KLIMASICHERHEIT UND EUROPA - Welche direkten und indirekten Folgen hat der Klimawandel? - Bibliothek der Friedrich ...
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PER SPEK T I V E Der Klimawandel stellt eines der zentralen Sicherheitsrisik- K L I M AWA N DEL , EN ERGI E U N D U M W ELT en für die Menschen in Eu- ropa und weltweit dar. KLIMASICHERHEIT Diese Perspektive diskutiert UND EUROPA die Auswirkungen des russis- chen Angriffskrieges auf die Klimapolitik und die poli- tischen Bemühungen um Kli- masicherheit. Welche direkten und indirekten Folgen hat der Klimawandel? Um Frieden in Europa zu fördern und Klimasicherheit herzustellen, sind eine kluge Anselm Vogler und Martin Webeler politische Kommunikation, Mai 2022 ambitionierte Emissionsreduk- tionen, internationale Kooper- ationen zur Klimaanpassung und ein integrierter politischer Ansatz zwingend erforderlich.
KLIMASICHERHEIT UND EUROPA Welche direkten und indirekten Folgen hat der Klimawandel? Im jüngsten Assessment Report des Das Risiko verheerender Waldbrände Anschließend fasst der Artikel die we- IPCC werden die gravierenden Folgen steigt, Hitzewellen und der Meeres- sentlichen auf Ebene der Europäischen des Klimawandels klar benannt. Deren spiegelanstieg bedrohen Menschen, Union getroffenen Maßnahmen im Be- sicherheitspolitische Implikationen wer- Städte, Infrastrukturen und Industrien. reich Klimasicherheit zusammen. Der den vielfältig diskutiert, beispielsweise Der Beitrag fasst den Forschungsstand Beitrag schließt mit Handlungsempfeh- in internationalen Foren wie der G7 zu diesen und weiteren direkten Aus- lungen für die politische Kommunikati- und auf der Münchner Sicherheitskon- wirkungen des Klimawandels auf die on, die Reduzierung von Emissionen, ferenz. Auch in Europa ist die menschli- Sicherheit in Europa zusammen. Da- die Anpassung an Klimafolgen und ei- che Sicherheit durch den Klimawandel nach prüft er mögliche indirekte Aus- ne friedenserhaltende Klima- und Ent- bedroht: Wassermangel und Extrem- wirkungen des Klimawandels auf wicklungspolitik. wetter gefährden die Nahrungsmittel- Migration, Konflikte und auf geopoliti- produktion. sche Dynamiken in der Arktis. In einem eigenen Kapitel werden die Auswir- kungen des russischen Angriffskrieges auf Klimaziele, Katastrophenschutz, Umweltschutz und Nahrungsmittelsi- cherheit diskutiert. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: peace.fes.de/projects/security-and-climate
K L I M AWA N DEL , EN ERGI E U N D U M W ELT KLIMASICHERHEIT UND EUROPA Welche direkten und indirekten Folgen hat der Klimawandel?
Welche direkten und indirekten Folgen hat der Klimawandel? Was ist Klimasicherheit? Welche Folgen hat die Erderwär- mung für Europa? Welche direkten und indirekten Folgen sind wahrscheinlich? Welche Rolle spielt der russische Angriff auf die Ukraine? Welche Maßnahmen hat die Europäische Union bislang ergriffen und welcher Handlungsbedarf be- steht? Der vorliegende Beitrag gibt Antworten auf diese Fragen.1 Er unterstreicht die zentrale Bedeutung von Klimasicherheit für eine zukunftsfähige Politik und diskutiert Risiken und Chan- cen der gegenwärtigen deutschen und europäischen Klima- sicherheitspolitik. Er bildet einen Überblick über aktuelle Ent- wicklungen und ist eine Einführung für politische Entscheider_innen, die klimasensible Sicherheitspolitik be- treiben wollen – eine Sicherheitspolitik, die dringend not- wendig ist, um die Menschen und das Leben auf der Erde langfristig zu schützen. Klimawandel und Klimasicherheit gehören zu den großen Gegenwartsthemen. 1 Die Autoren danken Ursula Schröder, Delf Rothe, Nicole Katsioulis und Meike Roth für ihre hilfreichen Vorschläge und Anregungen. 1
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA 1 KLIMAWANDEL UND SICHERHEIT Nach Angaben des repräsentativen ›Politbarometers‹ der wandels große Aufmerksamkeit. Im Februar 2022 veröffent- Forschungsgruppe Wahlen benannten im April 2022 32 Pro- lichte die Working Group II des International Panel on Clima- zent der Befragten den Themenbereich ›Umwelt/Klima/Ener- te Change (IPCC) den Bericht »Impacts, Adaptation and giewende‹ als das gegenwärtig wichtigste Problem Deutsch- Vulnerability« (IPCC 2022). Die IPCC-Berichte fassen regelmä- lands (Forschungsgruppe Wahlen 2022). Eine 2021 ßig die weltweite Erforschung des Klimawandels und seiner durchgeführte Eurobarometer-Umfrage ergab, dass 78 Pro- Folgen durch Wissenschaftler_innen zusammen. Der neue zent der EU-Bürger_innen den Klimawandel als »sehr ernstes Bericht benennt existenzielle Schäden, die der Klimawandel Problem« (Europäische Kommission 2021a) betrachten. Die- sowohl durch Extremwetterereignisse als auch durch allmäh- se hohen Werte wurden während der Corona-Pandemie, lich fortschreitende Umweltveränderungen verursacht. Welt- bzw. sogar während des russischen Angriffskrieges auf die weit leben schätzungsweise 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen Ukraine erhoben. Dies unterstreicht nachdrücklich den an- in für den Klimawandel sehr anfälligen Gebieten (IPCC 2022, haltend hohen Stellenwert des Klimawandels und seiner Fol- S. 16). Ihnen droht unter anderem der Verlust ihrer Heimat gen in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. In der und ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlagen, beispielsweise politischen Praxis ist Klimapolitik zentraler denn je. In der ak- durch Überschwemmung oder Desertifikation, und die Ge- tuellen sozialdemokratisch geführten Regierung führt zum fährdung durch Infektionskrankheiten, welche aufgrund der ersten Mal ein Bundesministerium den Ressortbereich Kli- Erderwärmung in neuen Gebieten endemisch werden. Auf mapolitik im Titel. Dieser Aufbruch hat auch klar europa- und der Münchner Sicherheitskonferenz 2022 spielte der Klima- außenpolitische Züge: Erstmalig vereint Vizekanzler und Bun- wandel ebenfalls eine zentrale Rolle (Münchner Sicherheits- desminister Robert Habeck in seinem Haus die Ressorts Kli- konferenz 2022a). Im Februar 2022 wurde der aktuelle Mu- ma- und Europapolitik in einem Bundesministerium. Im Aus- nich Security Index veröffentlicht. Darin werden wärtigen Amt wurde der Begriff Klimaaußenpolitik in den Bevölkerungen der G7- und BRICS-Länder zu ihren Risiko- Titel der Abteilung 4 aufgenommen. In ihrer Rede zur Auf- wahrnehmungen befragt. Mit Ausnahme der chinesischen taktveranstaltung zum Prozess für eine Nationale Sicherheits- Bevölkerung zeigten sich eine Mehrheit der Befragten aller strategie benannte Außenministerin Annalena Baerbock die Länder besorgt über den Klimawandel, Extremwetterereig- Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen als einen von nisse und Waldbrände sowie die Zerstörung von Ökosyste- drei zentralen Pfeilern und bezeichnete den Klimawandel – men (Münchner Sicherheitskonferenz 2022b, S. 36). Auch nach Beginn des russischen Angriffskrieges – als die »sicher- die G7 positioniert sich zunehmend für einen ambitionierten heitspolitische Frage unserer Zeit«. Das Bundesministerium Klimaschutz. Auf einem Treffen der Außenminister_innen für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – ge- des Zusammenschlusses drückten diese am 13.5.2022 ge- führt von Svenja Schulze – unterstützt mit seiner NDC-Part- meinsam ihre Sorge über die verheerenden Auswirkungen nerschaft2 die Formulierung ambitionierter Klimaziele in des Klimawandels und des mit ihm verbundenen Verlustes Schwellen- und Entwicklungsländern. von Biodiversität für den internationalen Frieden und Stabili- tät aus (Auswärtiges Amt 2022). Auch die Stellungnahmen zentraler wissenschaftlicher und politischer Organisationen widmen den Folgen des Klima- 2 Nationally Determined Contributions (NDC) sind die klimapolitischen Erklärungen der Vertragsstaaten des Pariser Klimaschutzabkommens. 2
KLIMAWANDEL UND SICHERHEIT Wie sollte Klimasicherheit definiert fragile Staaten des globalen Südens besonders stark. Gleich- werden? zeitig sind die dadurch ausgelösten indirekten Klimafolgen von globaler Relevanz. Wenn der Klimawandel internationale Wissenschaft und Politik diskutieren die Auswirkungen des Migration verstärkt oder zu geopolitischen Spannungen in Klimawandels unter dem Begriff der ›Klimasicherheit‹, den einer auftauenden Arktis beiträgt, dann betrifft er Länder wir im vorliegenden Text definieren als die Sicherheit vor den weit über den ursprünglichen Ort seines Einschlags hinaus. destruktiven Einflüssen des Klimawandels. Dies schließt so- Dies bedeutet, dass Klimasicherheit unbedingt die weltweite wohl die Abwehr von Auswirkungen des bereits unvermeid- Sicherheit von Individuen und Gruppen gegenüber der kon- baren Klimawandels ein. ventionellen Sicherung von Territorien und nationalem Inter- esse in den Vordergrund stellen sollte. Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie ›Sicherheit‹ definiert wird. Um wessen Sicherheit geht es? Wovor soll diese Sicher- Überdies trägt die Gewährleistung menschlicher Sicherheit heit geschützt werden? Und mit welchen Mitteln? Diese De- auch substanziell zur Gewährleistung nationaler Sicherheit finitionen sind höchst folgenreich für das Verständnis und bei. Denn oft sind es Defizite in der menschlichen Sicherheit den Umgang mit Klimasicherheit. Deshalb sind sie auch zu- einzelner Bevölkerungsgruppen, welche von diesen als unge- tiefst politisch. Eine auf Demokratie und Menschenrechte recht empfunden werden und Möglichkeiten für Konfliktpar- ausgerichtete Klimapolitik sollte die Sicherheit von Menschen teien schaffen, innerstaatliche Konflikte zu entfachen. Nach- in den Vordergrund stellen. Naturkatastrophen und langsam haltige Klimasicherheitspolitik muss deshalb einen einsetzende Prozesse wie Desertifikation und der Verlust Schwerpunkt auf die weltweite Gewährleistung menschli- wirtschaftlicher Lebensgrundlagen, die Entscheidung, eine cher Sicherheit legen. Weil menschliche Sicherheit generatio- unwirtlich gewordene Region zu verlassen oder die Involvie- nenübergreifend gewährt bleiben soll, schließt das auch den rung in einen Konflikt als Opfer oder gar Akteur betreffen nachhaltigen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des zeitlich und kausal immer zunächst das Individuum. Erst Menschen ein. wenn Menschen auf Klimafolgen reagieren, kommt es zu Prozessen, die für die Sicherheit des Staates relevant sein könnten. Deshalb setzt eine kluge, auf den Erhalt von Frieden und natürlichen Lebensgrundlagen abzielende Politik bei den Ursachen und direkten Folgen des Klimawandels an, um menschliche Sicherheit zu gewährleisten, statt nur dessen Spätfolgen zu bekämpfen. Menschliche Sicherheit stellt das Individuum ins Zentrum sicherheitspolitischer Entscheidun- gen. Der dauerhafte Zugang zu Bildung, Arbeit und Unter- kunft, der Schutz vor Hunger, Krankheit und Diskriminierung und einem Leben in Würde sind dabei zentrale Faktoren. Darüber hinaus muss eine auf Solidarität und Gerechtigkeit ausgerichtete Politik Klimasicherheit planetar verstehen. Die direkten und indirekten Folgen des Klimawandels betreffen 3
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA 2 GEFAHREN FÜR KLIMASICHERHEIT IN EUROPA Bereits heute gefährdet der Klimawandel menschliche Si- und Dürreperioden sind wichtige Treiber und nehmen im cherheit – auch in Europa. Europäische Ökosysteme auf dem Mittelmeerraum aufgrund des Klimawandels zu (IPCC 2022). Festland, in Süßwassersystemen und den angrenzenden Dies ist nicht nur eine Herausforderung für den Umwelt- Meeren sind tiefgreifenden klimabedingten Veränderungen schutz, sondern gefährdet auch die Funktion des Waldes als ausgesetzt. Europas Bürger_innen, Ökonomien und Infra- Luftreiniger, Speicher von Frischwasser und Treibhausgasen strukturen sind in zunehmendem Maße Extremwetterereig- und als Wirtschaftsfaktor. nissen ausgesetzt. Zu diesen gehören langanhaltende Tro- ckenheit, Waldbrände, Hitzeperioden und Überflutungen. Neben diesen direkten Effekten hat der Klimawandel auch Über 130 Menschen haben allein durch die Sturzflut im Ahr- indirekte Auswirkungen auf die Europäische Sicherheit. Diese tal 2021 in Deutschland auf tragische Weise ihr Leben verlo- Konsequenzen zweiter Ordnung oder sogenannten se- ren. Schätzungen zufolge entstanden hierbei Schäden in cond-order Konsequenzen sind Effekte, die nicht direkt Höhe von 33 Milliarden Euro; weitere 13 Milliarden durch durch den Klimawandel verursacht werden, sondern andere Sturzfluten in Nachbarstaaten (Dpa-afx 2022). Die Rückfüh- Ursachen haben, die ihrerseits auf den Klimawandel zurück- rung solcher einzelnen Wetterereignisse auf den Klimawan- zuführen sind. Drei dieser Effekte erlangten im letzten Jahr- del durch die noch junge Zuordnungsforschung ist metho- zehnt breite öffentliche Aufmerksamkeit. Im öffentlichen disch schwierig und die Auswirkungen von Naturkatastrophen Diskurs existiert erstens die Vorstellung, dass die Auswirkun- hängen immer auch von den präventiven und reaktiven Ka- gen des Klimawandels große Migrationsbewegungen vom tastrophenschutzmaßnahmen vor Ort ab. Eine Studie ermit- globalen Süden nach Europa auslösen könnten. Zweitens telte, dass das Starkregenereignis in der mitteleuropäischen besteht die Sorge, dass Rohstoffknappheit oder klimabe- Region 1,2 bis 9-mal wahrscheinlicher war als in einer 1,2° dingte Migration innerstaatliche Konflikte verursachen oder Celsius kühleren Welt – also einer hypothetischen Welt ohne verstärken könnten. Drittens werden mögliche Spannungen Klimawandel (World Weather Attribution 2021). Diese große zwischen den Anrainerstaaten der Arktis über neu entste- Spanne zeigt die großen Herausforderungen der Zuord- hende Schifffahrtswege und Rohstoffvorkommen befürch- nungsforschung. Klimaforscher_innen gehen allerdings da- tet. von aus, dass der Klimawandel extreme Wetterereignisse häufiger macht. Das europäische Erdbeobachtungspro- Tatsächlich wirken die geopolitischen Spannungen in der gramm Copernicus berichtet, dass die zehn Jahre mit der Arktis auch auf die EU. Klimaflucht und Ressourcenkonflikte höchsten Durchschnittstemperatur seit Aufzeichnungsbe- finden hingegen weniger in den Mitgliedstaaten der EU, son- ginn alle seit 2000 auftraten. Die steigenden Temperaturen dern fragilen Staaten des globalen Südens statt. Die wenigs- setzen die europäischen Bevölkerungen in den Sommermo- ten Geflüchteten erreichen gegenwärtig den globalen Nor- naten zunehmendem Hitzestress aus und das Umweltbun- den. Auch Klimaflucht geschieht maßgeblich regional desamt warnt vor einer steigenden hitzebedingten Mortali- begrenzt und kann in betroffenen Gebieten zu Leid und tät (Umweltbundesamt 2022). Die Europäische Konflikt führen. Gleichzeitig ist Migration aber eine wichtige Umweltagentur erklärte 2021 in einem Bericht, dass aktuell Anpassungsmaßnahme, um aus unbewohnbar gewordenen durchschnittlich 30 Prozent der europäischen Bevölkerung Gebieten zu entkommen. Im schlimmsten Fall jedoch sind unter Trockenheit und Wassermangel leidet. Die Agentur Bevölkerungsgruppen von unfreiwilliger Immobilität betrof- rechnet mit zukünftig weiter steigenden Dürreperioden (Eu- fen, also wenn sie aufgrund des Klimawandels ihre durch ropean Environment Agency 2021a). In einem 2019 veröf- Klimaveränderungen unwirtschaftlich und gefährlich gewor- fentlichten Bericht unterstrich sie die überwiegend negativen dene Heimat verlassen wollen, aber nicht über die dafür nö- Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft und tigen Mittel verfügen. Das macht diesen Aspekt für europäi- führte steigende Lebensmittelpreise als ein Risiko an (Europe- sche Klimasicherheitspolitik allerdings nicht weniger relevant an Environment Agency 2021b). Überdies schädigen Tro- – im Gegenteil. Die EU als weltweit drittgrößter Emittent von ckenheit, Waldbrände, Stürme und der Borkenkäfer Wälder Treibhausgasen wird zum Exporteur von Klimaunsicherheit. in ganz Europa (Lindner & Verkerk 2021). Im Sommer 2021 Wenn ein stärker ausgeprägter Klimawandel weltweit kam es zu verheerenden Waldbränden in Griechenland, Itali- menschliche Sicherheit gefährdet, dann ist dies auch eine en und anderen südosteuropäischen Staaten. Hitzewellen Folge des Handelns der EU-Mitgliedstaaten. 4
GEFAHREN FÜR KLIMASICHERHEIT IN EUROPA Die akademische Erforschung dieser drei Zusammenhänge Naturkatastrophen wirken sich nicht nur direkt auf die wirt- hat im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht und ge- schaftlichen Grundlagen aus, sondern setzen auch soziale zeigt, dass simple deterministische Zusammenhänge zwi- und politische Institutionen unter Stress. Die Bereitstellung schen ‚dem Klimawandel‘ und Migration, Konflikt oder geo- öffentlicher Güter wird gestört und das Vertrauen in staatli- politischen Entwicklungen nicht existieren. Stattdessen che und zivilgesellschaftliche Organisationen erodiert. entscheidet eine Vielzahl intervenierender Faktoren darüber, Gleichzeitig eröffnen sich aber auch Möglichkeiten für die ob und inwiefern die biophysikalischen Auswirkungen des Schaffung neuer Institutionen, Regierungswechsel oder stär- Klimawandels das menschliche Zusammenleben direkt be- kere politische Beteiligung. Ob Institutionen in Folge von Na- einflussen und welche indirekten sozialen Dynamiken in der turkatastrophen gestärkt oder geschwächt werden, hängt Folge entstehen. Selbst jetzt, wo der Klimawandel nur noch oft stark von den Interessen einflussreicher Akteure ab. Das begrenzt werden kann, hat politisches Handeln die Chance, zeigt erneut die Bedeutung politisch-institutioneller Aspekte klimabedingte Unsicherheit zu vermeiden. im Klima-Konflikt-Nexus (Brzoska 2018). Diese Befunde zei- gen, dass Konflikte gegenwärtig nicht durch das Klima, son- Neben den Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen dern vielmehr durch fehlende politische Güter, wie etwa wird auch der Zusammenhang zwischen Klimafolgen und Inklusion, Repräsentation, Rechtstaatlichkeit, Minderhei- Konflikten diskutiert. Aber: Die Forschung ist sich einig, dass tenschutz und wirtschaftliche Grundversorgung verursacht der Klimawandel allein keine Konflikte verursacht. Allerdings werden (Buhaug 2018). Eine friedenssichernde Klimasicher- können bestehende Konflikte verstärkt werden. Dies gilt ins- heitspolitik sollte die Resilienz lokaler Bevölkerungsgruppen besondere für innerstaatliche Konflikte in Schwellen- und stärken und ihre Klimaadaption unterstützen, eine nachhalti- Entwicklungsländern mit schwach ausgeprägten Governan- ge und inklusive wirtschaftliche Entwicklung sowie gute Re- cestrukturen (Brzoska 2018; Ide et al. 2020). Extremwettere- gierungsarbeit fördern (Barnett 2019; Buhaug 2018). reignisse tragen manchmal zu ihrer Intensivierung bzw. Ver- längerung, in anderen Fällen jedoch zur Abschwächung bzw. Ein dritter prominenter Aspekt in der Debatte über sicher- Beendigung bei. Das heißt, das Konfliktrisiko wird durch Ext- heitsrelevante indirekte Klimafolgen betrifft die zukünftige remwetter nur in bestimmten Fällen erhöht. Beispielsweise Rolle der Arktis. Durch die steigenden Temperaturen taut die besteht ein höheres Konfliktrisiko durch Dürren offenbar nur Eisdecke der Arktis auf und weite Regionen des Nordpo- für Bevölkerungsgruppen, die vom Ackerbau oder der Vieh- larmeers werden zugängig. Dies kann wirtschaftlich genutzt wirtschaft abhängig sind (von Uexkull et al. 2016). Eine Stu- werden, weil durch die Nordwest- und Nordostpassage kür- die wies nach, dass Extremwetterereignisse das Risiko be- zere und pirateriefreie Schiffsrouten Europa und Nordameri- waffneter Konflikte dann erhöht, wenn in der betroffenen ka mit Asien verbinden. Außerdem lagern umfangreiche Region ethnische Ausgrenzung und niedriger Entwicklungs- Gas-, Öl- und Mineralvorkommen sowie Seltene Erden in der stand gemeinsam auftreten und der Staat bevölkerungsreich Region (Umweltbundesamt 2016). Der United States Geolo- ist (Ide et al. 2020). Nach Extremwetterereignissen brechen gical Survey schätzt, dass in der Arktis 13% der weltweit un- selten neue Konflikte aus. Es kommt allerdings bisweilen da- erschlossenen konventionellen Erdöl- und 33% der Erdgas- zu, dass bestehende Konflikte eskalieren (Brzoska 2018; Bu- ressourcen lagern. China hat angekündigt, eine arktische haug 2018). Ein kausaler Zusammenhang ist dann plausibel, Route in ihre Belt and Road Initiative einzubeziehen und be- kann aber zumeist nicht eindeutig nachgewiesen werden. zeichnet sich seither als Near-Arctic state (Yang, Flower & Konflikte können verstärkt werden, indem zum Beispiel Ge- Thompson 2019). Russland hat neben Kanada eine der längs- legenheitsstrukturen für Konfliktparteien entstehen. So initi- ten arktischen Küsten und ist seit längerem in der Region ierte die islamistische Terrorgruppe Boko Haram ihre gewalt- wirtschaftlich und militärisch aktiv (Brzoska 2012). tätigen Angriffe auf den nigerianischen Sicherheitsapparat nachdem zuvor in einem anderen Teil des Landes ein Extrem- Die Arktis blieb jedoch bislang, entgegen gehegter Befürch- wetterereignis die wirtschaftliche Situation Nigerias ver- tungen, friedlich (Klimenko 2019) und Potenziale für Koope- schlechtert hatte (Ide et al. 2020, Appendix 2, S. 5). Wenn ration bestehen trotz konkurrierender Interessen ihrer Anrai- Naturkatastrophen eine Konfliktpartei schwächen, streben ner weiterhin (Nicol & Heininen 2014; Kari 2021). Die andere Konfliktparteien danach, dies auszunutzen. Dies gilt Situation könnte sich nun allerdings aufgrund des Krieges in sowohl für Rebellengruppen als auch für Regierungen (Eas- der Ukraine ändern. Der russische Angriff hat erstmals im tin, Joshua 2016; Ide et al. 2020). 26-jährigen Bestehen des Arktischen Rats zu seiner Ausset- zung geführt (Gricius 2022; Bloom 2021). Was in der Arktis Ähnlich kompliziert ist die Beweislage zum Zusammenhang geschieht, ist auch sicherheitsrelevant, weil mit zunehmen- zwischen Lebensmittelpreisen oder Ressourcenknappheit der kommerzieller Erschließung das Risiko für Havarien von und kollektiver Gewalt (Brzoska 2018). Steigende Lebensmit- Schiffen und das Auftreten von Ölteppichen steigt. Noch telpreise erhöhen das Konfliktrisiko, insbesondere für Protes- dramatischer wäre, wenn es zu einer Ausbeutung der be- te und Ausschreitungen, die allerdings nur in seltenen Fällen trächtlichen Öl- und Gasvorkommen in der Region käme. in bewaffnete Konflikte eskalieren. Zudem haben diese Pro- Dies würde die bereits durch die Eisschmelze betroffene Um- teste zumeist andere, unterliegende Ursachen (Buhaug welt zusätzlich stark belasten und könnte auf einige Zeit den 2018). Insgesamt führen Klimafolgen wie Umweltzerstörung durch Knappheit induzierten Handlungsdruck zu einer Ener- und Ressourcenknappheit eher zu niedrigschwelliger Gewalt gietransformation senken. Zum Glück ist die Ausbeutung der und seltener zu bewaffneten Konflikten (von Uexkuell & Bu- in unwirtlicher Umgebung lagernden Rohstoffvorkommen haug 2021). gegenwärtig nicht rentabel. Die Royal Dutch Shell beendete 5
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA deshalb 2015 ihr umfangreiches Arktisprogramm und westli- che Sanktionen führten dazu, dass auch die russischen Pro- gramme nicht mit einer wirtschaftlichen Nutzung vor 2035 rechnen (Carayannis, Ilinova & Cherepovitsyn 2021). Aller- dings haben die gegenwärtigen Spannungen zu höheren Weltmarktpreisen und neuen Debatten über die Versor- gungssicherheit geführt. Fatal wäre es für die Klimasicherheit und langfristige Versorgungsunabhängigkeit der EU, wenn diese Vorkommen für die kurzfristige Versorgungssicherheit ausgebeutet würden. 6
EUROPÄISCHE KLIMASICHERHEITSPOLITIK 3 EUROPÄISCHE KLIMASICHERHEITSPOLITIK Die Sicherheit von Staaten ist also auf verschiedene Weise bunden (Switch to Green o.J.; Global Climate Change Allian- durch den Klimawandel betroffen. Deshalb ist Klimasicher- ce Plus o.J.). Darüber hinaus sind mehrere GD der EU-Kom- heit auf europäischer Ebene – wie im übrigen auch in ande- mission direkt oder indirekt mit dem Klimawandel oder ren Regionen der Welt – inzwischen als politisches Ziel fest seinen sicherheitsrelevanten Auswirkungen befasst. Eine Stu- etabliert (Bremberg, Sonnsjö & Mobjörk 2019). Seit deutlich die des schwedischen Forschungsinstitutes SIPRI untersuchte über einem Jahrzehnt befassen sich hochrangige Akteur_in- die Aktivitäten verschiedener Direktorate und identifizierte nen der Europäischen Union mit den sicherheitsrelevanten unterschiedliche Kontexte, in denen diese das Thema Klima- Auswirkungen des Klimawandels. Bereits 2003 benannte die sicherheit verorten. Die GD Klimapolitik betont besonders Europäische Sicherheitsstrategie den Klimawandel als Sicher- aktiv den Aspekt Klimasicherheit. Die GD Internationale Part- heitsproblem. 2008 veröffentlichte Javier Solana, damals Ge- nerschaften und die GD Europäischer Katastrophenschutz neralsekretär des Rates der Europäischen Union und Hoher und humanitäre Hilfe weisen hingegen eher auf den breite- Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ren Kontext von Resilienz und Stabilität hin, in den Klimasi- den Bericht »Climate Change and International Security«, in cherheit eingebettet ist. Die 2020 neu gegründete DG Ver- dem er Klimawandel als Threat Multiplier, also als ‚Bedro- teidigungsindustrie und Weltraum spielte eine wichtige Rolle hungsmultiplikator‘ bezeichnete. Dieses Konzept geht davon bei der Verfassung der Climate Change and Defence Road- aus, dass der Klimawandel bestehende Trends und Spannun- map (Remling & Barnhoorn 2021). gen verstärkt und eine Überforderung fragiler Staaten droht (Europäische Kommission 2008). 2011 startete die EU ihre Zu den Hauptakteur_innen der Europäischen Union im Be- Climate Diplomacy Initiative, welche 2015 im Climate Diplo- reich Klimasicherheit zählt auch der EAD und dessen Delega- macy Action Plan der Europäischen Kommission mündete tionen (Bremberg, Sonnsjö & Mobjörk 2019). Der EAD be- und 2018 gestärkt wurde (Europäische Kommission 2018). treibt zusammen mit der Kommission seit 2014 das Conflict Der Ende 2019 von der Europäischen Kommission vorgestell- Early Warning System, welches auch die klimarelevanten As- te Europäische Green Deal erneuerte die Warnung vor Klima- pekte Wasserversorgung und Lebensmittelsicherheit berück- folgen als Bedrohungsmultiplikator und kündigte eine stärke- sichtigt (Europäische Kommission 2017). Die EU-Delegatio- re internationale Kooperation zur Förderung von Resilienz nen betreiben Klimadiplomatie in ihren jeweiligen gegenüber Umwelt- und Klimafolgen an, um Konflikte, Hun- Entsendeländern und spielen für die Umsetzung des EU Cli- ger und Vertreibung zu verhindern. Im Jahr 2021 veröffent- mate Diplomacy Action Plan eine zentrale Rolle. Die Aktivitä- lichte der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) das Concept ten variieren auffällig stark zwischen den Delegationen, be- for an Integrated Approach on Climate Change and Security dingt durch unterschiedlich starke Vernetzung mit der (Europäischer Auswärtiger Dienst 2021) und die Climate Ch- Brüsseler Zentrale, vorhandener individueller Expertise und ange and Defence Roadmap (Europäischer Auswärtiger der Bedingungen im Gastgeberland (Biedenkopf & Petri Dienst 2020). 2019). In der Klimasicherheitspolitik der Europäischen Union spielen Wie gut funktioniert die europäische die EU-Kommission und verschiedene ihrer Generaldirektio- Klimasicherheitspolitik? nen (GD) eine zentrale Rolle. Die Kommission selbst trägt re- gelmäßig durch hochrangige Aktivitäten zur Themensetzung Diese Aktivitäten der EU-Institutionen werden durchaus kri- bei, etwa durch die Präsentation des Klimawandels als Be- tisch bewertet. Zunächst lässt sich kritisieren, dass die Imple- drohungsmultiplikator, durch Klimadiplomatie auf Gipfeltref- mentierung der Klimasicherheitspolitik bislang zu schleppend fen und den Green Deal. Sie bietet auch finanzielle Unter- verläuft. Die klimabezogenen Aktivitäten der verschiedenen stützung für Initiativen zur Finanzierung des Klimaschutzes in EU-Delegationen unterscheiden sich stark. Ursächlich dafür Schwellen- und Entwicklungsländern an. In SWITCH to ist offenbar die unterschiedlich ausgeprägte Vernetzung mit Green, der Initiative für eine grüne, inklusive Wirtschaft und der Brüsseler Zentrale, Diskrepanzen in der Expertise und un- in Global Climate Change Alliance Plus, der Initiative zur För- gleiche Bedingungen in den Gastgeberländern (Biedenkopf derung von Kooperationen mit Entwicklungsländern, sind & Petri 2019). Klare, länderspezifische Prioritäten für die auf Einrichtungen der Kommission direkt organisatorisch einge- Klimasicherheit bezogenen Aktivitäten europäischer Instituti- 7
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA onen scheinen hingegen auch nach über einem Jahrzehnt zu zu einem Export von Unsicherheit führen (Remling & Barn- fehlen (Youngs 2021). Zudem kommt die praktische Imple- hoorn 2021). Besonders deutlich wird dies bei einer Betrach- mentierung der ambitionierten Pläne offenbar nur langsam tung der Treibhausgasemissionen europäischer Länder. Die voran. Dieses Phänomen wurde auch als last mile-Problem 27 EU-Mitgliedstaaten stoßen 7,5 Prozent der weltweiten der EU bezeichnet: Praktische Maßnahmen werden eher ad- Treibhausgase aus und stehen damit als Kollektiv an weltweit hoc ergriffen und es mangelt an strategischer Kohärenz zwi- dritter Stelle hinter China und den USA. Damit trägt die EU schen den verschiedenen EU-Aktivitäten im Bereich Klimasi- trotz ambitionierter Reduktionsziele gegenwärtig noch stark cherheit (Youngs 2021). Die vorhandenen Aktivitäten auf zum weiteren Klimawandel bei und gefährdet damit die operativer Ebene scheinen eher auf motivierte Projektmana- weltweite menschliche Sicherheit – übrigens auch zum eige- ger zurückzugehen als auf eine ambitionierte strategische nen Nachteil, weil dies das Risiko von Fragilität und klimabe- Führung aus Brüssel (Brown, le More & Raasteen 2020). dingter Vertreibung in ihrer Nachbarschaft erhöht. Außerdem ist der Aspekt Klimasicherheit auf einen zu engen Ausschnitt von EU-Aktivitäten begrenzt. Insbesondere drei Defizite werden bei der Klimasicherheitspolitik auf EU-Ebene diskutiert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den nicht be- absichtigten, negativen Auswirkungen, die verschiedene EU-Initiativen auf den Bereich Klimasicherheit haben. Bei- spielsweise besteht ein Dilemma bei der Gestaltung von An- reizen in der Handelspolitik. Zwar spielen die klimapolitischen Ambitionen der Partnerländer eine zunehmend wichtige Rol- le in den Vereinbarungen von Handelsabkommen und Ent- wicklungsprojekten. Aber die Gegenleistung für ambitionier- te Partnerländer besteht dann wiederum in einer Ausweitung konventionellen Handels, der die ambitionierte Klimapolitik des Partnerlandes konterkariert. Die Ausgestaltung solcher Konditionalitäten berücksichtigt außerdem nicht den Effekt von klimapolitischen Maßnahmen in den Partnerländern auf die lokalen und traditionellen Lebensverhältnisse. Dies hat bereits wiederholt zu zusätzlicher Unsicherheit geführt, so dass die Politik der EU bisweilen Klimaunsicherheit sogar ex- portiert (Youngs 2021). Ein bekanntes Beispiel für solche Ent- wicklungen ist der Import von Palmöl aus Drittländern. Das Palmöl wird als Lebensmittel genutzt, aber auch, um bei- spielsweise Biodiesel herzustellen. Palmölplantagen sind zwar ertragreich, aber auch sehr umweltschädlich. Außer- dem steht die Nutzung von Palmöl für Treibstoffe in Konkur- renz zur Nutzung als Lebensmittel. Die EU beschloss deshalb bereits 2018, die Beimischung von Palmöl in Biokraftstoffen ab 2030 zu verbieten. Ein anderes Beispiel ist die finanzielle Förderung der Central African Forest Initiative durch die EU-Kommission, welche in der Kritik steht, mit gewaltberei- ten lokalen Milizen zum Schutz von Umweltprojekten in afri- kanischen Regenwäldern zusammenzuarbeiten und die Sor- ge der indigenen Bevölkerung vor Übergriffen zu ignorieren (World Wildlife Fund 2020). In Reaktion auf die Vorwürfe stoppte die EU bereits im Februar 2020 die finanzielle Unter- stützung für das Projekt (Survival International 2020). Die Handelspolitik der EU könnte folglich noch nachhaltiger und demokratischer gestaltet und vor allem stärker an soziale und humanitäre Standards gebunden werden. Eine weitere Engführung der europäischen Klimasicherheits- politik besteht in der häufig vertretenen Annahme, dass Kli- maunsicherheit nur in den fragilen Staaten des globalen Sü- dens entsteht und von dort importiert würde. Diese Annahme ist aus zwei Gründen falsch. Erstens übersieht sie die direkten Auswirkungen, die der Klimawandel auch in Europa hat (sie- he oben). Zweitens übersieht diese Annahme auch, dass kli- marelevante Handlungen innerhalb der Europäischen Union 8
WIE WIRKT SICH DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG AUF KLIMASICHERHEIT AUS? 4 WIE WIRKT SICH DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG AUF KLIMASICHERHEIT AUS? Am 24.2.2022 startete Russlands Präsident Wladimir Putin den Extremwetterereignisse abmildert und dazu beiträgt, den völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine. indirekte sicherheitsrelevante Klimafolgen, wie Vertreibung Der Klimawandel wartet jedoch nicht, bis in der Ukraine wie- und Konflikte zu vermeiden. Auf europäischer Ebene hat das der Frieden herrscht. Der Krieg stellt die Politik deshalb vor Europäische Parlament in seinem Bericht über den Fahrplan die doppelte Herausforderung, Europa vor der russischen des EAD für Klimawandel und Verteidigung die Mitgliedstaa- Aggression und den Folgen des Klimawandels zu schützen. ten dazu aufgefordert, die Einrichtung eines Militäringeni- Dies ist deshalb kompliziert, weil die nun erforderlichen Mit- eurskorps »für klimabedingte Naturkatastrophen und den tel zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung nicht Schutz kritischer Infrastrukturen in fragilen Ländern« zu prü- wirksam zum Klimaschutz eingesetzt werden können und fen sowie Klima- und Umweltthemen in der zukünftigen GS- diesem stellenweise sogar im Weg stehen. Gegenwärtig VP zu stärken (Europäisches Parlament 2021). zeichnen sich die folgenden Aspekte ab: Der Krieg in der Ukraine erfordert eine verbesserte Ausrüs- Einstweilen ist davon auszugehen, dass Klimapolitik auf der tung und Stärkung der Bundeswehr. Der Konflikt zeigt, dass politischen Agenda bleibt. In seiner Regierungserklärung in eine auf internationale und menschliche Sicherheit ausge- der Sondersitzung des Deutschen Bundestags vom 27.2.2022 richtete Friedenspolitik bis auf Weiteres nicht mehr ohne Ver- betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass eine ambitionierte teidigungsfähigkeit möglich ist. Gleichzeitig sind allerdings Förderung der Erneuerbaren Energien nicht nur der deut- die weltweiten Emissionen durch Militärs erheblich. Berech- schen Wirtschaft und dem Klima nützt, sondern auch zur nungen gehen davon aus, dass Streitkräfte weltweit rund 5 Versorgungssicherheit beiträgt. Die Bundesregierung plant Prozent des CO2-Ausstoßes verantworten – inklusive Rüs- eine Aufstockung der Mittel für den Klimaschutz bis 2026 tungsindustrie. Durch die Mobilmachung Russlands, der Uk- auf 200 Milliarden Euro. Auch der am 8.3.2022 veröffentlich- raine und großer Verbände der NATO-Mitgliedsstaaten dürf- te REPower EU Plan der EU-Kommission betont den Beitrag te dieser Faktor weiter steigen (Military Emissions Database Erneuerbarer Energien zur Versorgungssicherheit (Europäi- o.J.).3 Die schwer vermeidbare Aufrüstung und das intensi- sche Kommission 2022). Wenn Russland seine bereits erfolg- vierte Training werden zu steigenden Emissionen bei der Pro- ten Gas-Lieferstopps für Polen, Bulgarien auf weitere Länder duktion, bei Manövern und Missionen führen. Das kann Ab- ausweitet könnte dies beispielsweise den dringend erforder- hängigkeitsverhältnisse zu Lieferanten fossiler Brennstoffe lichen Kohleausstieg verzögern (Climate Analytics 2019). verlängern und riskiert die Energietransformation. Dennoch: Deshalb kommt es darauf an, die vorhandenen klimapoliti- Einige Staaten haben damit begonnen, Reduktionsziele für schen Mittel zu nutzen und die Pläne wirksam umzusetzen ihre Streitkräfte festzulegen. Das Heer der US-Streitkräfte hat – um gleichzeitig Europas Unabhängigkeit und das Klima zu beispielsweise angekündigt, bis 2050 emissionsneutral zu schützen. werden (United States Army 2022). In Europa planen Finn- land, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande zügige Zweitens könnte die Bundeswehr zukünftig seltener für Ka- Emissionsreduktionen ihrer Streitkräfte (IMCCS Expert Group tastrophenhilfe zur Verfügung stehen. In Folge der russi- 2020). Weil Abrüstung gegenwärtig nicht möglich scheint, schen Aggressionen ist sie wieder stärker auf Landes- und sollte die europäische und deutsche Klimasicherheitspolitik Bündnisverteidigung ausgerichtet. Bei der Flutkatastrophe im diesen Pfad weiter beschreiten und militärische Emissionen Ahrtal kamen über 2.300 Soldat_innen zum Einsatz und für reduzieren. Die Climate Change and Defense Roadmap der die Amtshilfe während der COVID-19 Pandemie zeitweise EU formuliert diese Absicht, eine Umsetzung steht allerdings sogar 20.000. Wegen des Konflikts in der Ukraine wurde das noch aus (Europäischer Auswärtiger Dienst 2020). Eine Fest- Hilfsleistungskontingent der Bundeswehr im März 2022 auf- schreibung ähnlicher Reduktionsziele in der geplanten deut- gelöst. Um weiterhin auf zukünftig häufigere Extrem- schen Nationalen Sicherheitsstrategie wäre ein wichtiger Bei- wetterereignisse reagieren zu können, müssen zivile Krisen- trag zum Klimaschutz und ein klares Signal für eine reaktionskräfte wie das Technische Hilfswerk gestärkt wer- den. Dies ist deshalb wichtig, weil eine wirksame und schnel- le Katastrophenhilfe die unmittelbaren sicherheitsrelevanten 3 Zum Vergleich: Die globale Stahlindustrie ist für ca. 8 Prozent des Auswirkungen der durch den Klimawandel häufiger werden- CO2-Ausstoßes verantwortlich. 9
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA Sicherheitspolitik, die Klimaunsicherheit bei ihren Ursachen adressiert: Den Emissionen. Viertens ist der Krieg in der Ukraine für Klimasicherheit rele- vant, weil die Zerstörung von Militärbasen in großem Um- fang toxische Chemikalien freisetzt, die in die Atmosphäre aufsteigen oder im Grundwasser versickern (McCarthy 2022). Ähnliche Folgen hat die Vernichtung von Chemieanla- gen, Öldepots, Pipelines, Stahl- und Kraftwerken wie sie in einem industrialisierten Staat wie der Ukraine zahlreich exis- tieren – insbesondere im stark umkämpften Südosten des Landes. Zudem verschlingt der Wiederaufbau ganzer Städte enorme Ressourcen. Zerstörtes Kriegsgerät, Sprengkörper und Munition bleiben in urbanen wie ländlichen Gebieten zurück, wodurch auch besonders sensible Zonen wie bei- spielsweise das Biosphärenreservat Schwarzes Meer, oder das Naturschutzgebiet Askanija-Nowa nachhaltig belastet werden. Fünftens macht der Krieg deutlich, was mit einem fortschrei- tenden Klimawandel immer häufiger droht: Parallele Krisen mit globalen Auswirkungen treffen auf vulnerable, fragile Gesellschaften (Schröder 2022). Preisschwankungen auf den weltweiten Lebensmittelmärkten können potenziell destabi- lisierend wirken. Der russisch-ukrainische Anteil am weltwei- ten Weizenexport beträgt 27 Prozent (UNCTAD 2022). Die Preise für Weizen sind gegenwärtig auf einem Rekordhoch. Länder wie Ruanda, Ägypten oder Benin beziehen 63, 82 oder nahezu 100 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine (UNCTAD 2022). Ihre hohe Abhängigkeit entsteht auch deshalb, weil verlängerte Trockenzeiten und die stei- gende Frequenz von Dürreperioden zu Ernteausfällen in die- sen Ländern führen. Der Klimawandel wird zukünftig häufi- ger zu solchen Dürreperioden in großen Teilen Afrikas, den Maghreb-Staaten sowie dem Mittleren Osten führen (IPCC 2022). Der Irak bspw. erlebte eine schwere Dürre im Winter 2020/2021. Um nun Weizen von Ersatzanbietern wie Austra- lien einzuführen, rechnet der Irak mit zusätzlichen Kosten in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar (Tollast & Aldroubi 2022). Solche Auswirkungen mehrerer paralleler Krisen stellen Schwellen- und Entwicklungsländer vor große Herausforde- rungen. Um Risiken zu minimieren, müssen vulnerable Län- der in ihren Bemühungen um Klimaanpassung unterstützt werden. Dazu zählt auch, dass Industriestaaten ihre unter der UNFCCC zugesagten Unterstützungsgelder in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar leisten (Bos, Gonzales & Thwaites 2021). Um eine zunehmende Destabilisierung zu vermeiden, müs- sen die Bemühungen der Industriestaaten in diesem Bereich intensiviert werden. 10
SCHLUSSFOLGERUNGEN 5 SCHLUSSFOLGERUNGEN Produktive Aufklärung betreiben, Entwicklungszusammenarbeit stärken – apokalyptische Rhetorik vermeiden. inklusiv und klimaorientiert. Politische Kommunikation über Klimapolitik ist zentral, um Der Klimawandel hat die globale Durchschnittstemperatur Unterstützung für klimapolitische Maßnahmen zu erhalten. gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter bereits um über Alarmistische Darstellungen von ›Ressourcenkriegen‹ und 1°C erhöht. Schon jetzt reichen Emissionsreduktionen allein ›Flüchtlingswellen‹ lenken jedoch den Blick weg von den ei- nicht mehr aus, um Klimasicherheit zu gewährleisten. Adap- gentlichen Ursachen des Problems und befördern nur kurz- tion, also die Anpassung an Klimafolgen, ist notwendig. Die sichtige, eigennützige Schutzmaßnahmen, die nicht zur Be- erforderlichen Schritte gehen dabei über lokale Naturschutz- hebung der Ursachen des weiter voranschreitenden maßnahmen weit hinaus. Eine ergebnisorientierte, europa- Klimawandels beitragen. Besonders kritisch ist die politische weit abgestimmte Entwicklungskooperation ist erforderlich, Kommunikation über klimabedingte Migration. Diese ist zu- um Institutionen vor Ort dabei zu unterstützen resilienter, gleich Resultat der fossilen Emissionen und Anpassungsstra- inklusiver, verlässlicher und transparenter zu werden und sich tegie der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen. Hin- so besser gegen den steigenden Klimastress zu wappnen. gegen ist sie mitnichten das ursächliche Problem. Damit eine Ein wichtiger Fokus wird in der Diversifikation von Einkom- werteorientierte, auf internationale Zusammenarbeit fußen- mensmöglichkeiten in stark landwirtschaftlich geprägten de Klimasicherheitspolitik gelingt, ist es zwingend erforder- Gesellschaften liegen. Auch eine fairere Ausgestaltung des lich, auf die Herausforderungen hinzuweisen, ohne dabei in Welthandels ist erforderlich. Die Berücksichtigung etablierter undifferenzierte Problembeschreibungen zu verfallen und Konfliktlösungsmechanismen hilft, Konflikte bewältigen. Die allein eigenstaatlich orientierte, konventionelle sicherheitspo- Beteiligung der Zivilbevölkerung (local ownership) und die litische Maßnahmen zu fordern. Klimasicherheit muss plane- Nutzung der Erfahrungen indigener Bevölkerungen tragen tar gedacht werden und auf menschliche Sicherheit ausge- zu nachhaltigeren Praktiken bei. richtet sein. Von Synergien zwischen Klimapolitik Den Klimaschutz ambitionierter und Friedenspolitik profitieren. umsetzen. Ambitionierte Adaptionsprogramme und Maßnahmen zur Von der International Labour Organisation über Oxfam bis Resilienzförderung setzen ein Mindestmaß an Stabilität vor zur Weltbank – eine große Anzahl Internationaler Regie- Ort voraus. Viele der vom Klimawandel besonders betroffe- rungsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen for- nen Staaten sind fragil. Deshalb ist die Förderung von Frieden dern einen stärkeren Klimaschutz (International Labor Orga- eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Klimasi- nization o.J.; International Organization for Migration 2021; cherheitspolitik (Buhaug 2018). Gleichzeitig bieten umwelt- Malpass 2021; Oxfam 2014; World Wildlife Fund o.J.). Sie und klimapolitische Programme und Maßnahmen ihrerseits weisen zurecht darauf hin, dass der Klimawandel Arbeitsver- Potenziale zur Konfliktvermeidung aber auch zur Beilegung hältnisse und Lebensunterhalte gefährdet, weltweite Lebens- laufender Konflikte. Der Bereich des Environmental Peace- mittelsicherheit bedroht, Ökosysteme zum Kollabieren bringt building erfährt deshalb sowohl akademisch als auch gesell- u.v.m. Die verschiedensten Bereiche menschlichen und nicht- schaftlich zunehmende Aufmerksamkeit (Conca & Beevers menschlichen Lebens sind bedroht. Die europäische Klimasi- 2018; Ide 2018). Klimasicherheit und Frieden bedingen sich cherheitspolitik muss bei der Ursache dieser Gefahren anset- gegenseitig. Die europäische Klimasicherheitspolitik sollte zen. Sie erfordert deshalb ambitionierte Ziele für das berücksichtigen und Erkenntnisse des Environmental Pe- Emissionsreduktionen und mehr Engagement bei ihrer Um- acebuilding nutzen, um Ressourcen friedlich und nachhaltig setzung. Klimapolitik ist Friedenspolitik. zu nutzen. Dadurch werden Frieden und Klimaschutz glei- chermaßen gefördert. 11
FES ZUSAMMENARBEIT UND FRIEDEN – KLIMASICHERHEIT UND EUROPA Jetzt handeln! Die wichtigste Erkenntnis zum aktuellen Zeitpunkt lautet: Gute Politik kann viele der indirekten negativen Auswirkun- gen des Klimawandels noch verhindern. Die Einrichtung ei- ner zentralen Anlaufstelle, die in der EU-Kommission das Querschnittsthema Klimasicherheit koordiniert, scheint dafür ein weiterer wichtiger Baustein (Youngs 2021; Brown, le Mo- re & Raasteen 2020). Insgesamt sind die Aufgaben divers und herausfordernd, die notwendigen Maßnahmen kompliziert. Aber wir müssen jetzt handeln, bevor natürliche Schwellen- werte irreversibel überschritten werden und die Wirkkraft sicherheitspolitischen Handelns sukzessive schwindet (Bu- haug 2018). 12
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