KASSANDRA/ PROME THEUS. RECHT AUF WELT
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KASSANDRA/ PROME THEUS. RECHT AUF WELT 12 SPIELZEIT 2019/2020
URAUFFÜHRUNG/AUFTRAGSWERK KASSANDRA/ PROME THEUS. RECHT AUF WELT TEIL I: KASSANDRA ODER DIE WELT ALS ENDE DER VORSTELLUNG TEIL II: PROMETHEUS. WIR ANFÄNGE VON KEVIN RITTBERGER Das vollständige Programmheft in Druckversion können Sie für 2 Euro an der Theaterkasse und in den Foyers erwerben.
Übersetzerin Hanna Scheibe Chor/Lehrstück/Okeaniden Massiamy Diaby Chor/Psychiater/Hermes Vincent Glander Chor/Lehrstück/Journalist/Okeanos Florian Jahr Chor/Polizist/Macht/Atlas Camill Jammal Chor/Lehrstück/Okeaniden Delschad Numan Khorschid Chor/Lehrstück/Okeaniden Noah Saavedra Chor/Lehrstück/Macht/Kassandra Yodit Tarikwa Laudator/Prometheus Max Mayer Filmemacherin/Io Mareike Beykirch Hephaistos/Okeaniden Benito Bause Inszenierung Peter Kastenmüller Bühne Alexander Wolf Uraufführung/Auftragswerk Aufführungsrechte Verlag der Autoren, Frankfurt am Main Kostüme Aino Laberenz Musik Polly Lapkovskaja Video M + M (Weis/De Mattia) Premiere am 19. Dezember 2019 Choreinstudierung Jan Höft im Marstall Dramaturgie Katrin Michaels
Regieassistenz Jan Höft Bühnenbildassistenz Lisa Käppler Kostümassistenz Silke Messemer Regiepraktikum Jasmin Pietsch Kostümpraktikum Emily Mann Dramaturgie- hospitanz Andrea Wolfer Inspizienz Wolfgang Strauß Soufflage Steffi Lindner Für die Produktion Bühnenmeister Klaus Kreitmayr Beleuchtungsmeister Uwe Grünewald Stellwerk Alexander Bauer, Johannes Frank, Ramona Lehnert Ton Matthias Reisinger Video Ehab Altamer, Vanessa Hafenbrädl, Wolfgang Illmayr Requisite Benjamin Brüdern, Barbara Hecht, Maximilian Keller Maske Lena Kostka, Nicole Purcell Garderobe Sabine Berger, Cornelia Eisgruber, Dieter Jung Die Ausstattung wurde in den hauseigenen Werkstätten hergestellt. Technischer Direktor Andreas Grundhoff Kostümdirek- torin Elisabeth Rauner Technische Leitung Frank Crusius Werkstätten Michael Brousek Ausstattung Bärbel Kober ÜBERSETZERIN Beleuchtung/Video Tobias Löffler Ton Michael Gottfried Hast du was erreicht mit deiner Klage Requisite Barbara Hecht, Anna Wiesler Produktionsleitung Vor welcher Stimme würde diese Barbarei erzittern Kostüm Enke Burghardt Damenschneiderei Gabriele Behne, Wenn ein Mythos beginnt endet die Lektion Petra Noack Herrenschneiderei Carsten Zeitler, Mira Hartner Das Es-kommt-darauf-an-die-Welt-zu-verändern Maske Andreas Mouth Garderobe Cornelia Faltenbacher Die Antwort auf die häufig gefragten Fragen ist Staub Schreinerei Stefan Baumgartner Malersaal Katja Markel Tapezierwerkstatt Peter Sowada Hydraulik Thomas Und die Ruhe hat niemandem mehr aus dem Weg zu gehen Nimmerfall Galerie Christian Unger Transport Harald Doch vielleicht der Stille Pfähler Bühnenreinigung Adriana Elia Der die Götter entweichen Nochmals einen Schritt zurück Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung Man müsste sich doch einmal hinausbegeben nicht gestattet. Aus dieser elendsengen Zeit Kevin Rittberger, «Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung»
DER MYTHOS hatte, vor dem ich frei wirken konnte. Heiner Müllers Ge- schichtsdefätismus ist ein weiteres Negativ, das ich ver- DER suche umzustülpen. Prometheus bearbeiten bedeutet für mich: Die Menschheit ist noch nicht verloren, sie kann sich EUROPÄISCHEN jetzt neu erfinden und dabei nicht nur aus dem eurozentri- schen Denkraum schöpfen. Den Mythos der Pull-Faktoren WERTE- zu widerlegen, also die Annahme, dass Geflüchtete nicht mehr zu uns nach Europa kommen würden, wenn wir sie GEMEINSCHAFT nicht mehr retten, bedeutet auch die hoffnungsvolle Suche nach gemeinsamen transkulturellen Mythen für unsere Zeit. EIN GESPRÄCH MIT KEVIN RITTBERGER Wie stehen die europäischen Grundmythen für Dich im Ver- hältnis zu den außereuropäischen Figuren, deren Geschich- Zwei mythologische Figuren sind die Titelfiguren des Dop- ten Du erzählst? pelstücks. Was waren Deine Ansatzpunkte für die Bearbei- Geflüchtete, die in Europa einen Schutzstatus erflehen müs- tung der Mythen dieser Seher*innen? Und wie ordnest Du sen, fordern die europäischen Mythen, die auf der ganzen Dich hier in einer Bearbeitungstradition ein? Welt bekannt sind und denen immer ein Universalismus in- Ich habe mich 2009/10 mit den Kassandrarufen der EU be- newohnt, heraus. Sprechen europäische Mythen – nehmen schäftigt. Den Warnungen vor dem Tod in der Wüste, im wir den Zivilisationsstifter Prometheus – tatsächlich eine Mittelmeer. Spanien verfolgte damals einen liberalen Kurs, Weltgesellschaft an, oder zementieren sie nur die Exklusi- aber die Festung Europa war gewaltig in der Mache. Ich vität einer Elite? Dies meine ich zum einen idealistisch bil- habe damals Bearbeitungstraditionen weitestgehend außen dungsbürgerlich und zum anderen durchaus materialistisch vor gelassen, weil für mich die radikale Notwendigkeit, von chauvinistisch. Kommt ein Recht auf Welt allen Erdlingen Flucht und Ausgrenzung, von Zivilisation und Barbarei zu zu oder ist es nur eine wohlfeile Wendung, die mehr über erzählen, im Vordergrund stand. Beim zweiten Anlauf nun, den Habitus von wenigen privilegierten Akademiker*innen nachdem das Thema Flucht nichts an Grausamkeit einge- erzählt? Geflüchtete fordern den Mythos der europäischen büßt hat, ganz im Gegenteil, wollte ich dem Abgesang auf Wertegemeinschaft jeden Tag aufs Neue heraus. Wenn wir den Humanismus, den Europa «aus vollen Kehlen» bewerk- diese Anrufung hören, brauchen wir Antworten: Wollen wir stelligt, eine Gegenperspektive an die Seite stellen. Es war die verbleibenden globalen Ressourcen gemeinsam verwal- mein Wunsch, den Prometheus-Mythos zu bearbeiten, ten oder beharrt Europa auf der alten Behauptung eines all- dem Menschenfreund und Zivilisationsstifter auf den Zahn gemeinen Kriegszustandes? Nach Thomas Hobbes braucht zu fühlen, zu schauen, wie heute Fortschritt und Kultur es ja nur wenige, die sich an der Macht festklammern und gedacht werden müssen – als gegensätzlich oder komple- den Rest der Menschheit unterjochen. Kämpfen wir also mentär, wenn alle Lebewesen auf der Erde angesprochen heute gemeinsam für eine Form der Weltsouveränität, um werden wollen. Hier bin ich viel genauer gewesen als beim den Kriegszustand zu beenden, oder bleiben wir die ein- Mythos von Kassandra, habe «Der gefesselte Prometheus» gemauerten Glücklichen, die von der bürgerlichen Gewalt von Aischylos in der Übersetzung von Peter Handke so oft profitieren? gelesen, bis sich im Inneren eine Art Negativ abgebildet 10 11
Mit welchen Recherchen und Quellen arbeitest Du dabei? nach Afrika in früheren Zeiten, etwa zu überraschenden For- Für «Kassandra» habe ich vor rund zehn Jahren mit dut- schungsreisenden wie Volney (im 18. Jahrhundert) und Isa- zenden Geflüchteten gesprochen, um möglichst unver- belle Eberhardt (Ende des 19. Jahrhunderts), die arabische fälscht die Zeugenschaft traumatisierender Flucht ablegen und afrikanische Länder mit staunenden, unvoreingenom- zu können. Viele Menschen haben mir ihr Leid offenbart menen Augen beschrieben haben. Diese beiden haben an- und ich habe mich im Nachhinein oft gefragt, ob ich die deren Kulturen und Zivilisationen einen Tribut gezollt – und richtige Person war, die diese Geschichten in Empfang ge- Eberhardt hat darüber hinaus bereits um 1900 eine festge- nommen hat. Wie könnte ich eine angemessene solidari- zurrte Geschlechterbinarität in Frage gestellt. Eine wichtige sche Perspektive entwickeln, ohne eine retraumatisierende Stimme war auch Achille Mbembe, der heute eine gemein- Erfahrung zu provozieren, die ein erneutes Abfragen von same Perspektive fordert, die er als «Im-Offenen-Woh- Geschichten der Flucht immer riskiert? Für die neue Fas- nen» imaginiert. Außerdem hat mich als Technologie-Op- sung der «Kassandra» war ein Gespräch mit Prof. Bajbouj, timisten die Frage interessiert, ob den Allmachts-Fantasien dem Leiter der Clearingstelle der Charité Berlin, sehr wich- der Silicon-Valley-Entrepreneurs (Stichwort: Singularity) tig. Er hat mir aufgezeigt, wie begrenzt die Kapazitäten für auch eine emanzipative Perspektive entgegenzusetzen ist, die mehrfach traumatisierten Neuankömmlinge sind und so dass Fortschritt tatsächlich, wie Prometheus’ Feuer, welche Unkenntnis über deren seelisches Leid besteht. Er wieder allen zukommen würde. sagte mir, seine Kolleg*innen würden Berichte aus den La- gern der Nazizeit studieren, um sich das Ausmaß des Leids An der Problematik, die Du beschreibst, hat sich in dieser überhaupt vorstellen zu können. Zeit leider nicht viel geändert, ihre Rezeption in der Öffent- Dann habe ich viel Literatur rund um die Frage nach glo- lichkeit hat verschiedene Stadien durchlaufen und ist ein baler Freizügigkeit gewälzt, also dem Recht auf Auswan- wesentliches Thema in der politischen Positionierung ge- derung, von dem die Deutschen in ihrer Geschichte mil- worden. Wie hat sich Deine Sicht auf die Fluchtproblematik lionenfach Gebrauch gemacht haben und das auch heute verändert? Ändert es Deine Position als Autor, dass Du Dich allen Menschen zukommen sollte. John Rawls hat von einem jetzt mit einem zentralen Wahlkampfthema auseinander- «Schleier des Nichtwissens» gesprochen. Den müssten wir setzt? uns in Europa erst einmal überhelfen, um die Rechte von Meine Sicht auf die Fluchtproblematik ist inzwischen sehr Geflüchteten, auch die der künftigen, der Klimaexilanten, stark von der landläufig-realpolitischen geprägt. Dem Wel- wieder zu achten. come-Sommer folgte eine weitere Verschärfung des Asyl- Für «Prometheus» hat mich meine Recherche über die linke rechts, der Türkei-EU-Deal usw. Ich wünschte es gäbe eine Ikone des 19. und 20. Jahrhunderts hinaus auch hin zur um- weltweite, verfassungsgebende Versammlung, welche das gekehrten Migrationsbewegung geführt, also der von Europa Recht auf Auswanderung respektive Einwanderung für das 21. Jahrhundert nochmal komplett neu denkt und verab- «Die Menschheit ist schiedet. De facto lassen sich dafür jedoch momentan kei- ne Mehrheiten finden. An einem radikalen Gegenentwurf zur gegenwärtigen Abschottung zu arbeiten, bedeutet für noch nicht verloren.» mich künstlerisch, die Spannungen zwischen Dokument und Fiktion produktiv zu machen. Alexander Kluge hat in seinem Artisten-Film von 1968 folgenden Satz geäußert: «Man kann 12 13
gegen die Unmenschlichkeit dadurch ankommen, dass alle erfahren, fordern für sich selbst zu sprechen – und um- Artisten gleichzeitig in der Welt den Schwierigkeitsgrad gekehrt eine Bringschuld der Erben des Kolonialismus, ihre ihrer Künste erhöhen.» Für mich bedeutet das, als Autor Privilegien nicht zu verschleiern. So habe ich dieses Jahr nicht auf Stimmenfang gehen zu müssen. auf einem Panel Kwame Kwei-Armah kennenlernen können und über das «Black Plays Archive» sprechen hören, das er «Kassandra» ist in vielen Ländern und von sehr unterschied- im Auftrag des National Theatre London angelegt hat. Hier lichen Ensembles aufgeführt worden. Hat das Einfluss auf hat das deutschsprachige Theater noch Nachholbedarf in die neue Fassung genommen? strukturellen Dingen, auch in Sachen Diversitätsentwick- In Rom habe ich der Aufführung der «Kassandra» durch Re- lung. Ich als einzelner weißer Autor kann mit einem einzi- fugees beigewohnt, die mich umgehauen hat. Die Darstel- gen Auftragswerk aber nicht die Versäumnisse von Jahr- lenden hatten dieselben Geschichten erlebt, fügten sogar zehnten nachholen. Ich verstehe, wenn ich angehalten bin noch manch grausames Detail hinzu. Diese stark emotiona- zu schweigen oder kürzer zu treten und stricke mir keine lisierende Performance, die ich nochmals 2019 bei einem Opfererzählung daraus. Ich anerkenne, dass bestimmte Festival im europäischen Auswanderhafen schlechthin, in Sprechakte retraumatisierend wirken können, wie das auch Genua gesehen habe, hat mich darin bestärkt, dass mich manche Wörter etwa in Kinderbüchern tun. Ich kann aber meine Entscheidung, der Traurigkeit und Verzweiflung, die nicht sogenannten strategischen Essentialismus praktizie- eine*n bei der Beschäftigung mit dem Thema befallen muss, ren und jetzt nur von den Belangen eines weißen, europäi- etwas entgegenzusetzen, die richtige war. Nämlich aufs schen Mannes Zeugenschaft ablegen, also ausschließlich Neue und immer wieder aufs Neue nach Prometheus’ Feuer über meine Privilegien oder mein Geschontsein sprechen. zu suchen. Darum heißt mein Stück «Prometheus» im Un- Das droht dann irgendwann auch identitärer Antirassismus tertitel auch «Wir Anfänge». Ich habe mich auch gefragt, zu werden, der sich der gleichen Denkmuster bedient wie warum das Stück in Taiwan und Hongkong auf Interesse ge- das zu Bekämpfende. Ich sehe Antirassismus, Sexismus und stoßen ist. Letzten Endes ist die Frage nach Zufluchtsorten die soziale Frage als wesentliche Grundwidersprüche, die in Zeiten des Klimawandels eine globale Jahrhundertfrage. sich nicht gegeneinander ausspielen oder hierarchisieren Die Arbeit mit einem ganzen Jahrgang Schauspiel-Studie- lassen. Ich möchte mich solidarisch mit jenen verhalten, render in Paris hat mich darin bestärkt, dass der Text von die auch hier während der Aufführungen in München von einem diversen Ensemble getragen werden und sich in sei- den Debatten um gesellschaftliche Teilhabe ausgeschlossen nem Grundgestus dem Publikum öffnen kann. sind. Ich verstehe mich als Alliierter, auch wenn ich aufgrund meines Äußeren und dank meines Passes bisher keine Aus- Auch in der ästhetischen Debatte ist die Frage nach Mög- grenzung erfahren habe. Ich möchte als Autor gerne einen lichkeiten der Repräsentation in der Kunst viel virulenter ge- Weg mitbeschreiten, der es allen Spieler*innen, ungeachtet worden. Hat diese Debatte dein Schreiben beeinflusst? Wie denkst Du, kann Theater überhaupt zu Fragen gesellschaft- licher Repräsentation Stellung beziehen? « Die Spannungen Für mich ist die Frage, wer was schreibt, eine ganz zentrale geworden. Da gibt es in den letzten Jahren etliche berech- zwischen Dokument und Fiktion» tigte Forderungen nach einer neuen Autor*innenschaft. Diejenigen, die Diskriminierung erfahren haben und noch 14 15
von Hautfarbe, Klasse und Geschlecht ermöglicht, einen selbst vernichtet: «Dingfest macht indes / Die Schöpfung Vorstoß in Richtung «Recht auf Welt» für alle zu wagen. ihren Schöpfer / Diese Fesseln verdammen dich zur Stasis». Der Klimawandel mit seinen fatalen Folgen wird als späte Während Du Dich in «Kassandra» mit der Frage beschäftigst, Folge der Menschheitsrevolution gedeutet, dem Sesshaft- wie und ob individuelle Schicksale in einer allgemeingültigen, werden, der Heimatzeugung, der Bändigung des dienlichen objektiven Erzählung (und in der gesellschaftlichen Realität) und Kohlenstoff freisetzenden Feuers. Ist das nicht Strafe überhaupt zusammengefasst werden können, steht in «Pro- genug, dass Prometheus’ Schöpfungsgeschichte, die eine metheus» die Frage nach dem Fortbestand der Menschheit Geschichte des Fortschritts ist (Anthropozän), nun ins als ganzer im Zentrum. An welche Erzählungen dieser Figur Gegenteil verkehrt wurde, in eine Geschichte der Aus- knüpfst Du an? Wofür steht Prometheus für Dich? Kannst Du löschung? Adorno / Horkheimer hatten noch von einer «in- Dir auch eine Aufführung von «Prometheus» ohne vorange- strumentellen Vernunft» gesprochen, welche eine «Dia- gangene «Kassandra» vorstellen? lektik der Aufklärung» begleite und Aufklärung in Barbarei Ich habe versucht, den Grund für eine neue Narration in verkehre. Der Anfang des Stücks ist also gewiss entlang an der Figur des Prometheus anzulegen. Also zu fragen: Dient einer gewissen Untergangsrhetorik verfasst, obwohl ich Prometheus heute noch einer Geschichte des Neuen Men- die Apokalyseaktivist*innen von Extinction Rebellion beim schen? Oder welche Mythen braucht die «Neuerfindung Schreiben des Stücks noch nicht kannte. Nicht mehr Zeus des Planeten» (Gayatri Spivak) angesichts des Klimawan- ist der Antipode, der dem Feuerbringer die Strafe auferlegt, dels? Wie erzählen wir von den Assemblagen zwischen sondern Chronos, das träge Fließen der Zeit, die abläuft. Menschen und Mehr-als-Menschlichem? Der Klimawandel ist ja ein Hyperobjekt und die Figuren in meinem Text sind Du behältst die Grundkonstellationen des «Prometheus» Hyperfiguren. Es überlagern sich Räume und Zeiten, man- von Aischylos bei, änderst die Anliegen und Inhalte, die die nigfaltige Referenzen. Mehrfachspiegelungen brechen das anderen Figuren an Prometheus herantragen, sehr wesent- verglühende Licht einer untergehenden Kultur. Diese Re- lich. Wie bist Du dabei vorgegangen, was war Dir wichtig? flexe von Licht fangen sich in Prometheus’ Augen, den ich Prometheus ist dazu verdammt, das hoffnungsvolle Gegen- als entrückt und uralt, aber wach und integer wahrnehme. teil zu beweisen, nämlich dass die Geschichte der Mensch- Seine Integrität ist der unerschöpfliche Glaube an die Mög- heit nicht am Ende, sondern noch gar nicht begonnen hat. lichkeit des permanenten Neubeginns, der Vertrauensvor- Das bedeutet auch, das gewaltige Unglück, das Massen- schuss, den er den Erdlingen unermüdlich entgegenbringt. sterben von Menschen auf der Flucht anzuerkennen, sich «Kassandra / Prometheus» ist als Diptychon geschrieben. das Versagen einzugestehen, dass Fortschritt bei allem Aber es wäre sicher auch möglich, Prometheus getrennt Wohlstand auch das größte Leid, die größte Ungleichheit, aufzuführen. Chauvinismus usw. hervorbringt. Die Okeaniden, die Was- sergeister (damit assoziiere ich eine Glaubensform aus der Du greifst in den Mythos schon in der Grundanlage der Erzäh- arabischen Welt), vor allem Io, fordern Prometheus heraus, lung ein: Hephaistos sieht keinen Grund mehr, Prometheus sich dazu zu verhalten und sich aus seiner kontemplativen anzuketten, zu fesseln. Stellst Du damit das Dilemma der Fi- Starre heraus zu bewegen. gur an sich in Frage? Was sind die Gründe für seine Stasis? Wenn ich auch Aischylos’ Struktur verwende, habe ich den- Prometheus wird zu Beginn von der allegorischen Macht noch immer unsere dramatische Gegenwart vor Augen ge- verlacht, eine Menschheit geboren zu haben, welche sich habt. Den Stolz des Helden bei Aischylos habe ich im Hin- 16 17
terkopf behalten, auch die zentrifugale Bewegung in der Io sagt im Stück, sie suche «einen menschlichen Gott oder Dramaturgie, also dass das ganze Personal sternförmig auf einen göttlichen Menschen». Fällt die Unterscheidung zwi- den Angeketteten im Zentrum hindrängt. Wichtig war mir schen Gott und Mensch bei Dir zusammen? auch, dass die Sterblichen und Sterbenden – im Vergleich Mevlana Rumi, selbst Geflüchteter, hat die unabgegoltenen zur mythischen Ahnengalerie, die auf die Sterblichen und Verse gesprochen: «Ich bin nicht vom Osten, nicht vom Sterbenden mit einem anderen Zeitmaß hinabblickt – jetzt Westen/Nicht von dieser, nicht von jener Welt/Mein Ort: ihre Stimme bekommen und jetzt ihr Recht einfordern. das Ortlose.» Ich habe von Rumi gelernt, dass Gott – ich sage lieber: das Göttliche – mit Liebe in eins fallen kann. Wie stehst Du selbst zu den Untergangsszenarien, mit denen Was zusammenfällt wären menschliche Liebe und Liebe Prometheus konfrontiert wird? Spiegelt das die gegenwärti- zum Menschen. Das hat nichts mit dem zu tun, was Donna ge «Katastrophenstimmung»? Harraway als den Gottes-Trick bezeichnet hat. Die kolonia- Untergangsszenarien sind immer auch Teil der Propaganda le Verweißungspolitik der vorausgehenden Jahrhunderte reaktionärer und rechtsesoterischer Kräfte, die nicht nur manifestierte sich ja darin, dass der weiße Mann seine Per- andere, sondern auf lange Sicht auch sich selbst ins Ver- spektive als universell setzte. Prometheus’ «Cogito ergo derben stürzen werden. Und politisch uneindeutige Bewe- sum» muss sich um der Heilung kolonialer Wunden willen gungen wie Extinction Rebellion sehe ich skeptisch, nicht folglich transformieren. In meiner Überschreibung sagt er: erst seit den kruden Äußerungen von Roger Hallam. Defätis- «Ich denke, also bin ich weiß». Für mich ist das ein Zwi- mus funktioniert für mich nicht als Motivator. Dennoch sind schenstadium, das die Grenzen zwischen dem Eigenen diese vielen Untergangsszenarien Teil des gegenwärtigen und dem Fremden, die der Kolonialherr und der identitä- Diskurses, sie vernebeln aber den klaren Handlungsbedarf, re Chauvinismus zieht, überwinden wird. Wenn westlichem da sie es auf das Irrationale und rein Gefühlige abzielen. Denken heute dieser Zweifel nicht eingeschrieben ist, ist Hierdurch werden keine Modelle und neue Ideen sichtbar, es keines. Es ist keines, das Io auf ihrer Suche unterstüt- keine gangbaren Neuanfänge für eine zusammenwachsen- zen kann. Io äußert dies, nachdem Atlas, der, wie es heißt, de und plurale Weltgesellschaft generiert. Ich glaube aber, am westlichsten Punkt der Welt den Himmel trägt, sie zu dass Trauer über die entstandenen Beschädigungen auch seiner Handlangerin machen möchte. Io sucht aber nach eine Form sein kann, wieder zu Mut zu gelangen. Und ästhe- entfesselter, Selbstwert und Wärmestrom aller Lebenden tisch kann es auch reizvoll sein, diese Szenarien aufzurufen. vereinigender Liebe. Das ist utopisch in dem von Rumi be- Ulrich Horstmann hat das einmal anthropofugal genannt, schriebenen Sinne. wenn Erzählungen den Menschen fliehen und sich eine Weltwerdung ohne den Menschen imaginieren. Prometheus Gibt es Anlass zur Hoffnung? ist also aufgefordert, das drohende Schöpfungsunglück Immer. umzuschreiben, als voraussehender Wortschmied andere Zukünfte zu imaginieren. Als Hüter des Feuers wird er da- rauf achten, dass der Wärmestrom nicht versiegt. « Defätismus funktioniert fü r mich nicht als Motivator.» 18 19
KEVIN PETER RITTBERGER KASTENMÜLLER geboren 1977 in Stuttgart, studierte Neuere deutsche Lite- geboren 1970 in München, studierte Philosophie und grün- ratur sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft dete 1994 die freie Theatergruppe «Particular Order». Er an der Freien Universität Berlin. Nach Engagements als Re- arbeitete als Regieassistent am Schauspiel Leipzig unter gieassistent am Staatstheater Stuttgart und am Deutschen Wolfgang Engel. Es folgte ein Engagement als Hausregisseur Schauspielhaus in Hamburg entwickelte er ab 2004 eigene am Staatstheater Kassel und zahlreiche Inszenierungen an Arbeiten an Stadttheatern und in der freien Szene, u. a. am Schauspielhäusern in Hannover, Frankfurt und Düsseldorf, Schauspielhaus Wien, am Deutschen Theater Berlin, am am Maxim Gorki Theater Berlin, am Staatstheater Stuttgart, Schauspiel Frankfurt und am Düsseldorfer Schauspielhaus. am Theater Freiburg und am Theater Basel. An den Münch- Neben Inszenierungen eigener Texte setzte er sich in zahl- ner Kammerspielen leitete er gemeinsam mit Björn Bicker reichen Arbeiten mit dem Werk Alexander Kluges ausein- und Michael Graessner das zukunftsweisende und vielbe- ander, u. a. in «Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd» achtete Stadtprojekt «Bunnyhill» (2004), dem die Projek- 2011 am Residenztheater. Außerdem wirkte er als Kurator te «Illegal» (2008) und «Hauptschule der Freiheit» (2009) interdisziplinärer Veranstaltungen am Deutschen Schau- folgten. Von 2013 bis 2019 war Peter Kastenmüller Inten- spielhaus, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Theater Ba- dant des Theater Neumarkt in Zürich. Kevin Rittbergers sel und am Maxim Gorki Theater Berlin und ist Autor und «Kassandra / Prometheus. Recht auf Welt» ist seine erste Herausgeber der Bücher «Arglosigkeit» (2016) und «Orga- Arbeit am Residenztheater. nisation / Organisierung» (2018). Seit 2011 schreibt er Auf- tragswerke für zahlreiche Bühnen, u. a. «Puppen» (Schau- spielhaus Wien, 2011), «Kimberlit» (Schauspiel Frankfurt, 2013), «Peak White oder Wirr sinkt das Volk» (2016, Theater Heidelberg) und «IKI. radikalmensch» (Theater Osnabrück, 2019). «Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung» entstand 2011 als Auftragswerk des Schauspielhaus Wien. Die neu überarbeitete Version und «Prometheus. Wir An- fänge» schrieb er im Auftrag des Residenztheaters. 34 35
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