Kompensations-strategien von älteren Verkehrsteilnehmern nach einer VZR-Auffälligkeit - Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - hbz NRW
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Kompensations- strategien von älteren Verkehrsteilnehmern nach einer VZR-Auffälligkeit Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit Heft M 254
Kompensations- strategien von älteren Verkehrsteilnehmern nach einer VZR-Auffälligkeit von Melanie Karthaus Rita Willemssen Silke Joiko Michael Falkenstein Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund (IfADo) Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Mensch und Sicherheit Heft M 254
Die Bundesanstalt für Straßenwesen veröffentlicht ihre Arbeits- und Forschungs- ergebnisse in der Schriftenreihe Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Die Reihe besteht aus folgenden Unterreihen: A - Allgemeines B - Brücken- und Ingenieurbau F - Fahrzeugtechnik M - Mensch und Sicherheit S - Straßenbau V - Verkehrstechnik Es wird darauf hingewiesen, dass die unter dem Namen der Verfasser veröffentlichten Berichte nicht in jedem Fall die Ansicht des Herausgebers wiedergeben. Nachdruck und photomechanische Wieder- gabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmi- gung der Bundesanstalt für Straßenwesen, Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Die Hefte der Schriftenreihe Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen können direkt bei der Carl Schünemann Verlag GmbH, Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen, Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53, bezogen werden. Über die Forschungsergebnisse und ihre Veröffentlichungen wird in der Regel in Kurzform im Informationsdienst Forschung kompakt berichtet. Dieser Dienst wird kostenlos angeboten; Interessenten wenden sich bitte an die Bundesanstalt für Straßenwesen, Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Ab dem Jahrgang 2003 stehen die Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zum Teil als kostenfreier Download im elektronischen BASt-Archiv ELBA zur Verfügung. http://bast.opus.hbz-nrw.de Impressum Bericht zum Forschungsprojekt FE 82.364/2009: Kompensationsstrategien von älteren Verkehrsteilnehmern nach einer VZR-Auffälligkeit Fachbetreuung: Hardy Holte Herausgeber Bundesanstalt für Straßenwesen Brüderstraße 53, D-51427 Bergisch Gladbach Telefon: (0 22 04) 43 - 0 Telefax: (0 22 04) 43 - 674 Redaktion Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit Druck und Verlag Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH Zweite Schlachtpforte 7, D-28195 Bremen Telefon: (04 21) 3 69 03 - 53 Telefax: (04 21) 3 69 03 - 48 www.schuenemann-verlag.de ISSN 0943-9315 ISBN 978-3-95606-144-8 Bergisch Gladbach, März Januar 2015 2015
3 Kurzfassung–Abstract ihre Intelligenz war allgemein hoch oder im Normbe- reich. Bei der Fahrprobe zeigten ca. 18 % der Teil- nehmer eine zweifelhafte generelle Fahrqualität. Bei KompensationsstrategienvonälterenVerkehrs- der Qualität der Verkehrswahrnehmung und -ein- teilnehmernnacheinerVZR-Auffälligkeit sicht wurde die Leistung bei 30 % der Teilnehmer als zweifelhaft und bei 7,3 % als unzureichend bewertet. Mit zunehmendem Alter kommt es zu Veränderun- gen sensorischer, motorischer und kognitiver Funk- Der Vergleich der Einfach- und Mehrfach-Auffälligen tionen, die durch Erkrankungen und die Einnahme offenbarte insgesamt nur wenige Unterschiede: von Medikamenten verstärkt werden können. Diese Mehrfach-Auffällige fahren mehr Kilometer und häu- Veränderungen können sich auf das Autofahren aus- figer täglich Auto als Einfach-Auffällige. Bei den Kom- wirken und zu Fehlverhalten und Unfällen führen, die pensationsmechanismen zeigte sich insgesamt kein zum Teil im Verkehrszentralregister (VZR) erfasst signifikanter Unterschied zwischen Einfach- und werden. Um Funktionseinschränkungen zu begeg- Mehrfach-Auffälligen. Die Einfach-Auffälligen vermei- nen und weiterhin fahren zu können, aktivieren Älte- den heute im Vergleich zu früher signifikant mehr kri- re häufig Kompensationsmechanismen, wie das Be- tische Situationen als die Mehrfach-Auffälligen, was schränken auf bekannte Strecken. Solche Kompen- auf altersbedingte Kompensation hindeutet. Aller- sationsmechanismen könnten bewirken, dass man- dings war der numerische Unterschied gering und che ältere Fahrer nur einmal VZR-auffällig werden. nur in wenigen der Situationen signifikant. Insbeson- Andere Gründe für die unterschiedliche Frequenz dere vermeiden Einfach-Auffällige im Vergleich zu der Auffälligkeit können Unterschiede in fahrrelevan- Mehrfach-Auffälligen das Fahren in Dunkelheit heute ten Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmalen und mehr als früher. Bei den Persönlichkeitsmerkmalen Selbstbildern sein. und Einstellungen zum Autofahren zeigten sich keine Gruppenunterschiede. Ein klarer Unterschied ergab In der vorliegenden Studie wurde untersucht, wie sich hingegen im Selbstbild: Mehrfach-Auffällige sich ältere VZR-Auffällige, die nur einmal registriert schätzen ihre Fahrkompetenz häufiger als „besser wurden, von Mehrfach-Auffälligen im Hinblick auf als jüngere Fahrer” ein. Bei der verkehrspsychologi- Persönlichkeitsmerkmale, kognitive Funktionen und schen Testung zeigten sich Unterschiede im Subtest Fahrverhalten unterscheiden. Darüber hinaus wurde Ablenkbarkeit des TAP-M, bei dem zentrale Reize überprüft, ob und ggf. welche Kompensations- und irrelevante Ablenkreize präsentiert werden: strategien die Einfach-Auffälligen aktuell im Ver- Mehrfach-Auffällige reagierten hier deutlich langsa- gleich zu früher (mit ca. 45 Jahren) anwenden. Hier- mer auf die relevanten zentralen Reize als Einfach- zu wurden zwei Gruppen von älteren Autofahrern Auffällige. Bei der Fahrverhaltensprobe zeigten sich (72+, 199 Einfach- und 200 Mehrfach-Auffällige, fast ausschließlich Männer) hinsichtlich Fahrgewohnhei- keine Gruppenunterschiede. Die Ergebnisse der vor- ten, Persönlichkeitsmerkmalen, Einstellungen und liegenden Studie liefern keine klaren Anhaltspunkte v. a. Kompensationsmechanismen beim Autofahren dafür, dass Mehrfach-Auffällige größere sensorische, telefonisch befragt. Eine Teilstichprobe (N = 96) kognitive oder motorische Defizite aufweisen oder wurde darüber hinaus einer verkehrspsychologi- eine andere Persönlichkeits- und Einstellungsstruk- schen Testung mit psychometrischen Leistungstests tur haben als Einfach-Auffällige. Auch hinsichtlich und Persönlichkeits- und Einstellungsskalen sowie ihrer Kompensationsstrategien und Fahrkompetenz einer Fahrverhaltensprobe unterzogen. Die Fahrver- zeigten sich keine konsistenten Unterschiede zwi- haltensprobe wurde auf einer anspruchsvollen Test- schen den Gruppen. Daher sind somit weder ver- strecke in Dortmund durchgeführt; das Fahrverhal- stärkte Kontrollen noch zusätzliche Auflagen für ten wurde von geschulten Fahrlehrern mithilfe der Mehrfach-Auffällige zu rechtfertigen. Bei der Interpre- TRIP-Protokolle beurteilt. tation der Daten ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Trennschärfe der beiden Gruppen vermut- Zu den Kompensationsstrategien gaben die meisten lich nicht sehr hoch ist. In zukünftigen Studien sollten Befragten an, kritische Situationen wie Autofahrten daher (vorzugsweise mehrfach) VZR-Auffällige mit bei Müdigkeit und Dunkelheit zu vermeiden. Am häu- unauffälligen Senioren verglichen werden. figsten wurden das vorsichtigere Fahren und das Einhalten eines größeren Sicherheitsabstandes im Darüber hinaus ist grundsätzlich zu empfehlen, Trai- Vergleich zu früher genannt. In der verkehrspsycho- ningsmaßnahmen für ältere Fahrer zu entwickeln, logischen Testung zeigten sich bei den Befragten mit denen ihre Fahrkompetenz und damit die Ver- keine Hinweise für Demenz oder Depression und kehrssicherheit erhöht werden können.
4 Compensatorystrategiesofoldertraffic 18 % of the participants were rated having doubtful participantsafteraVZR-conspicuousness driving skills. The quality of traffic perception and understanding was rated doubtful in 30% and With increasing age changes of sensory, motor, and insufficient in about 7% of the participants. cognitive functions take place. Diseases and medication intake can induce additional functional In the comparison of single vs. multiple VZR deficits or can enhance age-related deficits. registered drivers only few differences were seen: multiple registered drivers had a larger mileage and All these deficits can have an impact on driving and drove more frequently daily compared to single- may induce driving problems, errors, and even registered drivers. Concerning compensation accidents. The latter are partly registered in the mechanisms there was overall no significant “Verkehrszentralregister (VZR)”. In order to cope difference between single- and multiple registered with functional deficits and to continue driving, seniors. In the single analyses a few group elderly often activate compensation mechanisms differences emerged. Single-registered seniors such as the self-restriction to use only well-known avoid currently (compared to earlier in their life) more routes for driving. Such compensation mechanisms critical situations than multiple-registered seniors, may also be the reason that many of the old drivers which suggests some age-related compensation. that were registered in the VZR were only registered However, the numerical differences between the once, i.e. they committed only one VZR-relevant groups were small and only significant in few administrative offence. Other reasons for being situations. In particular single- compared to multiple- registered once or rather several times may be registered seniors avoid driving in darkness currently differences in driving-relevant competences, more than earlier. No group differences were seen personality traits, attitudes, and self-perceptions. concerning personality traits and attitudes towards The present study investigated in which respect old driving. A clear difference emerged in self- drivers which were registered either only once or perception: multiple-registered seniors rated their rather several times in the VZR differ with respect to own driving competence as „better than that of personality traits, driving-relevant cognitive functions younger drivers” more frequently than single- and driving behavior. In addition it is investigated registered seniors. In the psychometric test differen- whether and which compensation strategies the ces emerged only in the sub-test distractibility of the different groups adopted currently as opposed to TAP-M, in which relevant stimuli were presented earlier in their life (at about 45 years). To this aim two together with irrelevant ones. Multiple-registered groups of old active drivers (72+, 199 single seniors reacted much more slowly to the relevant registered, 200 multiple registered, almost targets than single-registered seniors. In the driving exclusively men) were interviewed by phone test in real traffic no group differences were seen. concerning driving habits, personality traits, driving- Even though there were single meaningful group related self-perceptions, and compensation differences, the results of the present study provide mechanisms during driving. A subsample (N = 96) no consistent evidence for the assumption that additionally underwent psychological tests and a multiple-registered seniors have larger sensory, driving test in real traffic. The tests embraced some motor or cognitive deficits or different personality traffic-relevant psychometric tests as well as traits and self-perceptions than single-registered questionnaires concerning personality traits, self- seniors. Also there was no consistent group perceptions, and attitudes. The driving test was difference in compensation strategies and driving conducted on a critical test route in Dortmund; performance. The results of the present study hence driving behavior was checked by experienced do not justify increased monitoring or constraints for driving instructors using the TRIP-protocol. multiple-registered seniors. Concerning the interpretation of the results it should be considered Concerning compensation strategies most of the that the degree of separation of the two groups is respondees stated avoiding critical situations such presumably rather low. In future studies VZR- as driving fatigued or in darkness. Compared to registered seniors (preferentially multiple-registered earlier in their life they mentioned as most frequent ones) should be compared to nonregistered seniors. current strategies more cautious driving and keeping a larger safe distance. In the psychological tests the Moreover, it can be generally recommended to subjects showed no signs for dementia or develop training procedures for older drivers to depression, and their intelligence was generally high increase their driving competence and thereby traffic or in normal range. During the driving test about security.
5 Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 6.6 Statistische Auswertungs- verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2 DemografischeEntwicklung undMobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 7 DeskriptiveErgebnisseder Gesamtstichprobe . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1 Demografische Entwicklung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 7.1 Deskriptive Ergebnisse des Telefoninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2 Mobilität im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 7.2 Deskriptive Ergebnisse der 2.3 Unfallwahrscheinlichkeit und verkehrspsychologischen Testung . . . . 41 VZR-Auffälligkeit im Alter . . . . . . . . . . . 9 7.3 Deskriptive Ergebnisse der 2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen Fahrverhaltensprobe. . . . . . . . . . . . . . . 42 in Deutschland und Europa . . . . . . . . . 10 8 VergleichderEinfach-und 3 AltersbedingteLeistungs- Mehrfach-Auffälligen . . . . . . . . . . . . . 44 beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . 12 8.1 Einfach- vs. Mehrfach-Auffällige 3.1 Perzeptive Beeinträchtigungen. . . . . . . 12 im Telefoninterview . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.2 Motorische Beeinträchtigungen . . . . . . 13 8.2 Einfach- vs. Mehrfach-Auffällige 3.3 Kognitive Beeinträchtigungen. . . . . . . . 14 in der verkehrspsychologischen 3.4 Altersbedingte Erkrankungen Testung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 und Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 8.3 Einfach- vs. Mehrfach-Auffällige in der Fahrverhaltensprobe . . . . . . . . . 55 4 Kompensationsmechanismen imAlter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 9 Exkurs:Zusammenhangzwischen 4.1 Kompensation auf der derLeistunginderFahrverhaltens- Makro-Ebene (Verhalten) . . . . . . . . . . . 20 probeundPersonenmerkmalen . . . . 56 4.2 Kompensation auf der Mikro-Ebene (Physiologie) . . . . . . . . . . 21 10 Zusammenfassungund Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.3 Dysfunktionale Kompensation . . . . . . . 22 11 Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5 Verkehrsrelevante Persönlichkeitseigenschaften . . . . . . 23 12 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.1 Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 5.2 Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 6 EmpirischeStudie . . . . . . . . . . . . . . . 26 6.1 Rekrutierung der Teilnehmer . . . . . . . . 26 6.2 Beschreibung der Stichprobe . . . . . . . . 28 6.3 Telefoninterview . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 6.4 Verkehrspsychologische Testung . . . . . 30 6.5 Fahrverhaltensprobe. . . . . . . . . . . . . . . 32
7 1 Einleitung Im vorliegenden Forschungsprojekt soll zum einen untersucht werden, ob ältere Autofahrer eigenver- Durch den demografischen Wandel in Deutschland antwortlich Kompensationsmechanismen einsetzen und anderen westeuropäischen Ländern steigt der und welche Strategien dazu verwendet werden, Anteil älterer Personen an der Gesamtbevölkerung mögliche Defizite auszugleichen. Darüber hinaus kontinuierlich an. Damit wird auch die Zahl älterer soll überprüft werden, ob sich die Gruppe der Ein- Autofahrer immer größer und die Stimmen derer, fach-Auffälligen von der Gruppe der Mehrfach-Auf- die eine zeitlich begrenzte Fahrerlaubnis für Senio- fälligen in ihrem Kompensationsverhalten unter- ren fordern, auch hierzulande immer lauter. Be- scheidet und/oder es andere wesentliche Unter- gründet wird eine solche Forderung einerseits mit schiede zwischen diesen Gruppen gibt, die erklären dem Verweis auf die sensorischen, motorischen können, warum manche ältere Autofahrer nach und kognitiven Beeinträchtigungen und anderer- einem VZR-Eintrag nicht mehr, andere jedoch er- seits mit der höheren Getötetenquote, die mit zu- neut auffällig werden. nehmendem Alter pro gefahrenem Kilometer zu be- In der Literatur wird eine wiederholte Auffälligkeit obachten sind. Dem gegenüber steht die Mobilität von Autofahrern nicht selten als geeigneter Indika- als wichtiger Faktor für die Teilnahme am gesell- tor für vorhandene Leistungseinbußen verstanden schaftlichen Leben und das subjektive Wohlbefin- (vgl. SCHADE & HEINZMANN, 2008). Diese An- den älterer Menschen. Es gilt, eine Balance zwi- nahme dient häufig als Begründung für die Forde- schen dem Grundbedürfnis nach Mobilität und der rung nach bestimmten Maßnahmen für Mehrfach- Verkehrssicherheit zu finden. Auffällige wie z. B. medizinisch-psychologische Un- Ein Ansatzpunkt für die Identifizierung potenziell tersuchungen oder Nachschulungen. Ob dieser gefährdeter (oder gefährdender) älterer Autofahrer vermutete Zusammenhang zwischen wiederholter ist das Verkehrszentralregister (VZR), in dem die Auffälligkeit und vorhandenen Leistungsbeeinträch- verschiedensten Ordnungswidrigkeiten und Straf- tigungen bei älteren Autofahrern tatsächlich be- taten im Straßenverkehr gespeichert sind. Im Rah- steht, soll in diesem Projekt überprüft werden. Des- men des BASt-Projekts „Alterstypisches Verkehrs- halb werden zwei Gruppen von älteren Autofahrern risiko” (FE 89.179/2006) wies das Kraftfahrtbun- (Einfach- vs. Mehrfach-Auffällige) auch hinsichtlich desamt (KBA) u. a. nach, dass Senioren alterstypi- verschiedener fahrrelevanter Leistungsmerkmale sche Verkehrsauffälligkeiten zeigen, die sich ver- untersucht. stärkt in bestimmten Einträgen im Verkehrszentral- In dem vorliegenden Bericht wird zunächst die de- register (VZR) widerspiegeln. Bemerkenswert ist, mografische Entwicklung in Deutschland beschrie- dass die Wahrscheinlichkeit für weitere VZR-Auffäl- ben und aufgezeigt, welche Bedeutung Mobilität im ligkeiten älterer Verkehrsteilnehmer im Anschluss Alter hat (Kapitel 2). Darüber hinaus werden die an einen Eintrag in das Verkehrszentralregister Unfallwahrscheinlichkeit und die VZR-Auffällig- deutlich abnimmt. Eine mögliche Erklärung hierfür keiten älterer Autofahrer sowie die gesetzlichen ist, dass ältere Autofahrer1 diesen Eintrag als An- Rahmenbedingungen in Deutschland und anderen lass für eine Umstellung ihres persönlichen Mobili- europäischen Staaten dargestellt. täts- oder Fahrverhaltens nehmen und mögliche vorhandene Defizite durch entsprechende Verhal- In Kapitel 3 werden verschiedene altersbedingte tensänderungen kompensieren. Nichtsdestotrotz Leistungsbeeinträchtigungen beschrieben. Hierzu gibt es ältere Autofahrer, die im Sinne des VZR gehören perzeptive, motorische und kognitive Be- mehrfach auffällig werden – möglicherweise gelingt einträchtigungen. Darüber hinaus wird ein kurzer es diesen Personen nicht, geeignete Kompensa- Überblick über altersbedingte Erkrankungen und tionsstrategien einzusetzen. die damit einhergehende Medikamenteneinnahme gegeben, die sich auf die Fahrkompetenz älterer Autofahrer auswirken können. In Kapitel 4 werden zum einen die verschiedenen Kompensationsmechanismen, die von älteren Au- 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden Personen- tofahrern (auf Makro- und Mikro-Ebene) eingesetzt bezeichnungen in diesem Bericht ausschließlich in der gram- werden, und zum anderen die dysfunktionale Kom- matikalisch maskulinen Form verwendet. Sofern nicht aus- drücklich anders gekennzeichnet, bezeichnen sie jedoch pensation und ihre Auswirkungen auf das Fahrver- selbstverständlich Personen beiderlei Geschlechts. halten beschrieben.
8 Kapitel 5 beschäftigt sich im Anschluss mit ver- Dass ältere Menschen in den meisten OECD-Mit- kehrsrelevanten Persönlichkeitseigenschaften wie gliedstaaten die am schnellsten wachsende Bevöl- Verantwortungsbewusstsein und Gewissenhaftig- kerungsgruppe darstellen, ist auf mehrere Tat- keit, Selbstkontrolle und Verträglichkeit, Abenteuer- sachen zurückzuführen: Die Ersten der so genann- lust und Risikobereitschaft. Auch das Selbstbild von ten „Baby Boom”-Generation (bezeichnet Personen Personen kann einen Einfluss auf das Verhalten der Jahrgänge 1946-1964) haben inzwischen das und damit auch auf das Fahrverhalten haben. Seniorenalter erreicht, während die Lebenserwar- tung insgesamt steigt und die Geburtenraten Kapitel 6 stellt die Studie vor, die durchgeführt gleichzeitig sinken. All dies führt zu der Prognose, wurde, um die zentrale Frage nach möglichen Un- dass sich der Anteil der über 80-Jährigen in den terschieden zwischen einfach und mehrfach auffäl- OECD-Staaten bis zum Jahr 2050 voraussichtlich lig gewordenen älteren Autofahrern zu beantwor- verdreifachen wird (OECD, 2001; SCHLAG, ten. Die Studie bestand aus drei Teilen, einem 2008a). In Deutschland machte der Anteil der 16,4 Telefoninterview, einer verkehrspsychologischen Millionen Menschen, die 65 Jahre oder älter sind, Testung und einer Fahrverhaltensprobe. im Jahr 2007 rund 20 % der Gesamtbevölkerung In Kapitel 7 werden zunächst die deskriptiven Er- aus, wobei 4,2 % älter als 80 Jahre sind (Statisti- gebnisse über die Leistung in der Fahrverhaltens- sches Bundesamt, 2009). Den Prognosen zufolge probe, die perzeptiven, motorischen und kognitiven wird im Jahr 2060 bereits jeder Dritte älter als 65 Leistungen sowie die Fahrgewohnheiten, -biogra- Jahre alt sein. Das Statistische Bundesamt geht fien und -motivation der Gesamtstichprobe berich- davon aus, „… dass in fünfzig Jahren etwa 14 % tet. Sie liefern wichtige Informationen über das der Bevölkerung – das ist jeder Siebente – 80 Jahre Fahrverhalten älterer Autofahrer ab 72 Jahren. In oder älter sein wird” (Statistisches Bundesamt, Kapitel 8 schließen sich die Ergebnisse der zentra- 2009). len Fragestellung der Studie an, die den Vergleich zwischen Einfach- und Mehrfach-Auffälligen betref- Mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft fen. Abschließend folgt eine zusammenfassende steigt auch die Zahl der älteren Menschen, die Diskussion der Ergebnisse (Kapitel 10). mobil sein bzw. bleiben möchten oder müssen. Ge- sellschaftliche Gepflogenheiten und politische Rah- menbedingungen tragen zur Veränderung des Mo- bilitätsverhaltens der Bevölkerung bei. Waren z. B. 2 DemografischeEntwicklung Frauen, die einen Führerschein besitzen, vor über undMobilität 50 Jahren noch die Ausnahme, ist es heute für junge Männer und Frauen eher die Regel, schon im Die Untersuchung älterer Autofahrer, die durch Alter von 18 Jahren die Pkw-Fahrerlaubnis zu er- einen oder mehrere Einträge im Verkehrszentral- werben (POSCHADEL, FALKENSTEIN, RINKE- register (VZR) auffällig wurden, muss vor dem Hin- NAUER, MENDZHERITS-KIY, FIMM et al., 2012b), tergrund des demografischen Wandels betrachtet was sich auch in dem Anteil der Führerscheinbesit- werden. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie zer und -besitzerinnen widerspiegelt: Von den sich die demografische Entwicklung in Deutschland heute 80-jährigen Frauen besitzen gerade einmal und anderen westeuropäischen Ländern auf die 10 % den Pkw-Führerschein – im Jahr 2025 wer- Mobilität auswirkt und wie sich die Altersverteilung den jedoch voraussichtlich 80 % der Frauen (und in den Unfallstatistiken und im Verkehrszentral- weit über 90 % der Männer) die Fahrerlaubnis für register widerspiegelt. Pkw besitzen (INFAS & DLR, 2010; KAISER & OSWALD, 2000; PFAFFEROTT, 1994). 2.1 DemografischeEntwicklungin Auch politische Entwicklungen haben einen Ein- Deutschland fluss auf das Mobilitätsverhalten: So geht eine ge- setzlich vorgeschriebene Verlängerung der Er- Schon jetzt ist zu beobachten, dass die aktuellen werbstätigkeit wie bei der „Rente mit 67” automa- demografischen Veränderungen in Westeuropa zu tisch mit der anhaltenden Notwendigkeit, mobil zu einer Alterung der Bevölkerung führen und dieser bleiben, einher. Durch die höhere Lebenserwartung Trend wird sich in den nächsten Jahrzehnten ver- haben die Menschen zudem mehr Zeit und Gele- mutlich noch verstärken (vgl. BECKMANN, HOLZ- genheit, ihren Ruhestand aktiv zu gestalten, wobei RAU, RINDSFÜSER & SCHEINER, 2005). Mobilität eine wesentliche Rolle spielt (SCHLAG,
9 2008b). Das bestätigen auch die Studien „Mobilität fahren, fast fünfmal so hoch ist wie das der aktiven in Deutschland” von INFAS und DLR: Während der Autofahrer – und zwar unabhängig von deren Ge- Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölke- sundheitszustand, Alter, Geschlecht und Familien- rung von 2002 bis 2008 um 16 % gestiegen ist, stand. Im Vergleich zu älteren Personen, die noch nahm der Anteil der Strecken, den diese Alters- nie Auto gefahren sind, war das Pflege-Risiko der gruppe im gleichen Zeitraum selbst mit dem Auto Personen, die nicht mehr Auto fahren, mehr als zurücklegte, um 31 % zu (INFAS & DLR, 2010). dreimal so hoch. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, die Fahr- 2.2 MobilitätimAlter kompetenz älterer Autofahrer so lange wie möglich zu erhalten. Mobilität bedeutet für junge und insbesondere älte- re Menschen Freiheit und Unabhängigkeit und trägt wesentlich zum subjektiven Wohlbefinden bei 2.3 Unfallwahrscheinlichkeitund (SCHLAG, 2008b). VZR-AuffälligkeitimAlter Vor allem in der Zeit nach der Pensionierung haben Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren im viele Menschen das Bedürfnis, Reisen zu unter- Jahr 2012 insgesamt 66.470 ältere Menschen nehmen und andere Dinge zu erleben, für die vor- (> 65 Jahre) an Unfällen mit Personenschaden be- her keine Zeit war (SCHLAG, 2008b). Dem Auto- teiligt, das entspricht einem Anteil von 11,5 % aller fahren kommt hierbei eine besonders große Be- Unfallbeteiligten (Statistisches Bundesamt, 2013). deutung zu, denn zum einen ermöglicht das Auto Obwohl dies eine unterproportionale Unfallbeteili- Mobilität auch in ländlichen Gebieten, in denen Se- gung ist, sollte berücksichtigt werden, dass die nioren überdurchschnittlich stark vertreten sind und durchschnittliche Fahrleistung dieser Altersgruppe der öffentliche Personennahverkehr weniger gut auch deutlich geringer ist als die jüngerer Alters- ausgebaut ist. Zum anderen sind öffentliche Ver- gruppen. Tatsächlich gibt es Studien, die belegen, kehrsmittel bei älteren Menschen generell weniger dass die Unfallwahrscheinlichkeit älterer Personen beliebt als das Autofahren. Viele Senioren fühlen (über 75 Jahren) pro gefahrenem Kilometer etwa sich z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht so hoch ist wie die sehr junger Autofahrer (z. B. sicher, da sie Angst vor Belästigungen und Krimi- RYAN, LEGGE & ROSMAN, 1998). Laut Statis- nalität haben (SCHLAG, 2008b). Demgegenüber tischem Bundesamt (2013) waren Senioren vor stellt das Auto eine subjektiv sicherere, bequemere allem als Autofahrer in Unfälle mit Personenscha- und flexiblere Alternative dar, das Bedürfnis, aktiv den verwickelt (62,9 %) und deutlich seltener als und mobil zu sein, zu befriedigen. Wird dieses Be- Radfahrer (19,6 %) oder als Fußgänger (10,4 %). dürfnis jedoch nicht erfüllt und die Mobilität einge- Von den älteren Autofahrern, die an einem Unfall schränkt, ist es schwieriger, Sozialkontakte wahrzu- beteiligt waren, trugen zwei Drittel (66,7 %) die nehmen, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu Hauptschuld an dem Unfall, bei den 75-jährigen erleben, und darunter leidet auch die individuelle und älteren Autofahrern waren es sogar drei Viertel Lebensqualität (KOCHERSCHEID & RUDINGER, (75,6 %). Damit sind Senioren etwa gleich häufig 2005; SCHLAG, 2008b). Hinzu kommt, dass die un- Unfallverursacher wie Fahranfänger (18-24 Jahre). freiwillige Aufgabe des Autofahrens auch dazu füh- Das Statistische Bundesamt (2013) verzeichnete ren kann, dass die Selbstwertschätzung der Betrof- für das Jahr 2012 insgesamt 41.807 Unfälle älterer fenen sinkt und sie sich ihres eigenen Alters be- Autofahrer mit Personenschaden. Bei diesen Un- wusst werden (ENGELN & SCHLAG, 2008). Tat- fällen wurden den beteiligten Senioren 32.787 sächlich gibt es Hinweise darauf, dass hierdurch Fehlverhalten zur Last gelegt. Dabei handelte es auch die gesundheitliche Entwicklung von älteren sich vor allem um Vorfahrtsfehler (18,1 %) und Menschen negativ beeinflusst werden (SCHLAG, Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwarts-, Ein- 2008a) und höhere Depressivitätswerte zur Folge oder Anfahren (16,8 %). Eher selten kam es zu Ab- haben können (FONDA, WALLACE & HERZOG, standsfehlern (7,9 %), zu falschem Verhalten ge- 2001). So konnten FREEMAN, GANGE, MUNOZ genüber Fußgängern (6,4 %) oder Fehlern beim und WEST (2006) in einer Untersuchung mit 1.593 Überholen (2,4 %). Auch die nicht angepasste älteren Personen zeigen, dass das Risiko einer Geschwindigkeit (5,0 %), falsche Straßenbenut- dauerhaften Betreuung bei älteren Personen, die zung (3,4 %) und Fahren unter Alkoholeinfluss seit mindestens einem halben Jahr kein Auto mehr (0,7 %) spielen eine eher untergeordnete Rolle.
10 Wenn Autofahrer eines oder mehrere dieser Fehl- den immer weniger erfolgreich zu sein, sodass die verhalten zeigen, muss es nicht zwangsläufig zum bestehenden Probleme nicht mehr aufgefangen Unfall kommen. Da es sich bei diesen Fehlverhal- werden können (zweite Stufe des Modells) und es ten jedoch um Ordnungswidrigkeiten handelt, wer- häufiger zu Unfällen kommt (SCHADE & HEINZ- den sie mit einem entsprechenden Eintrag in MANN, 2008). Das erhöhte Unfallrisiko und auch das Verkehrszentralregister (VZR) und einer Geld- das häufig beobachtete Fehlverhalten älterer Au- buße bestraft. tofahrer ist vermutlich auf die mit zunehmendem Alter beeinträchtigten sensorischen, motorischen In dem BASt-Projekt „Alterstypisches Verkehrs- und kognitiven Fähigkeiten zurückzuführen risiko” (FE 89.179/2006) beschäftigte sich das (ANSTEY, WOOD, LORD & WALKER, 2005). Kraftfahrtbundesamt (KBA) mit der Frage, ob Ein- Einen eindeutigen Beleg für diesen angenomme- träge im VZR eine Prognose über die Fahrkompe- nen Zusammenhang gibt es bislang jedoch nicht. tenz älterer Autofahrer erlauben und somit über Mit dem vorliegenden Projekt soll zur Beantwor- die VZR-Auffälligkeit Senioren identifiziert werden tung dieser noch offenen Frage beigetragen wer- können, die die Verkehrssicherheit gefährden den. (SCHADE & HEINZMANN, 2008). Hierzu unter- suchte das KBA die Daten von insgesamt 350.000 Personen im Alter von 35-84 Jahren und legte sei- 2.4 GesetzlicheRahmenbedingungen nen Aufmerksamkeitsfokus dabei auf die Ver- inDeutschlandundEuropa kehrsauffälligkeiten der Autofahrer im Alter von 65 bis 84 Jahren. Hierbei ergaben sich als alters- In verschiedenen europäischen Ländern gibt es typische Fehlverhaltensweisen vor allem Vorfahrt- spezielle Regelungen, die eine Überprüfung der fehler, falsche Straßenbenutzung und Rotlicht- Fahreignung im Alter vorschreiben. Die Bandbrei- missachtung. Insbesondere diese als schwere te dieser Vorschriften ist groß und reicht von der Fehlverhaltensweisen klassifizierten Fehler neh- Abgabe einer Erklärung über den Gesundheitszu- men mit steigendem Alter stark zu. Konkret ma- stand einschließlich eines Gesprächs mit dem Au- chen sie in jüngeren Jahren knapp 10 % und im tofahrer (England) bis hin zu einer medizinischen Alter von über 80 Jahren schon rund 50 % aus Untersuchung durch einen Arzt (z. B. Griechen- (SCHADE & HEINZMANN, 2008). Auffallend hier- land, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, bei ist, dass die Wahrscheinlichkeit für weitere Spanien), die teilweise in regelmäßigen Abstän- VZR-Auffälligkeiten bei älteren Autofahrern, die al- den erfolgen soll. Ab welchem Alter und wie häufig terstypische Fehlverhaltensweisen zeigen, im Ver- eine solche medizinische Untersuchung vorge- gleich zu Personen, die andere Fehlverhaltens- nommen werden muss, wird in den einzelnen EU- weisen zeigen, in den nächsten Jahren deutlich Staaten unterschiedlich gehandhabt: Während in sinkt. Gleichzeitig ist bei ihnen eine niedrigere Ge- Irland beispielsweise Autofahrer ab 70 Jahren in fährdungsrate, aber auch eine höhere Unfallquote Abhängigkeit der medizinischen Situation alle 1, 3 zu beobachten. Diese Effekte werden mit zuneh- oder 10 Jahre eine ärztliche Untersuchung vor- mendem Alter immer ausgeprägter. Die Autoren nehmen lassen müssen, sind Autofahrer in Spa- erklären diese sich scheinbar widersprechenden nien schon ab einem Alter von 45 Jahren dazu ver- Ergebnisse mit einem Zwei-Stufen-Modell. Dem- pflichtet, sich alle 5 Jahre und ab einem Alter von nach bemühen sich ältere Autofahrer mit einem 70 Jahren alle 2 Jahre medizinisch untersuchen zu VZR-Eintrag zunächst darum, ihre bewusst oder lassen (FRIES, LÖSSL & WILKES, 2008). Auch unbewusst wahrgenommene Fahrunsicherheit zu hierzulande werden immer wieder Stimmen laut, kompensieren, indem sie ihr Fahrverhalten anpas- die eine zeitliche Beschränkung der Fahrerlaubnis sen oder bestimmte Fahrsituationen vermeiden. und/ oder eine medizinische Untersuchung von Hierzu gehört z. B. größere Vorsicht, Einschrän- (mehrfach auffälligen) älteren Autofahrern fordern. kung der Autofahrten auf bekannte Strecken oder eine insgesamt deutlich verminderte Fahrleistung. In Deutschland gibt es jedoch bislang nur zeitliche Die Anwendung dieser oder ähnlicher Kompensa- Beschränkungen für einzelne Führerscheinklassen: tionsstrategien stellt demnach die erste Stufe des So wird die Fahrerlaubnis für die Führerscheinklas- Modells dar. Die Bemühungen, vorhandene Fahr- sen C1 und C1E und die so genannten Busklassen unsicherheiten zu kompensieren, scheinen jedoch D, D1, DE und D1E laut Fahrerlaubnisverordnung mit zunehmendem Alter aus verschiedenen Grün- (FeV) nur „bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres
11 erteilt” (§ 23 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3 FeV). Danach 2013 ist diese Richtlinie in Deutschland in nationa- erfolgt die Neuerteilung der Fahrerlaubnis nur für les Recht übergegangen, sodass die Gültigkeit des jeweils fünf weitere Jahre. Führerscheindokuments (nicht der Fahrerlaubnis!) zukünftig nur noch 15 Jahre beträgt. Nach Ablauf Eine generelle Befristung der Fahrerlaubnis für Pkw dieses Zeitraums muss der Führerschein erneut wie in anderen EU-Staaten gibt es jedoch nicht. Der ausgestellt werden. Führerscheine, die vor dem 19. Gesetzgeber sieht den Fahrzeugführer selbst in der Januar 2013 ausgestellt wurden, sind vorerst nicht Verantwortung, für eine sichere Teilnahme am Stra- betroffen, sondern noch bis 2032 gültig. ßenverkehr zu sorgen – und zwar unabhängig von seinem Alter. So heißt es in der Fahrerlaubnisver- Laut dem Amtsblatt der Europäischen Union ordnung (§ 2 Abs. 1 FeV): „Wer sich infolge körper- (L403/18 vom 20.12.2006) kann die zeitliche Befris- licher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr tung des Führerscheins ausdrücklich auch dazu ge- bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, nutzt werden, die Fahreignung durch „ärztliche Un- wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht tersuchungen oder andere von den Mitgliedstaaten gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich vorgeschriebene Maßnahmen” zu überprüfen. durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Rechtlich besteht also auch hierzulande durchaus Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedma- die Möglichkeit, die Neuausstellung des Führer- ßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung scheins zukünftig in irgendeiner Weise von einer oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kenn- ärztlichen oder psychologischen Untersuchung ab- zeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst hängig zu machen. oder einem für ihn Verantwortlichen.” Da altersbe- dingte Einschränkungen der Fahrtauglichkeit hier Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat hat sich nicht explizit erwähnt werden, gilt die Verordnung 2009 mit dem Thema „Befristung und Beschrän- für alle Verkehrsteilnehmer gleichermaßen. kung der Fahrerlaubnis” beschäftigt. Die Möglich- keit, die Neuausstellung des Führerscheins an „die Tatsächlich gibt es bislang auch keine Belege dafür, körperliche und geistige Tauglichkeit auch bei Fah- dass die in vielen europäischen Ländern bereits rern von Pkw und Motorrädern” zu binden, lehnen durchgeführten altersabhängigen Untersuchungen die Experten jedoch ab. Sie begründen dies mit das Unfallrisiko älterer Autofahrer signifikant sen- „der empirisch gesicherten Feststellung, dass ken. Es besteht zudem die Gefahr, dass ältere Au- damit im Regelfall kein relevanter unfallsenkender tofahrer als Folge von zu restriktiven Maßnahmen Effekt verbunden ist. Das gilt auch für ältere Ver- ihre Verkehrsteilnahme in weniger geschützte Be- kehrsteilnehmer, zumal kein gesicherter direkter reiche verlagern und so ihr Unfallrisiko sogar erhö- Zusammenhang zwischen zunehmendem Alter, hen könnten (SIREN & MENG, 2012). Weniger gesundheitsbedingter Leistungseinschränkung restriktive und deshalb geeignetere Maßnahmen und Unfallhäufigkeit besteht“. Es wird jedoch die zur Verbesserung der Verkehrssicherheit älterer Möglichkeit in Betracht gezogen, dass im Einzelfall Verkehrsteilnehmer könnten sein: bei „schwerwiegenden Beeinträchtigungen der • gezielte Beratung z. B. durch (Haus-)Ärzte, Leistungsfähigkeit” bestimmte Auflagen erteilt wer- den können. Diese könnten beispielsweise darin • bessere Kennzeichnung der potenziellen Beein- bestehen, Fahrten in der Dämmerung und in der trächtigungen durch Medikamente, Nacht oder Fahrten auf Autobahnen auszuschlie- • Reduzierung der Mobilitätsanforderungen z. B. ßen. Der Verkehrssicherheitsrat fordert vielmehr, durch die Beseitigung von Barrieren, bessere dass insbesondere ältere Menschen selbst etwas Lösungen in der Verkehrsplanung und -steue- zur Erhaltung ihrer Fahrtauglichkeit beitragen sol- rung sowie die Unterstützung durch Fahreras- len, indem sie ihr Verkehrswissen auffrischen, sich sistenzsysteme. geistig wie körperlich fit halten und ihr Fahrkönnen trainieren. Tatsächlich konnte gezeigt werden, Im Rahmen der Vereinheitlichung des europäi- dass ältere Autofahrer ihre Fahrkompetenz z. B. schen Führerscheinrechts entstand die 3. Führer- durch ein individuelles Fahrtraining im Realver- scheinrichtlinie der EU (Richtlinie 2006/126/EG des kehr erheblich verbessern können und die Trai- Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. ningseffekte auch nach einem Jahr noch stabil Dezember 2006), die eine europaweite zeitliche sind (POSCHADEL, BÖNKE, BLÖBAUM & Befristung der Fahrerlaubnis vorsieht. Im Januar RABCZINSKI, 2012a).
12 3 Altersbedingte 3.1 PerzeptiveBeeinträchtigungen Leistungsbeeinträchtigungen SehenimAlter Um den komplexen Anforderungen des Führens Beim Autofahren werden 80-90 % der verkehrsrele- eines Fahrzeuges gerecht zu werden, ist eine In- vanten Informationen über das Auge aufgenommen teraktion perzeptueller, kognitiver und motorischer (LACHENMAYR, 2003). Das visuelle System er- Prozesse erforderlich. Auch im gesunden Alte- möglicht die Farb-, Objekt- und Bewegungswahr- rungsprozess lassen sich Veränderungen sensori- nehmung und die räumliche Tiefenwahrnehmung. scher (z. B. SCHNEIDER & PICHORA-FULLER, Für die visuelle Informationsaufnahme realisiert 2000), motorischer (z. B. YORDANOVA, KOLEV, das Auge die Anpassung der Empfindlichkeit an die HOHNSBEIN & FALKENSTEIN, 2004) und kogni- jeweils herrschende Leuchtdichte (Adaptation), die tiver Funktionen (NIELSON, LANGENECKER & Einstellung unterschiedlicher Sehentfernungen GARAVAN, 2002) feststellen, die zu einer Beein- (Akkommodation) und die Ausrichtung auf den zu trächtigung der Fahrfähigkeit führen können: So fixierenden Gegenstand (Fixation) (WINNER, werden visuelle, motorische und kognitive Ursa- HAKULI & WOLF, 2009). chen nach OWSLEY, BALL, SLOANE, ROENKER & BRUNI (1991) dafür verantwortlich gemacht, Altersbedingte Veränderungen des visuellen Sys- dass es älteren Autofahrern vor allem an komple- tems, die sich teilweise korrigieren lassen, finden an der Hornhaut, der Pupille, der Linse, den Lin- xen Kreuzungen schwerfällt, das eigene Fahrzeug senmuskeln und den Nervenfasern des visuellen zu kontrollieren, gleichzeitig seitlich herannahende Systems statt und setzen bereits ab einem Alter Verkehrsteilnehmer wahrzunehmen und deren von 35 Jahren ein (GUSKI, 1996). Eine Verände- Geschwindigkeit adäquat einzuschätzen. Ältere rung der Sehleistung kann sich jedoch schleichend Menschen benötigen außerdem mehr Zeit als jün- einstellen, sodass sie nicht immer bemerkt und gere, um Stimuli im peripheren Gesichtsfeld zu somit nicht korrigiert wird. In Kombination mit ande- entdecken (HARTLEY & McKENZIE, 1991), sie ren Einschränkungen wie der Motorik und der haben Schwierigkeiten ihre Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit kann sich das Unfallrisiko des gleichzeitig auf mehrere Aufgaben zu richten Fahrers dann erhöhen (KAISER & OSWALD, (BROUWER, WATERINK, van WOLFFELAAR & 2000). ROTHENGATTER, 1991), und sie schätzen die Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge schlechter Die mit dem Alter zunehmende Inflexibilität der als jüngere Autofahrer ein (SCIALFA, GUZY, LEI- Linse wirkt sich vor allem auf die Akkommoda- BOWITZ, GARVEY & TYRRELL, 1991). Ungeach- tionsfähigkeit aus. Die Linse verliert die Fähigkeit, tet der verschiedenen altersbedingten Beeinträch- ihre Form so zu verändern, dass nahe gelegene tigungen perzeptiver, motorischer und kognitiver Objekte scharf auf der Retina abgebildet werden, Art, die im Folgenden detaillierter beschrieben und dies kann z. B. dazu führen, dass das Auge werden, sollte erwähnt werden, dass diese Beein- Objekte, deren Distanzen variieren, nicht mehr hin- trächtigungen nicht automatisch mit einer geringe- reichend fokussieren kann (ELLINGHAUS, ren Fahreignung oder Fahrtüchtigkeit einher- SCHLAG & STEINBRECHER, 1990). Außerdem gehen. Neben der großen interindividuellen Varia- wird die Linse zunehmend gelblich, sodass die ins bilität setzen ältere Autofahrer auch verschiedene Auge fallende Lichtmenge reduziert wird (GUSKI, Strategien ein, mit denen sie mögliche Defizite 1996). Ebenso sinkt die Unterscheidungsfähigkeit oder Beeinträchtigungen teilweise sehr gut kom- für Farbsättigung ab dem 50. Lebensjahr pensieren können (s. Kapitel 4). Darüber hinaus ist (COOPER, WARD, GOWLAND & McINTOSH, nicht bekannt, ab wann und/oder in welchem Aus- 1991). maß sich eine altersbedingte Leistungsbeeinträch- tigung in einem oder mehreren Bereichen tatsäch- Mit zunehmendem Alter verringert sich auch die maximale Größe der Pupille, sodass das Sehen bei lich auf die Fahreignung/-tüchtigkeit auswirkt und schwachem Licht behindert wird. Damit wird die auf damit relevant für die Verkehrssicherheit ist. Hier die Retina fallende Lichtmenge reduziert und die besteht dringender Forschungsbedarf. Steuerung der Pupillenweite wird durch muskuläre Veränderungen träger. Dies führt zu einer lang- sameren Anpassung an wechselnde Lichtverhält- nisse (GUSKI, 1996).
13 Augenerkrankungen wie die Katarakt (grauer Star), Orientierung im Straßenverkehr auf die visuelle das Glaukom (grüner Star), die diabetische Retino- Kontrolle; die Beurteilung von Geräuschen hat je- pathie und die altersabhängige Makuladegenerati- doch nach BOOTZ (2007) eine besondere Bedeu- on steigen mit zunehmendem Alter erheblich an tung. Dem gehörlosen oder stark schwerhörigen (FINGER, FIMMERS, HOLZ & SCHOLL, 2011) und Verkehrsteilnehmer ist es nicht möglich, auf akusti- stellen eine besondere Gefahr für die Verkehrssi- sche Warnsignale wie z. B. Hupen oder Martins- cherheit dar (KOHNEN, BAUMEISTER, KOOK, horn zu reagieren (FRIES et al., 2008). Erschwe- KLAPROTH & OHRLOFF, 2009). rend kommt hinzu, dass eine einseitige hochgradi- ge Schwerhörigkeit auch eine Beeinträchtigung des Die Katarakt ist eine Trübung der Augenlinse, die räumlichen Hörvermögens verursachen kann zu einer schleichenden Visusverschlechterung (BOOTZ, 2007), sodass eine Gefahrenquelle mög- führt. Diese äußert sich in einer verlangsamten licherweise nicht lokalisiert werden kann. Hell-Dunkel-Anpassung und erhöhter Blendemp- findlichkeit. Kontraste und Farben verblassen und Hörstörungen sind zum Teil mit Gleichgewichts- in einigen Fällen entstehen Doppelbilder. Die Be- störungen und Schwindelanfällen assoziiert. troffenen sehen ihr Umfeld vielfach wie in Nebel ge- Schwindelanfälle, insbesondere wenn sie anfalls- taucht. Über 50 % der Menschen über 65 Jahre sol- weise auftreten, stellen eine besondere Gefahr dar. len solche Trübungen in mindestens einem Auge Es kann zu Störungen der Orientierung über die haben (GUSKI, 1996). Das Unfallrisiko für Autofah- Körperstellung bzw. Körperlage im Raum oder zu rer mit grauem Star ist ungefähr 2,5-mal höher als Beeinträchtigungen der Richtungskontrolle für für Autofahrer ohne diese Krankheit (OWSLEY, Fremd- und Eigenbewegungen kommen (BOOTZ, STALVEY, WELLS & SLOANE, 1999). 2007; HÖHMANN, 1996). Als Glaukom wird eine Gruppe von Augenkrank- heiten bezeichnet, die im fortgeschrittenen Stadium die Nervenzellen der Netzhaut und den Sehnerv 3.2 MotorischeBeeinträchtigungen schädigen. Besondere Risikofaktoren sind unter Als Motorik bezeichnet man die Aktivierung anderem ein hohes Alter, gehäuftes Auftreten in der von Muskeln durch das Zentrale Nervensystem Familie, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkran- (LUHMANN, 2010). Das Autofahren erfordert ge- kungen oder schwere Entzündungen am Auge zielte Bewegungsabläufe, die durch das Zusam- (EWERT, 2006). Das Glaukom geht fast immer mit menwirken von sensorischen und motorischen einem erhöhten Augeninnendruck einher. Bleibt Systemen realisiert werden. Man spricht von sen- das Glaukom unbehandelt, kommt es zu Gesichts- somotorischen Prozessen, da Motorik und Wahr- feldausfällen und im Extremfall zu einer Erblindung. nehmung hierbei in ständiger Wechselwirkung ste- Der Früherkennung und Prävention des Glaukoms hen (RINKENAUER, 2008). kommt somit maßgebliche Bedeutung zu. Das Glaukom geht mit einem 1,7- bis 5,2-fach erhöhten Bei den motorischen Fähigkeiten wie Beweglich- Unfallrisiko einher (EWERT, 2006). keit, Koordination, Muskelkraft, Ausdauer und Schnelligkeit sind eindeutige altersbedingte Einbu- HörenimAlter ßen festzustellen, die allesamt zu deutlichen Be- weglichkeitseinschränkungen und damit zu fahrre- Die Risikofaktoren für das Entstehen einer Schwer- levanten Schwierigkeiten führen können (MARTIN hörigkeit im Alter werden kontrovers diskutiert. Dau- & KLIEGEL, 2005). erhafte exogene und endogene Einwirkungen kön- nen die Entwicklung einer Hörminderung beeinflus- Bewegungsschmerzen, vorzeitige Ermüdung und sen. Als prädisponierende Faktoren für eine eine Beeinträchtigung der Rundumsicht können Schwerhörigkeit gelten die Lärmexposition, aber insbesondere in komplexen Verkehrssituationen auch genetische Veranlagung, Ernährung, arteriel- wie an Kreuzungen, beim Abbiegen oder Rück- le Hypertonie und Diabetes mellitus (HESSE & wärtsfahren zu sicherheitsrelevanten Problemen LAUBERT, 2005). führen. Durch die altersbedingte Veränderung des Bewegungsapparates und seiner sensorischen Nach EWERT (2006) konnte kein bedeutsamer Ein- Systeme kommt es ab dem 60. Lebensjahr weiter- fluss des Hörvermögens auf die Verkehrssicherheit hin zu einer charakteristischen Veränderung der aufgezeigt werden. In erster Linie stützt sich die Koordinationsfähigkeit. Komplexe Bewegungsab-
14 läufe, wie sie beim Autofahren erforderlich sind, lau- Lenken eines Autos möglich, ohne dass die Ver- fen im Alter ungenauer und unsicherer ab. Zudem kehrssicherheit beeinträchtigt ist. Vor allem Maß- wird die koordinative Leistungsfähigkeit auch durch nahmen wie individuelle Sitzanpassungen, Sitzhei- den altersbedingten Abbau sensorischer Systeme zungen und häufigere Unterbrechungen der Fahrt und die generelle Verlangsamung der zentralen können schmerzhafte muskuläre Verspannungen Informationsverarbeitung negativ beeinflusst verhindern und so die notwendige Verkehrssicher- (RINKENAUER, 2008). heit gewährleisten (Gemeinsamer Beirat für Ver- kehrsmedizin, 2000). Die Muskelkraft bestimmt, insbesondere bei schnellen Bewegungen, die Bewegungseigen- schaften. Die Muskelkraft reduziert sich bis zum 70. 3.3 KognitiveBeeinträchtigungen Lebensjahr um ca. 40 %. Eine ausreichende Mus- kelkraft ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung Altersbedingte kognitive Veränderungen werden für die Mobilität. Wegen der nachlassenden Kraft insgesamt in der Verkehrsforschung zu wenig führen ältere Autofahrer korrigierende oder unfall- beachtet. Solche Veränderungen lassen sich auf verhütende Fahrmanöver mit zu geringer Intensität verschiedenen Ebenen beschreiben, wobei nicht durch, z. B. beim Druck auf das Bremspedal alle kognitive Funktionen gleichermaßen betrof- (RINKENAUER, 2008). fen sind (MORA, SEGOVIA & del ARCO, 2007; YORDANOVA et al., 2004). Ausdauer ist die Fähigkeit, einer körperlichen Be- lastung möglichst lange zu widerstehen und sich Für die Beurteilung der unterschiedlichen Entwick- nach einer Belastung rasch zu erholen. Ab dem 30. lungsverläufe von kognitiven Leistungen im Alte- Lebensjahr nimmt die Ausdauerleistungsfähigkeit rungsprozess hat sich die Differenzierung zwischen um ca. 1 % pro Lebensjahr ab, was bei einem kristalliner und fluider Intelligenz als hilfreich erwie- 60-Jährigen einem Ausdauerverlust von fast einem sen (HORN & CATTELL, 1967). Die kristalline In- Drittel entspricht. Dies kann dazu führen, dass älte- telligenz charakterisiert das über die individuelle re Verkehrsteilnehmer gerade in komplexen Ver- Lebensspanne erworbene Wissen um Fakten und kehrssituationen häufiger an ihre Leistungsgrenzen Strategien, die sprachliche Kompetenz und das Ur- stoßen (RINKENAUER, 2008). teilsvermögen. Sie spiegelt die Akkumulation von Lernerfahrungen wider und kann bis ins hohe Le- Die Schnelligkeit, mit der eine Bewegung ausge- bensalter zunehmen (CHRISTENSEN et al., 2000). führt werden kann, ist von der Muskelkraft, von Die Forschung konzentriert sich jedoch häufig auf neuronalen und sensorischen Mechanismen und alterskorrelierte Veränderungen der fluiden Intelli- von der Beweglichkeit abhängig. Aufgrund längerer genz, der Fähigkeit, neue Problemstellungen zu Reaktionszeiten und nachlassender Kontraktions- lösen und sich neuen Situationen anzupassen. geschwindigkeit der Muskeln kommt es im Alter zu Diese Fähigkeiten umfassen z. B. kognitive Kon- einer Geschwindigkeitsreduzierung von Bewegun- trollprozesse oder so genannte exekutive Kontroll- gen. Gleichzeitig kommt es zu einer Verringerung prozesse, die einfachere Funktionen modulieren der Bewegungsgenauigkeit. Insbesondere unter und steuern (FALKENSTEIN & POSCHADEL, Zeitdruck erhöhen sich somit sowohl die Bewe- 2011). Fluide Funktionen beruhen auch auf der Ver- gungsgeschwindigkeit als auch die Ungenauigkeit arbeitung von Gedächtnisinhalten im Kurzzeit- der Bewegungsausführung. In der Folge ist z. B. bereich. Insbesondere ist das so genannte Arbeits- die Bedienung von Fahrzeuginstrumenten er- gedächtnis („working memory”) betroffen, welches schwert (RINKENAUER, 2008). die schnelle Speicherung und Verarbeitung von ak- tuell nötigen Informationen bewerkstelligt. Ver- Da Menschen für gewöhnlich Bewegungen, die schiedene Studien belegen, dass insbesondere ab Schmerzen verursachen, vermeiden, kommt es mit dem sechsten Lebensjahrzehnt eine Abnahme der zunehmendem Alter, wenn nicht entsprechend ge- fluiden Intelligenz zu verzeichnen ist (SALTHOUSE, gengesteuert wird, zu einer abnehmenden Mobilität 1996; VERHAEGHEN & SALTHOUSE, 1997). (GUSKI, 1996). Dies bedeutet jedoch nicht den au- tomatischen Verzicht auf das Autofahren. Viele mo- Kontrollfunktionen sind für Tätigkeiten wichtig, bei torische Beeinträchtigungen lassen eine sichere denen es auf schnelle Reaktionen unter Zeitdruck Teilnahme am aktiven Straßenverkehr zu und bis ankommt, wie z. B. beim Führen eines Kraftfahr- zu einem gewissen Grad der Einschränkung ist das zeuges (GROEGER, 2000). Wesentliche fahrrele-
15 vante kognitive Kontrollfunktionen sind unter ande- schlechter Beleuchtung (HO & SCIALFA, 2002). rem die Überwachung eigener Handlungen, die Un- Dies kann dazu führen, dass Ältere bestimmte In- terdrückung von Ablenkreizen, die Hemmung vor- formationen nicht rechtzeitig finden, vom Verkehrs- schneller Reaktionen und die Aufmerksamkeits- geschehen abgelenkt und durch den Suchprozess steuerung. Im Folgenden soll auf wesentliche fluide so beansprucht sind, dass kritische Verkehrssitua- Funktionen, ihre Veränderungen mit dem Alter und tionen nicht rechtzeitig bemerkt werden (WIKMAN mögliche verkehrsrelevante Konsequenzen dieser & SUMMALA, 2005). Veränderungen eingegangen werden. Einer der konsistentesten Befunde der kognitiven Der Konzeption des Inhibitionsmodells zufolge sind Alternsforschung ist die altersbedingte Beeinträch- kognitive Veränderungen älterer Menschen auf ein tigung bei der Bearbeitung von Doppelaufgaben Defizit der Inhibitionsmechanismen zurückzuführen (THOMPSON, JOHNSON, EMERSON, DAWSON, (HASHER & ZACKS, 1988; ZACKS, HASHER & LI, BOER et al., 2012; VERHAEGHEN & CERELLA, 2000). Eine beeinträchtigte Arbeitsgedächtnis- 2002; VERHAEGHEN, STEITZ, SLIWINSKI & leistung bei Älteren resultiert demnach aus der ver- CERELLA, 2003). Gerade das Autofahren ist eine minderten Fähigkeit, irrelevante Informationen zu typische Doppelaufgabe (dual task) oder gar Mehr- ignorieren und inadäquate Handlungen zu unter- fachtätigkeit (multitasking). Neben dem Lenken und drücken. Bedienen des Fahrzeuges, der Beobachtung des Verkehrs, der antizipierenden Erfassung von Ver- Die Ergebnisse einer Reihe von Untersuchungen kehrssituationen muss das eigene Verhalten ge- weisen auf ein spezifisches Inhibitionsproblem im plant, ausgeführt und den sich verändernden Alter hin (z. B. JUNCOS-RABADAN, PEREIRO & Gegebenheiten angepasst werden. FACAL, 2008; TREITZ, HEYDER & DAUM, 2007; WEST, 2004; WEST & ALAIN, 2000). In einer neu- LI & LINDENBERGER (2002) konnten aufzeigen, rophysiologischen Studie konnte gezeigt werden, dass Ältere Schwierigkeiten haben, wenn sie dass Ältere irrelevante visuelle Reize genauso in- gleichzeitig sensomotorische und kognitive Aufga- tensiv verarbeiteten wie relevante Reize, d. h., Äl- ben durchführen sollten. Bei gleichzeitiger Durch- tere schenken im Vergleich zu Jüngeren den irrele- führung einer fahrähnlichen Tracking- und Aufmerk- vanten Reizen zu viel Aufmerksamkeit (HAHN, samkeitsaufgabe zeigten ältere im Vergleich zu jün- WILD-WALL & FALKENSTEIN, 2011). Wenn es gere Probanden deutliche Defizite (HAHN, älteren Autofahrern demzufolge nicht gelingt, wich- FALKENSTEIN & WILD-WALL, 2010). Diese tige von unwichtigen Hinweisreizen zu differenzie- Schwierigkeiten zeigen sich im Realverkehr beson- ren, wenn also die inhibitorische Kontrolle schlech- ders dann, wenn komplexe und schwierige Ver- ter funktioniert, wird es kaum gelingen, den Anfor- kehrssituationen auftreten und der Autofahrer von derungen einer sich verändernden Verkehrssitua- der Routine abweichen muss. tion gerecht zu werden. Dies bestätigt auch eine Studie, in der die Unfallrate älterer Autofahrer Der Aufgabenwechsel (task switching) bezeichnet hauptsächlich in den Situationen erhöht war, die die sequenzielle Bearbeitung von zwei oder mehr eine Vielzahl von Ablenkreizen enthielten, wie z. B. (Teil-)Aufgaben. Im Unterschied zu Doppelaufga- beim Überqueren einer stark befahrenen Kreuzung ben erfolgt die Bearbeitung beim Aufgabenwechsel (CHARNESS & BOSMAN, 1992). von zwei oder mehr Aufgaben nicht parallel, son- dern zeitlich voneinander getrennt im regelmäßigen Die visuelle Suche bezeichnet das schnelle Auffin- Wechsel. KRAY & LINDENBERGER (2000) konn- den eines oder mehrerer Zielreize in einem Umfeld ten zeigen, dass Ältere im Vergleich zu Jüngeren mit einer variablen Anzahl von ähnlichen und deutliche Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von unähnlichen Ablenkreizen (Nicht-Zielreize) Wechselaufgaben aufwiesen, die auch nach länge- (TREISMAN & GELADE, 1980). rer Übung nicht zu verringern waren. In verkehrsähnlichen Laboraufgaben zur visuellen Vor allem in komplexen Verkehrssituationen, in Suche sind Ältere in der Regel langsamer und ma- denen verschiedene Tätigkeiten nicht nur gleichzei- chen mehr Fehler als Jüngere (z. B. McPHEE, tig (Doppeltätigkeit) ausgeübt, sondern auch häufig SCIALFA, DENNIS, HO & CAIRD, 2004). Im realen schnell gewechselt (Wechselaufgaben) werden Straßenverkehr kommt es bei Älteren zu Proble- müssen und zusätzlich eine Fülle von Hinweisen men beim Lesen von Schildern, besonders bei aus der Umwelt beachtet oder ausgeblendet wer-
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