LES KIRIKI - ACROBATES JAPONAIS - DFF.FILM
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LES KIRIKI – ACROBATES JAPONAIS FILMOGRAFISCHE DATEN Regie: Segundo de Chomón, F 1907 Produktion: Pathé Frères Länge: 3 Min Format: 35 mm Bild / Ton: s/w und Farbe, stumm Klavierbegleitung: Günther Buchwald INHALT & FILMÄSTHETIK ausgestreckten Armen sitzt ein Junge am Boden und hält alle anderen in der Luft. Verblüffend, wie in LES Der Film LES KIRIKI – ACROBATES JAPONAIS zeigt KIRIKI sowohl die Kräfteverhältnisse als auch die den Bühnenauftritt einer vermeintlich japanischen Gesetze der Schwerkraft ausgehebelt sind! Unmög- Akrobatiktruppe in elf Nummern. Zu Beginn betreten liche Stunts lassen die Zuschauer*innen staunen vier Männer, vier Frauen und drei Kinder den Bühnen- und lachen. raum und reihen sich nach Kostümfarben geordnet auf: ganz vorn die Kinder in pastellgelben Kostümen, Mit jeder Einstellung beginnt eine neue, oft noch wag- dahinter im Wechsel Frauen in zartpinken und halsigere Nummer. Dabei treten die Aktrobat*innen Männer in hellgrünen Kostümen. In drei Reihen, wie in immer neuen Konstellationen und anderen Kostü- zum Gruppenfoto drapiert und vom Bühnendekor men auf. Mit jeder Darbietung formieren sie sich eingerahmt, verbeugen sich die Akrobat*innen vor zu Pyramiden, die von nur einem einzigen stehenden einem unsichtbaren Publikum – und los geht die Show. oder sitzenden Akrobaten getragen werden. Die Nummern begeistern sowohl durch ihre Waghalsigkeit In der ersten Artistiknummer treten jeweils vier Frauen als auch durch ihren visuellen Einfallsreichtum: Als und vier Männer auf, die sich als Menschenpyramide hätte Regisseur Segundo de Chomón vor dem Dreh in Sternenform vor dem schwarzen Bühnenhintergrund in einem Skizzenbuch aufgezeichnet, wie er die formieren. Die Männerkörper bilden ein Kreuz aus Formationen der Körper noch komplexer und zugleich gelben und blauen Strahlen, die der Frauen einen ro- noch unglaubwürdiger konstruieren kann. Einmal safarbenen und einen grünen diagonalen Strahl. Nur steht die stützende Figur sogar auf dem Kopf und ein einziger Mann steht mit beiden Beinen auf dem hält in dieser fragilen Position noch drei weitere Boden und hält die gesamte Truppe, während alle Männer in der Luft. anderen in der Luft zu schweben scheinen. Die Sen- sation ist perfekt, als die mutigen Akrobat*innen ihre Der Film ist stark durchkomponiert, was sich einer- Beine in der Luft heben und senken! Nach einem seits in einer harmonischen Anordnung von Farben Schnitt beginnt die nächste Nummer: Dieses Mal und Formen zeigt. Die Körper der Akrobat*innen steigen vier Akrobat*innen aneinander hoch und sind häufig symmetrisch angeordnet, wobei einander bilden eine kreisförmige Figur aus Körpern, die von gegenüberstehende Figuren jeweils dasselbe Ge- dem Kleinsten in der Truppe getragen wird. Mit schlecht haben und Kostüme in der gleichen Farbe tragen. Leuchtend heben sich die Farben der Kos- tüme vom schwarzen Bühnenhintergrund ab, sodass
Zeitgenössisches Plakat die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auf die men, der auch Anfang und Ende der akrobatischen im Filmbild zur Schau gestellten Figuren und ihre Darbietungen markiert. Nach der gemeinsamen Aktionen gelenkt wird. Verbeugung vor dem Publikum ist die Show zu Ende, zumindest die der japanischen Akrobat*innen in Die Kamera nimmt während des gesamten Films eine LES KIRIKI . In der Frühzeit des Kinos aber, als die zentralperspektivische Position ein, die den Zu- Filme noch auf dem Jahrmarkt und im Vaudeville- schauer*innen – zusätzlich zur achsensymmetrischen Theater gezeigt wurden, ging die Show weiter. Da Bildgestaltung – den Eindruck vermittelt, auf eine Filmvorführungen im Rahmen eines Programms aus Theaterbühne zu schauen. Schließlich ist der Film unzusammenhängenden Kleinkunstdarbietungen zweifach gerahmt: in räumlicher Hinsicht durch das stattfanden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass vor Bühnendekor, das die Figuren umschließt, in zeitlicher oder nach der Vorführung von LES KIRIKI tatsächlich Hinsicht bilden die Gruppenaufnahmen der Akro- Akrobat*innen auf der Bühne auftraten. bat*innen am Anfang und Ende des Films einen Rah- KÜNSTLERISCHE EINORDNUNG DES FILMS Kino der Attraktionen Zuschauer*innen ab. Seine sensationelle Wirkung Der Film LES KIRIKI fällt in die Phase der Frühzeit verdankt der Film einem simplen perspektivischen von Film und Kino, die filmgeschichtlich als „Kino der Trick: Während die Akrobat*innen am Filmanfang Attraktionen“ bezeichnet wird. Das Kino der Attrak- noch mit beiden Füßen auf dem Bühnenboden stehen, tionen herrschte bis ca. 1906 / 07 vor und war ein werden sie bei ihren akrobatischen Darbietungen exhibitionistisches Kino, das heißt ein Kino, das haupt- auf dem Boden liegend aus der Aufsicht gefilmt, d.h. sächlich darauf aus war, zur Schau zu stellen. Die von oben mit einer über dem Geschehen positio- Filme zielten auf die visuelle Neugierde, das Erstaunen nierten Kamera. Bei der Projektion der Aufnahmen und die Verwunderung der Zuschauer*innen ab. auf die Leinwand wirkt es so, als ob die Menschen- Dagegen etablierte sich in den darauffolgenden Jahren pyramide aufrecht steht, statt zu liegen. In Wirklich- auf Grundlage des technischen Fortschritts ein keit aber findet kein einziger Trick in der Luft statt, erzählendes Kino, das die Zuschauer*innen in eine sondern alles geschieht mit sicherem Bodenkontakt. identifizierende Haltung mit der Erzählhandlung und Die filmische Illusion entsteht durch das identisch den filmischen Figuren versetzte. Publikums- und aufgemalte Dekor und den Filmschnitt, der beide Kamerablick fielen fortan zusammen: Durch den Perspektiven zu einer einzigen verknüpft. Wechsel verschiedener Einstellungen, die Möglich- keiten der Montage und den Einsatz von Großaufnah- Motive von Magier*innen und Akrobat*innen kehren men war es den Zuschauer*innen nun möglich, sich im Kino der Attraktionen häufig wieder. Damit knüpfen mit den filmischen Figuren zu identifizieren. Im Kino die Filme an die Herkunft des Kinos als Jahrmarkts- der Attraktionen hingegen verhielt sich die Kamera kunst an. Durch die trickreiche Operation der Kamera wie im Fall von LES KIRIKI weitestgehend neutral; sie und die darstellerische Übertreibung der Schauspie- hielt Distanz zu den Figuren, die oft wie auf einer ler*innen wird das akrobatische Schaustück in LES Theaterbühne gezeigt wurden. Die Kamera diente KIRIKI , wie häufig im Frühen Kino, noch ins Komische häufig der Herstellung von Trickeffekten (z. B. Stopp- gewendet. Es ist leicht erkennbar, dass hier Ama- tricks oder Perspektivtricks) und erzeugte Wirkungen, teur*innen am Werk sind, die die kunstvolle Leistung die eher zum Staunen anregten als zur psycholo- professioneller Akrobat*innen bloß imitieren, indem gischen Identifikation mit den Figuren. Auch LES sie auf dem Fußboden Purzelbäume schlagen und KIRIKI zielte vorwiegend auf die Schaulust der
über die Körper der anderen hinwegsteigen. Gerade Um die damals in Westeuropa vorherrschende Asien- die Einfachheit und Durchschaubarkeit des perspek- Begeisterung und Faszination für das Exotische zu tivischen Tricks machen in Kombination mit der stillen, stellte die europäische Filmindustrie Bilder der leichtfüßigen darstellerischen Leistung auch heute „anderen“ Kultur her, ohne Menschen aus dem dar- noch den Charme des Films aus. gestellten Kulturraum an der Filmproduktion zu betei- ligen. Auf diese Weise rückte in LES KIRIKI an die Ein weiterer Schauwert bestand für die damaligen Stelle einer „authentischen“ japanischen Kultur das Zuschauer*innen vermutlich in der exotisierenden westlich konstruierte, stereotype Bild ebendieser. So Darstellung fernöstlicher Kultur, nicht zuletzt weil bis gehörte zu jener Zeit in Europa das Bild Japans als dahin nur die wenigsten Europäer*innen Japan Kultur der Akrobat*innen zu den gängigen Stereotypen. bereist hatten. In Europa, insbesondere in Frankreich, war das Interesse an Japan umso größer, weil es In einem anderen Film mit dem Titel LES PAPILLONS vom 17. Jahrhundert an bis in die 1850er Jahre voll- JAPONAIS (JAPANISCHE SCHMETTERLINGE , ständig von anderen Ländern isoliert war. Erst seit Pathé Frères, F 1908) zeigt derselbe Regisseur, seiner erzwungenen Öffnung Mitte des 19. Jahrhun- Segundo de Chomón, in ganz ähnlicher Weise kostü- derts konnte das Land wieder bereist werden. Es mierte Darsteller*innen, die in einer Bühnenshow als begann wieder Handel mit anderen Ländern zu treiben vermeintlich japanische Zauberer*innen auftreten. und nahm 1867 an der Pariser Weltausstellung teil. Die „Anders-“ bzw. „Fremdartigkeit“ der japanischen So gelangten japanische Kunst- und Kulturgüter nach Kultur und die Faszination hierfür wird in diesem Europa und es setzte eine Welle der Begeisterung Film – über Maske und Kostüm hinaus – durch die für diesen weitestgehend unbekannten Kulturraum Zuschreibung magischer Kräfte zum Ausdruck ein, die in Europa als „Japonismus“ einen starken gebracht. Auch der Film LES KIRIKI knüpft an dieses Einfluss auf Kunst, Design, Mode und Musik hatte. Stereotyp an, denn indem sie die Gesetze der Schwer- Im Film LES KIRIKI fallen besonders die asiatisch kraft außer Kraft setzen, wird den als japanische anmutenden Kostüme mit gemusterten Stoffen und Akrobat*innen ausstaffierten Figuren ebenfalls das breiten Gürteln ins Auge, deren Schnitte besonders Vermögen zur Magie und Illusionserzeugung zuge- bei den Akrobatinnen an Kimonos erinnern und schrieben. Beide Filme schöpfen dazu die trickreichen deren leuchtende Farben auf dem Filmstreifen nach- Möglichkeiten des jungen Mediums Film aus: So koloriert wurden. Darüber hinaus fallen die dunklen nutzt Segundo de Chomón in LES PAPILLONS Perücken und die fremdartigen Frisuren (imitierte JAPONAIS vor allem Stopptricks, in LES KIRIK I da- Samurai-Frisuren bei den Männern und traditionell gegen den Perspektivtrick. hochgesteckte Haare bei den Frauen) sowie die stark geschminkten Gesichter der Stummfilm-Dar- Aus heutiger Sicht erweist sich die eurozentrische steller*innen auf (weiße Maske, schwarz umrandete Perspektive auf eine Kultur des Orients in Filmen wie Augen und überdeutlich nachgezogene Augenbrauen). LES KIRIKI und LES PAPILLONS JAPONAIS als problematisch, nicht zuletzt weil sie eine als fremd empfundene Kultur als „andersartig“ (als akrobatisch und magisch begabt usw.) markiert, mit Kostümen, Gestik und Mimik nachahmt und sie so hinter einem stereotypen Bild zum Verschwinden bringt. Die als „anders“ wahrgenommene asiatische Kultur diente Westeuropäer*innen als Projektionsfläche ihrer Fas- zination und Affirmation; gleichzeitig blieb die Ebene eines interkulturellen Austauschs vollständig aus- geblendet. Auch die Geste der kulturellen Aneignung und Stereotypisierung blieb unreflektiert. Auf diese Weise können Filme und andere Kultur- erzeugnisse rassistische Wirkungen entfalten, selbst wenn sie nicht von vorneherein als abwertend oder diskriminierend „gemeint“ sind oder sogar in affirma- tiver Absicht hergestellt wurden. Aus heutiger Sicht ist zur Vermeidung eines solchen unreflektierten Ras- sismus bei der Produktion von Bildern die Reflexion des eigenen Standpunkts unerlässlich: Wer stellt von wem, mit welchen Produktionsmitteln und zu welchem Zweck welche Bilder her? In welcher Form sind diejenigen in die Bildproduktion einbezogen, Henri de Toulouse-Lautrec: Divan Japonais, 1892 – 93 um deren Bild es geht? In welcher Weise formulieren Quelle: The Metropolitan Museum of Art, und reflektieren die Produzent*innen ihren eigenen Nachlass Clifford A. Furst, 1958 Standpunkt?
Farbe im frühen Film Das erstaunliche Farbkonzept des Films LES KIRIKI , Segundo de Chomón war ein Meister des Spiels in dem Farben nach Geschlechtern geordnet sind mit Farben. Er war versiert in den verschiedensten und dem Bild ein stabilisierendes Gleichgewicht ver- Farbtechniken und soll auch maßgeblich an der Ent- leihen, gehört zu seinen wesentlichen ästhetischen wicklung des Schablonenkolorierungs-Verfahrens Gestaltungsmerkmalen. Dazu passt auch die Annahme beteiligt gewesen sein, das sich die Firma Pathé von Filmhistoriker*innen, der Regisseur Segundo de patentieren ließ. Angesichts des großen Aufwands Chomón habe seine Filme vor dem Dreh bereits mit eines Farbauftrags durch Hand- oder Schablonen- einem Farbkonzept im Kopf geplant. Zur Entstehungs- kolorierung lässt sich auch erklären, warum Segundo zeit des Films war der Gebrauch von Farbe noch de Chomón bei seiner eigenen Regiearbeit zu jener etwas Besonderes, denn Farbfilm war noch nicht Zeit nur kurze Farbfilme realisierte. erfunden und hand- bzw. schablonenkolorierte Filme waren sehr aufwendig in der Herstellung. Gleichzeitig Die pastellfarbene Tönung von LES KIRIKI könnte aber gab es schon früh ein Interesse an Farbe im ein Verweis auf den Alterungsprozess des Films sein. Film, denn die schwarz-weißen Bilder wurden zu Filmhistoriker gehen davon aus, dass die Farben Beginn der Filmgeschichte wegen ihres Mangels an vieler früher Filme über den Zeitraum von mehr als Farbe mitunter mit Befremden aufgenommen. So 100 Jahren verblasst sind. Beim Umkopieren der schrieb der Dichter Maxim Gorki nach einer Vorfüh- Filme auf anderes Filmmaterial werden die zarten, rung der Filme der Brüder Lumière 1896, er habe pastellenen Farben in der Regel nicht künstlich ver- ein Schattenreich („Kingdom of Shadows“) besucht. stärkt, sondern so belassen, wie sie vorgefunden Alles im Film sei grau gewesen: das Sonnenlicht werden. am grauen Himmel, graue Augen in einem grauen Gesicht, Blätter an Bäumen so grau wie Asche. Nicht Stummfilm das Leben habe er gesehen, sondern des Lebens In Stummfilmen, so auch in LES KIRIKI , wird der Schatten. Fokus der Aufmerksamkeit besonders auf die Aktionen der Figuren gerichtet. Kein Dialog, keine In LES KIRIKI wurden die Farben in minutiöser Hand- Handlung, keine Kameraoperation hebt einzelne arbeit direkt auf den Filmstreifen aufgetragen. Allein Figuren aus dem Zusammenhang der Akrobatiktrup- für die Handkolorierung von Filmen, zu jener Zeit ein pe heraus und macht so ein Identifikationsangebot klassischer Frauenberuf, beschäftigte die Firma Pathé an die Zuschauer*innen. Als stummes Schaustück im Jahr 1906 rund 200 Arbeiterinnen. Um Farbe ins setzt LES KIRIKI auf den Einsatz des Körpers vor der schwarz-weiße Bild zu setzen, eine Technik, die schon Sprache und nimmt somit eine wesentliche Kom- vor 1900 zur Anwendung kam, musste jedes einzelne ponente der Komödie vorweg, die später durch Bild auf dem Filmstreifen (der in der Stummfilmzeit Protagonisten der Stummfilmkomödie wie Buster mit einer Frequenz von 16 –18 Bildern pro Sekunde Keaton oder Charlie Chaplin einen filmgeschichtlichen durch den Projektor lief) mit einem feinen Pinsel Höhepunkt erfahren sollte (vgl. auch DAS DURCH- handbemalt werden. Der Farbauftrag per Hand führte GEDREHTE RAD ). zu Ungleichmäßigkeiten, sodass während der Pro- jektion die Farben an ihren Rändern häufig zitterten. Musikalische Stummfilm-Begleitung Dagegen war beim ersten mechanischen Kolorie- Ähnlich wie im Frühen Kino ein Bedürfnis nach Farbe rungsverfahren, der Schablonenkolorierung, vor allem im Film aufkam, war auch der Stummfilm selten die Herstellung der Schablonen aufwendig. Der Farb- wirklich stumm. Filmvorführungen wurden in den auftrag selbst erfolgte durch ein rotierendes Samt- meisten Fällen live mit Musik oder Geräuschen band, das die Farben durch eine Schablone auf den begleitet. Dabei kamen entweder einzelne Pianist*in- Filmstreifen stempelte und so eine gleichmäßige nen, kleine Musikensembles oder auch Geräusche- Farbverteilung ermöglichte.
macher*innen zum Einsatz. Diese spielten zu den Fil- Pathé Frères men zunächst eigene Musikarrangements aus Die vom ehemaligen Jahrmarktschausteller Charles bekannten Liedern, beliebten Stücken des sogenann- Pathé geführte Filmproduktionsfirma Pathé Frères ten klassischen Repertoires und eigenen Stücken erlangte zwischen 1903 und 1909 Monopolstellung und Improvisationen. Mit zunehmender Länge der in der Filmproduktion in beinahe allen europäischen Filme wurden mit den Filmkopien Musiklisten – so Ländern und den Vereinigten Staaten. Die Firma genannte „Cue-Sheets“ – mitgeliefert, die dann von Pathé hatte ihre Filmproduktion nach modernen, und für die jeweilig vorhandenen Ensembles arran- industriellen Methoden aufgezogen und war in dieser giert wurden. Neuesten Erkenntnissen zufolge kam Zeit auf dem internationalen Filmmarkt tonangebend. es aber in der frühen Phase der Filmgeschichte, Der Regisseur von LES KIRIKI, Segundo de Chomón, zu der LES KIRIKI gehört, durchaus vor, dass Filme zählte zu den Meistern der Kolorierung und wurde stumm gezeigt wurden. In dieser Phase der Kino- bereits früh durch Pathé von Barcelona nach Paris und Filmgeschichte wurden noch unterschiedlichste geholt, um hier als Farben- und Trickexperte ebenso Varianten der Kinomusik angewandt und ausprobiert. wie als Regisseur zu arbeiten. Die alleinige Marktstel- Erst im Laufe der 1910er Jahre setzten sich zuneh- lung verlor Pathé ab 1910, als das Konkurrenzunter- mend einheitlichere Auffassungen darüber durch, wie nehmen Gaumont schließlich an Einfluss gewann. „gute“ Filmmusik bzw. eine „gute“ Filmbegleitung beschaffen sein müsse. DER REGISSEUR LES KIRIKI wird in der vorliegenden Fassung durch den Stummfilmpianisten und Komponisten Günther Segundo de Chomón (1871–1929) Buchwald am Klavier begleitet. Die zeitgenössische Der 1871 in Teruel (Aragonien) geborene spanische Vertonung folgt dabei der Stilistik der überlieferten Filmkünstler Segundo de Chomón (mit bürgerlichem Notensammlungen der Stummfilmzeit – sogenannter Namen Segundo Víctor Aurelio Chomón y Ruiz) wurde „Kinotheken“ (in Deutschland) –, die wie in Frankreich häufig als der spanische George Méliès bezeichnet. z. B. schon ab 1907 als „Guide Musical“ zirkulierten In der Tat gab es ein Wetteifern zwischen den beiden und die Kinomusiker*innen unterstützten, geeignete überaus produktiven Trickregisseuren des Frühen Musikstücke für die Filme der häufig wechselnden Films. Seine Arbeit in der Filmindustrie nahm Chomón und in dieser Zeit noch sehr kleinteiligen Programme vor der Jahrhundertwende in Paris auf und setzte zusammenzustellen. Sie enthielten nach Szenen- sie zwischen 1901 und 1905 in Barcelona fort, wo er charakter aufgeschlüsselte kurze Stücke. Zum Teil Pathé-Filme kolorierte und als Verleiher französischer basierten diese Stücke auf bereits bestehender, klas- Filme, insbesondere der Firma Pathé, arbeitete. sischer Musik oder bekannten Liedern und Hymnen. 1905 lud Pathé de Chomón ein, nach Paris zurück- Dazu enthielten sie auch explizit für die Filmillustra- zukehren, und so wurde er dort Leiter der Trickfilm- tion komponierte Stücke unterschiedlichster Art, etwa Abteilung. Seit den 1910er Jahren arbeitete de Verfolgungsjagden, (unglückliche und glückliche) Chomón wieder in Barcelona, zuerst in seiner eigenen Liebesszenen, komödiantische oder feierliche Szenen. Firma, dann für die Firma Ibérico, für die er zwischen Eine Gruppe dieser Stücke diente unter anderem August 1911 und Mai 1912 elf Filme realisierte. In dazu, den Europäer*innen mittels musikalischer Kli- acht dieser Filme setzte er sein eigenes mechanisches schees unbekannte Kulturen klanglich zu vermitteln. Farbkolorierungs-Verfahren ein, das 1913 im Katalog Darin gibt es Stücke mit Titeln wie „Argentinien oder der Firma Pathé unter dem Namen Cinemacoloris Südamerika“, die mittels eines Tangorhythmus und geführt wurde. Segundo de Chomón realisierte als einer Melodielinie den gesamten südamerikanischen Regisseur zahlreiche eigene Filme, er wirkte aber Kontinent repräsentieren sollen. Die Musik des auch bei anderen Regisseuren als Kameramann oder traditionellen Tanzes Csárdás soll darin auf Ungarn, Trickspezialist mit. bestimmte rhythmische Wendungen und Skalen auf „den Orient“ verweisen. Diese musikalischen Wendungen und Stereotypen lassen sich bis heute in der Musik aktueller Blockbuster finden. Im Falle von LES KIRIKI nutzt Buchwald, ähnlich wie die Stücke der Kinotheken, die pentatonische Skala und einige rhythmisch pointierte Motive dazu, um den für west- liche Ohren scheinbar unbestimmten harmonischen Verlauf sowie die ungewohnte spezifische Rhythmik japanischer Musik (u.U. asiatischer Musik allgemein) zu charakterisieren. Dazu illustriert er nah am visuellen Geschehen entlang bestimmte Bewegungen und Tempi. Er verlangsamt oder beschleunigt sein Spiel, um den überraschenden Experimenten auf visueller Ebene einen dynamischen klanglichen Raum zu verleihen.
SICHTWEISEN Die Fremdheit des frühen Films LES KIRIKI – einer- Darüber hinaus lässt sich mit Kindern die kulturelle seits begründet durch den historischen Abstand, die Perspektive des Films verhandeln. Anhand des Kos- fremde Filmästhetik, andererseits durch die Maske tüms, der Frisuren, der Schminke, Gestik und Mimik des Stummfilmkinos und die bunten Kostüme – wird lassen sich die vermeintlich japanischen Akrobat* Kinder vermutlich in Staunen versetzen. Je nach innen „demaskieren“. Zum Vergleich können Foto- Alter werden Kinder dazu in der Lage sein, die auf grafien und Filme aus dem ausgehenden 19. und frü- den Kopf gestellten Kräfteverhältnisse im Film zu er- hen 20. Jahrhundert herangezogen werden, die über kennen oder sogar den Abstraktionsschritt zu leisten, das kulturelle und alltägliche Leben sowohl in Japan die verschobene filmische Perspektive zu enträtseln. als auch in westeuropäischen Ländern Auskunft Ersteres dürfte den Kindern spätestens dann auffallen, geben. So lassen sich Bildmotive etwa dahingehend wenn sie sehen, wie im Film ein Kind allein mehrere vergleichen, wie Erwachsene und Kinder zur Jahr- Erwachsene trägt. Ein Motiv wie dieses wird junge hundertwende jeweils gekleidet und frisiert waren. Zuschauer*innen sicher begeistern, weil hier die Kleinsten in der Akrobat*innen-Truppe über außeror- Vergleichendes Sehen dentliche Kräfte verfügen. Das Enträtseln der opti- Als direkter filmischer Vergleich zu LES KIRIKI bietet schen Perspektive bedarf vermutlich nicht nur bei sich der frühe Film JAPANESE ACROBATS (US Vorschulkindern einer gezielten vermittelnden Unter- 1904) der Produktionsfirma des amerikanischen stützung, denn gerade die Bewusstwerdung des Erfinders Thomas A. Edison an. In diesem Film treten eigenen Wahrnehmungsstandpunkts ebenso wie das zwei authentische japanische Akrobaten, ein Mann Einnehmen anderer Standpunkte ist eine Fähigkeit, und ein Junge, gemeinsam auf einer Bühne auf. die ein Kind erst nach und nach vollständig entwi- Stummfilmpionier Edwin S. Porter drehte den Film ckelt. Film und Kino, darin besteht vielleicht eine der in einer durchgehenden Einstellung und in der für entscheidenden Lektionen dieses Films, erweitern diese Zeit typischen zentralperspektivischen Frontal- das natürliche Sehen und können die gewohnte Sicht ansicht. Ähnlich wie in LES KIRIKI gibt es ein auf- auf den Kopf stellen. Zu verstehen, dass der Film uns gemaltes Bühnendekor, das einen Park mit Spring- nicht von vorn auf eine Theaterbühne schauen lässt, brunnen zeigt. Das Dekor des amerikanischen Films sondern von oben auf einen Fußboden, wäre ein ers- ist in einem westlichen Stil gehalten, das von LES ter Erkenntnisschritt. KIRIKI dagegen imitiert mit seinem Rahmen aus Bambusstäben und Blüten einen asiatischen Stil. Zu Beginn des Films betreten die beiden in halblangem Archiv C231 Postkarte, Frankreich 1908 © Hans-Michael Tappen via flickr (Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0) Kimono gekleideten Akrobaten die Bühne, breiten T. Enami: Glasdia einer Stereofotografie, um 1900 © Rob Oechsle via flickr (Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0) JAPANESE ACROBATS (Thomas A. Edison Inc, US 1904)
ihre Arme vor dem Publikum aus und legen ihr ver- Jungen wie ein Rad. Schließlich macht das Kind ziertes Gewand ab. Darunter tragen sie schwarze mehrere Saltos hintereinander in der Luft, wobei es enganliegende Anzüge mit hellem Höschen oder wirkt, als jongliere der Mann mit dem Jungen. Auch Bauchgurt. Beide sehen ungeschminkt aus und tra- in diesem Film entsteht der Eindruck einer komplexer gen kurze Haare, sodass die Darstellung der Akro- werdenden akrobatischen Dramaturgie, die – im baten anders als in LES KIRIKI nicht übertrieben Unterschied zu LES KIRIKI – den normalen Kräftever- exotisierend wirkt. hältnissen ebenso wie den Regeln der Schwerkraft gehorcht. Es handelt sich, das steht fest, um authen- Die Darbietung der beiden japanischen Akrobaten tische Akrobaten, die ganz ohne filmische Tricks besteht darin, dass der Junge auf den ausgestreckten eine einstudierte Choreografie vorführen. Die akroba- Füßen des liegenden Mannes kunstvoll in der Luft tische Darbietung selbst ist hier die Attraktion, nicht balanciert wird. Dabei zeigt das Kind ungeheure eine trickreiche Operation der Kamera oder zusätzliche Körperbeherrschung: Sein auf den Füßen des erwach- exotisierende und stereotypisierende Darstellungs- senen Akrobaten liegender Körper wird mal im Kreis elemente wie in LES KIRIKI . herumgewirbelt, mal wie eine Tonne gerollt, mal drehen die Füße des Erwachsenen den sitzenden VOM SEHEN ZUM GESTALTEN Experimente mit Perspektive Mit einer Polaroidkamera machen die Kinder einen direkten Bildvergleich: Zuerst stehen sie auf Sitzwür- Impulse: Nachstellen, Inszenieren, Körper, Sicht- feln und werden von vorn fotografiert. Später liegen weisen, Experimente mit Perspektiven, Standpunkt- sie mit dem Rücken auf dem Boden, berühren die verschiebungen Sitzfläche der ebenfalls liegenden Würfel oder Stühle und werden so von einem erhöhten Standpunkt aus Material: Polaroid- oder Digitalkamera, Sitzwürfel, fotografiert. Auf den Bildern können die Kinder direkt Hocker oder Stühle die Wirkung erkennen: Auch im Liegen wirkt es bei entsprechendem Bildausschnitt so, als ob die Kinder Im Anschluss an den Film LES KIRIKI denken die auf den Würfeln stehen würden. Im nächsten Schritt Kinder über Filmtricks nach und erproben Möglich- stellen die Kinder dann weitere akrobatische Figuren keiten, mit der Perspektive zu spielen. So lässt im Liegen nach bzw. inszenieren und fotografieren sich fragen, wie es möglich ist, dass der kleinste diese wie im Film von oben. So können auch die Akrobat alle anderen einfach so tragen kann. Kleinsten mehrere Kinder auf ihren Armen balancieren.
ZUM WEITERLESEN UND WEITERSCHAUEN Tom Gunning, Joshua Yumibe, Giovanna Fossati, Jonathan Rosen: Fantasia of Color in Early Cinema. Foreword by Martin Scorsese. With an annotated Filmography by Elif Rongen-Kaynakçi. Amsterdam: Eye Filmmuseum, Amsterdam University Press 2015. Annette Groschke: Kurz und in Farbe. Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen. DVD: Fairy Tales: Early Colour Stencil Films from Pathé. Herausgegeben vom British Film Institute (BFI). LES PAPILLONS JAPONAIS (Segundo de Chomón, FR 1908). Online via Wikimedia Commons: commons.wikimedia.org/wiki/File: Les_Papillons_japonais_(1908).webm JAPANESE ACROBATS (Thomas A. Edison Inc., US 1904). Online via Library of Congress: www.loc.gov/item/96515946 Bildnachweis: Stills LES KIRIKI - ACROBATES JAPONAIS : © Lobster Films Still JAPANESE ACROBATS : Quelle: Library of Congress, Motion Picture, Broadcasting, and Recorded Sound Division Fotos: © DFF Autorin: Stefanie Schlüter Mit einem Textteil zur Stummfilmvertonung von Eunice Martins © DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, 2015/2020
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