Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung - Ein Diskussionsbeitrag

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Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung                                                                             1

                     Zur Auseinandersetzung
                      um die EU-Verfassung
                                                Ein Diskussionsbeitrag*
                                                                                                      Christoph Strawe
Der vorliegende Entwurf einer Verfassung der Europäi-          dass es die Angst so vieler Menschen gibt, dass die
schen Union sollte eigentlich am 9. Mai unterzeichnet          Osterweiterung zu einer Abwärtsspirale führen werde,
werden, noch vor den Wahlen zum Europa-Parlament               was Arbeitsplatzsicherheit und Lohnniveau angeht. Vor
am 13. Juni. Aber es hatte bei einer Regierungskonferenz       allem sind es Fragen nach der Politik der EU und die
im Dezember zunächst unüberbrückbare Meinungsver-              Sorge über vieles, was in dem Verfassungsentwurf steht
schiedenheiten in der Frage der Mehrheitsbildung inner-        - oder nicht steht -, die den Jubel dämpfen oder gar
halb der EU gegeben.2 Inzwischen wurden die Streitpunkte       nicht erst nicht aufkommen lassen.
bei einer weiteren Konferenz der Staats- und Regierungs-            Der Verfassungsentwurf ist in der Bevölkerung kaum
chefs am 17. und 18. Juni in Brüssel ausgeräumt, so            diskutiert worden, ja weitgehend nicht einmal in Grund-
dass der Unterzeichnung nichts mehr im Wege steht, die         zügen bekannt.3 Ist es da nicht höchste Zeit, dass die
jetzt am 29. Oktober 2004 in Rom stattfinden soll.             Bürgerinnen und Bürger ihn zur Kenntnis nehmen und
     Seit dem 1. Mai ist die sogenannte Osterweiterung         beginnen, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzu-
der EU vollendet. Die Union hat jetzt 25 Mitglieder. Zu        mischen? Es kann doch nicht sein, dass die Grundlage
den „Altmitgliedern“ Frankreich, Deutschland, Italien,         für das Zusammenleben in Europa von den Bürgerin-
Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die sich              nen und Bürgern nicht wirklich getragen wird!
1957 zur EWG zusammengeschlossen hatten, waren                      Schon heute werden mehr als 50% aller neuen Re-
1973 Großbritannien, Irland und Dänemark dazu-                 gelungen, die für die BürgerInnen in den EU-Staaten
gestoßen, 1976 Griechenland, Spanien und Portugal.             verbindlich sind, von Brüssel vorgegeben. Geregelt wird
Nachdem durch den Vertrag von Maastricht 1992/93               vieles, bis zum Krümmungsgrad von Euro-Gurken (Ver-
eine politische Union entstanden war, hatten sich dieser       ordnung 1677/88 der Brüsseler Kommission vom 15.
1995 noch Österreich, Schweden und Finnland ange-              Juni 1988). Neben den Verordnungen sind es die Richt-
schlossen. Dass Rumänien und Bulgarien bald eben-              linien, die von Brüssel erlassen werden und von den
falls aufgenommen werden, gilt als sicher. Ob die eben-        Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden
falls im Wartestand befindliche Türkei die Vollmitglied-       müssen, die diesen zunehmenden Einfluss begründen.
schaft erhält, wird noch kontrovers diskutiert. Am 17./        In Brüssel wiederum ist eine höchst effektive Konzern-
18. Juni erhielt schließlich auch Kroatien den Status          lobby am Werk, deren Einfluss auf die europäische Po-
eines Beitrittskandidaten.                                     litik kaum zu überschätzen ist.4
     Die Größe der Union darf aber nicht davon ablen-               Gleichzeitig entwickelt sich die Europäische Union
ken, dass sie nicht ganz Europa umfasst. Der Ausdruck          ohne echte Bürgerbeteiligung weiter. Ein solches Euro-
„Europäische Verfassung“, der vielfach verwendet wird,         pa „von oben“ aber erzeugt keine Europa-Begeisterung,
ist daher eigentlich eine Anmaßung. Denn die Schweiz,          sondern nur Europa-Verdruss - das ist in der geringen
Norwegen und die nicht der EU angehörenden osteu-              Beteiligung bei den Parlamentswahlen sichtbar gewor-
ropäischen Länder sind doch ohne Zweifel auch inte-            den.
graler Bestandteil Europas.
                                                               Es ist zwar spät, aber noch nicht zu spät...
Gemischte Gefühle ...                                          Internationale Verträge bedürfen der Ratifizierung. Bis
Die Bilder von den Feiern in den Hauptstädten der Beitritts-   Ende 2006 haben die Mitgliedstaaten der EU für die
länder lassen keinen Zweifel daran, dass der Beitritt min-     Ratifizierung der Verfassung Zeit. Die Ratifizierung er-
destens von Teilen der Bevölkerung mit echter Freude, ja       folgt durch die Parlamente bzw. durch die Bürgerinnen
mit Jubel begeleitet wurde. Gefühle, die ihre reale Grund-     und Bürger direkt. Das heißt, dass in einer ganzen Rei-
lage darin haben, dass sich in Europa die Nationen nicht       he von europäischen Ländern Volksabstimmungen statt-
mehr gegenseitig zerfleischen werden und dass auch die         finden werden. Solche Referenden würden die Chance
Spaltung des Kontinents in feindliche Systeme überwun-         bieten, das Verfassungsprojekt doch noch in einer brei-
den ist. So drückte Beethovens Vertonung von Schillers         teren Öffentlichkeit zu diskutieren.5
Ode an die Freude, die als Europa-Hymne bei den Fei-               Es ist schlimm genug, dass der Entwurf nicht aus ei-
ern erklang, die Stimmung vieler Menschen aus.                 nem Verfassungsprozess von unten hervorgegangen ist,
    Dennoch zögert man, in den Jubel einzustimmen.             wie er u.a. auch von der Initiative Netzwerk Dreigliederung
Nicht nur, dass die Europa-Wahlen dann gezeigt ha-             gemeinsam mit der IG-Eurovision und den Intercitizens
ben, wie viele Menschen in den Beitrittsländern der EU         Conferences (ICC) in einem Aufruf zum Projekt „EU 21“
skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Nicht nur,            im Oktober 2000 gefordert worden war.6 Um so schlim-
* geringfügig revidierte Fassung vom 15.10.04
2                                                                              Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004

mer wäre es, dem Souverän nicht wenigstens das letzte         denzen einer McWorld und eines von den USA bestimm-
Wort darüber zu lassen, ob er die Verfassung in dieser        ten Empire von großer Bedeutung wäre, die Rolle einzel-
Form überhaupt will oder nicht. Im Falle der Ablehnung        ner Regionen im Menschheitsorganismus konstruktiv zu
stünde dann natürlich auch die Form, in der ein neuer         beschreiben, - schon um einer Geopolitik, die sich un-
Entwurf entstehen könnte und die Beteiligung der              ter umgekehrtem Vorzeichen an geopolitisch-macht-
Zivilgesellschaft am Entstehungsprozess neu zur Disposi-      strategische Überlegungen orientiert, Paroli bieten zu
tion.                                                         können. Ebenso muss darauf abgehoben werden, dass
     Zu den Schlusslichtern in Sachen direkte Demokra-        bestimmte Werte zwar historisch in Europa zum ersten
tie in Europa gehört die Bundesrepublik Deutschland.          Mal artikuliert wurden, aber eben gerade keine
Dies, obwohl das deutsche Grundgesetz davon spricht,          eurozentristische, sondern global-menschheitliche Bedeu-
dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in „Wahlen          tung haben. Das geht so weit, dass die Kritik an dem,
und Abstimmungen“ ausgeübt wird (Art. 20, 2). Nur             was Europa dem Süden der Welt angetan hat und noch
wurde dieses Abstimmungsrecht bisher nicht umgesetzt.         antut, eben diese Werte von Freiheit, Gleichheit, sozialer
Ein Vorstoß der Regierungskoalition in der vorigen Le-        Gerechtigkeit und Solidarität gegen Europa wendet. Wir
gislaturperiode, dies über eine Verfassungsänderung zu        haben gegen unsere eigenen Ideale verstoßen. Das sollte
erreichen, scheiterte wegen der hierfür erforderlichen        uns als Europäer darauf aufmerksam machen, dass wir
Zweidrittelmehrheit an der Verweigerung von CDU und           gerade bei der weltweiten Verwirklichung dieser Ideale,
CSU. Absurderweise und im Widerspruch zu ihrer eige-          die in Europa ihren historischen Quellpunkt haben, eine
nen Initiative verweigerte die SPD ein Referendum über        Aufgabe haben, der Welt zu dienen und nicht bloß Eu-
die EU-Verfassung. Edmund Stoiber dagegen forderte            ropa als territorialem Gebilde.
es und auch die FDP vertrat es lautstark. Die Grünen              So gesehen geht es auch nicht an, was „europä-
fassten auf ihrem Dresdner Parteitag einen entsprechen-       isch“ ist zu messen an der Faktizität der Brüsseler Büro-
den Beschluss, - was aber Außenminister Fischer zu-           kratie - die in einzelnen Aspekten durchaus eher alt-
nächst nicht anfocht, bei seinem Nein zu bleiben, für         ägyptische Züge trägt als europäische. Vielmehr wären
das er die demokratietheoretisch atemberaubende Be-           die europäischen Institutionen an den genannten euro-
gründung fand, wegen der besonderen historischen Be-          päischen Werten zu messen und da umzuformen, wo
deutung der in Frage stehenden Entscheidung sei das           sie diesen nicht entsprechen.
Volk damit nicht direkt zu befassen. Eine Forsa-Umfra-
ge beweist, dass eine große Mehrheit der Deutschen -          Individualisierung und Globalisierung
74 % - für ein solches Referendum ist; noch mehr, näm-        In Europa hat das seinen Ausgang genommen, was wir
lich 87 %, sprechen sich generell für Bürgerentscheide        Individualisierung nennen, das moderne Selbst-
aus. Mit dem Thema lassen sich also Stimmen gewin-            bewusstsein, der Mündigkeitsimpuls, der individuelle
nen. Wohl deshalb ist seit Ende September 2004 nun            Wille, Gesetzgeber des eigenen Lebens zu sein und die
plötzlich auch bei der SPD die Rede davon, dass die           Gemeinschaft nicht länger als Vormund über sich zu
Voraussetzungen für eine Volksabstimmung im Herbst            dulden. Mündigkeit, in sozialer Verantwortung gelebt,
2005 geschaffen werden sollen.                                kann zum Ausgangspunkt neuer menschlicherer Gemein-
     Wie immer man im einzelnen die Entwicklung ein-          schaftsformen werden, die auf dem Respekt vor der
schätzen mag, sicher ist, dass ein Referendum auch in         Diversität der sie konstituierenden Freiheit jedes Einzel-
Deutschland bessere Chancen bieten würde, über die            nen aufgebaut sein. Wird diese Verantwortung verfehlt,
Inhalte der Verfassung endlich öffentlich zu debattieren.     verformt sich der Individualismus - statt zum solidari-
Diese Inhalte spielen bisher selbst da kaum einen Rolle,      schen Individualismus zu werden - in Egozentrismus.
wo die Medien wenigstens punktuell von dem Verfas-                Dieses Prinzip der Egoität, der Jagd nach dem eige-
sungsprojekt Notiz nehmen.                                    nen Vorteil, notfalls auf Kosten anderer, wird in die Welt
                                                              getragen durch die ebenfalls von Europa ausgehende
Die europäische V       erfassung im Lichte der
                      Verfassung                              Bewegung der Globalisierung. Diese begann, indem eu-
Aufgaben Europas in der heutigen W             elt
                                             Welt             ropäischer Entdecker und Kolonisatoren den Globus im
Für eine öffentliche Diskussion braucht man nicht nur         wahrsten Sinne des Wortes er-fuhren. Das wirtschaftli-
Detailargumente, sondern vor allem grundlegende Ge-           che Geflecht, das sich in dieser Epoche bilde, ist zwar
sichtspunkte zur Beurteilung eines europäischen               untergründig ein Netzwerk von Zusammenarbeits-
Verfassungsprojekts. Die europäische Vergangenheit im         beziehungen in einer Fremdversorgungswirtschaft, die
Guten wie im Bösen und die Geschichte der europäi-            letztlich die Geschwisterlichkeit zur ökonomischen - nicht
schen Einigung, sie geben wichtige Gesichtspunkte - aber      bloß allgemein moralischen - Notwendigkeit macht. Aber
nur in dem Maße, indem wir aus ihnen und aus dem              dieser Unterstrom der Globalisierung ist zunächst über-
Blick auf die Aufgaben der Zeit die Zukunftsaufgaben          deckt von der krassen Unbrüderlichkeit einer Ökono-
Europas in der Welt abzulesen vermögen.                       mie, in der die Jagd nach Surplus zum Selbstzweck wird.
    In Teilen der Zivilgesellschaft tut man sich mit dieser
Frage manchmal unnötig schwer, weil man besorgt ist,          Freiheit, Gleichheit, Solidarität
durch eine Reflexion auf die Aufgaben Europas in einen        und Subsidiarität im Mittelpunkt
Eurozentrismus zurückzufallen. Man sollte sich indes klar-    Ein Verfassung, wie immer man sie sonst sehen mag,
machen, dass es gegenüber den uniformierenden Ten-            vermittelt ein Stück Identitätsbewusstsein. Wahre Identi-
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung                                                                             3

tät zu erlangen aber ist unmöglich ohne die Auseinan-         bensbekenntnis in die Präambel der Verfassung aufzu-
dersetzung nicht nur mit den eigenen Möglichkeiten und        nehmen, wie von konservativ-religiösen Kreisen gefor-
Fähigkeiten, sondern auch den eigenen Schattenseiten.         dert.
Selbstbesinnung ist eine notwendige Voraussetzung, um
eine tragfähige Verfassungsgrundlage zu erarbeiten.           Der europäische V        Verfassungsprozess
                                                                                         erfassungsprozess
    Europa als Ausgangspunkt von Individualisierung -         in historischer PPerspektive
                                                                                      erspektive
das wäre doch wohl Grund genug, die individuellen Men-        Die europäische Integrationsbewegung hat in bezug auf
schenrechte, ergänzt um die bürgerlichen Beteili-             die europäischen Wertorientierungen von vornherein et-
gungsrecht und die sozialen Menschenrechte, ohne je-          was Zwiespältiges. Ein Internationalismus, der Krieg und
den Abstrich in den Mittelpunkt der eigenen Verfassungs-      Hader zwischen den Europäischen Völkern überwinden
entwicklung zu stellen! Es müsste Herausforderung sein,       will, mischt sich mit politischen, ökonomischen und kul-
eine freie, auf Selbstorganisation beruhende Kultursphäre     turellen Hegemonialinteressen. Besonders deutlich wird
und zugleich eine wirklich partizipative, von der Basis       das an dem Vordenker der Integration, dem Grafen Ri-
ausgehende Demokratie zu schaffen.                            chard Nicolas von Coudenhove-Kalergi. 1923 erscheint
    Europa ist der Ausgangspunkt zweier verheerender          seine Schrift „Paneuropa“, in der er Programm und Zie-
Weltkriege gewesen - europäische Politik hätte also al-       le der im gleichen Jahr von ihm begründeten Paneuro-
len Grund, sich von militärischen Superpower-Ambitio-         pa-Bewegung festlegt. Damals musste das Projekt eines
nen zu verabschieden und sich auf eine aktive Friedens-       europäischen Staatenbundes vielen völlig utopistisch
förderung und Konfliktvermeidung, etwa auch durch die         erscheinen. Um so erstaunlicher ist es, wie sich nach
Stärkung der UN, zu konzentrieren.                            dem II. Weltkrieg die Einigung exakt nach Coudenhoves
    Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Europa müsste ernst    Fahrplan vollzieht, über die ökonomische Union zur po-
machen mit seinen eigenen, Grundwerten von Frei-              litischen. Coudenhove, der 1938 vor den Nazis emi-
heit, Gleichheit und Solidarität, die ja letztlich allen      grieren musste, gewinnt das Gehör von Politikern und
Eurozentrismus sprengen müssen. Auf dieser Basis soll         Wirtschaftsverantwortlichen; den fruchtbarsten Boden
Europa selbstlos und ohne eigene Machtansprüche zu            findet er nach eigener Aussage in katholischen Kreisen.
einer weltweiten Friedensordnung und zum gerechtem                 Er setzt sich in seinen Schriften zwar gegen den tota-
Ausgleich zwischen Nord und Süd beitragen - auch              len Staat ein, doch ist Demokratie für ihn eine Legiti-
dadurch, dass es sowohl auf dem eigenen Territorium           mationsform von Herrschaft und keine Erneuerung der
wie weltweit eine Wirtschaftsform fördert, in der Orga-       Gesellschaft von unten her. D.h. er verficht den Ge-
ne des Interessenausgleichs für faire Preisverhältnisse       danken einer - in der europäischen Kulturtradition wur-
sorgen.                                                       zelnden, demokratisch legitimierten - „geistigen Aristo-
    Eine einheitsstaatlich-machtstaatliche Struktur der       kratie“. Letztlich ist sein Konzept, das im Grundsatz, nicht
Europäischen Union ist dagegen mit all dem unverein-          in den Einzelheiten, von vielen Europapolitikern nach
bar. Notwendig dagegen wäre gerade die Auflösung              wie vor geteilt wird, das von Europa als einer Super-
von Machtstrukturen durch gesellschaftliche Gliederung.       macht: „Wir wollen Europa, verbunden durch Bande
Darin kann man dem auf S. 31ff. abgedruckten Aufruf           der Freundschaft mit seinen mächtigen Nachbarn Ame-
der IG Eurovision nur aus vollem Herzen zustimmen.            rika und Russland, zu einer Weltmacht wiedervereini-
    Dass sich die Europäische Union nicht als Großmacht       gen, gleichberechtigt ihren beiden Nachbarn und dem
versteht, das wäre gerade auch im Verhältnis zu Amerika       neuen China.“7 So formuliert er es in den 60er Jahren.
wichtig. Kritisieren wir das, was im Irak geschieht, etwa          Ein solches Integrationskonzept ist für viele verlok-
nur deshalb, weil wir gleiche Macht wollen wie Amerika?       kend; gerade durch seine inhaltliche Unbestimmtheit
Oder deshalb, weil wir eine solche Form der Machtpolitik      eignet es sich zur Klammer für durchaus unterschiedli-
für unzeitgemäß halten? Habermas’ und Derridas’ Idee          che Interessen und Bestrebungen, von dem Versuch, das
der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Friedens-          Heilige Römische Reich wieder aufleben zu lassen, bis
demonstrationen gegen den Irak-Krieg jedenfalls geht von      zum Realisierung eines Europas der Konzerne. Die Auf-
dem zweiten Motiv aus.                                        gaben Europas in der heutigen Zeit verfehlt es jedoch
    Statt Großmacht sein zu wollen, müsste die EU als         an entscheidender Stelle. - Churchills berühmter Züri-
Vorreiterin einer neuen Politik wirken, die machtfreie        cher Rede vom September 1946 über die „Vereinigten
Räume schafft, fördert und sichert. Es geht um eine           Staaten von Europa“ ging übrigens ein Treffen mit
neue Form von Staatlichkeit, die nicht obrigkeitlich wirkt,   Coudenhove am Genfer See voraus.
sondern nur da „subsidiär“ (hilfsweise) eingreift, wo
Selbstverwaltung und Selbstorganisation noch nicht ge-        Nachkriegsentwicklung
lingen.                                                       Marshallplan und Kalter Krieg führen zu einer Spaltung
    In diesen Wertorientierungen läge auch die reale und      Europas, so dass die Integration zunächst nur als west-
nicht bloß deklamatorische Anknüpfung an die christli-        europäische stattfindet (wenn man von dem ost-west-
chen Wurzeln Europas. Auch der Gedanke der Subsi-             übergreifenden Europa-Rat absieht). Die Westeuropäi-
diarität z.B. taucht ja zuerst in christlichen Soziallehren   sche Integration vollzieht sich - impulsiert von Politikern
auf. Dagegen würde es der menschenrechtlich gebote-           wie Jean Monnet und Robert Schumann - über die Grün-
nen weltanschaulichen Neutralität des modernen Staa-          dung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
tes widersprechen, Gott und damit ein bestimmtes Glau-        (Montanunion 1951) und die Schaffung der Europäi-
4                                                                               Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004

schen Wirtschaftsgemeinschaft EWG durch die Römi-              lose Konkurrenz der Standorte - die zu einem immer
schen Verträge von 1957.                                       größeren Druck auf die Sozialsysteme und den öffentli-
    Schritt für Schritt folgt dann der Aufbau und die Ent-     chen Sektor führt: all das sind Stichworte für die ge-
wicklung all jener Institutionen, mit denen heute Europa       nannte Entwicklung.
identifiziert wird: Europäisches Parlament (1958; zum
ersten Mal direkt gewählt 1979), Europäische Kommis-           Die Erweiterung W         esteuropas gen Osten
                                                                                      Westeuropas
sion in Brüssel und der Ministerrat, bestehend aus den         Und so treibt man denn auch zunächst einmal schlicht
Fachministern der Mitgliedsstaaten (1967), Europäischer        das Projekt einer westeuropäischen Union weiter voran:
Rat (Gipfel der Staats- und Regierungschefs) mit von           Der Maastricht-Vertrag schafft die EU, die Europäische
Land zu Land „wandernder“ Präsidentschaft. Mit dem             Kommission wird zur EU-Kommission, der Ministerrat
Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte wird         zum Rat der EU usw. Mit enormem Termindruck wird der
ein wesentlicher Schritt auf die Union zu getan und der        Europäische Binnenmarkt realisiert: Freier Verkehr von
Einstieg in den Binnenmarkt geleistet.                         Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital lauten
                                                               die Stichworte. Der Vertrag von Amsterdam, auch „Maas-
Das Jahr 1989: eine vergebene Chance                           tricht 2“ genannt, ändert, modifiziert und ergänzt beste-
Dann kommt das Jahr 1989 und mit ihm eine komplette            hende Verträge und Rechtsakte der Union und vertieft
Wandlung der europäischen Situation. Der autoritäre            den Integrationsprozess. 1999 schließlich führen elf Län-
Staatssozialismus wird von einer friedlichen Revolution zum    der den Euro ein: Deutschland, Frankreich, Italien, die
Zusammenbruch gebracht. Die Umbruchbewegung strebt             Benelux-Staaten, Spanien, Portugal, Österreich, Finn-
zunächst nach einer sozialen Erneuerung, die zwischen          land und Irland.
Staatssozialismus und westlich-kapitalistischem System ei-          Die auf diese Schritte folgende Osterweiterung ist un-
nen dritten Weg sucht. Mit der Konferenz für Sicherheit        ter solchen Bedingungen eben keine Ost-West-Integrati-
und Zusammenarbeit in Europa KSZE (später OSZE) hat            on, sondern die Erweiterung der (west)europäischen Union
sich 1973-1975 bereits ein institutioneller Ansatz einer ge-   auf den Osten, der mit neuen Märkten und billigen Ar-
samteuropäischen Zusammenarbeit gebildet.                      beitskräften lockt. Es wiederholt sich im Grund der glei-
     1989 schien die Möglichkeit zu eröffnen, in der „ei-      che Vorgang, den wir bei der deutschen Einheit erlebt
nen Welt“ eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz         haben: statt eines Zusammenschlusses auf wirklich glei-
zu verwirklichen. Groß waren die Hoffnungen auf die            cher Augenhöhe, gibt es eine Art Anschluss der neuen
Möglichkeiten, die durch Abrüstung gewonnenen ge-              Länder. Nur dass die EU weniger als die Altbundesländer
waltigen Finanzmittel in die Entwicklungszusammenarbeit        in der Pflicht steht, die Arbeits- und Lebensverhältnisse im
zu lenken. Und genauso groß waren die Erwartungen,             Osten dem Westen nach und nach anzugleichen. Im
sich jetzt endlich den ökologische Problemen stellen und       Gegenteil, durch die Osterweiterung drohen eher An-
nachhaltige Entwicklung fördern zu können, - Erwar-            gleichungsprozesse in anderer Richtung.
tungen, die den Erdgipfel der UN in Rio 1992 prägten.
     Europa hätte die Chance gehabt, in diesen Prozes-
sen eine aktiv vorwärtstreibende Rolle zu spielen und          Wechselwirkung zwischen WT      WTO  O und EU
gleichzeitig seine eigene Einheit zu vollenden. - Und          Über die WTO ist in dieser Zeitschrift schon viel ge-
zwar als gleichberechtigte Synthese von Ost und West,          schrieben worden, auch über die Rolle der EU inner-
im Sinne von Gorbatschows Wort vom „europäischen               halb der Welthandelsorganisation und dort speziell ge-
Haus“, einem Wort, das damals in aller Munde war.              genüber den Ländern des Südens. An dieser Stelle ist
Diese Synthese hätte auch in einen dritten Weg zu den          die Wechselwirkung zwischen WTO und EU hervorzu-
zuvor in Ost und West verwirklichten Gesellschaftsord-         heben: Die WTO bezieht durch ihre Abkommen immer
nungen münden können.                                          weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ganz oder
     Aber leider verlief die Entwicklung ganz anders. Neue     teilweise in die Handelspolitik ein, z.B. die öffentlichen
Kriege und Konflikte brachen aus; Sarajewo, von dem            Beziehungsdienstleistungen. Für die Handelspolitik ist
der erste Weltkrieg ausgegangen war, wurde wieder Ort          aber jeweils die EU zuständig, der durch die Auswei-
eines grausamen Gemetzels. 1993 gab der amerikani-             tung dieses Politikbereichs automatisch eine größere
sche Politologe Huntington die Parole vom „Kampf der           Macht zuwächst.
Kulturen“ aus. Damit verabschiedete man sich von je-               Die gemeinsame Handelspolitik geht auf die römi-
dem Versuch, die strukturellen Ursachen kultureller Kon-       schen Verträge zurück. In Bezug auf den Warenverkehr
flikte zu beseitigen und machte die Unmöglichkeit der          machte sie in einem gemeinsamen Markt auch einen
Koexistenz der Kulturen faktisch zur Staatsdoktrin. Die        gewissen Sinn. Aber was ist, wenn durch die WTO-Ab-
Globalisierung, wie sie durch die 1986 gestartete 8.           kommen viele Fragen zum Gegenstand der EU-Handels-
Handelsrunde des GATT und die aus ihr 1994/95 her-             politik gemacht werden, die bisher von den Mitglieds-
vorgegangene Welthandelsorganisation WTO vorange-              staaten zu regeln waren, nun aber in die Zuständigkeit
trieben wurde, war keine mit menschlichem Antlitz, son-        der EU fallen? Das kann nur zu einer Aushöhlung des
dern sie trug das Gepräge eines Turbokapitalismus, der         Subsidiaritätsprinzips unter dem Deckmantel der notwen-
nun das gesamte gesellschaftliche Leben dem Kommerz            digen WTO-Kompatibilität der EU-Politik führen.
auszuliefern droht. Das Anwachsen der Geldspekulation              Die Frage der WTO-Kompatibilität spielt auch auf dem
und ihre Auswirkungen, z.B. in der Asienkrise, anhal-          Feld der Agrarpolitik eine gewaltige Rolle. Bisher prakti-
tende Massenarbeitslosigkeit, die einsetzende gnaden-          zierte die EU in der Landwirtschaft eine Form der Subven-
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung                                                                              5

tionierung, die durch die WTO-Abkommen, insbesonde-            Zuegg und ich für die Initiative Netzwerk Dreigliederung
re das AoA (Agreement on Agriculture) in Zukunft verbo-        eingebracht haben. Unsere Skizze einer „Charta der
ten ist. Rund 50 Mrd. Euro, rund die Hälfte ihres Etats,       Grundrechte der Europäischen Union“ wurde seinerzeit
lässt sich die EU ihre gemeinsame Agrarpolitik kosten.         im Rundbrief dokumentiert und ist noch im Internet abzu-
Um der WTO gerecht zu werden, müssen diese Beträge             rufen.8 Unser Grundgedanke, der damals auch in der
gekürzt bzw. in erlaubte Stützungsmaßnahmen, z.B. di-          Zeitschrift für Rechtspolitik vertreten wurde, war eine kon-
rekte produktionsentkoppelte Einkommenshilfen, umge-           sequente Ausrichtung der Charta an den Menschenrech-
wandelt werden. Dies geschieht im Rahmen der vom Rat           ten und am Grundsatz der Subsidiarität, ganz im Sinne
1999 beschlossenen „Agenda 2000“.                              dessen, was auch hier über Kriterien einer europäischen
                                                               Verfassung ausgeführt ist. Durch die Art der Formulie-
Effizienz- und Legitimationsdefizit                            rung der Charta hätte, so unser Ansatz, verhindert wer-
soll abgebaut werden                                           den müssen, dass die weitere Integration dazu führt, dass
An dieser Stelle wird vielleicht klarer, warum man über-       das Schlechtere zum Standard wird - etwa in der Rechts-
haupt und gerade jetzt eine EU-Verfassung benötigte,           stellung öffentlicher Schulen in freier Trägerschaft oder
wo man doch seit 1951 bzw. 1957 ganz gut ohne eine             bei der sozialen Sicherheit. Wir formulierten Prinzipien
solche zurecht gekommen war. Hätte man nicht einfach           und Aufgaben der EU, die sich aus den Grundrechten
die Verträge fortschreiben bzw. ergänzen können, um            ergeben und machten dabei den Versuch, den
die Integration voranzutreiben? Das war jetzt nicht mehr       Subsidiaritätsgedanken - horizontale Vernetzung und
ausreichend, jedenfalls solange man die EU als Macht-          Entscheidungen „vor Ort“ bzw. durch die Betroffenen,
block und nicht als Gemeinschaft horizontal vernetzter         statt undurchsichtiger hierarchischer Strukturen - konse-
staatlicher Territorien, wirtschaftlicher Räume und eigen-     quent und prägnant auszugestalten.
ständiger Kulturinstitutionen ansah. Ein Machtblock be-
nötigt eine ausreichend große Zentralisierung der Zu-          Von Nizza über LLaeken aeken nach Thessaloniki
ständigkeit für das Ganze. Eine Staatengemeinschaft mit        Diese und andere Vorschläge aus der Zivilgesellschaft
25 Mitgliedstaaten, lässt sich nicht effizient als Weltmacht   wurden vom Konvent aber nicht aufgegriffen, und zum
„steuern“ ohne institutionelle Veränderungen, insbeson-        Schluss kam ein Dokument heraus, das nicht voll be-
dere ein erweitertes Mehrheitsprinzip. Einer muss sagen,       friedigen kann, weder bei den Freiheits-, noch bei
wo es langgeht, so immer noch das gängige Denkmuster,          den Beteiligungsrechten und bei den Sozialrechten.
und im Zweifel ist das die Mehrheit.                           Unbefriedigend blieb vor allem auch, dass die Charta
    Aber gerade wenn man diese Steigerung der Effizi-          auf dem Ratsgipfel in Nizza im Dezember 2000 nur „pro-
enz der EU wollte, musste man auch das Legitimations-          klamiert“ wurde, d.h. die in ihr enthaltenen Rechte wa-
problem bearbeiten, das die EU offensichtlich hat. Das         ren nicht einklagbar. Mit dem Vertrag von Nizza wurde
Verfassungsprojekt sollte also nicht nur die EU effizien-      gleichzeitig die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehr-
ter machen, sondern ihr auch eine größere Akzeptanz            heit in der EU bis zu einem gewissen Grad ausgedehnt.
bei den BürgerInnen verschaffen. Ob dabei mehr als                 Nach Nizza kam dann der Prozess in Gang, der
der Schein demokratischer Legitimation entstanden ist,         ebenfalls in dieser Zeitschrift bereits wiederholt geschil-
wird sich zeigen müssen.                                       dert wurde: Ende 2001 beauftragen die Staats- und Re-
    Wohl auch, um dem Eindruck entgegenzuwirken,               gierungschefs der EU einen „Konvent zur Zukunft Euro-
die EU sei eine bloße polit-ökonomische Zweckallianz,          pas“, Vorschläge für eine grundlegende Erneuerung der
und um zu signalisieren, man wolle eine Werte-                 Verträge auszuarbeiten und Reformen vorzubereiten, an
gemeinschaft sein, begann man zunächst mit der Aus-            deren Ende ein europäischer Verfassungsvertrag stehen
arbeitung einer Charta der Grundrechte. Hierzu setzte          soll. Präsident des Gremiums wurde Valéry Giscard
man 1999 einen Konvent ein, dessen Leiter der deut-            d’Estaing. Im einzelnen wurden folgende Aufgabenfel-
sche Ex-Bundespräsident Roman Herzog wurde. Man                der für die Erneuerung der Verträge genannt: Bessere
ließ zunächst offen, ob diese Charta den europäischen          Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der
Verträgen nur vorangestellt würde, wie es z.B. noch im         EU, Vereinfachung der Instrumente der EU, mehr De-
deutschen Koalitionsvertrag der ersten Legislaturperiode       mokratie, Transparenz und Effizienz. Zu den 105 Mit-
von Rot-Grün formuliert und gefordert wurde.                   gliedern des Konvents gehörten auch Vertreter der
                                                               Beitrittsländer, einschließlich der Beitrittskandidaten im
Charta der Grundrechte:                                        Wartestand - also auch der Türkei.
Vorschläge aus der Zivilgesellschaft                               Wieder war die Zivilgesellschaft gebeten, Vorschlä-
Nach Seattle war es Mode geworden, die Zivilgesellschaft       ge einzubringen, was auch die Initiative Netzwerk Drei-
in politische Projekte einzubeziehen, wenn auch häufig         gliederung erneut tat - in einer Phase, wo von Seiten
nur pro forma. So wurden auch Vorschläge aus der Zivil-        des Konventspräsidenten nur ein Gliederungsvorschlag
gesellschaft zur Charta erbeten. Das eintägige Hearing         vorlag, auf den wir Bezug nahmen.9 Übrigens zeigte
des Konvents dazu erwies sich dann allerdings eher als         sich auch hier wieder, wie schon bei der Charta, dass
Farce: 5 Minuten Redezeit pro Organisation, das war’s.         es nicht genügt, eine äußerliche Transparenz herzustel-
Die Einladung führte jedoch zu einer Reihe höchst inter-       len, indem man zum Beispiel alle Dokumente ins Internet
essanter Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft. So kam      stellt, um eine wirkliche Beteiligung und gesteigertes In-
es auch zu den Vorschlägen, die Gerald Häfner, Robert          teresse der Menschen zu wecken.10
6                                                                                Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004

    Entgegen allen Unkenrufen, der Konvent werde ohne                Auch das immer wieder angeführte Argument, ein
Ergebnis bleiben, gelang dem Gremium ein Verfassungs-           entscheidender Fortschritt sei durch die Integration der
entwurf. Er wurde dem Ratsgipfel von Thessaloniki, der          Charta der Grundrechte erreicht, sticht nicht. Diese bil-
am 20. und 21. Juni 2003 zusammentrat, vorgelegt und            det den Teil II des Entwurfs. Zwar wird sie dadurch ver-
von diesem gebilligt. Zuvor bereits, am 16. April, war in       bindlicher: die einzelnen Rechte werden einklagbar. Aber
Athen der Vertrag über den Beitritt der neuen Länder un-        die Freude darüber währt höchstens so lange, bis man
terzeichnet worden. Der Entwurf wurde an die eingangs           eines Satzes ansichtig wird, der der Grundrechte-Char-
erwähnte Regierungskonferenz überwiesen - an der wie-           ta nachgestellt worden ist und der da lautet: „Die Aus-
der die Beitrittsländer teilnahmen. Dort stockte der Prozess    übung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die
zunächst bei der Dezembertagung letzten Jahres und              in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, erfolgt
musste jetzt wieder in Gang gebracht werden.                    im Rahmen der in diesen einschlägigen Teilen festge-
                                                                legten Bedingungen und Grenzen.“ [Artikel II-52 (2)].
Zum Inhalt der EU      EU--Verfassung -                         Das ist eine glatte Umkehrung des rechtsstaatlichen
Versuch einer Bewertung                                         Basissatzes, dass die Gesetze und die Rechtsprechung
Der Umfang des Entwurfs hat etwas Monströses. Es han-           an die Grundrechte gebunden sind, die den Kern der
delt sich um den Versuch, zum einen die Ziele der Union,        Verfassungen bilden, und nicht umgekehrt die Grund-
die Unionsbürgerschaft, die Zuständigkeiten und Institu-        rechte durch Einzelbestimmungen begrenzt werden.
tionen der Union und die Mitgliedschaft in ihr zu be-                Der Präambel war im Entwurf zunächst ein Zitat von
schreiben, was im 1. Teil geschieht. Als zweiten Teil hat       Thukydides vorangestellt, das das Mehrheitsprinzip zum
man die Charta der Grundrechte eingefügt, und Teil 3            Kern der Demokratie erklärt: „Die Verfassung, die wir haben
behandelt die Politiken und die Funktionsweise der Uni-         ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bür-
on und ist eine Art Synopse der bestehenden europäi-            ger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist“.
schen Verträge. Im Grunde ist das - ganz abgesehen              (Thukydides, II, 37) - Menschenrechte sind jedoch gera-
von inhaltlichen Bedenken, auf die ich noch eingehen            de Minderheitenrechte, Rechte des einzelnen auch ge-
werde - viel zu voluminös und ins Detail gehend für eine        genüber den Mehrheiten, die ihm diese Rechte nicht
Verfassung, die doch die Grundlagen des Zusammenle-             schmälern dürfen, weil sie im Wesengehalt unumkehrbar
bens beschreiben soll, ohne dieses im Detail zu regeln.         und kein Gewährungsakt der Gemeinschaft sind. Auch
Teil IV enthält die Schlussbestimmungen, denen sich noch        wenn dieses Zitat in der konsolidierten Fassung nicht
verschiedene Protokolle anschließen. Dieser Versuch, Dis-       mehr auftaucht, bleibt der Vorgang als solcher sympto-
parates in einen Text zusammenzubringen, führt schon            matisch und unterstreicht, dass die Sorge, der Entwurf
formal zu Brüchen und Redundanzen.                              senke das Grundrechte-Niveau ab (vgl. Kasten), durch-
     Von offizieller Seite wird gerne auf die folgenden Punk-   aus berechtigt ist. Auch wenn formal die nationalen Ver-
te hingewiesen, um den durch die Verfassung erzielten           fassungen nicht abgelöst werden, sondern voll beste-
Fortschritt darzutun:                                           hen bleiben, wird die europäische Verfassung im Rechts-
     Aus den bisherigen „Europäischen Gemeinschaften“           leben der Union der erste Bezugspunkt sein, wodurch
- zu denen als eine auch die EU selbst gehörte - wird eine      diese nationalen Verfassungen faktisch auf das Niveau
einheitliche Rechtspersönlichkeit „Europäische Union“. Der      von Länderverfassungen in einem Bundesstaat herun-
EURATOM-Vertrag ist zwar inhaltlich noch nicht wie die          tergebracht werden können.
anderen Verträge in Teil 3 der Verfassung integriert. Aller-
dings wird er ausdrücklich genannt und seine Nach-
führung wird verbindlich gemacht. Insofern ist das Argu-        Des Pudels Kern: Die mächtige EU
ment deutscher Grüner, sie hätten EURATOM aus der               bekommt noch mehr Macht
Verfassung herausverhandelt, nicht zutreffend. - Die Schaf-     „Der Rat, in dem Vertreter der nationalen Regierungen
fung des Amts eines Europäischen Außenministers soll            sitzen, ist vereinfacht gesagt das gesetzgebende Organ
zur Stärkung der Zuständigkeit der EU beitragen. - Ein 2        der Union. In einigen Bereichen - zu denen die wichtig-
½ Jahre amtierender Ratspräsident ersetzt die jetzige alle      sten gar nicht gehören - teilt der Rat seine Entscheidungs-
6 Monate rotierende Ratspräsidentschaft. - Die Mitwir-          macht mit dem Europaparlament (nicht sehr demokra-
kung des Europäischen Parlaments wird in einigen Punk-          tisch!) Das war vertretbar, solange es meist Konsens-
ten verbessert. So darf es jetzt den Kommissionspräsidenten     entscheidungen gab. Dieses so genannte Mitentschei-
bestätigen. - Auch wird es - was eine echte Überraschung        dungsverfahren gilt laut Nizza-Vertrag für 37 Politikfelder
darstellt - ein sogenanntes europäisches Bürgerbegehren         und soll nach dem jetzigen Verfassungsentwurf auf ins-
geben. Dieses führt allerdings nur bis zur Befassung der        gesamt 80 Bereiche ausgeweitet werden. - In 57 Berei-
EU-Kommission mit den entsprechenden Anliegen, nicht            chen (darunter so wichtigen wie Steuer- und Sprachen-
jedoch zu einer Volksabstimmung.                                politik, soziale Sicherung und Verteidigung) kann der
     Diese Punkte sind aber durchaus nicht ausreichend,         Rat laut Verfassungsentwurf nur einstimmig beschließen.
um die Bedenken auszuräumen, die sich aufgrund ei-              In den übrigen, rund 100 Bereichen genügt die qualifi-
ner ganzen Reihe anderer Bestimmungen ergeben. Ein              zierte Mehrheit. Und hier wird die Sache kompliziert.“
Informationsmaterial der Attac-EU AG Stuttgart und Re-          Das schreibt Le Monde diplomatique Nr. 7259 vom
gion fasst diese Kritikpunkte plakativ, aber zugleich sach-     16.1.2004 und benennt damit des Pudels Kern. Es geht
lich prägnant zusammen (siehe Kasten).11                        um Macht und stärkere Zentralisierung.
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung                                                                                  7

  Die EU
       EU--Verfassung fällt bei der demokratischen Eignungsprüfung durch!
  Dem EU-Parlament, werden grundlegende Rechte vorenthalten. Es hat z. B. kein Recht, die EU-Gesetzgebung
  einzuleiten. In keiner Verfassung der Mitgliedstaaten der EU ist eine solche Entmachtung des Parlaments in der
  Außenpolitik festgeschrieben.
      So heißt es in Art. I-39: „Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden
  Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört und [...] auf dem Laufen-
  den gehalten“. Allein der „Europäische Rat und der Ministerrat erlassen die erforderlichen Europäischen Beschlüs-
  se.“ Die einzige Institution, die direkt vom Volk gewählt wird, soll z. B. bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte nichts
  zu bestimmen haben!
  Sozialbindung des Eigentums wird vernachlässigt
  Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legt keinerlei Bekenntnis zum marktwirtschaftlichen Kapitalis-
  mus ab. Es erklärt ausdrücklich, dass der Gebrauch des Eigentums „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll
  (vgl. GG Art. 14 + 15). Ganz anders der Entwurf der europäischen Verfassung. Er sieht keine solche grundlegen-
  de Sozialbindung des Eigentums vor (Art. II-17).
  Wettbewerb und W         achstum haben V
                          Wachstum             orrang vor Beschäftigungssicherung und LLebensqualität
                                              Vorrang                                            ebensqualität
  Der Verfassungsentwurf verpflichtet die Wirtschaftspolitik auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit
  freiem Wettbewerb“ (Art. III-69) und Wirtschaftswachstum (Art. I-3).
      Beschäftigungspolitik soll sich darauf beschränken, die „Verwendbarkeit“ und die „Anpassungsfähigkeit“ der
  Arbeitnehmer an die industriellen Wandlungsprozesse und Veränderungen der Produktionssysteme zu verbessern
  (Art. III-113, III-97).
      Als Hauptziel der Agrarpolitik wird vorgegeben, die Produktivität der Landwirtschaft durch technischen Fortschritt
  und Rationalisierung zu steigern (Art. III-123). Wollen wir solche Ziele in der EU-Verfassung verankert haben?
      Der Entwurf enthält an zahlreichen Stellen weitere Festlegungen auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik: Die
  schädlichen Folgen einer solchen Politik werden zunehmend deutlich.
      Die EU-Kommission sorgt schon heute in Europa und bei der Welthandelsorganisation (WTO) dafür, dass
  Handelsinteressen Vorrang vor sozialen oder ökologischen Anliegen erhalten. Nach den WTO-Regeln gelten z. B.
  Importverbote gegen hormonbehandeltes Fleisch oder GEN-Food als Handelshemmnis und sind verboten. Art III-
  217 des Verfassungsentwurfs legt die EU noch stärker auf diese Politik der WTO fest. Heute bereits ist die Handels-
  politik den Nationalstaaten weitgehend entzogen. Der EU-Handels-Kommissar schaltet dabei quasi im Alleingang.
  Freie FFahrt
            ahrt für Sozialabbau und K        ommerzialisierung öffentlicher Güter
                                            Kommerzialisierung
  Gegenwärtig erleben wir, dass den Schwachen immer größere Lasten aufgebürdet werden. Der grundrechtlich
  garantierte Zugang zu Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung ist gefährdet, weil der bislang öffentliche Sektor
  immer stärker für den Kommerz geöffnet wird. Die konkreten Planungen sind auf EU-Ebene schonweit fortgeschrit-
  ten. In Art. III-29 des Entwurfs heißt es: „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union
  [...] sind [...] verboten“.
  Verpflichtung zur Aufrüstung
  Der Verfassungsentwurf bringt dramatische Veränderungen im Bereich militärischer Sicherheitspolitik. „Die Mitglied-
  staaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. I-40). Aufrüstung wird
  Pflicht, obwohl jetzt schon die Rüstung das Geld verschlingt, das dringend für soziale Aufgaben benötigt wird. Es
  wird ein „Amt für Rüstung“ (nicht Verteidigung!) eingerichtet. Außerdem sollen die EU-Streitkräfte Kampfeinsätze
  durchführen können, unter anderem auch im Hoheitsgebiet von Drittstaaten zur Unterstützung der „Terrorismus-
  bekämpfung“ (Artikel III-210). Das kann als Vorwand für militärische Interventionen in Konflikte überall auf der
  Welt dienen.
  Grundrechtsniveau wird abgesenkt
  Der EU-Verfassungsentwurf bedeutet eine Absenkung des Grundrechtsniveaus gegenüber dem deutschen Grund-
  gesetz. Das geht so weit, dass man die Charta der Grundrechte, die in die Verfassung aufgenommen wurde, durch
  einen Nachsatz, der die Grundrechte unter Vorbehalt stellt, faktisch weitgehend entwertet hat: „Die Ausübung der
  durch diese Charta anerkannten Rechte, die in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, erfolgt im Rahmen der
  in diesen einschlägigen Teilen festgelegten Bedingungen und Grenzen.“ [Artikel II-52 (2)]. Deshalb bestehen
  gegen die Unterzeichnung des EU-Verfassungsentwurfs auch schwere verfassungsrechtliche Bedenken.

  Attac EU-AG Stuttgart und Region. Kontakt: eu-ag@sozialimpulse.de. Das gesamte Informationsmaterial kann
  im Internet heruntergeladen unter http://www.sozialimpulse.de/EU-Verfassung-Flyer.htm. Zu beachten ist, dass
  sich die Nummern der zitierten Artikel in der inzwischen vorliegenden konsolidierten Fassung des Textes
  geändert haben.
8                                                                              Rundbrief Dreigliederung Nr. 2 / 2004

    An dieser Stelle entstand die Meinungsverschieden-        stimmungen nicht genau vorhersehbar - und außerdem
heit über das komplizierte Problem der qualifizierten Mehr-   abhängig davon, wie sich die öffentliche Debatte vor-
heit, die zum Scheitern des Dezembergipfels geführt hat.      her noch entwickelt.
Spanien und Polen hatten sich gegen das Prinzip der               Die Projektbefürworter bekommen ein ernstes Pro-
„doppelten Mehrheit“ gesträubt. Es sah vor, dass ein          blem bereits dann, wenn ein Land nicht mitmacht, denn
Beschluss dann als akzeptiert gilt, wenn mindestens 50        das Projekt ist auf Konsens angelegt. Ein Sprecher der
Prozent der EU-Länder zustimmen und die zustimmen-            EU-Kommission hat jüngst bekräftigt, bei einem Nein in
den Länder 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsen-            einem Land könne die Verfassung nicht in Kraft treten.
tieren. Inzwischen haben die Opponenten eingelenkt und        In einer Anlage zum Entwurf heißt es zu diesem Thema
am 18. Juni 2004 der neuen Formel „55 Prozent der             lediglich: „Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach
Staaten, 65 Prozent der Bevölkerung“ zugestimmt.12            der Unterzeichnung des Vertrags über die Verfassung
    Zur Beurteilung der Machtstrukturen der EU ist noch       vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag
die Arbeitsweise der Ministerräte zu berücksichtigen, die     ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat oder mehreren
ja im Grunde das zentrale Gesetzgebungsorgan sind.            Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation auf-
Diese sind „zusammengesetzt aus Ministerialbeamten der        getreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der
Mitgliedsländer und formal angeführt von zumeist ahnungs-     Frage.“14
losen Ministern. Über 90 Prozent aller Entscheidungen fal-        Es wird also noch spannend werden. Denn wenn es
len bereits im ‘Coreper’, dem bei den Wählern gänzlich        wirklich zu einem Nein kommt, ist vieles wieder offen.
unbekannten ‘Rat der ständigen Vertreter’. Ergebnis dieser    Dann gibt es verschiedene Optionen, bis hin zu einem
Hinterzimmergesetzgebung sind dann jene Richtlinien, die      Europa der zwei Geschwindigkeiten auch auf der
als geltendes europäisches Recht von nationalen Parla-        Verfassungsebene.
menten nur noch ‘umgesetzt’ werden. De facto schreibt
sich so die Exekutive ihre Gesetze selbst. Jeder Staat, der   Referendum in allen Ländern gleichzeitig?
so verfasst wäre wie die Union, könnte niemals deren Mit-     In den letzten Monaten wurde auch der Gedanke eines
glied werden.“13                                              gesamteuropäischen Referendums ins Gespräch gebracht.
                                                              Man muss dies als Irreführung der Öffentlichkeit bezeich-
Es gibt gute Gründe, zum Entwurf Nein zu sagen                nen. Mangels gesetzlicher Grundlage wäre das Ergebnis
Das über zentralistische Tendenzen Gesagte wird bestä-        nicht verbindlich und hätte allenfalls konsultativen Cha-
tigt durch meine eigene Wahrnehmung bei einer Podi-           rakter. Ein Nein einzelner Länder würde in einem Ja einer
umsdiskussion mit Vertretern der großen Parteien im Stutt-    europäischen Mehrheit untergehen. Das würde die gan-
garter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, bei der klar wur-          ze Verfassungskonstruktion auf den Kopf stellen, die ja
de, dass im Grunde ein europäischer Einheitsstaat das         auf der Zustimmung der einzelnen Länder beruht. Es gibt
Ziel und Ideal der politischen Klasse ist, auch wenn sie      kein europäisches Staatsvolk! Vielmehr müssen die
das bis vor einiger Zeit noch vehement abgestritten hät-      BürgerInnen und Bürger in jedem Land entscheiden, ob
te. Dieser Ansatz ist eine logische Konsequenz aus der        und welche Verfassung der EU sie akzeptieren.
traditionellen Art, den Staat zu denken. Wirkliche Leh-           Selbst wer nur einzelne Veränderungen der Verfas-
ren aus der Geschichte werden mit dieser Verfassung           sung wünscht, muss sich sagen, dass niemand ohne
nicht gezogen, bürokratische Hürden gegen die freie           Not das Verfassungs-Paket noch einmal aufschnüren
Kultur nicht beseitigt, dagegen Freifahrscheine für die       wird, dass also der einzige Weg, um etwas anderes zu
Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors erteilt. Frei-    bekommen, über das Scheitern des Projekts in der ge-
heit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit werden zwar          genwärtigen Form führt.
beschworen, jedoch drohen sie jeweils an den falschen
Ort zu geraten: nämlich dorthin, wo Freiheit zu Willkür,      Warum ein R      eferendum auch
                                                                              Referendum
Gleichheit zur Gleichmacherei und Geschwisterlichkeit         in Deutschland so wichtig wäre
zur Vetterleswirtschaft wird.                                 Natürlich kann man für ein Referendum sein auch wenn
     Solange aber eine EU-Verfassung nicht konsequent         man den Verfassungsentwurf befürwortet. Aber die mit
an Menschenrechten und Subsidiarität orientiert ist, kann     dem Referendum verbundene Diskussion ist eine Chan-
man gerade aus dem Ja zu Europa ein Nein zu ihr               ce gerade für die Kritiker des Entwurfs, das Informations-
begründen. Die Gleichsetzung „Gegner des vorliegen-           defizit über dessen Inhalte zu beheben. Insofern bietet
den Entwurfs = Verfassungsgegner = Gegner Europas“            die Frage des Referendums auch viele Ansatzpunkte zur
ist demagogisch und unerträglich.                             Zusammenarbeit der globalisierungskritischen und der
                                                              Demokratiebewegung in der Verfassungsfrage.
Wie geht es weiter?                                               Im letzten Jahr sind die beiden Bewegungen zunächst
Ich komme auf den Anfang zurück. Nach der bevorste-           enger zusammengerückt. Die Strömungen der Zivil-
henden Unterzeichnung treten wir in die Phase der Aus-        gesellschaft in Europa, die sich vor allem für globale
einandersetzung um die Ratifizierung der Verfassung ein.      soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, haben begon-
Dann werden in mindestens neun Ländern die Bürge-             nen, nicht nur ganz allgemein ein soziales Europa zu
rinnen und Bürger selbst gefragt sein. Und seit überra-       fordern, sondern sich für die Einzelheiten der Verfas-
schender Weise Tony Blair für Großbritannien ein Refe-        sungsdiskussion zu interessieren und sich kritisch mit
rendum angekündigt hat, ist bei den Befürwortern des          der EU-Verfassung auseinander zu setzen. Dabei ist auch
Verfassungsprojekts große Sorge aufgekommen, es wer-          das Bewusstsein für die Anforderungen an einen demo-
de sich in England eine Mehrheit gegen den Text fin-          kratischen Entstehungsprozess einer Verfassung und an
den. Auch in anderen Ländern ist das Ergebnis der Ab-         eine Verabschiedung durch Bürgerentscheide gewachsen.
Zur Auseinandersetzung um die EU-Verfassung                                                                                            9

Umgekehrt entwickelte sich in der Demokratiebewegung,        Anmerkungen
sichtbar an den Publikationen etwa von „Mehr Demo-           1 Es handelt sich um einen Extrakt aus verschiedenen Vorträ-
                                                             gen, die der Autor in den letzten Monaten, vor ganz unterschied-
kratie e.V.“, ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendig-   lichem Publikum, zum Thema gehalten hat. Die im Juni im Rund-
keit, sich der neoliberalen Form der Globalisierung zu       brief Dreigliederung veröffentlichte Fassung wurde im Oktober
                                                             noch einmal im Hinblick auf neue Entwicklungen geringfügig
widersetzen. Dadurch wurde bei vielen Mitwirkenden der       revidiert.
Bewegung der Blick in bezug auf die Verfassung dafür         2 Vgl. C. Strawe: Verfassung der Europäischen Union: Die Zivil-
geschärft, dass diese nicht nur wegen der formalen Defi-     gesellschaft macht mobil. Rundbrief Dreigliederung des sozialen
                                                             Organismus, 14. Jg., Heft 4, Dezember 2003.
zite ihrer Entstehung bzw. Inkraftsetzung, sondern vor al-   3 Der Text kann heruntergeladen werden unter: http://european-
lem auch wegen ihrer marktfundamentalistisch orientier-      convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf. Die konsolidier-
ten Inhalte zu kritisieren sei.                              te Fassung, bei der besonders die Abweichungen in der Numerie-
                                                             rung der Artikel zu beachten sind, findet sich unter http://ue.eu.int/
    Um so bedauerlicher sind Tendenzen, diese Annähe-        cms3_applications/Applications/igc/
rung zu behindern oder rückgängig zu machen. So ist es       doc_register.asp?lang=DE&cmsid=576
zum Beispiel schwer verständlich, dass bei einem Rats-       4 Vgl. Annette Groth: Konzern Europa. In: Rundbrief Drei-
                                                             gliederung des sozialen Organismus, 15. Jg. Heft 1/2004.
treffen von Attac Deutschland eine Sperrminorität ver-       5 Vgl. http://mehr-demokratie.de/bu/pdf/studie_eu-ve.pdf
hinderte, dass die Forderung nach einem Referendum in        6 Vgl. Aufruf zum Projekt „EU 21“ - Für eine europäische Ver-
eine verfassungskritische Erklärung aufgenommen wurde.       fassung von unten, www.sozialimpulse.de.aufruf.htm
    Von dem Erfolg der Bemühungen, die Anliegen der          7 Richard N. von Coudenhove-Kalergi: „Ein Leben für Europa.
                                                             Meine Lebenserinnerungen“. Köln/Berlin 1966 (Verlag
verschiedenen Strömungen der Zivilgesellschaft, stärker      Kiepenheuer und Witsch), S. 21. Zitiert nach: Gerold Aregger:
miteinander ins Gespräch zu bringen und soweit als           Der Wegbereiter der „Europäischen Gemeinschaft“. Welches Eu-
                                                             ropa? In: „Gegenwart“. Nr. 3/4 1992.
möglich gemeinsam zu handeln, wird in Zukunft sehr           8 http://www.sozialimpulse.de/skizze.htm
viel abhängen.15                                             9 h t t p : / / w w w. s o z i a l i m p u l s e . d e / Te x t e _ h t m l /
                                                             verfassungsvertrag.htm
Gibt es einen W      eg zu einem
                    Weg                                      10 An einigen Stellen wurde sogar regelrechte Desinformation
                                                             betrieben: so wurde ein Deutschland ein kleines Taschenbuch,
Verfassungsprozess von unten?                                das nur Teil I und II des Gesamtentwurfs enthält, von offizieller
Ein Referendum über einen fertigen Entwurf, zu dem man       Seite als „der“ Verfassungsentwurf verbreitet. Viele problemati-
                                                             sche Regelungen finden sich vor allem im Teil III, der dreimal so
nur Ja oder Nein sagen kann, ist noch kein Verfassungs-      umfangreich ist wie die Teile I und II zusammen.
prozess von unten, wie er bereits in dem Aufruf „EU 21“      11 Karl Müller weist auf weitere Kritikpunkte hin, u.a. auf die
gefordert wurde. In diesem Grundanliegen stimme ich          Untergrabung der Autonomie der Mitgliedsstaaten und der Sub-
                                                             sidiarität, schwere Demokratiedefizite und das Fehlen einer kla-
den Argumenten der IG Eurovision (S. 31ff. in diesem         ren Gewaltenteilung. 10 Neuralgic Points of the Constitution for
Heft) zu. Was ich nicht teile, ist die Auffassung, wegen     Europe, http://www.currentconcerns.ch/archive/2004/03/
                                                             20040311.php
des genannten Defizits des Referendums sei dieses im         12 Bestandteil des Kompromisses sind auch Zusatzklauseln, in
Grund eine zu vernachlässigende Größe. Denn es ist           denen für bestimmte Einzelfälle veränderte Stimmrechte veran-
zu befürchten, dass die Forderung nach einem Verfas-         kert wurden. Ein Veto gibt es weiterhin in der Steuerpolitik und
                                                             weiten Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik. Ein
sungsprozess von unten kein nennenswertes Echo mehr          Kompromiss wurde auch bei der strittigen Frage der Zusammen-
findet, wenn der jetzt vorliegende Verfassungsentwurf erst   setzung der Kommission gefunden: Bis zum Jahr 2014 entsendet
                                                             jedes Land wie bisher einen Kommissar nach Brüssel. Danach
einmal in Kraft gesetzt ist. Nur wenn das Verfassungs-       wird die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedsländer
projekt in der gegenwärtigen Form scheitert - und das        reduziert, um die Effizienz zu erhöhen. Eine Rotation soll dazu
wird mit hoher Wahrscheinlich nur durch den negativen        führen, dass kein Land benachteiligt wird. Die Rotation bedeutet,
                                                             dass jedes Land für eine gewisse Periode keinen Vertreter in der
Ausgang eines oder mehrer nationaler Referenden ge-          Kommission haben wird.
schehen können -, dann und nur dann öffnet sich wie-         13 Harald Schumann: Verhöhnung der Demokratie. Die Euro-
                                                             pawahlen sind eine Farce. Denn noch immer bestimmt die Brüs-
der ein Raum, in dem - vielleicht - ein Verfassungsprozess   seler Beamtendiktatur, was in der EU passiert - und nicht das
von unten entstehen kann. Ein Verfassungsprozess ohne        Europäische Parlament. taz Nr. 7380 vom 11.6.2004, Seite 11.
Zeitdruck, in dem die Kreativität der Zivilgesellschaft in   Ein wichtiges Thema sind Kompetenzzuweisung und Kompetenz-
                                                             aneignung durch die EU-Ebene. Bereits in der Vergangenheit war
der Entwicklung der Verfassung zur Geltung kommen            es so, dass die EU-Kommission die Methode der Koordinierung
kann. „Vielleicht“ sage ich deshalb, weil Appelle allein     angewendet hat, um ihren Einflussbereich auszuweiten. Ein Ein-
dazu nicht genügen. Es wird vielmehr eines gehörigen         fallstor für EU-Regelungen ist auch die Flexibilitätsklausel (I-17).
                                                             Diese Flexibilitätsklausel gab es bislang auch schon, sie erlaubte
Maßes an sozialer Kunst bedürfen, um die richtigen           ein Tätigwerden der EU im Hinblick auf den Binnenmarkt, wenn
Partner in einem echten Dialog zusammenzuführen.             die Befugnisse für die Union formal sonst nicht vorgesehen wa-
                                                             ren. Unter Berufung auf die Flexibilitätsklausel sind in der Ver-
     Die Menschen in den Staaten der EU müssen sich          gangenheit 500 - 700 Rechtsakte erlassen worden!!! In der EU-
selbst um die Zukunft Europas kümmern. Bei dieser Zu-        Verfassung wird nun die Flexibilitätsklausel auf alle Politikberei-
                                                             che ausgedehnt! - Das Prinzip der Subsidiarität wird unterminiert,
kunft geht es um weit mehr als um einen geschriebenen        weil die nationalen Parlamente völlig unwirksame Rechte zum
Verfassungstext. Es geht um die „Verfassung“ Europas         Schutz der Subsidiarität erhalten (s. Protokoll über die Anwen-
                                                             dung der Grundsätze der Subsidiarität am Ende der Verfassung).
im Sinne seiner sozialen Befindlichkeit. Der Aufschwung      Zum anderen gilt selbst in den Bereichen geteilter Zuständigkeit
zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die dadurch ermög-       zwischen Union und Mitgliedstaaten der Vorrang der Union: Die
lichten unerwarteten Wendungen, die die Ereignisse bei       Mitgliedstaaten dürfen tätig werden, wenn die Union untätig
                                                             bleibt. (s. I-11(2). Vgl. Andreas Wehr: Europa ohne Demokratie?
den WTO-Gipfeln in Seattle und Cancun genommen               Die Europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alterna-
haben, deuten darauf hin, dass eine Alternative durch-       tiven. PapyRossa Verlag, Köln 2004. Den Hinweis auf die Aussa-
                                                             gen des Buches verdanke ich Elke Schenk.
gesetzt werden kann, wenn sich genügend viele Men-           14 Erklärung für die Schlussakte über die Unterzeichnung des
schen dafür engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger in        Vertrages über die Verfassung.
den Staaten der EU sollten sich nicht einreden lassen,       15 Vgl. EU-AG-Kontrovers: Soll sich Attac der Kampagne für
dass sie doch nichts ausrichten können. Sie sollten sich     ein Referendum über die EU-Verfassung anschließen? Anette
                                                             Groth, Christoph Strawe: Pro Referendumskampagne: Nein zu
vielmehr selbst für die Ausgestaltung des europäischen       einem Europa ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. 5.
Hauses verantwortlich fühlen.                                Newsletter der EU-AG.
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