen Quellen – wie versteckten Kameras, geheimen Medien in Bulgarien aus dem Staatshaushalt Aufzeichnungen, Bildern unklaren Ursprungs finanziert werden, der vom Finanzministerium und anonymen Aussagen. Es werde das Spek- genehmigt und dann vom Parlament verabschie- takuläre gesucht, indem die Interviewpartner det wird. Wir waren in der Vergangenheit häufig verfolgt, Konfliktsituationen geschaffen und Zeuge, wie die Regierung diese Medien durch verbale wie auch nonverbale Gewalt provoziert Budgetkürzungen kurzgehalten hat.“ Dies könne werde. Genka Shikerova schildert jedoch nicht dazu führen, dass BNT und BNR sich bei solchen nur die Methoden und Mittel, mit denen die Bei- Themen eher zurückhalten, um nicht mit weiter träge produziert werden. Sie geht dem Problem reduzierten Etats bestraft zu werden. auf den Grund und benennt die Kriterien, mit denen definiert wird, ob es sich um investigative Gena Traikova hat seit Beginn der COVID-19-Pan- journalistische Recherchen handelt. demie einen Rückgang guter investigativer Recherchen beobachtet, sie warnt jedoch vor Aus den Definitionen internationaler Verbände voreiligen Schlüssen: „Die Redaktionen wur- investigativer Journalisten – wie dem Centre den vor die Herausforderung gestellt, mit stark for Investigative Journalism (CIJ), Investiga- reduziertem Personal genau so viel wie vor der tive Reporters and Editors (IRE) oder auch der Pandemie oder gar mehr zu produzieren.“ Silvia Dutch-Flemish Association for Investigative Jour- Velikova vom öffentlich-rechtlichen BNR sieht nalists (VVOJ) – geht hervor, dass investigativer ein allgemeines Personalproblem. Die öffent- Journalismus in erster Linie für das öffentliche lich-rechtlichen Medien könnten nur schwer Interesse arbeitet und die Machthabenden – wie Mitarbeiter entbehren, damit diese sich investi- beispielsweise Politik, Behörden, Unternehmen, gativen Recherchen widmen. „Laut ihrem Auf- religiöse Organisationen – genau beobachtet. trag haben die öffentlich-rechtlichen Medien Dazu gehören weiter Fakten, die im Kontext die Aufgabe, über fast alle täglichen Ereignisse betrachtet und auf Zuverlässigkeit und Qualität zu berichten. Private Medien dagegen können geprüft werden, sowie der persönliche Einsatz sich leichter aussuchen, welche Themen sie der Journalisten, die bemüht sind, zu recherchie- ins Programm nehmen.“ Für eine investigative ren und etwas bisher Unbekanntes zu entdecken. Recherche brauche man zudem – neben den Aber dabei darf es nicht bleiben – die reine Auf- nötigen finanziellen Ressourcen – auch viel Zeit, listung von Fakten ist noch keine investigative das heißt, die Autoren müssten aus der täglichen Recherche; es bedarf auch einer klaren und gut Arbeit herausgenommen werden, was wiederum argumentierten These. Laut Shikerova werden eine größere Belastung für die anderen Kollegen diese Kriterien von vielen investigativen Recher- bedeute. Kanna Ratscheva schätzt die Situation chen in Bulgarien nicht erfüllt. ähnlich ein: „Damit die öffentlich-rechtlichen Medien solche Recherchen veröffentlichen, muss 5 Auslandsinformationen online
das Geld dafür vorhanden sein. Und die Men- des Problems. In diesem Sinne muss der Schluss schen müssen den Medien vertrauen. Andern- gezogen werden, dass in den öffentlich-recht- falls wenden sie sich auch nicht mit Hinweisen lichen Medien die Möglichkeit, hochwertige an die Journalisten.“ Hinweise für investigative Recherchen zu geben, begrenzt ist. Die Stimmen der Fachkreise, die in In diesem Zusammenhang müssen auch die Rah- der Lage wären, ein Problem zu identifizieren menbedingungen der Berichterstattung und die und zu benennen, werden nicht oder nur sehr Voraussetzungen der öffentlichen Medien zum selten gehört. Entgegennehmen von Hinweisen betrachtet werden. Eine aktuelle Studie, die an der Fakultät Alternative Räume für investigativen für Journalismus und Massenkommunikation Journalismus der Universität Sofia erstellt wurde, analysiert die Informationsinhalte von BNT1 und dem Trotzdem gibt es immer wieder die Möglich- BNR-Infokanal Horizont. Eine Schlussfolgerung keit, investigativ recherchierte Themen an die lautet, dass Regierung und Behörden die domi- Öffentlichkeit zu bringen. So gelinge es einigen nierende Informationsquelle für die Bericht- Kollegen immer wieder, sagt Gena Traikova, mit erstattung der öffentlich-rechtlichen Sender einem investigativen Artikel eine ganze Welle sind.22 Im Zeitraum August 2020 bis Februar zusätzlicher Hinweise aus der Bevölkerung 2021 seien beide Medien größtenteils der von auszulösen, die die konkreten Vorfälle dann den Institutionen vorgegebenen Agenda gefolgt noch klarer beleuchteten. Obwohl die Behör- und hätten über Themen und Ereignisse dieser den manchmal dazu neigten, die Ergebnisse Agenda berichtet. Milena Jakimova, Dozentin am bestimmter investigativer Recherchen zu ignorie- Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Sofia ren, hält sie es für einen großen Erfolg, wenn es und Co-Autorin der Studie, wies darauf hin, dass Journalisten schaffen, das Vertrauen der Bürger BNT und BNR wenig über Sozialpolitik berich- zu gewinnen: „Eine starke öffentliche Resonanz ten. Auch wichtige Themen wie Bildung würden ist das Zeichen dafür, dass das Publikum nach kaum behandelt. Sie sieht eine Diskrepanz zwi- solchen Recherchen hungert.“ schen dem Interesse der Öffentlichkeit und der medialen Berichterstattung. Der Journalist und Dozent für Journalismus an der Sofioter Universität für National- und Welt- Die Studie dokumentiert weiterhin, welche Gäste wirtschaft Ilia Valkov kommentierte 2020 für die zu einer Diskussion eingeladen werden. Wenn es Zeitschrift Medialog, dass die Bürger ihre Mei- um innenpolitische Themen geht, dominierten nung nicht unbedingt mit den großen Medien Politiker die Diskussionsrunden im BNT, es wür- des Landes teilen. Er spricht von der Entstehung den jedoch kaum Experten beteiligt. Im Gegen- „neuer Formen eines alternativen Oppositions- satz zu manchen Sendungen im bulgarischen journalismus, der im Einzelfall sogar in einen Radio seien in den Fernsehsendungen auch Guerillakrieg mit den Machthabern übergehen keine Bürger zu den Debatten eingeladen. Die- kann“.23 Zum ersten Mal würden in Bulgarien ses Vorgehen lasse bei den Bürgern den Eindruck Medienformate angeboten, die auf alternative entstehen, dass ihnen eine passive Rolle zugewie- Finanzierungsmodelle setzen und Unterstüt- sen wird und dass sie untätig die Entscheidungen zung bei den Bürgern suchen. In seinem Artikel anderer abzuwarten haben. Und sollten sie doch schreibt er, die Gesellschaft erwarte eine Alter- einmal zu Wort kommen, dann werde ihnen nur native zur „zurechtgebogenen Realität“, die sehr wenig Zeit zur Verfügung gestellt. Milena von den Medien erschaffen werde. Dabei werde Jakimova: „Die Bürger sind in erster Linie da, versucht, „nicht nur die Funktionen und den um Dampf abzulassen. Sie werden damit nur als öffentlichen Auftrag des Journalismus neu zu Leidtragende, als Opfer dargestellt.“ Die sinn- definieren, sondern auch das öffentliche Image volle Frage „Was tun?“ wird ersetzt durch „Wer der Medien“. ist schuld?“. Dies führt jedoch nicht zur Lösung Nr. 33 (Februar 2022) 6
Insbesondere sorgt das investigativ arbeitende anstatt Organisationen zu gründen, die die Funk- Onlineportal Bivol immer wieder mit eigenen tion der Medien übernehmen.“ Oft würden diese Recherchen für Schlagzeilen. So wurden zum Akteure Dokumente entdecken, Anfangsrecher- Beispiel 2018 zwei Journalisten, die für das chen durchführen und sich dann an klassische Portal über Betrug mit EU-Geldern in Bulga- Medien wenden, damit diese die Recherchen rien recherchierten, von der Polizei kurzzei- vervollständigen, also die Hauptarbeit leisten, tig festgenommen und mussten eine Nacht in und sie veröffentlichen. Damit stelle sich für sie Gewahrsam verbringen.24 Und die bulgarische jedoch die Frage, so Antonova, warum es dieser NGO Antikorruptionsfonds veröffentlichte 2020 Organisationen bedarf. Die Unterstützung inves- eine Filmreihe auf Youtube, die die Geschichte tigativer Recherchen oder das Anbieten von The- der illegalen Übernahme eines Unternehmens men durch solche Akteure werfe bei ihr Fragen erzählt. Der Journalist, der die Filme recherchiert und Zweifel auf, ob die Unterstützung nicht im hatte, erhielt daraufhin Morddrohungen.25 eigenen Interesse geleistet werde. Man müsse immer schauen, welche Ziele und Geldgeber Aber passen investigativer Journalismus und hinter der Arbeit der Organisationen ständen. neue alternative Medien zusammen? Ist es Der beste Weg sei, wenn die Medien ihre eige- nicht gerade die Aufgabe traditioneller Medien, nen investigativen Projekte umsetzen würden. noch stärker auf investigative Recherchen zu Nur sie selbst könnten das Vertrauen und die setzen und damit mögliche Missstände aufzu- Anerkennung ihrer Arbeit als „vierte Gewalt in decken? Zudem stellt sich die Frage, ob „alter- der Demokratie“ aufrechterhalten. native“ investigative Recherchen auch von traditionellen Medien publik gemacht werden Auch Silvia Velikova von BNR ist skeptisch, können und sollen. inwiefern es die Aufgabe von Nicht-Medien-Or- ganisationen sei, investigative Recherchen Kanna Ratscheva befürwortet diesen letzten anzustoßen. Oft würden diese eben von denen Punkt im Gespräch mit den Autoren: „Eine Ent- finanziert, die daran interessiert seien, die Ergeb- hüllung löst nur dann eine Welle aus, wenn die nisse national publik werden zu lassen. „Ich kann Medien vereint auftreten, wenn sie als Team allerdings nicht beurteilen, ob dies den traditi- agieren, wenn sie sich gegenseitig helfen und onellen Medien schadet oder ihre Defizite aus- die Enthüllungen ergänzen und weiterführen. gleicht. Viel wichtiger ist, dass die traditionellen Denn jede investigative Recherche betrifft nicht Medien solche Recherchen kritisch hinterfragen nur die eigenen Leser, Zuschauer oder Zuhörer.“ und erkennen, ob sie möglicherweise bestellt Dafür fehle es jedoch an professioneller Solida- wurden und dadurch einseitig sind.“ Hierbei rität unter den Journalisten, kritisiert Vessislava müsse auch genau darauf geachtet werden, dass Antonova. „Bulgarien steht seit langem im Zei- diese Recherchen nicht politisch oder instituti- chen eines erbitterten Medienstreits, dessen onell, etwa von der Staatsanwaltschaft oder gar einziges Ergebnis die Abwertung des journalisti- den Geheimdiensten, missbraucht würden. schen Berufs ist.“ Für sie ist die Entstehung von alternativen Räumen „ein Versuch, den inves- Qualitätsstandards als Grundlage tigativen Journalismus aus seiner natürlichen Umgebung, den klassischen Medien, herauszu- Die Grundlage für seriösen Journalismus, egal reißen“ und in Organisationen mit möglicher- welchen Genres, ist die Einhaltung von Quali- weise intransparenten Zielen zu verlagern. Es tätsstandards. Und daran fehlt es nach Meinung gebe genügend ernstzunehmende Medien, die vieler Medienexperten in Bulgarien. Kanna eine Unterstützung für eigene investigative Ratscheva: „Es ist wichtig, die richtigen Fra- Recherchen verdient hätten. „Es wäre fairer, gen zu stellen und vor allem aktiv zuzuhören. wenn sich Journalisten mit gutem Ruf und nach- Viele Kollegen machen das nicht.“ Und Silvia gewiesener Erfahrung für eine Finanzierung ihrer Velikova ergänzt, oft würden Journalisten zum investigativen Recherchen bewerben würden, Beispiel an Politiker keine Fragen stellen, weil 7 Auslandsinformationen online
sie Angst hätten, Probleme zu bekommen oder Auch aus dem Justizbereich in Bulgarien ist oft öffentlich ignoriert zu werden. Hinzu komme, keine aktive Unterstützung für Journalisten und dass in der COVID-19-Pandemie durch den investigative Recherchen zu erwarten. Häufig Wechsel auf Onlineformate und das reine Ver- kommt es vor, dass die juristische Nachverfol- senden von Pressemitteilungen die Möglich- gung der Ergebnisse einer Recherche von den keiten, überhaupt Fragen zu stellen, erheblich Ermittlungsbehörden verschleppt oder erst gesunken seien. Die Kommunikation habe sich gar nicht begonnen wird – wie zum Beispiel im zum Beispiel auf soziale Netzwerke wie Facebook bereits weiter oben erwähnten Fall, der von verlagert und sei dadurch einseitig geworden. der NGO Antikorruptionsfonds untersucht und publik gemacht wurde. Hier wollte oder konnte Vessislava Antonova kritisiert, dass in vielen die Staatsanwaltschaft auch ein Jahr nach der investigativen Recherchen journalistische Grund- Veröffentlichung der Recherche weder auf münd- sätze vernachlässigt werden. So würden zum liche noch auf schriftliche Presseanfragen zu Beispiel Informationen nicht anhand mehrerer bisherigen Ermittlungsergebnissen antworten.27 Quellen überprüft, Quellen würden – selbst mit gegebenenfalls verschleierter Identität – nicht Auch kommt es manchmal vor, dass nicht gegen genannt, Beweise würden nicht oder nicht aus- die Urheber von möglichen Straftaten, die auf- reichend geliefert oder Protagonisten wie auch gedeckt wurden, ermittelt wird, sondern gegen zuständige Behörden würden nicht zu einer Stel- die Journalisten, die darüber berichteten, oder lungnahme aufgefordert. Aber nur über solche deren Informanten. So wurde im September Wege könne dokumentiert werden, dass man 2021 der Kriminalreporter der Zeitung Sega alles versucht habe, zur Wahrheit zu gelangen. von der Polizei zur Vernehmung vorgeladen, „Investigativer Journalismus muss Teil des Werte- nachdem er Fragen zu möglicher Polizeigewalt systems eines Mediums sein“, meint Antonova. gegen Demonstranten an das Innenministerium „Er soll als wichtig und notwendig erkannt wer- gerichtet hatte. Die Vereinigung europäischer den. Dafür muss man Zeit und Mühe investieren.“ Journalisten in Bulgarien wertete dies als „Ver- such der Einschüchterung und Repression, der Grundsätzlich bedarf es in Bulgarien wie im wahrscheinlich darauf abzielt, dass sich Medien Übrigen auch in anderen südosteuropäischen nicht mehr mit illegalen Handlungen der Poli- Ländern eines breiteren Bewusstseins für die zei beschäftigen“.28 Ein weiterer Fall betrifft Notwendigkeit von Qualitätsjournalismus. Es die Präsidentin der Bulgarischen Pharmazeuti- ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die Prinzipien schen Union, die 2020 in Interviews vor einem des seriösen Journalismus wie Unparteilichkeit, drohenden Mangel an Medikamenten wegen Objektivität, gründliche Recherche und zuverläs- der COVID-19-Pandemie warnte. Daraufhin sige Informationen einzufordern und zu stärken – wurde sie von der Staatsanwaltschaft angeklagt, als ein bedeutender Bestandteil der Demokratie. sie habe Falschnachrichten verbreitet und Panik Dafür die Rahmenbedingungen zu verbessern, ist verursacht.29 Nach mehreren Verhandlungen Aufgabe der politischen Seite. Bisher legte keine wurden die Anklagepunkte gegen sie jedoch der jeweils amtierenden Regierungen in Bulga- fallen gelassen. rien – egal welcher Couleur – gesteigerten Wert auf die Förderung unabhängiger Medien. Leider All diese Punkte sind Ursache dafür, dass Medien gibt es auch immer wieder Fälle, in denen Poli- in Bulgarien – und speziell investigativ arbeitende tiker mit Verachtung und Respektlosigkeit über Journalisten – immer wieder in Bedrängnis gera- Journalisten sprechen – nur weil sie eine kritische ten. Auch dies trägt zur am Anfang aufgeführ- Frage gestellt haben.26 Das schafft eine gesell- ten stetig schlechten Platzierung des Landes im schaftliche Atmosphäre, in der unabhängige World Press Freedom Index von Reporter ohne Medien, die zudem stärker investigativ arbeiten Grenzen bei und führt zusammen mit den immer wollen, nicht prosperieren können. wieder publizierten Korruptionsfällen zu einem schlechten Image des Landes. Nr. 33 (Februar 2022) 8
Es sind sowohl strukturelle Probleme inner- 1 Wölfl, Adelheid 2019: „Apartment-Gate“: Billige halb der Medien, wie finanzielle und personelle Wohnungen für Bulgariens Politiker, Der Standard, 05.04.2019, in: https://bit.ly/3GcUaEu Schwierigkeiten, als auch schwierige gesell- [09.01.2022]. schaftliche Rahmenbedingungen, die den 2 Transparency International 2021: CPI 2020: investigativen Journalismus in Bulgarien behin- Western Europe & European Union, in: dern. Es bedarf höherer Investitionen im redak- https://bit.ly/3q89igA [09.01.2022]. 3 Reporter ohne Grenzen 2021: Bulgaria. Press tionellen Bereich, eines breiteren Bewusstseins freedom trapped, in: https://rsf.org/en/bulgaria für die Rolle von Journalisten in der Demokratie, [10.01.2022]. einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz von 4 Europäische Kommission 2020: Доклад за Qualitätsjournalismus – aber auch einer größeren върховенството на закона за 2020 г. – Съобщение и глави по държави (Rechtsstaats- Solidarität der Journalisten und Medien unterein- bericht 2020 – Kommunikation und Länderkapitel), ander, um dem durchaus schwierigen Genre des 30.09.2020, in: https://bit.ly/3zHftvc [10.01.2022]. investigativen Journalismus einen neuen Impuls 5 Zur Entschließung des LIBE-Ausschusses siehe in Bulgarien zu geben. Europäisches Parlament 2020: European Parlia- ment resolution on the rule of law and fundamental rights in Bulgaria, 2020/2793(RSP), 02.10.2020, in: https://bit.ly/3zFzK4m [10.01.2022]. Petar Karaboev ist stellvertretender Chefredakteur 6 Europarat 2020: Hands off Press Freedom: des bulgarischen Nachrichtenportals dnevnik.bg. Attacks on Media in Europe Must Not Become a New Normal. 2020 Annual Report by the partner Hendrik Sittig ist Leiter des Medienprogramms der organisations to the Council of Europe Platform to Konrad-Adenauer-Stiftung für Südosteuropa mit Sitz Promote the Protection of Journalism and Safety in Sofia, Bulgarien. of Journalists, 03/2020, in: https://bit.ly/3f9wHYI [10.01.2022]. 7 U.S. Department of State 2021: 2020 Country Reports on Human Rights Practices: Bulgaria, 30.03.2021, in: https://bit.ly/34rmcOo [10.01.2022]. 8 UN-Menschenrechtsrat (UNHRC) 2020: Universal Periodic Review – Bulgaria. Third Cycle, 06.11.2020, in: https://bit.ly/3GcDGw9 [10.01.2022]. 9 bTV: bTV Reporterite, in: https://btv.bg/shows/ btv-reporterite [10.01.2022]. 10 NOVA: Temata na NOVA, in: https://nova.bg/ shows/view/34/темата-на-nova [10.01.2022]. 11 Antonova, Vessislava et al. 2021: Черна книга на правителственото разхищение в България (Schwarzbuch der Regierungsausgaben in Bulga- rien), in: https://chernakniga.bg [10.01.2022]. 12 Bosev, Rosen 2019: Отрова, оръжия, или войната за „Дунарит“ (Gift, Waffen oder der Krieg um „Dunarit“), Капитал (Kapital), 25.01.2019, in: https://bit.ly/33fR6bZ [10.01.2022]. 13 Schwirtz, Michael 2020: How a Poisoning in Bulgaria Exposed Russian Assassins in Europe, The Pulitzer Prizes, in: https://bit.ly/3I67kUr [10.01.2022]. 14 Association of European Journalists (AEJ) Bulgaria 2020: Боряна Джамбазова от АЕЖ е част от екипа, спечелил „Пулицър“ за международна журналистика (Boryana Dzhambazova von AEJ ist Teil des Teams, das den Pulitzer-Preis für interna- tionalen Journalismus gewonnen hat), 05.05.2020, in: https://bit.ly/3td5jBi [10.01.2022]. 15 Биволъ (Büffel) 2010: ЗА Бивола (Über den Büffel), 07.11.2010, in: https://bivol.bg/about.html [10.01.2022]. 9 Auslandsinformationen online
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