Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer

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Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Praxisworkshop zum Thema Kinderschutz und deren Folgen bei kleinen Kindern

         2. Internationales Bodenseesymposium, Frühe Kindheit 2021
  Mit Emotionen umgehen - Eine Aufgabe für Klein und Gross
                                  29. Mai 2021

                                      Daniel Münger
                   Kinder- und Jugendpsychiater und -Psychotherapeut
                                 Kinder- und Jugendarzt
                                    praxismuenger.ch
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Kinderschutz Grundlagen - Inhalt

 •   Grundlagen Kindesmisshandlung
 •   Epidemiologie
 •   PAUSE
 •   Kinderschutzarbeit
 •   Ungewollte Folgen
     von Kinderschutzmassnahmen

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Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Ziele - Kinderschutz
Nötiges wirklich tun
Unnötiges nicht tun/verhindern
Umgehen können mit Unklarheiten
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
zu mir
Ausbildung zum Kinder- und Jugendarzt, Kinderspital Zürich
Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, KJPD Zürich
2003-2016 Leitender Oberarzt Kinderschutzgruppe Klinik für Kinder und
Jugendliche, Kantonsspital Aarau
Ausbildung in Befragung von traumatisierten Kindern im Chedwick Center, San
Diego
2016-2017 Aufbau Ambulatorium KJPD Münsterlingen; Therapeutischer Leiter
Tagesklinik Kleine Kinder
Seit Ende 2017 in freier Praxis in Weinfelden
Mitglieder der GAIMH (german association of infant mental health) und Leiter
von Workshops
Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von Richtlinien für den Schutz von Kindern
innerhalb der Schweizer Kinderspitäler
Supervisor und Referent zum Thema Kinderpsychiatrie, Psychosomatik,
Kinderschutz für alle Berufsgruppen
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Meinungen
Theorien
«Philosophien»
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse

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Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Definitionen / Begriffe
Kindeswohl
Orientierung an den Grundrechten des Kindes
Orientierung an den Grundbedürfnissen des Kindes
Gebot der Abwägung (Risiken bei Entscheidungen betreffend Kinder)
Prozessorientierung (Entwicklungsorientierung – laufende Ueberprüfung!)
(Lit.: Praxisanleitung Kindesschutzrecht von der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz - KOKES; Stand 1.1.2017)

Kindeswille (Art. 12, UN Kinderrechtskonvention)
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
UN-Kinderrechte
• Protection = Recht auf Schutz
• Provision = Recht auf Grundversorgung
• Participation = Recht auf Beteiligung

Vereinte Nationen, 20. November 1989
von der CH am 24. Februar 1997 ratifiziert

http://www.unicef.at/kinderrechte

 Gilt für alle Kinder !

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Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
UN-Kinderrechte
• Protection = Recht auf Schutz
• Provision = Recht auf Grundversorgung
• Participation = Recht auf Beteiligung

Vereinte Nationen, 20. November 1989
von der CH am 24. Februar 1997 ratifiziert

http://www.unicef.at/kinderrechte

 Gilt für alle Kinder !

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Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Gruppensozialisationstheorie
Egal wie ihre häusliche Umwelt aussieht,
Kinder werden zu normale Erwachsenen sofern
folgende Bedingungen erfüllt sind:
- Keine pathologischen Wesenzüge von den Eltern vererbt
- Gehirn nicht durch Vernachlässigung oder Misshandlung
   geschädigt
- Wenn sie eine normale Beziehung zu ihren
   Altersgenossen haben
(Lit.: zitiert in «Ist Erziehung sinnlos ?» Judith Rich Harris,
US-amerikanische Psychologin)
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Spätfolgen bei Opfern von Kindsmisshandlungen

Erwachsene, die in ihrer Kindheit misshandelt worden sind, leiden häufiger an ...
• ... Depressionen
•   ... Suchterkrankungen
•   ... psychosomatischen Erkrankungen

…..daraus resultieren erhebliche gesundheitliche Langzeitfolgen
…..und – Kosten !
…..und: deren Kinder sind einem erhöhten Risiko für Misshandlungen ausgesetzt

            Kinderschutz ist ein Thema !

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Kinder: Rechte und Bedürfnisse

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Kinder: Rechte und Bedürfnisse
                                 Art. 7 UN
                                 Kinderrechts-
Art. 19, 34 u.a.                 konvention
UN Kinderrechts-
konvention

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Formen von Misshandlung

                    Münchhausen Stellvertreter
                              Syndrom (MbPS)
     Psychische
     Misshandlung                 körperliche
                                  Misshandlung

 Vernachlässigung

                        sexueller Missbrauch

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Fallzahlen 2018 Schweizer Kinderspitäler

1502 registierte Fälle
Körperliche Misshandlungen 29%
Psychische Misshandlungen 23.6%
Vernachlässigung 27%
Sexuelle Gewalt 19.8%
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom 0.7% (10 Fälle)
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Optimusstudie 2018 Schweiz

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Optimusstudie 2018 Schweiz

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Optimusstudie 2018 Schweiz

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Wer meldet der KSG ?

Anlaufstelle Häusliche Gewalt      219   (117)
KSA-intern                          82    (90)
Schule                              47    (57)
Eltern                              28    (28)
KESB/Sozialdienste                   9     (5)
Andere                              55    (38)

Total                              440   (334)

Zahlen der KSG des KSA 2014/2013

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Alter der betroffenen Kinder
Kinderschutzgruppe KSA

                        2014   2013
0 – 4 Jahre              154   (139)
4 – 7 Jahre               61    (47)
7 – 12 Jahre             109    (78)
12 – 16 Jahre             84    (55)
16 Jahre und älter        32    (15)

Total                    440   (334)

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Häufigkeit von Kindesmisshandlungen
Trends in childhood violence and abuse exposure (2 national surveys)
ERGEBNISSE 2008 verglichen mit 2003:
Weniger Opfer              - körperliche, sexuelle Uebergriffe
                           - Opfer von Gleichaltrigen und Geschwister
                           - Mobbing durch Gewalt
                           - psychischer Missbrauch durch Betreuer
                           - Gefährdung, Gewalt durch Gemeinschaften
Keine Abnahme:             - körperliche Uebergriffe/Vernachlässigung durch Betreuer
Zunahme:                   - Missbrauch durch Geschwister

Fazit: Tendenz der Abnahme von Kindesmisshandlungen, was auch aus anderen
   Quellen, einschließlich Polizei Daten, Daten der Kind-Wohlfahrt und der National
   Crime Victimization Survey, hervorgeht.
Arch Pediatrt Adolesc Med. 2010 Mar;164(3):238-42. Finkelhor D., Turner H., Ormrod R., Hamby SL.
Wie kommt es zu Kindesmisshandlungen (KM) ?

•        Risikosituationen
•        Auslöser
                                    KM

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Familiäre Risikofaktoren

• Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitskonflikte
• instabile Beziehung, Paarkonflikte, häusliche Gewalt
• schlecht integrierte Migrationsfamilien
• Suchtproblematik
• enge Wohnverhältnisse
• Eineltern-Haushalt
• finanzielle Probleme
• Familiengrösse (4 oder mehr Kinder)
• fehlendes soziales Netz (zB Covid-19-Massnahmefolgen)

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Familiäre Risikofaktoren (Forts.)

• Suchtproblematik, Drogenkonsum während der Schwangerschaft
• psychische Erkrankung der Kindseltern
• Persönlichkeitsmerkmale wie negative Emotionalität, hohe
  Impulsivität, ungünstige Beziehungsbilder
• inkonsistenter Erziehungsstil
• feindselige Erklärungsmuster der Eltern für kindliche Problemverhaltensweisen
• Zustimmung zu harschen Bestrafungsformen
• unrealistische Erwartungen an Selbstständigkeit und Verhaltenssteuerung des
Kindes

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Covid-19

Das Kinderspital Zürich verzeichnet eine Zunahme der Fälle von misshandelten Kindern im Jahr
2020 um 10 % !

Gemäss Medienmitteilung des Spitals gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zunahme der
Gewalt und der Corona-Pandemie: Risikofaktoren wie finanzielle Nöte, Stresserleben durch
Unsicherheiten und fehlende Möglichkeiten, sich zurückzuziehen, werden durch die Folgen der
Pandemie – Homeoffice, Quarantäne-Situationen und das Wegfallen externer Betreuung und
externer Bezugspersonen – verstärkt.

                                                                   Medienmitteilung (uzh.ch)

                      Folgen der Corona Schutzmassnahmen

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Risikofaktoren beim Kind

• Geringes Alter der Kinder (0 bis 3 Jahre)
• Körperliche, sensorische, sprachliche oder geistige
  Behinderung des Kindes
• Regulations- und Verhaltensstörungen
• Mehrlinge
• Frühgeburten
• Geschlecht des Kindes (Knaben sind häufiger körperlicher
   Misshandlung ausgesetzt als Mädchen)

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Die Kombination dieser drei Faktoren ergibt
statistisch das höchste Risiko für eine
Kindesmisshandlung:

  • Väter ohne Arbeit
  • Alkohol kombiniert mit impulsiven Verhaltensauffälligkeiten
  • Psychiatrische Störungen der Eltern

             The Drunkard’s Progress", 1846
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Klassisches Beispiel für hohes Risiko:
→ die drei sich potenzierenden Risikobereiche beim
         Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) des
         Kindes/Jugendlichen
      1. Chaotisch – unstrukturiert – schlecht abgegrenzt

      2. Neigung zu impulsiven Handlungen

      3. Risiko-Umfeld (Lebensraum, Familie)

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Schutzfaktoren
       • stabile emotionale positive Beziehungen zu erwachsenen
          Bezugspersonen, stützendes familiäres Umfeld
       • elterliche erzieherische Kompetenzen
       • gute Ausbildung der Eltern
       • angemessene Reaktion auf Bedürfnisse des Kindes
       • Achtung der kindlichen Autonomiebedürfnisse
       • Gelegenheit zu Verantwortungsübernahme / Mitbestimmung
       • gut begründete und erklärte Grenzen
       • enge Freundschaften zu Gleichaltrigen (J. Rich Harris)

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Formen von Misshandlung

                    Münchhausen Stellvertreter
                              Syndrom (MbPS)
     Psychische
     Misshandlung                 körperliche
                                  Misshandlung

 Vernachlässigung

                        sexueller Missbrauch

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Körperliche Misshandlung

 Breites Spektrum von

 •    Schlägen
 •    Tritten
 •    Verbrennungen
 •    Quetschungen
 •    Stichen
 •    Schütteln des Kleinkindes etc.

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Körperliche Misshandlungen
 Hämatome

                   Monatsschr Kinderheilkunde 2012, 160

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Körperliche Misshandlungen

 Hämatome

 ….sind
 erkennbar…

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Auswirkungen von körperlicher Misshandlung
 •    Körperstrafen verletzen die physische und psychische Integrität der Kinder.
      Je jünger Kinder sind, umso verletzbarer sind sie.

 •    Die Problemauffälligkeit von Kindern hängt mit der Anwendung
       von Körperstrafen der Eltern zusammen.

 •   Schlagen ist eine Lektion schlechten Verhaltens: Wut, Rache, Ohnmacht,
     Gewaltbereitschaft

 •    Geschlagene Kinder ziehen sich oft zurück und fühlen sich ohnmächtig und
       niedergeschlagen

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Angemessenes Elternverhalten

 • Jüngere Eltern sind intoleranter als ältere Eltern

 • Körperstrafen sind häufiger bei jungen Kindern

 • Zwischen 0 und 2 ½ Jahren wird in 40% der Körperstrafen
   Ungehorsam als Grund angegeben

 (CH1991)

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Psychische Misshandlung

 • Langfristig negative, destruktive Einstellung der
   Erziehungsperson dem Kind gegenüber mit dauerndem
   Herabsetzen des Kindes

 • Beschimpfen, Entwürdigung, Demütigung, verbales
   Terrorisieren, Manipulation, ständige Überforderung,
   Isolation

 → Selbstwertgefühl des Kindes wird nachhaltig vermindert

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Psychische Misshandlung: Häusliche Gewalt

 Definition

 Häusliche Gewalt ist angedrohte oder ausgeübte physische oder sexuelle
 Gewalt unter hetero- oder homosexuellen Paaren in ehemaligen oder
 bestehenden partnerschaftlichen Beziehungen sowie
 • unter Geschwistern
 • zwischen Eltern und Kind
 • zwischen Kind und Eltern
 • zwischen Verwandten/Bekannten einer Partei

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Häusliche Gewalt: Auswirkungen

•      Häufiger Kindesmisshandlung

•      Häufiger Gewalt zwischen Geschwistern

•      In 50% der Familie, in denen der Vater die Mutter schlägt, werden auch
       die Kinder misshandelt, sowohl vom Vater als auch von der Mutter

Appel & Holden, 1998: Uebersicht über 31 Studien

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Konflikte in Familien

→   Ausmass an gereizter und aggressiver
    Familienatmosphäre

→   Unbefriedigendes Bemühen um konstruktive
    Schlichtungen von Meinungsdifferenzen

               Elternkonflikte gehen
               nach der Scheidung
                 meistens weiter !

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Wie erlebt das Kind den Stress ?

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Wie erlebt das Kind den Stress ?

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Wie erlebt das Kind den Stress ?

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Wie erlebt das Kind den Stress ?

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Auswirkungen auf Kinder (ab 2-j.)
 Normale Gefühle         Machtlosigkeit,
 der Allmacht,           Gefühle, schlecht und böse
 Wichtigkeit             zu sein

                                   →
        →

                                Verwirrung
                                Schuldgefühle
  Selbstkompetenz
                                Hilflosigkeit
  Kontrolle
  Selbstvertrauen
                                Rückzug
                                Depression

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Vernachlässigung

 Das allgemeine Nichterfüllen kindlicher Grundbedürfnisse wie
 • Ernährung
 • Gesundheit
 • Hygiene
 • Kleidung
 • Erziehung und Betreuung

 Verletzung der Fürsorgepflicht (StGB Art. 219):
 „Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer unmündigen
 Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer körperlichen oder
 seelischen Entwicklung gefährdet, wird mit Gefängnis bestraft.“

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Sexueller Missbrauch: Definition

 «Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an
 oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes
 vorgenommen wird oder der das aufgrund körperlicher, psychischer,
 kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich
 zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition
 aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu
 befriedigen.»
                                         (Bange & Deegener, 1996)

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Wie zeigt sich ein sexueller Missbrauch ?

 • Klare, offene „Meldung“ durch das Kind
 • „Zeichen“ (Verhalten, Zeichnung, psychischer Zustand)
   verändert
 • „verdeckte“ Zeichen (Verändertes Verhalten, psychischer
   Zustand)

 • Achtung: Keines dieser Zeichen ist spezifisch für
   Kindesmisshandlung !

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Mögliche Zeichen für eine Traumatisierung

•   Schreckhaftigkeit
•   Veränderung im Verhalten, Ängste
•   Sexualisiertes Verhalten (1)
•   Antriebsverminderung, -steigerung
•   Lernminderung, Leistungsknick
•   Rückzug, Spielminderung
•   Einnässen
•   Suizidgedanken

Achtung: Keines dieser Zeichen ist spezifisch für Kindesmisshandlung !

(1) vgl. ./.
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Sexualisiertes Verhalten

  • Beschäftigung mit nicht altersgemässen Themen der Sexualität
  • Ausübung von Druck und Macht bei „harmlosen“ Doktorspielen
  • Grenzen schlecht spürbar bei Spielen im Zusammenhang mit Sexualität
      („hört nicht mehr auf damit“)

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Münchhausen Stellvertreter-Syndrom
  (Munchhausen by Proxy Syndrome; MbPS)

  Eine spezielle Form von körperlicher
  Misshandlung bei dem die Bezugsperson,
  meist die Mutter, am Kind Symptome
  erfindet oder produziert
  und das Helfersystem,
  meist Ärzte, keine körperlichen
  Ursachen findet oder das Kind
  zu unrecht behandelt oder operiert.

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Überbehütungssyndrom
 • oft chronisch kranke Kinder, wie z. B. körper- oder geistig behinderte Kinder
 • Verlusterlebnisse (schwere Erkrankungen, verstorbene Kinder oder Aborte)
 • enge Bindung an die Kinder (Symbiose)
 • allein erziehende Mütter / ängstliche Mütter, (Väter)
 • übervorsichtige Verhaltensweisen der Eltern punkto auffälligen leicht
 abweichenden Symptomen
 • rasche Abklärung von Auffälligkeiten beim Hausarzt, Kinderarzt
 • suchen Hilfe – Hilfe und Entlastung führt oft zu Verbesserung
 • wissen oft sehr viel über ihre Kinder – ernst zu nehmen
 Was kann getan werden ?
 • Evt. psychologische Hilfe nötig (kompetente Beruhigung, Entlastung)
 • Einbezug weiterer Bezugspersonen (Triangulation)

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«Neuere Formen» von Kindesgefährdung

 • Internet, „Bildschirm“
 • „einsame“ Familien
 • häusliche Gewalt
 • Mobbing in Schulen
 • ungleiche Ressourcenverteilung
 • Umweltzerstörung
 • Covid-19: Soziale Isolation

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PAUSE

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Was tun bei Misshandlungen ?

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Orientierung am:
Kindeswohl
Orientierung an den Grundrechten des Kindes
Orientierung an den Grundbedürfnissen des Kindes
Gebot der Abwägung (Risiken bei Entscheidungen betreffend Kinder)
Prozessorientierung (Entwicklungsorientierung – laufende Ueberprüfung!)
(Lit.: Praxisanleitung Kindesschutzrecht von der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz - KOKES; Stand 1.1.2017)

Kindeswille (Art. 12, UN Kinderrechtskonvention)
Gezieltes Vorgehen bei Verdacht

 •      Kinder auf „Zeichen, Aussagen“ ansprechen
 •      Besprechung mit PartnerIn/Vorgesetzten
 •      Konsultation Kinderschutzgruppe; Opferhilfestelle
 •      Ergänzungsabklärungen (Evidence)
 •      Ev Familie darauf ansprechen
 •      Einschätzung der Situation
 •      Festlegen der Rollen, Case manager
 •      Planung Vorgehen

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Diagnostik im Kinderschutz
  • Körperlich untersuchen lassen
  • Fotografieren
  • Aussagen exakt notieren
  • verschiedene Schilderungen anhören und dokumentieren
  („Originalton“; Direktaussagen)
  • Kind fragen – nicht befragen
  • Befragung (forensisches Interview)
  • Material sammeln (TV, PC, Videos)
  • Psychosoziales Umfeld explorieren
  • Allfällige andere Meldungen, Beobachtungen

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Das forensische Interview

 • Möglichst viele und glaubwürdige Beweise sammeln
   (Diagnostikinstrument)
 • Möglichst schonendes Vorgehen (es darf und soll gesagt
   werden)
 • Information und Beratung (Bestätigung, Enttabuisierung)
 • Lösungsansätze eruieren (was willst du ?)

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Beurteilung im Kinderschutz
  • Wahrscheinlichkeit für Misshandlung
  • Form der Misshandlung
  • Vermuteter Schweregrad
  • Mögliche Auslöser
  • Schutzmöglichkeiten (Situationen, Auslöser,
  Wiederholungsrisiko, Kooperation Bezugspersonen)

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Drei Wege des Umgangs mit Kindesmisshandlung

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                    Kooperation mit       Kooperation mit
      freiwillig
                      der KESB             Strafbehörde

                       – Ermahnung         – Untersuchung
    – Beobachtung
                           bis zu
     – Betreuung       – Entzug der        – Bestrafung des
      – Therapie      elterlichen Sorge          Täters
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Praktische Handlungsanweisungen

  Früh-Diagnostik
  Früh-Intervention
  Prävention !

 Abklärung / Coaching / Beratung / Therapie

 …..UNTER ERSCHWERTEN BEDINGUNGEN

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Wie arbeitet ein Kinderpsychiater ?
     Abklärungen von Kindern und Jugendlichen und deren
     Familien (Kompetenzen, Störungsbilder)

     Indikationsstellung für Massnahmen (Therapie,
     Beratung, Medikamente)

     Kinderpsychotherapie

     Beratung des Umfeldes

     (vgl. auch Berufsbild des Kinder- und Jugendpsychiaters auf der Homepage der SGKJPP)

61
Was macht ein Kinderpsychiater für den
Kinderschutz ?

         «Lämpetokter»
         (zitiert nach Prof. Heinz Stefan Herzka)

62
Wann komme ich zum Einsatz
vor, während, nach Einsätzen der KESB
vor, während, nach Einsätzen des Gerichtes
Wann komme ich zum Einsatz
vor, während, nach Einsätzen der KESB → Kinderschutz
vor, während, nach Einsätzen des Gerichtes → Täter-»schutz» - d.h. hier ist die KESB
zusätzlich notwendig, die für die Opfer schauen muss (Kinder- und Erwachsenenschutz)
Wann komme ich zum Einsatz
vor, während, nach Einsätzen der KESB → Kinderschutz
vor, während, nach Einsätzen des Gerichtes → Täter-»schutz» - d.h. hier ist die KESB
zusätzlich notwendig, die für die Opfer schauen muss (Kinder- und Erwachsenenschutz)

       Kinder-Therapeut von traumatisierten Kindern und
       Gutachter (Gutachter kann nicht gleichzeitig Therapeut sein)
FRAGEN ?

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Kinderschutz-NEBENWIRKUNGEN

• Was wollen die Opfer ?
• Fallstricke
• Sekundärtraumatisierung (secondary victimisation)
• Institutional neglect

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Was wollen die Opfer ?

•   dass wir hinschauen
•   dass man ihnen zuhört und sie ernst nimmt
•   dass man ihnen glaubt
•   dass die Misshandlungen stoppen
•   geschützt werden von den Folgeschäden
    nach Bekanntwerden der Misshandlungen !:
    - Schuldzuschreibungen, psychische Misshandlungen
    - Verlust von Beziehungen
    - unnötige Therapien
    - Angst um weitere Opfern bei «Wegplatzierung» von Geschwistern

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Fallstricke bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch

 •   „da stimmt doch was nicht“
 •   „Das Kind benimmt sich so komisch“
 •   Sexualisiertes Verhalten von Kindern
 •   „Das ist so ein gschmieriger Typ“
 •   „Diese Familie ist mir schon immer aufgefallen“
 •   Eigene Lebenserfahrung (Selbsterfahrung)

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Sexuelle Absicht ?

  „Das Wochenende verbringen abwechselnd meine 2 jüngeren Brüder bei uns. Wir stehen
  uns sehr nahe. Nächste Woche kommt der Kleine (12 Jahre) in die Ferien. Er schläft
  noch immer mit mir im Bett. Wir kuscheln, ich streichle ihn, bis er eingeschlafen ist, dann
  bringe ich ihn nach drüben, weil jetzt mein Freund da ist.“
  (Miss Earth Schweiz, 22-jährig, im Tagi-Magazin, November 2008)

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Sexuelle Absicht ?

  „Das Wochenende verbringen abwechselnd meine 2 jüngeren Schwestern bei uns. Wir
  stehen uns sehr nahe. Nächste Woche kommt die Kleine (12 Jahre) in die Ferien. Sie
  schläft noch immer mit mir im Bett. Wir kuscheln, ich streichle sie, bis sie eingeschlafen
  ist, dann bringe ich sie nach drüben, weil jetzt meine Freundin da ist.“
  (Rolf, Primarlehrer, 25-jährig)

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Fallstricke I - Fehlbeurteilungen
• Auslöser bearbeiten statt Auslöser als Hinweis für Ursache sehen
• «Kleine Kinder werden dann schon wieder gesund» – Attestierung
  von guter Resilience
• Symptomfreiheit als Hinweis dafür sehen, dass ein Kind nicht so
  schlimm misshandelt wird
• Therapiesetting installieren und das Kind vermeindlich geschützt
  sehen
• Therapie und Diagnostik vermischen, vertauschen
• Ueberbehütende Haltung – nicht objektive Einschätzung einer
  Kindeswohlgefährdung – mit übertriebener traumatisierender
  Massnahme (zB Platzierung)
Fallstricke I - Fehlbeurteilungen
Beispiel 1

April 2021 Tel. Anmeldung eines 5j Jungen durch die Mutter
Die Eltern würden in der strittigen Trennungssituation nicht mehr
miteinander reden können. Darunter leide der Junge. Er brauche nun
jemand, der sich um ihn kümmere. Sie suchen jemanden Kompetenten.
Nachfrage:
- Bereits erfolger, angeblich erfolgloser Versuch einer Mediation (4x)
- Keine Diagnose, kaum Symptome
Fallstricke I - Fehlbeurteilungen
Beispiel 1
Kinderpsychiatrische Ueberlegungen:
- Gemeinsames Sorgerecht ?
- Laufendes Scheidungsverfahren ?
- Abklärung des Jungen mit Indikation für eine Psychotherapie ?
- «verdecktes Gutachten» ?

Beurteilung: INSTRUMENTALISIERUNG

Empfehlungen:
- Mediation
- Abklärung nach abgeschlossenem Scheidungsverfahren
- Begleitung des Jungen durch Beiständin, Beratungsinstitution, usw.
Fallstricke I - Fehlbeurteilungen
Beispiel 2

Februar 2021 Tel. Anmeldung eines 6-j Mädchens durch den Vater
Strittige Trennungssituation. Laufendes Scheidungsverfahren. Mädchen
verhalte sich komisch vor und nach den Besuchen bei der Mutter, die
angeblich an einer Borderline-Spektrum-Störung leide. KESB gibt der
Beiständin einen Abklärungsauftrag mit der Frage der Erfüllung der
Aufsichtspflicht durch die Eltern. Die Abklärung ist ergebnislos, worauf
die Beiständin den Auftrag via Vater an mich weitergibt – mit dem Label
«Therapieauftrag».
Fallstricke I - Fehlbeurteilungen
Beispiel 2
Kinderpsychiatrische Ueberlegungen:
- Verdeckter Abklärungsauftrag
- Auftragsklärung für das Kind dubios
      - wieso bin ich in der «Therapie»?
      - stimmt mit mir etwas nicht ?
      - wem kann ich noch trauen ?
Empfehlungen:
- Schutzraum Therapie ohne Abklärung
Fallstricke II – Sichtbares gewichtet

Stärkere Gewichtung von körperlicher gegenüber psychischer Gewalt
(ich glaub nur was ich sehe oder höre)

«Kind sagt nichts dazu, also muss auch nichts sein»
«Kind sagt nichts dazu, also muss da was sein»
Fallstricke III – Fehlüberlegungen

Elterliche Kompetenzen nicht sehen, v.a. wenn sie «Täter» sind
(Schutzfaktoren!)

«Nach der Trennung der Eltern stoppt die Kindesmisshandlung»
Fallstricke IV - Parteilichkeit
Ausschluss eines Elternteils bei:
   - alleiniges Sorgerecht
   - ein „schwieriger“ Elternteil
   - Trennungskonflikt
   - Misshandlung durch diesen Elternteil
Fallstricke V – «das kleine Kind»
• Emotionen («Hilflose Geschöpfe»)

• eigene Erlebnisse

• (meist) keine klaren Beweise
Dynamik im Helfersystem bei
 Hochrisikosituation «kleine Kinder»
 Eine Kindesmisshandlung bei einem ganz kleinen Kind ist sehr
 häufig eine Kombination der folgenden drei Faktoren:
 - eine Grenzüberschreitung per se
 - Grenzüberschreitung zwischen den Eltern (einer nahen
    Bezugsperson)
 - das kleine Kind, das sich (noch) nicht klar genug mitteilen
    kann

 Folgen:
 → Trias, die bewegt und berührt !
 → Missachtung von Grenzen in Helfersystemen
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Fallstrick V – «das kleine Kind
berührt das Helfersystem»
• Kinder schützen…vor Erwachsenen (?)
• Kleine Kinder schützen, …….die das selber nicht können…
• Sich wehren gegen Gefahren, weil sie sich selber nicht sich wehren
  können
• Für die Kinder, die nicht oder wenig reden, sich äussern
• Bewahren vor Trauma, Schlimmerem
• Etwas tun können, eine Aufgabe haben – die Ohnmacht
  überwinden
• …
Fallstrick V – «das kleine Kind
berührt das Helfersystem»
Beispiele:

Das kleine «noch symptomfreie» Kind, das misshandelt wird
   •   Beurteilung und Massnahmen wird wegen Falscheinschätzung und/oder
       fehlender finanzieller Mittel geändert

Berater einer Familie im Kleinkinderbereich sichtet Misshandlung, tut
aber nichts
   •   Unterlassene Meldung wegen Angst, dass die Familie abspringt und dann
       «gar keine Hilfe mehr habe»
   •   Unterlassung von Massnahmen in gewaltbereiten Familien
Fallstrick VI – Freispruch des Angeklagen
Unterlassung von Kinderschutzmassnahmen
Unterlassung von adäquater Beratung

Achtung:
- Im Zweifel für den Angeklagen
- Gerichtsfall: Täterseite
- KESB und Kinderschutz: Opferseite
Sekundärtraumatisierungen
Folgeschäden nach Bekanntwerden der Misshandlungen:
      - Schuldzuschreibungen, psychische Misshandlungen
      - Verlust von Beziehungen – Veränderung von Beziehungen
      - Mobbing der Kinder
      - unnötige Therapien
      - Angst um weitere Opfern bei «Wegplatzierung» von Geschwistern
Obhutsentzug und seine Folgen
Beziehungsabbrüche
Destabilisierung der Familie
Destabilisierung des Helfersystems (zB bei Kantonswechsel)
Wegnahme von Erziehungskompetenzen der Eltern
Wegplatzierung von den Peers (!)
………….weiteres………
Institutional neglect (KESB, Gerichte,
Fachpersonen, Schule)

 • Diagnoselatenz – Wegschauen statt hinschauen
 • „Schnellschussdiagnostik“
 • Halbes Glas leer – Sicht auf Defizite statt Kompetenzen der
   Kinder und Familien
 • Unterlassung von Kindesschutzmassnahmen in
   gewaltbereiten Familien
 • Fehlender Schutz und Möglichkeiten in der Schule –
   Mobbing durch andere Schüler und Lehrer

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Institutional neglect (KESB, Gerichte,
Fachpersonen, Schule)

 • Besonders häufig in sehr schwierigen Situationen
   • Familiensystem pathologischer – Spaltungstendenzen
   • Einzelne Personen pathologischer – Spaltungstendenzen
   • Helfersystem als ultima ratio, oft auch überfordert, Helfersyndrom

 Wie verhindern ?
 • klare Auflagen
 • Gute Absprache im Helfersystem
   → Rollen, Aufgaben, Ziele, Fahrplan (=Entwicklung)

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Vorgehen bei        Diagnostik
einer
Kinderschutz-
situation
                   Beurteilung

                   Massnahmen

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Grundsatz der Kinderschutzarbeit

                   Notfallmässig denken -
                     überlegt handeln !

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Zusammenfassung Kinderschutz

•     Intuition ist wichtig – reicht aber nicht;
      Facts sammeln
•     Hinschauen – Vertrauen – Ansprechen
•     Rasch professionelle Beratung und
      Hilfe in Anspruch nehmen
•     Notfallmässig denken – überlegt handeln
      – professionelle Abklärung
•     Risikoprofil beachten (zum Beispiel:
      arbeitslose Männer, Alkohol, Impulsivität,
      Psychiatrische Störung)
•     Sekundärtraumatisierung beachten !

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Ziele
Nötiges wirklich tun
Unnötiges nicht tun/verhindern
Umgehen können mit Unklarheiten
Fazit
Nötiges objektivieren und wirklich tun

Unnötiges und Belastendes verhindern, resp.
minimieren (!)

Umgehen können mit Unklarheiten
Arbeiten mit Ungeklärtem - darüber reden (!)
Kleine Kinder in Not berühren ihre Helfer
Praxisworkshop zum Thema Kinderschutz und deren Folgen bei kleinen Kindern

2. Internationales Bodenseesymposium, Frühe Kindheit 2021
29. Mai 2021

Daniel Münger
Kinder- und Jugendpsychiater und -Psychotherapeut
Kinder- und Jugendarzt
praxismuenger.ch

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit !
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