Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung - Ein Diskussionsbeitrag
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Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung 1 Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung Ein Diskussionsbeitrag* Christoph Strawe Der vorliegende Entwurf einer Verfassung der Europäi- dass es die Angst so vieler Menschen gibt, dass die schen Union sollte eigentlich am 9. Mai unterzeichnet Osterweiterung zu einer Abwärtsspirale führen werde, werden, noch vor den Wahlen zum Europa-Parlament was Arbeitsplatzsicherheit und Lohnniveau angeht. Vor am 13. Juni. Aber es hatte bei einer Regierungskonferenz allem sind es Fragen nach der Politik der EU und die im Dezember zunächst unüberbrückbare Meinungsver- Sorge über vieles, was in dem Verfassungsentwurf steht schiedenheiten in der Frage der Mehrheitsbildung inner- - oder nicht steht -, die den Jubel dämpfen oder gar halb der EU gegeben.2 Inzwischen wurden die Streitpunkte nicht erst nicht aufkommen lassen. bei einer weiteren Konferenz der Staats- und Regierungs- Der Verfassungsentwurf ist in der Bevölkerung kaum chefs am 17. und 18. Juni in Brüssel ausgeräumt, so diskutiert worden, ja weitgehend nicht einmal in Grund- dass der Unterzeichnung nichts mehr im Wege steht, die zügen bekannt.3 Ist es da nicht höchste Zeit, dass die jetzt am 29. Oktober 2004 in Rom stattfinden soll. Bürgerinnen und Bürger ihn zur Kenntnis nehmen und Seit dem 1. Mai ist die sogenannte Osterweiterung beginnen, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzu- der EU vollendet. Die Union hat jetzt 25 Mitglieder. Zu mischen? Es kann doch nicht sein, dass die Grundlage den „Altmitgliedern“ Frankreich, Deutschland, Italien, für das Zusammenleben in Europa von den Bürgerin- Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die sich nen und Bürgern nicht wirklich getragen wird! 1957 zur EWG zusammengeschlossen hatten, waren Schon heute werden mehr als 50% aller neuen Re- 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark dazu- gelungen, die für die BürgerInnen in den EU-Staaten gestoßen, 1976 Griechenland, Spanien und Portugal. verbindlich sind, von Brüssel vorgegeben. Geregelt wird Nachdem durch den Vertrag von Maastricht 1992/93 vieles, bis zum Krümmungsgrad von Euro-Gurken (Ver- eine politische Union entstanden war, hatten sich dieser ordnung 1677/88 der Brüsseler Kommission vom 15. 1995 noch Österreich, Schweden und Finnland ange- Juni 1988). Neben den Verordnungen sind es die Richt- schlossen. Dass Rumänien und Bulgarien bald eben- linien, die von Brüssel erlassen werden und von den falls aufgenommen werden, gilt als sicher. Ob die eben- Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden falls im Wartestand befindliche Türkei die Vollmitglied- müssen, die diesen zunehmenden Einfluss begründen. schaft erhält, wird noch kontrovers diskutiert. Am 17./ In Brüssel wiederum ist eine höchst effektive Konzern- 18. Juni erhielt schließlich auch Kroatien den Status lobby am Werk, deren Einfluss auf die europäische Po- eines Beitrittskandidaten. litik kaum zu überschätzen ist.4 Die Größe der Union darf aber nicht davon ablen- Gleichzeitig entwickelt sich die Europäische Union ken, dass sie nicht ganz Europa umfasst. Der Ausdruck ohne echte Bürgerbeteiligung weiter. Ein solches Euro- „Europäische Verfassung“, der vielfach verwendet wird, pa „von oben“ aber erzeugt keine Europa-Begeisterung, ist daher eigentlich eine Anmaßung. Denn die Schweiz, sondern nur Europa-Verdruss - das ist in der geringen Norwegen und die nicht der EU angehörenden osteu- Beteiligung bei den Parlamentswahlen sichtbar gewor- ropäischen Länder sind doch ohne Zweifel auch inte- den. graler Bestandteil Europas. Es ist zwar spät, aber noch nicht zu spät... Gemischte Gefühle ... Internationale Verträge bedürfen der Ratifizierung. Bis Die Bilder von den Feiern in den Hauptstädten der Beitritts- Ende 2006 haben die Mitgliedstaaten der EU für die länder lassen keinen Zweifel daran, dass der Beitritt min- Ratifizierung der Verfassung Zeit. Die Ratifizierung er- destens von Teilen der Bevölkerung mit echter Freude, ja folgt durch die Parlamente bzw. durch die Bürgerinnen mit Jubel begeleitet wurde. Gefühle, die ihre reale Grund- und Bürger direkt. Das heißt, dass in einer ganzen Rei- lage darin haben, dass sich in Europa die Nationen nicht he von europäischen Ländern Volksabstimmungen statt- mehr gegenseitig zerfleischen werden und dass auch die finden werden. Solche Referenden würden die Chance Spaltung des Kontinents in feindliche Systeme überwun- bieten, das Verfassungsprojekt doch noch in einer brei- den ist. So drückte Beethovens Vertonung von Schillers teren Öffentlichkeit zu diskutieren.5 Ode an die Freude, die als Europa-Hymne bei den Fei- Es ist schlimm genug, dass der Entwurf nicht aus ei- ern erklang, die Stimmung vieler Menschen aus. nem Verfassungsprozess von unten hervorgegangen ist, Dennoch zögert man, in den Jubel einzustimmen. wie er u.a. auch von der Initiative Netzwerk Dreigliederung Nicht nur, dass die Europa-Wahlen dann gezeigt ha- gemeinsam mit der IG-Eurovision und den Intercitizens ben, wie viele Menschen in den Beitrittsländern der EU Conferences (ICC) in einem Aufruf zum Projekt „EU 21“ skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Nicht nur, im Oktober 2000 gefordert worden war.6 Um so schlim- * geringfügig revidierte Fassung vom 15.10.04
2 Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004 mer wäre es, dem Souverän nicht wenigstens das letzte denzen einer McWorld und eines von den USA bestimm- Wort darüber zu lassen, ob er die Verfassung in dieser ten Empire von großer Bedeutung wäre, die Rolle einzel- Form überhaupt will oder nicht. Im Falle der Ablehnung ner Regionen im Menschheitsorganismus konstruktiv zu stünde dann natürlich auch die Form, in der ein neuer beschreiben, - schon um einer Geopolitik, die sich un- Entwurf entstehen könnte und die Beteiligung der ter umgekehrtem Vorzeichen an geopolitisch-macht- Zivilgesellschaft am Entstehungsprozess neu zur Disposi- strategische Überlegungen orientiert, Paroli bieten zu tion. können. Ebenso muss darauf abgehoben werden, dass Zu den Schlusslichtern in Sachen direkte Demokra- bestimmte Werte zwar historisch in Europa zum ersten tie in Europa gehört die Bundesrepublik Deutschland. Mal artikuliert wurden, aber eben gerade keine Dies, obwohl das deutsche Grundgesetz davon spricht, eurozentristische, sondern global-menschheitliche Bedeu- dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in „Wahlen tung haben. Das geht so weit, dass die Kritik an dem, und Abstimmungen“ ausgeübt wird (Art. 20, 2). Nur was Europa dem Süden der Welt angetan hat und noch wurde dieses Abstimmungsrecht bisher nicht umgesetzt. antut, eben diese Werte von Freiheit, Gleichheit, sozialer Ein Vorstoß der Regierungskoalition in der vorigen Le- Gerechtigkeit und Solidarität gegen Europa wendet. Wir gislaturperiode, dies über eine Verfassungsänderung zu haben gegen unsere eigenen Ideale verstoßen. Das sollte erreichen, scheiterte wegen der hierfür erforderlichen uns als Europäer darauf aufmerksam machen, dass wir Zweidrittelmehrheit an der Verweigerung von CDU und gerade bei der weltweiten Verwirklichung dieser Ideale, CSU. Absurderweise und im Widerspruch zu ihrer eige- die in Europa ihren historischen Quellpunkt haben, eine nen Initiative verweigerte die SPD ein Referendum über Aufgabe haben, der Welt zu dienen und nicht bloß Eu- die EU-Verfassung. Edmund Stoiber dagegen forderte ropa als territorialem Gebilde. es und auch die FDP vertrat es lautstark. Die Grünen So gesehen geht es auch nicht an, was „europä- fassten auf ihrem Dresdner Parteitag einen entsprechen- isch“ ist zu messen an der Faktizität der Brüsseler Büro- den Beschluss, - was aber Außenminister Fischer zu- kratie - die in einzelnen Aspekten durchaus eher alt- nächst nicht anfocht, bei seinem Nein zu bleiben, für ägyptische Züge trägt als europäische. Vielmehr wären das er die demokratietheoretisch atemberaubende Be- die europäischen Institutionen an den genannten euro- gründung fand, wegen der besonderen historischen Be- päischen Werten zu messen und da umzuformen, wo deutung der in Frage stehenden Entscheidung sei das sie diesen nicht entsprechen. Volk damit nicht direkt zu befassen. Eine Forsa-Umfra- ge beweist, dass eine große Mehrheit der Deutschen - Individualisierung und Globalisierung 74 % - für ein solches Referendum ist; noch mehr, näm- In Europa hat das seinen Ausgang genommen, was wir lich 87 %, sprechen sich generell für Bürgerentscheide Individualisierung nennen, das moderne Selbst- aus. Mit dem Thema lassen sich also Stimmen gewin- bewusstsein, der Mündigkeitsimpuls, der individuelle nen. Wohl deshalb ist seit Ende September 2004 nun Wille, Gesetzgeber des eigenen Lebens zu sein und die plötzlich auch bei der SPD die Rede davon, dass die Gemeinschaft nicht länger als Vormund über sich zu Voraussetzungen für eine Volksabstimmung im Herbst dulden. Mündigkeit, in sozialer Verantwortung gelebt, 2005 geschaffen werden sollen. kann zum Ausgangspunkt neuer menschlicherer Gemein- Wie immer man im einzelnen die Entwicklung ein- schaftsformen werden, die auf dem Respekt vor der schätzen mag, sicher ist, dass ein Referendum auch in Diversität der sie konstituierenden Freiheit jedes Einzel- Deutschland bessere Chancen bieten würde, über die nen aufgebaut sein. Wird diese Verantwortung verfehlt, Inhalte der Verfassung endlich öffentlich zu debattieren. verformt sich der Individualismus - statt zum solidari- Diese Inhalte spielen bisher selbst da kaum einen Rolle, schen Individualismus zu werden - in Egozentrismus. wo die Medien wenigstens punktuell von dem Verfas- Dieses Prinzip der Egoität, der Jagd nach dem eige- sungsprojekt Notiz nehmen. nen Vorteil, notfalls auf Kosten anderer, wird in die Welt getragen durch die ebenfalls von Europa ausgehende Die europäische V erfassung im Lichte der Verfassung Bewegung der Globalisierung. Diese begann, indem eu- Aufgaben Europas in der heutigen W elt Welt ropäischer Entdecker und Kolonisatoren den Globus im Für eine öffentliche Diskussion braucht man nicht nur wahrsten Sinne des Wortes er-fuhren. Das wirtschaftli- Detailargumente, sondern vor allem grundlegende Ge- che Geflecht, das sich in dieser Epoche bilde, ist zwar sichtspunkte zur Beurteilung eines europäischen untergründig ein Netzwerk von Zusammenarbeits- Verfassungsprojekts. Die europäische Vergangenheit im beziehungen in einer Fremdversorgungswirtschaft, die Guten wie im Bösen und die Geschichte der europäi- letztlich die Geschwisterlichkeit zur ökonomischen - nicht schen Einigung, sie geben wichtige Gesichtspunkte - aber bloß allgemein moralischen - Notwendigkeit macht. Aber nur in dem Maße, indem wir aus ihnen und aus dem dieser Unterstrom der Globalisierung ist zunächst über- Blick auf die Aufgaben der Zeit die Zukunftsaufgaben deckt von der krassen Unbrüderlichkeit einer Ökono- Europas in der Welt abzulesen vermögen. mie, in der die Jagd nach Surplus zum Selbstzweck wird. In Teilen der Zivilgesellschaft tut man sich mit dieser Frage manchmal unnötig schwer, weil man besorgt ist, Freiheit, Gleichheit, Solidarität durch eine Reflexion auf die Aufgaben Europas in einen und Subsidiarität im Mittelpunkt Eurozentrismus zurückzufallen. Man sollte sich indes klar- Ein Verfassung, wie immer man sie sonst sehen mag, machen, dass es gegenüber den uniformierenden Ten- vermittelt ein Stück Identitätsbewusstsein. Wahre Identi-
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung 3 tät zu erlangen aber ist unmöglich ohne die Auseinan- bensbekenntnis in die Präambel der Verfassung aufzu- dersetzung nicht nur mit den eigenen Möglichkeiten und nehmen, wie von konservativ-religiösen Kreisen gefor- Fähigkeiten, sondern auch den eigenen Schattenseiten. dert. Selbstbesinnung ist eine notwendige Voraussetzung, um eine tragfähige Verfassungsgrundlage zu erarbeiten. Der europäische V Verfassungsprozess erfassungsprozess Europa als Ausgangspunkt von Individualisierung - in historischer PPerspektive erspektive das wäre doch wohl Grund genug, die individuellen Men- Die europäische Integrationsbewegung hat in bezug auf schenrechte, ergänzt um die bürgerlichen Beteili- die europäischen Wertorientierungen von vornherein et- gungsrecht und die sozialen Menschenrechte, ohne je- was Zwiespältiges. Ein Internationalismus, der Krieg und den Abstrich in den Mittelpunkt der eigenen Verfassungs- Hader zwischen den Europäischen Völkern überwinden entwicklung zu stellen! Es müsste Herausforderung sein, will, mischt sich mit politischen, ökonomischen und kul- eine freie, auf Selbstorganisation beruhende Kultursphäre turellen Hegemonialinteressen. Besonders deutlich wird und zugleich eine wirklich partizipative, von der Basis das an dem Vordenker der Integration, dem Grafen Ri- ausgehende Demokratie zu schaffen. chard Nicolas von Coudenhove-Kalergi. 1923 erscheint Europa ist der Ausgangspunkt zweier verheerender seine Schrift „Paneuropa“, in der er Programm und Zie- Weltkriege gewesen - europäische Politik hätte also al- le der im gleichen Jahr von ihm begründeten Paneuro- len Grund, sich von militärischen Superpower-Ambitio- pa-Bewegung festlegt. Damals musste das Projekt eines nen zu verabschieden und sich auf eine aktive Friedens- europäischen Staatenbundes vielen völlig utopistisch förderung und Konfliktvermeidung, etwa auch durch die erscheinen. Um so erstaunlicher ist es, wie sich nach Stärkung der UN, zu konzentrieren. dem II. Weltkrieg die Einigung exakt nach Coudenhoves Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Europa müsste ernst Fahrplan vollzieht, über die ökonomische Union zur po- machen mit seinen eigenen, Grundwerten von Frei- litischen. Coudenhove, der 1938 vor den Nazis emi- heit, Gleichheit und Solidarität, die ja letztlich allen grieren musste, gewinnt das Gehör von Politikern und Eurozentrismus sprengen müssen. Auf dieser Basis soll Wirtschaftsverantwortlichen; den fruchtbarsten Boden Europa selbstlos und ohne eigene Machtansprüche zu findet er nach eigener Aussage in katholischen Kreisen. einer weltweiten Friedensordnung und zum gerechtem Er setzt sich in seinen Schriften zwar gegen den tota- Ausgleich zwischen Nord und Süd beitragen - auch len Staat ein, doch ist Demokratie für ihn eine Legiti- dadurch, dass es sowohl auf dem eigenen Territorium mationsform von Herrschaft und keine Erneuerung der wie weltweit eine Wirtschaftsform fördert, in der Orga- Gesellschaft von unten her. D.h. er verficht den Ge- ne des Interessenausgleichs für faire Preisverhältnisse danken einer - in der europäischen Kulturtradition wur- sorgen. zelnden, demokratisch legitimierten - „geistigen Aristo- Eine einheitsstaatlich-machtstaatliche Struktur der kratie“. Letztlich ist sein Konzept, das im Grundsatz, nicht Europäischen Union ist dagegen mit all dem unverein- in den Einzelheiten, von vielen Europapolitikern nach bar. Notwendig dagegen wäre gerade die Auflösung wie vor geteilt wird, das von Europa als einer Super- von Machtstrukturen durch gesellschaftliche Gliederung. macht: „Wir wollen Europa, verbunden durch Bande Darin kann man dem auf S. 31ff. abgedruckten Aufruf der Freundschaft mit seinen mächtigen Nachbarn Ame- der IG Eurovision nur aus vollem Herzen zustimmen. rika und Russland, zu einer Weltmacht wiedervereini- Dass sich die Europäische Union nicht als Großmacht gen, gleichberechtigt ihren beiden Nachbarn und dem versteht, das wäre gerade auch im Verhältnis zu Amerika neuen China.“7 So formuliert er es in den 60er Jahren. wichtig. Kritisieren wir das, was im Irak geschieht, etwa Ein solches Integrationskonzept ist für viele verlok- nur deshalb, weil wir gleiche Macht wollen wie Amerika? kend; gerade durch seine inhaltliche Unbestimmtheit Oder deshalb, weil wir eine solche Form der Machtpolitik eignet es sich zur Klammer für durchaus unterschiedli- für unzeitgemäß halten? Habermas’ und Derridas’ Idee che Interessen und Bestrebungen, von dem Versuch, das der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Friedens- Heilige Römische Reich wieder aufleben zu lassen, bis demonstrationen gegen den Irak-Krieg jedenfalls geht von zum Realisierung eines Europas der Konzerne. Die Auf- dem zweiten Motiv aus. gaben Europas in der heutigen Zeit verfehlt es jedoch Statt Großmacht sein zu wollen, müsste die EU als an entscheidender Stelle. - Churchills berühmter Züri- Vorreiterin einer neuen Politik wirken, die machtfreie cher Rede vom September 1946 über die „Vereinigten Räume schafft, fördert und sichert. Es geht um eine Staaten von Europa“ ging übrigens ein Treffen mit neue Form von Staatlichkeit, die nicht obrigkeitlich wirkt, Coudenhove am Genfer See voraus. sondern nur da „subsidiär“ (hilfsweise) eingreift, wo Selbstverwaltung und Selbstorganisation noch nicht ge- Nachkriegsentwicklung lingen. Marshallplan und Kalter Krieg führen zu einer Spaltung In diesen Wertorientierungen läge auch die reale und Europas, so dass die Integration zunächst nur als west- nicht bloß deklamatorische Anknüpfung an die christli- europäische stattfindet (wenn man von dem ost-west- chen Wurzeln Europas. Auch der Gedanke der Subsi- übergreifenden Europa-Rat absieht). Die Westeuropäi- diarität z.B. taucht ja zuerst in christlichen Soziallehren sche Integration vollzieht sich - impulsiert von Politikern auf. Dagegen würde es der menschenrechtlich gebote- wie Jean Monnet und Robert Schumann - über die Grün- nen weltanschaulichen Neutralität des modernen Staa- dung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl tes widersprechen, Gott und damit ein bestimmtes Glau- (Montanunion 1951) und die Schaffung der Europäi-
4 Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004 schen Wirtschaftsgemeinschaft EWG durch die Römi- lose Konkurrenz der Standorte - die zu einem immer schen Verträge von 1957. größeren Druck auf die Sozialsysteme und den öffentli- Schritt für Schritt folgt dann der Aufbau und die Ent- chen Sektor führt: all das sind Stichworte für die ge- wicklung all jener Institutionen, mit denen heute Europa nannte Entwicklung. identifiziert wird: Europäisches Parlament (1958; zum ersten Mal direkt gewählt 1979), Europäische Kommis- Die Erweiterung W esteuropas gen Osten Westeuropas sion in Brüssel und der Ministerrat, bestehend aus den Und so treibt man denn auch zunächst einmal schlicht Fachministern der Mitgliedsstaaten (1967), Europäischer das Projekt einer westeuropäischen Union weiter voran: Rat (Gipfel der Staats- und Regierungschefs) mit von Der Maastricht-Vertrag schafft die EU, die Europäische Land zu Land „wandernder“ Präsidentschaft. Mit dem Kommission wird zur EU-Kommission, der Ministerrat Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte wird zum Rat der EU usw. Mit enormem Termindruck wird der ein wesentlicher Schritt auf die Union zu getan und der Europäische Binnenmarkt realisiert: Freier Verkehr von Einstieg in den Binnenmarkt geleistet. Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital lauten die Stichworte. Der Vertrag von Amsterdam, auch „Maas- Das Jahr 1989: eine vergebene Chance tricht 2“ genannt, ändert, modifiziert und ergänzt beste- Dann kommt das Jahr 1989 und mit ihm eine komplette hende Verträge und Rechtsakte der Union und vertieft Wandlung der europäischen Situation. Der autoritäre den Integrationsprozess. 1999 schließlich führen elf Län- Staatssozialismus wird von einer friedlichen Revolution zum der den Euro ein: Deutschland, Frankreich, Italien, die Zusammenbruch gebracht. Die Umbruchbewegung strebt Benelux-Staaten, Spanien, Portugal, Österreich, Finn- zunächst nach einer sozialen Erneuerung, die zwischen land und Irland. Staatssozialismus und westlich-kapitalistischem System ei- Die auf diese Schritte folgende Osterweiterung ist un- nen dritten Weg sucht. Mit der Konferenz für Sicherheit ter solchen Bedingungen eben keine Ost-West-Integrati- und Zusammenarbeit in Europa KSZE (später OSZE) hat on, sondern die Erweiterung der (west)europäischen Union sich 1973-1975 bereits ein institutioneller Ansatz einer ge- auf den Osten, der mit neuen Märkten und billigen Ar- samteuropäischen Zusammenarbeit gebildet. beitskräften lockt. Es wiederholt sich im Grund der glei- 1989 schien die Möglichkeit zu eröffnen, in der „ei- che Vorgang, den wir bei der deutschen Einheit erlebt nen Welt“ eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz haben: statt eines Zusammenschlusses auf wirklich glei- zu verwirklichen. Groß waren die Hoffnungen auf die cher Augenhöhe, gibt es eine Art Anschluss der neuen Möglichkeiten, die durch Abrüstung gewonnenen ge- Länder. Nur dass die EU weniger als die Altbundesländer waltigen Finanzmittel in die Entwicklungszusammenarbeit in der Pflicht steht, die Arbeits- und Lebensverhältnisse im zu lenken. Und genauso groß waren die Erwartungen, Osten dem Westen nach und nach anzugleichen. Im sich jetzt endlich den ökologische Problemen stellen und Gegenteil, durch die Osterweiterung drohen eher An- nachhaltige Entwicklung fördern zu können, - Erwar- gleichungsprozesse in anderer Richtung. tungen, die den Erdgipfel der UN in Rio 1992 prägten. Europa hätte die Chance gehabt, in diesen Prozes- sen eine aktiv vorwärtstreibende Rolle zu spielen und Wechselwirkung zwischen WT WTO O und EU gleichzeitig seine eigene Einheit zu vollenden. - Und Über die WTO ist in dieser Zeitschrift schon viel ge- zwar als gleichberechtigte Synthese von Ost und West, schrieben worden, auch über die Rolle der EU inner- im Sinne von Gorbatschows Wort vom „europäischen halb der Welthandelsorganisation und dort speziell ge- Haus“, einem Wort, das damals in aller Munde war. genüber den Ländern des Südens. An dieser Stelle ist Diese Synthese hätte auch in einen dritten Weg zu den die Wechselwirkung zwischen WTO und EU hervorzu- zuvor in Ost und West verwirklichten Gesellschaftsord- heben: Die WTO bezieht durch ihre Abkommen immer nungen münden können. weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ganz oder Aber leider verlief die Entwicklung ganz anders. Neue teilweise in die Handelspolitik ein, z.B. die öffentlichen Kriege und Konflikte brachen aus; Sarajewo, von dem Beziehungsdienstleistungen. Für die Handelspolitik ist der erste Weltkrieg ausgegangen war, wurde wieder Ort aber jeweils die EU zuständig, der durch die Auswei- eines grausamen Gemetzels. 1993 gab der amerikani- tung dieses Politikbereichs automatisch eine größere sche Politologe Huntington die Parole vom „Kampf der Macht zuwächst. Kulturen“ aus. Damit verabschiedete man sich von je- Die gemeinsame Handelspolitik geht auf die römi- dem Versuch, die strukturellen Ursachen kultureller Kon- schen Verträge zurück. In Bezug auf den Warenverkehr flikte zu beseitigen und machte die Unmöglichkeit der machte sie in einem gemeinsamen Markt auch einen Koexistenz der Kulturen faktisch zur Staatsdoktrin. Die gewissen Sinn. Aber was ist, wenn durch die WTO-Ab- Globalisierung, wie sie durch die 1986 gestartete 8. kommen viele Fragen zum Gegenstand der EU-Handels- Handelsrunde des GATT und die aus ihr 1994/95 her- politik gemacht werden, die bisher von den Mitglieds- vorgegangene Welthandelsorganisation WTO vorange- staaten zu regeln waren, nun aber in die Zuständigkeit trieben wurde, war keine mit menschlichem Antlitz, son- der EU fallen? Das kann nur zu einer Aushöhlung des dern sie trug das Gepräge eines Turbokapitalismus, der Subsidiaritätsprinzips unter dem Deckmantel der notwen- nun das gesamte gesellschaftliche Leben dem Kommerz digen WTO-Kompatibilität der EU-Politik führen. auszuliefern droht. Das Anwachsen der Geldspekulation Die Frage der WTO-Kompatibilität spielt auch auf dem und ihre Auswirkungen, z.B. in der Asienkrise, anhal- Feld der Agrarpolitik eine gewaltige Rolle. Bisher prakti- tende Massenarbeitslosigkeit, die einsetzende gnaden- zierte die EU in der Landwirtschaft eine Form der Subven-
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung 5 tionierung, die durch die WTO-Abkommen, insbesonde- Zuegg und ich für die Initiative Netzwerk Dreigliederung re das AoA (Agreement on Agriculture) in Zukunft verbo- eingebracht haben. Unsere Skizze einer „Charta der ten ist. Rund 50 Mrd. Euro, rund die Hälfte ihres Etats, Grundrechte der Europäischen Union“ wurde seinerzeit lässt sich die EU ihre gemeinsame Agrarpolitik kosten. im Rundbrief dokumentiert und ist noch im Internet abzu- Um der WTO gerecht zu werden, müssen diese Beträge rufen.8 Unser Grundgedanke, der damals auch in der gekürzt bzw. in erlaubte Stützungsmaßnahmen, z.B. di- Zeitschrift für Rechtspolitik vertreten wurde, war eine kon- rekte produktionsentkoppelte Einkommenshilfen, umge- sequente Ausrichtung der Charta an den Menschenrech- wandelt werden. Dies geschieht im Rahmen der vom Rat ten und am Grundsatz der Subsidiarität, ganz im Sinne 1999 beschlossenen „Agenda 2000“. dessen, was auch hier über Kriterien einer europäischen Verfassung ausgeführt ist. Durch die Art der Formulie- Effizienz- und Legitimationsdefizit rung der Charta hätte, so unser Ansatz, verhindert wer- soll abgebaut werden den müssen, dass die weitere Integration dazu führt, dass An dieser Stelle wird vielleicht klarer, warum man über- das Schlechtere zum Standard wird - etwa in der Rechts- haupt und gerade jetzt eine EU-Verfassung benötigte, stellung öffentlicher Schulen in freier Trägerschaft oder wo man doch seit 1951 bzw. 1957 ganz gut ohne eine bei der sozialen Sicherheit. Wir formulierten Prinzipien solche zurecht gekommen war. Hätte man nicht einfach und Aufgaben der EU, die sich aus den Grundrechten die Verträge fortschreiben bzw. ergänzen können, um ergeben und machten dabei den Versuch, den die Integration voranzutreiben? Das war jetzt nicht mehr Subsidiaritätsgedanken - horizontale Vernetzung und ausreichend, jedenfalls solange man die EU als Macht- Entscheidungen „vor Ort“ bzw. durch die Betroffenen, block und nicht als Gemeinschaft horizontal vernetzter statt undurchsichtiger hierarchischer Strukturen - konse- staatlicher Territorien, wirtschaftlicher Räume und eigen- quent und prägnant auszugestalten. ständiger Kulturinstitutionen ansah. Ein Machtblock be- nötigt eine ausreichend große Zentralisierung der Zu- Von Nizza über LLaeken aeken nach Thessaloniki ständigkeit für das Ganze. Eine Staatengemeinschaft mit Diese und andere Vorschläge aus der Zivilgesellschaft 25 Mitgliedstaaten, lässt sich nicht effizient als Weltmacht wurden vom Konvent aber nicht aufgegriffen, und zum „steuern“ ohne institutionelle Veränderungen, insbeson- Schluss kam ein Dokument heraus, das nicht voll be- dere ein erweitertes Mehrheitsprinzip. Einer muss sagen, friedigen kann, weder bei den Freiheits-, noch bei wo es langgeht, so immer noch das gängige Denkmuster, den Beteiligungsrechten und bei den Sozialrechten. und im Zweifel ist das die Mehrheit. Unbefriedigend blieb vor allem auch, dass die Charta Aber gerade wenn man diese Steigerung der Effizi- auf dem Ratsgipfel in Nizza im Dezember 2000 nur „pro- enz der EU wollte, musste man auch das Legitimations- klamiert“ wurde, d.h. die in ihr enthaltenen Rechte wa- problem bearbeiten, das die EU offensichtlich hat. Das ren nicht einklagbar. Mit dem Vertrag von Nizza wurde Verfassungsprojekt sollte also nicht nur die EU effizien- gleichzeitig die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehr- ter machen, sondern ihr auch eine größere Akzeptanz heit in der EU bis zu einem gewissen Grad ausgedehnt. bei den BürgerInnen verschaffen. Ob dabei mehr als Nach Nizza kam dann der Prozess in Gang, der der Schein demokratischer Legitimation entstanden ist, ebenfalls in dieser Zeitschrift bereits wiederholt geschil- wird sich zeigen müssen. dert wurde: Ende 2001 beauftragen die Staats- und Re- Wohl auch, um dem Eindruck entgegenzuwirken, gierungschefs der EU einen „Konvent zur Zukunft Euro- die EU sei eine bloße polit-ökonomische Zweckallianz, pas“, Vorschläge für eine grundlegende Erneuerung der und um zu signalisieren, man wolle eine Werte- Verträge auszuarbeiten und Reformen vorzubereiten, an gemeinschaft sein, begann man zunächst mit der Aus- deren Ende ein europäischer Verfassungsvertrag stehen arbeitung einer Charta der Grundrechte. Hierzu setzte soll. Präsident des Gremiums wurde Valéry Giscard man 1999 einen Konvent ein, dessen Leiter der deut- d’Estaing. Im einzelnen wurden folgende Aufgabenfel- sche Ex-Bundespräsident Roman Herzog wurde. Man der für die Erneuerung der Verträge genannt: Bessere ließ zunächst offen, ob diese Charta den europäischen Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der Verträgen nur vorangestellt würde, wie es z.B. noch im EU, Vereinfachung der Instrumente der EU, mehr De- deutschen Koalitionsvertrag der ersten Legislaturperiode mokratie, Transparenz und Effizienz. Zu den 105 Mit- von Rot-Grün formuliert und gefordert wurde. gliedern des Konvents gehörten auch Vertreter der Beitrittsländer, einschließlich der Beitrittskandidaten im Charta der Grundrechte: Wartestand - also auch der Türkei. Vorschläge aus der Zivilgesellschaft Wieder war die Zivilgesellschaft gebeten, Vorschlä- Nach Seattle war es Mode geworden, die Zivilgesellschaft ge einzubringen, was auch die Initiative Netzwerk Drei- in politische Projekte einzubeziehen, wenn auch häufig gliederung erneut tat - in einer Phase, wo von Seiten nur pro forma. So wurden auch Vorschläge aus der Zivil- des Konventspräsidenten nur ein Gliederungsvorschlag gesellschaft zur Charta erbeten. Das eintägige Hearing vorlag, auf den wir Bezug nahmen.9 Übrigens zeigte des Konvents dazu erwies sich dann allerdings eher als sich auch hier wieder, wie schon bei der Charta, dass Farce: 5 Minuten Redezeit pro Organisation, das war’s. es nicht genügt, eine äußerliche Transparenz herzustel- Die Einladung führte jedoch zu einer Reihe höchst inter- len, indem man zum Beispiel alle Dokumente ins Internet essanter Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft. So kam stellt, um eine wirkliche Beteiligung und gesteigertes In- es auch zu den Vorschlägen, die Gerald Häfner, Robert teresse der Menschen zu wecken.10
6 Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004 Entgegen allen Unkenrufen, der Konvent werde ohne Auch das immer wieder angeführte Argument, ein Ergebnis bleiben, gelang dem Gremium ein Verfassungs- entscheidender Fortschritt sei durch die Integration der entwurf. Er wurde dem Ratsgipfel von Thessaloniki, der Charta der Grundrechte erreicht, sticht nicht. Diese bil- am 20. und 21. Juni 2003 zusammentrat, vorgelegt und det den Teil II des Entwurfs. Zwar wird sie dadurch ver- von diesem gebilligt. Zuvor bereits, am 16. April, war in bindlicher: die einzelnen Rechte werden einklagbar. Aber Athen der Vertrag über den Beitritt der neuen Länder un- die Freude darüber währt höchstens so lange, bis man terzeichnet worden. Der Entwurf wurde an die eingangs eines Satzes ansichtig wird, der der Grundrechte-Char- erwähnte Regierungskonferenz überwiesen - an der wie- ta nachgestellt worden ist und der da lautet: „Die Aus- der die Beitrittsländer teilnahmen. Dort stockte der Prozess übung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die zunächst bei der Dezembertagung letzten Jahres und in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, erfolgt musste jetzt wieder in Gang gebracht werden. im Rahmen der in diesen einschlägigen Teilen festge- legten Bedingungen und Grenzen.“ [Artikel II-52 (2)]. Zum Inhalt der EU EU--Verfassung - Das ist eine glatte Umkehrung des rechtsstaatlichen Versuch einer Bewertung Basissatzes, dass die Gesetze und die Rechtsprechung Der Umfang des Entwurfs hat etwas Monströses. Es han- an die Grundrechte gebunden sind, die den Kern der delt sich um den Versuch, zum einen die Ziele der Union, Verfassungen bilden, und nicht umgekehrt die Grund- die Unionsbürgerschaft, die Zuständigkeiten und Institu- rechte durch Einzelbestimmungen begrenzt werden. tionen der Union und die Mitgliedschaft in ihr zu be- Der Präambel war im Entwurf zunächst ein Zitat von schreiben, was im 1. Teil geschieht. Als zweiten Teil hat Thukydides vorangestellt, das das Mehrheitsprinzip zum man die Charta der Grundrechte eingefügt, und Teil 3 Kern der Demokratie erklärt: „Die Verfassung, die wir haben behandelt die Politiken und die Funktionsweise der Uni- ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bür- on und ist eine Art Synopse der bestehenden europäi- ger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist“. schen Verträge. Im Grunde ist das - ganz abgesehen (Thukydides, II, 37) - Menschenrechte sind jedoch gera- von inhaltlichen Bedenken, auf die ich noch eingehen de Minderheitenrechte, Rechte des einzelnen auch ge- werde - viel zu voluminös und ins Detail gehend für eine genüber den Mehrheiten, die ihm diese Rechte nicht Verfassung, die doch die Grundlagen des Zusammenle- schmälern dürfen, weil sie im Wesengehalt unumkehrbar bens beschreiben soll, ohne dieses im Detail zu regeln. und kein Gewährungsakt der Gemeinschaft sind. Auch Teil IV enthält die Schlussbestimmungen, denen sich noch wenn dieses Zitat in der konsolidierten Fassung nicht verschiedene Protokolle anschließen. Dieser Versuch, Dis- mehr auftaucht, bleibt der Vorgang als solcher sympto- parates in einen Text zusammenzubringen, führt schon matisch und unterstreicht, dass die Sorge, der Entwurf formal zu Brüchen und Redundanzen. senke das Grundrechte-Niveau ab (vgl. Kasten), durch- Von offizieller Seite wird gerne auf die folgenden Punk- aus berechtigt ist. Auch wenn formal die nationalen Ver- te hingewiesen, um den durch die Verfassung erzielten fassungen nicht abgelöst werden, sondern voll beste- Fortschritt darzutun: hen bleiben, wird die europäische Verfassung im Rechts- Aus den bisherigen „Europäischen Gemeinschaften“ leben der Union der erste Bezugspunkt sein, wodurch - zu denen als eine auch die EU selbst gehörte - wird eine diese nationalen Verfassungen faktisch auf das Niveau einheitliche Rechtspersönlichkeit „Europäische Union“. Der von Länderverfassungen in einem Bundesstaat herun- EURATOM-Vertrag ist zwar inhaltlich noch nicht wie die tergebracht werden können. anderen Verträge in Teil 3 der Verfassung integriert. Aller- dings wird er ausdrücklich genannt und seine Nach- führung wird verbindlich gemacht. Insofern ist das Argu- Des Pudels Kern: Die mächtige EU ment deutscher Grüner, sie hätten EURATOM aus der bekommt noch mehr Macht Verfassung herausverhandelt, nicht zutreffend. - Die Schaf- „Der Rat, in dem Vertreter der nationalen Regierungen fung des Amts eines Europäischen Außenministers soll sitzen, ist vereinfacht gesagt das gesetzgebende Organ zur Stärkung der Zuständigkeit der EU beitragen. - Ein 2 der Union. In einigen Bereichen - zu denen die wichtig- ½ Jahre amtierender Ratspräsident ersetzt die jetzige alle sten gar nicht gehören - teilt der Rat seine Entscheidungs- 6 Monate rotierende Ratspräsidentschaft. - Die Mitwir- macht mit dem Europaparlament (nicht sehr demokra- kung des Europäischen Parlaments wird in einigen Punk- tisch!) Das war vertretbar, solange es meist Konsens- ten verbessert. So darf es jetzt den Kommissionspräsidenten entscheidungen gab. Dieses so genannte Mitentschei- bestätigen. - Auch wird es - was eine echte Überraschung dungsverfahren gilt laut Nizza-Vertrag für 37 Politikfelder darstellt - ein sogenanntes europäisches Bürgerbegehren und soll nach dem jetzigen Verfassungsentwurf auf ins- geben. Dieses führt allerdings nur bis zur Befassung der gesamt 80 Bereiche ausgeweitet werden. - In 57 Berei- EU-Kommission mit den entsprechenden Anliegen, nicht chen (darunter so wichtigen wie Steuer- und Sprachen- jedoch zu einer Volksabstimmung. politik, soziale Sicherung und Verteidigung) kann der Diese Punkte sind aber durchaus nicht ausreichend, Rat laut Verfassungsentwurf nur einstimmig beschließen. um die Bedenken auszuräumen, die sich aufgrund ei- In den übrigen, rund 100 Bereichen genügt die qualifi- ner ganzen Reihe anderer Bestimmungen ergeben. Ein zierte Mehrheit. Und hier wird die Sache kompliziert.“ Informationsmaterial der Attac-EU AG Stuttgart und Re- Das schreibt Le Monde diplomatique Nr. 7259 vom gion fasst diese Kritikpunkte plakativ, aber zugleich sach- 16.1.2004 und benennt damit des Pudels Kern. Es geht lich prägnant zusammen (siehe Kasten).11 um Macht und stärkere Zentralisierung.
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung 7 Die EU EU--Verfassung fällt bei der demokratischen Eignungsprüfung durch! Dem EU-Parlament, werden grundlegende Rechte vorenthalten. Es hat z. B. kein Recht, die EU-Gesetzgebung einzuleiten. In keiner Verfassung der Mitgliedstaaten der EU ist eine solche Entmachtung des Parlaments in der Außenpolitik festgeschrieben. So heißt es in Art. I-39: „Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört und [...] auf dem Laufen- den gehalten“. Allein der „Europäische Rat und der Ministerrat erlassen die erforderlichen Europäischen Beschlüs- se.“ Die einzige Institution, die direkt vom Volk gewählt wird, soll z. B. bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte nichts zu bestimmen haben! Sozialbindung des Eigentums wird vernachlässigt Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legt keinerlei Bekenntnis zum marktwirtschaftlichen Kapitalis- mus ab. Es erklärt ausdrücklich, dass der Gebrauch des Eigentums „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll (vgl. GG Art. 14 + 15). Ganz anders der Entwurf der europäischen Verfassung. Er sieht keine solche grundlegen- de Sozialbindung des Eigentums vor (Art. II-17). Wettbewerb und W achstum haben V Wachstum orrang vor Beschäftigungssicherung und LLebensqualität Vorrang ebensqualität Der Verfassungsentwurf verpflichtet die Wirtschaftspolitik auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. III-69) und Wirtschaftswachstum (Art. I-3). Beschäftigungspolitik soll sich darauf beschränken, die „Verwendbarkeit“ und die „Anpassungsfähigkeit“ der Arbeitnehmer an die industriellen Wandlungsprozesse und Veränderungen der Produktionssysteme zu verbessern (Art. III-113, III-97). Als Hauptziel der Agrarpolitik wird vorgegeben, die Produktivität der Landwirtschaft durch technischen Fortschritt und Rationalisierung zu steigern (Art. III-123). Wollen wir solche Ziele in der EU-Verfassung verankert haben? Der Entwurf enthält an zahlreichen Stellen weitere Festlegungen auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik: Die schädlichen Folgen einer solchen Politik werden zunehmend deutlich. Die EU-Kommission sorgt schon heute in Europa und bei der Welthandelsorganisation (WTO) dafür, dass Handelsinteressen Vorrang vor sozialen oder ökologischen Anliegen erhalten. Nach den WTO-Regeln gelten z. B. Importverbote gegen hormonbehandeltes Fleisch oder GEN-Food als Handelshemmnis und sind verboten. Art III- 217 des Verfassungsentwurfs legt die EU noch stärker auf diese Politik der WTO fest. Heute bereits ist die Handels- politik den Nationalstaaten weitgehend entzogen. Der EU-Handels-Kommissar schaltet dabei quasi im Alleingang. Freie FFahrt ahrt für Sozialabbau und K ommerzialisierung öffentlicher Güter Kommerzialisierung Gegenwärtig erleben wir, dass den Schwachen immer größere Lasten aufgebürdet werden. Der grundrechtlich garantierte Zugang zu Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung ist gefährdet, weil der bislang öffentliche Sektor immer stärker für den Kommerz geöffnet wird. Die konkreten Planungen sind auf EU-Ebene schonweit fortgeschrit- ten. In Art. III-29 des Entwurfs heißt es: „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union [...] sind [...] verboten“. Verpflichtung zur Aufrüstung Der Verfassungsentwurf bringt dramatische Veränderungen im Bereich militärischer Sicherheitspolitik. „Die Mitglied- staaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. I-40). Aufrüstung wird Pflicht, obwohl jetzt schon die Rüstung das Geld verschlingt, das dringend für soziale Aufgaben benötigt wird. Es wird ein „Amt für Rüstung“ (nicht Verteidigung!) eingerichtet. Außerdem sollen die EU-Streitkräfte Kampfeinsätze durchführen können, unter anderem auch im Hoheitsgebiet von Drittstaaten zur Unterstützung der „Terrorismus- bekämpfung“ (Artikel III-210). Das kann als Vorwand für militärische Interventionen in Konflikte überall auf der Welt dienen. Grundrechtsniveau wird abgesenkt Der EU-Verfassungsentwurf bedeutet eine Absenkung des Grundrechtsniveaus gegenüber dem deutschen Grund- gesetz. Das geht so weit, dass man die Charta der Grundrechte, die in die Verfassung aufgenommen wurde, durch einen Nachsatz, der die Grundrechte unter Vorbehalt stellt, faktisch weitgehend entwertet hat: „Die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, erfolgt im Rahmen der in diesen einschlägigen Teilen festgelegten Bedingungen und Grenzen.“ [Artikel II-52 (2)]. Deshalb bestehen gegen die Unterzeichnung des EU-Verfassungsentwurfs auch schwere verfassungsrechtliche Bedenken. Attac EU-AG Stuttgart und Region. Kontakt: eu-ag@sozialimpulse.de. Das gesamte Informationsmaterial kann im Internet heruntergeladen unter http://www.sozialimpulse.de/EU-Verfassung-Flyer.htm. Zu beachten ist, dass sich die Nummern der zitierten Artikel in der inzwischen vorliegenden konsolidierten Fassung des Textes geändert haben.
8 Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004 An dieser Stelle entstand die Meinungsverschieden- stimmungen nicht genau vorhersehbar - und außerdem heit über das komplizierte Problem der qualifizierten Mehr- abhängig davon, wie sich die öffentliche Debatte vor- heit, die zum Scheitern des Dezembergipfels geführt hat. her noch entwickelt. Spanien und Polen hatten sich gegen das Prinzip der Die Projektbefürworter bekommen ein ernstes Pro- „doppelten Mehrheit“ gesträubt. Es sah vor, dass ein blem bereits dann, wenn ein Land nicht mitmacht, denn Beschluss dann als akzeptiert gilt, wenn mindestens 50 das Projekt ist auf Konsens angelegt. Ein Sprecher der Prozent der EU-Länder zustimmen und die zustimmen- EU-Kommission hat jüngst bekräftigt, bei einem Nein in den Länder 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsen- einem Land könne die Verfassung nicht in Kraft treten. tieren. Inzwischen haben die Opponenten eingelenkt und In einer Anlage zum Entwurf heißt es zu diesem Thema am 18. Juni 2004 der neuen Formel „55 Prozent der lediglich: „Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach Staaten, 65 Prozent der Bevölkerung“ zugestimmt.12 der Unterzeichnung des Vertrags über die Verfassung Zur Beurteilung der Machtstrukturen der EU ist noch vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag die Arbeitsweise der Ministerräte zu berücksichtigen, die ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat oder mehreren ja im Grunde das zentrale Gesetzgebungsorgan sind. Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation auf- Diese sind „zusammengesetzt aus Ministerialbeamten der getreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der Mitgliedsländer und formal angeführt von zumeist ahnungs- Frage.“14 losen Ministern. Über 90 Prozent aller Entscheidungen fal- Es wird also noch spannend werden. Denn wenn es len bereits im ‘Coreper’, dem bei den Wählern gänzlich wirklich zu einem Nein kommt, ist vieles wieder offen. unbekannten ‘Rat der ständigen Vertreter’. Ergebnis dieser Dann gibt es verschiedene Optionen, bis hin zu einem Hinterzimmergesetzgebung sind dann jene Richtlinien, die Europa der zwei Geschwindigkeiten auch auf der als geltendes europäisches Recht von nationalen Parla- Verfassungsebene. menten nur noch ‘umgesetzt’ werden. De facto schreibt sich so die Exekutive ihre Gesetze selbst. Jeder Staat, der Referendum in allen Ländern gleichzeitig? so verfasst wäre wie die Union, könnte niemals deren Mit- In den letzten Monaten wurde auch der Gedanke eines glied werden.“13 gesamteuropäischen Referendums ins Gespräch gebracht. Man muss dies als Irreführung der Öffentlichkeit bezeich- Es gibt gute Gründe, zum Entwurf Nein zu sagen nen. Mangels gesetzlicher Grundlage wäre das Ergebnis Das über zentralistische Tendenzen Gesagte wird bestä- nicht verbindlich und hätte allenfalls konsultativen Cha- tigt durch meine eigene Wahrnehmung bei einer Podi- rakter. Ein Nein einzelner Länder würde in einem Ja einer umsdiskussion mit Vertretern der großen Parteien im Stutt- europäischen Mehrheit untergehen. Das würde die gan- garter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, bei der klar wur- ze Verfassungskonstruktion auf den Kopf stellen, die ja de, dass im Grunde ein europäischer Einheitsstaat das auf der Zustimmung der einzelnen Länder beruht. Es gibt Ziel und Ideal der politischen Klasse ist, auch wenn sie kein europäisches Staatsvolk! Vielmehr müssen die das bis vor einiger Zeit noch vehement abgestritten hät- BürgerInnen und Bürger in jedem Land entscheiden, ob te. Dieser Ansatz ist eine logische Konsequenz aus der und welche Verfassung der EU sie akzeptieren. traditionellen Art, den Staat zu denken. Wirkliche Leh- Selbst wer nur einzelne Veränderungen der Verfas- ren aus der Geschichte werden mit dieser Verfassung sung wünscht, muss sich sagen, dass niemand ohne nicht gezogen, bürokratische Hürden gegen die freie Not das Verfassungs-Paket noch einmal aufschnüren Kultur nicht beseitigt, dagegen Freifahrscheine für die wird, dass also der einzige Weg, um etwas anderes zu Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors erteilt. Frei- bekommen, über das Scheitern des Projekts in der ge- heit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit werden zwar genwärtigen Form führt. beschworen, jedoch drohen sie jeweils an den falschen Ort zu geraten: nämlich dorthin, wo Freiheit zu Willkür, Warum ein R eferendum auch Referendum Gleichheit zur Gleichmacherei und Geschwisterlichkeit in Deutschland so wichtig wäre zur Vetterleswirtschaft wird. Natürlich kann man für ein Referendum sein auch wenn Solange aber eine EU-Verfassung nicht konsequent man den Verfassungsentwurf befürwortet. Aber die mit an Menschenrechten und Subsidiarität orientiert ist, kann dem Referendum verbundene Diskussion ist eine Chan- man gerade aus dem Ja zu Europa ein Nein zu ihr ce gerade für die Kritiker des Entwurfs, das Informations- begründen. Die Gleichsetzung „Gegner des vorliegen- defizit über dessen Inhalte zu beheben. Insofern bietet den Entwurfs = Verfassungsgegner = Gegner Europas“ die Frage des Referendums auch viele Ansatzpunkte zur ist demagogisch und unerträglich. Zusammenarbeit der globalisierungskritischen und der Demokratiebewegung in der Verfassungsfrage. Wie geht es weiter? Im letzten Jahr sind die beiden Bewegungen zunächst Ich komme auf den Anfang zurück. Nach der bevorste- enger zusammengerückt. Die Strömungen der Zivil- henden Unterzeichnung treten wir in die Phase der Aus- gesellschaft in Europa, die sich vor allem für globale einandersetzung um die Ratifizierung der Verfassung ein. soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, haben begon- Dann werden in mindestens neun Ländern die Bürge- nen, nicht nur ganz allgemein ein soziales Europa zu rinnen und Bürger selbst gefragt sein. Und seit überra- fordern, sondern sich für die Einzelheiten der Verfas- schender Weise Tony Blair für Großbritannien ein Refe- sungsdiskussion zu interessieren und sich kritisch mit rendum angekündigt hat, ist bei den Befürwortern des der EU-Verfassung auseinander zu setzen. Dabei ist auch Verfassungsprojekts große Sorge aufgekommen, es wer- das Bewusstsein für die Anforderungen an einen demo- de sich in England eine Mehrheit gegen den Text fin- kratischen Entstehungsprozess einer Verfassung und an den. Auch in anderen Ländern ist das Ergebnis der Ab- eine Verabschiedung durch Bürgerentscheide gewachsen.
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung 9 Umgekehrt entwickelte sich in der Demokratiebewegung, Anmerkungen sichtbar an den Publikationen etwa von „Mehr Demo- 1 Es handelt sich um einen Extrakt aus verschiedenen Vorträ- gen, die der Autor in den letzten Monaten, vor ganz unterschied- kratie e.V.“, ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendig- lichem Publikum, zum Thema gehalten hat. Die im Juni im Rund- keit, sich der neoliberalen Form der Globalisierung zu brief Dreigliederung veröffentlichte Fassung wurde im Oktober noch einmal im Hinblick auf neue Entwicklungen geringfügig widersetzen. Dadurch wurde bei vielen Mitwirkenden der revidiert. Bewegung der Blick in bezug auf die Verfassung dafür 2 Vgl. C. Strawe: Verfassung der Europäischen Union: Die Zivil- geschärft, dass diese nicht nur wegen der formalen Defi- gesellschaft macht mobil. Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, 14. Jg., Heft 4, Dezember 2003. zite ihrer Entstehung bzw. Inkraftsetzung, sondern vor al- 3 Der Text kann heruntergeladen werden unter: http://european- lem auch wegen ihrer marktfundamentalistisch orientier- convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf. Die konsolidier- ten Inhalte zu kritisieren sei. te Fassung, bei der besonders die Abweichungen in der Numerie- rung der Artikel zu beachten sind, findet sich unter http://ue.eu.int/ Um so bedauerlicher sind Tendenzen, diese Annähe- cms3_applications/Applications/igc/ rung zu behindern oder rückgängig zu machen. So ist es doc_register.asp?lang=DE&cmsid=576 zum Beispiel schwer verständlich, dass bei einem Rats- 4 Vgl. Annette Groth: Konzern Europa. In: Rundbrief Drei- gliederung des sozialen Organismus, 15. Jg. Heft 1/2004. treffen von Attac Deutschland eine Sperrminorität ver- 5 Vgl. http://mehr-demokratie.de/bu/pdf/studie_eu-ve.pdf hinderte, dass die Forderung nach einem Referendum in 6 Vgl. Aufruf zum Projekt „EU 21“ - Für eine europäische Ver- eine verfassungskritische Erklärung aufgenommen wurde. fassung von unten, www.sozialimpulse.de.aufruf.htm Von dem Erfolg der Bemühungen, die Anliegen der 7 Richard N. von Coudenhove-Kalergi: „Ein Leben für Europa. Meine Lebenserinnerungen“. Köln/Berlin 1966 (Verlag verschiedenen Strömungen der Zivilgesellschaft, stärker Kiepenheuer und Witsch), S. 21. Zitiert nach: Gerold Aregger: miteinander ins Gespräch zu bringen und soweit als Der Wegbereiter der „Europäischen Gemeinschaft“. Welches Eu- ropa? In: „Gegenwart“. Nr. 3/4 1992. möglich gemeinsam zu handeln, wird in Zukunft sehr 8 http://www.sozialimpulse.de/skizze.htm viel abhängen.15 9 h t t p : / / w w w. s o z i a l i m p u l s e . d e / Te x t e _ h t m l / verfassungsvertrag.htm Gibt es einen W eg zu einem Weg 10 An einigen Stellen wurde sogar regelrechte Desinformation betrieben: so wurde ein Deutschland ein kleines Taschenbuch, Verfassungsprozess von unten? das nur Teil I und II des Gesamtentwurfs enthält, von offizieller Ein Referendum über einen fertigen Entwurf, zu dem man Seite als „der“ Verfassungsentwurf verbreitet. Viele problemati- sche Regelungen finden sich vor allem im Teil III, der dreimal so nur Ja oder Nein sagen kann, ist noch kein Verfassungs- umfangreich ist wie die Teile I und II zusammen. prozess von unten, wie er bereits in dem Aufruf „EU 21“ 11 Karl Müller weist auf weitere Kritikpunkte hin, u.a. auf die gefordert wurde. In diesem Grundanliegen stimme ich Untergrabung der Autonomie der Mitgliedsstaaten und der Sub- sidiarität, schwere Demokratiedefizite und das Fehlen einer kla- den Argumenten der IG Eurovision (S. 31ff. in diesem ren Gewaltenteilung. 10 Neuralgic Points of the Constitution for Heft) zu. Was ich nicht teile, ist die Auffassung, wegen Europe, http://www.currentconcerns.ch/archive/2004/03/ 20040311.php des genannten Defizits des Referendums sei dieses im 12 Bestandteil des Kompromisses sind auch Zusatzklauseln, in Grund eine zu vernachlässigende Größe. Denn es ist denen für bestimmte Einzelfälle veränderte Stimmrechte veran- zu befürchten, dass die Forderung nach einem Verfas- kert wurden. Ein Veto gibt es weiterhin in der Steuerpolitik und weiten Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik. Ein sungsprozess von unten kein nennenswertes Echo mehr Kompromiss wurde auch bei der strittigen Frage der Zusammen- findet, wenn der jetzt vorliegende Verfassungsentwurf erst setzung der Kommission gefunden: Bis zum Jahr 2014 entsendet jedes Land wie bisher einen Kommissar nach Brüssel. Danach einmal in Kraft gesetzt ist. Nur wenn das Verfassungs- wird die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedsländer projekt in der gegenwärtigen Form scheitert - und das reduziert, um die Effizienz zu erhöhen. Eine Rotation soll dazu wird mit hoher Wahrscheinlich nur durch den negativen führen, dass kein Land benachteiligt wird. Die Rotation bedeutet, dass jedes Land für eine gewisse Periode keinen Vertreter in der Ausgang eines oder mehrer nationaler Referenden ge- Kommission haben wird. schehen können -, dann und nur dann öffnet sich wie- 13 Harald Schumann: Verhöhnung der Demokratie. Die Euro- pawahlen sind eine Farce. Denn noch immer bestimmt die Brüs- der ein Raum, in dem - vielleicht - ein Verfassungsprozess seler Beamtendiktatur, was in der EU passiert - und nicht das von unten entstehen kann. Ein Verfassungsprozess ohne Europäische Parlament. taz Nr. 7380 vom 11.6.2004, Seite 11. Zeitdruck, in dem die Kreativität der Zivilgesellschaft in Ein wichtiges Thema sind Kompetenzzuweisung und Kompetenz- aneignung durch die EU-Ebene. Bereits in der Vergangenheit war der Entwicklung der Verfassung zur Geltung kommen es so, dass die EU-Kommission die Methode der Koordinierung kann. „Vielleicht“ sage ich deshalb, weil Appelle allein angewendet hat, um ihren Einflussbereich auszuweiten. Ein Ein- dazu nicht genügen. Es wird vielmehr eines gehörigen fallstor für EU-Regelungen ist auch die Flexibilitätsklausel (I-17). Diese Flexibilitätsklausel gab es bislang auch schon, sie erlaubte Maßes an sozialer Kunst bedürfen, um die richtigen ein Tätigwerden der EU im Hinblick auf den Binnenmarkt, wenn Partner in einem echten Dialog zusammenzuführen. die Befugnisse für die Union formal sonst nicht vorgesehen wa- ren. Unter Berufung auf die Flexibilitätsklausel sind in der Ver- Die Menschen in den Staaten der EU müssen sich gangenheit 500 - 700 Rechtsakte erlassen worden!!! In der EU- selbst um die Zukunft Europas kümmern. Bei dieser Zu- Verfassung wird nun die Flexibilitätsklausel auf alle Politikberei- che ausgedehnt! - Das Prinzip der Subsidiarität wird unterminiert, kunft geht es um weit mehr als um einen geschriebenen weil die nationalen Parlamente völlig unwirksame Rechte zum Verfassungstext. Es geht um die „Verfassung“ Europas Schutz der Subsidiarität erhalten (s. Protokoll über die Anwen- dung der Grundsätze der Subsidiarität am Ende der Verfassung). im Sinne seiner sozialen Befindlichkeit. Der Aufschwung Zum anderen gilt selbst in den Bereichen geteilter Zuständigkeit zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die dadurch ermög- zwischen Union und Mitgliedstaaten der Vorrang der Union: Die lichten unerwarteten Wendungen, die die Ereignisse bei Mitgliedstaaten dürfen tätig werden, wenn die Union untätig bleibt. (s. I-11(2). Vgl. Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie? den WTO-Gipfeln in Seattle und Cancun genommen Die Europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alterna- haben, deuten darauf hin, dass eine Alternative durch- tiven. PapyRossa Verlag, Köln 2004. Den Hinweis auf die Aussa- gen des Buches verdanke ich Elke Schenk. gesetzt werden kann, wenn sich genügend viele Men- 14 Erklärung für die Schlussakte über die Unterzeichnung des schen dafür engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger in Vertrages über die Verfassung. den Staaten der EU sollten sich nicht einreden lassen, 15 Vgl. EU-AG-Kontrovers: Soll sich Attac der Kampagne für dass sie doch nichts ausrichten können. Sie sollten sich ein Referendum über die EU-Verfassung anschließen? Anette Groth, Christoph Strawe: Pro Referendumskampagne: Nein zu vielmehr selbst für die Ausgestaltung des europäischen einem Europa ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. 5. Hauses verantwortlich fühlen. Newsletter der EU-AG.
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