Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Luther und der Islam
Beten und Büßen statt Reden und Kämpfen*
Von Athina Lexutt

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Luther und der Islam

Entgegen mancher Vorstellung hat
es seit der Entstehung des Islam
zwischen Christen und Muslimen
immer wieder Versuche gegeben,
sich über Dialoge einander anzu-
nähern. Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der kirchengeschicht-

                                                  M
lichen Professur des Instituts für
                                                             artin Luther begegnet dem      Ereignis, das die strenge Umsetzung
Evangelische Theologie der Univer-
                                                             Islam nicht voraussetzungs-    des Wormser Ediktes und die konse-
sität Gießen haben für alle Jahr-
                                                             los. Er lernt den Islam nie    quente Verfolgung seiner Anhänger
hunderte Beispiele solcher Dialoge
                                                  direkt, sondern immer nur vermittelt      unterband. Zu sehr war der junge
zusammengetragen und in einem                     kennen; insofern sind seine Islam-        Kaiser Karl V. auf die Unterstützung
Quellenkompendium kommentiert                     kenntnisse sehr beschränkt und von        aller Stände angewiesen, wenn es
herausgegeben. Dabei gab es so                    den Vorurteilen und Urteilen seiner       zum bedrohlich nahen Krieg gegen
manche Überraschung und so man-                   Vorgänger und Zeitgenossen einge-         die Türken kommen sollte. Fast zehn
che Anregung, wie etwa die visio-                 färbt. Als Luther sich mit dem Islam      Jahre kämpfte Karl gegen die Um-
näre, für seine Zeit (15. Jh.) mehr               zu beschäftigen hatte, konnte er davon    klammerung seines Reiches – vom
als nur fortschrittliche Vorstellung              ausgehen, dass dem Muslim jedenfalls      Osten durch die Türken, vom Westen
des Nikolaus von Kues, der einen                  in absehbarer Zeit friedlich nicht bei-   durch den machtbeflissenen Franzo-
Frieden im Glauben unter bestimm-                 zukommen war. Daran war natürlich         senkönig Franz I. – und hatte alles
ten Voraussetzungen für möglich                   auch das unaufhaltsame Vordringen         andere zu tun, als sich um renitente
                                                  der Osmanen nicht schuldlos, die an       Mönche und ihre Spießgesellen zu
hielt. Auch in der Reformationszeit
                                                  einem friedlichen Gespräch genau-         kümmern. Die reformatorische Be-
setzte man sich mit dem stärker in
                                                  so wenig interessiert waren wie der       wegung konnte sich mehr oder we-
das Abendland vordringenden Islam
                                                  abendländische Kaiser, der sich als       niger in aller Ruhe ausbreiten, ohne
in Gestalt „des Türken“ auseinan-
                                                  Missionar des römischen Christen-         dass der Kaiser oder die kaiserlichen
der. Dafür sind ein eindrückliches
                                                  tums verstand, und wie der Papst, der     Behörden gegen sie wirksam vorge-
Beispiel die Türkenschriften Martin               seinen Anspruch auf Universalherr-        gangen wären.
Luthers.                                          schaft gerade von allen Seiten bedroht
                                                  sah. „Der Türke“ galt als große Gefahr,
                                                  und es wurden wahre Schreckensbil-
                                                  der wie der Teufel an die Wand ge-
                                                  malt. Lange hatten die Johanniter auf
                                                  Rhodos dem Ansturm der Türken auf
                                                  die Insel standgehalten. Die Nachrich-
                                                  ten vom Sieg gegen die Johanniter und
   Abb. 1: Niclas Meldemann,                      vom Fall Rhodos im Jahr 1521 waren
Belagerung der Stadt Wien, Nürnberg               es dann u.a., die den Westen erneut
1530: „Der stadt Wien belegerung,                 erschütterten.
wie die auff dem hohen sant Steffan-                Luther konnte den Türken sehr
thurn allenthalben gerings vm die                 dankbar sein. War es doch dieses
ganze stadt zu wasser vund landt mit
allen dingen anzusehen gewest ist…“
Kolorierter Holzschnitt. (Druck von 6
Stöcken). Ausschnitt.                               Abb. 2: Der Mönch Martin Luther,
Quelle: dilibri Rheinland-Pfalz, www.dilibri.de   Lucas Cranach d.Ä., 1520.

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011                                                                                           61
Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Lexutt

  Als die Türken 1529 vor Wien stan-      ßert, ist also kaum noch verwunder-      missverstandene Äußerung, die er
den und ihr Vordringen kaum noch          lich. Und auch die Art und Weise ist     1520 in der Auseinandersetzung mit
aufzuhalten war, machten sich Angst       wenig erstaunlich, ging es doch vor-     der Bannandrohungsbulle gemacht
und eine diffuse Weltuntergangsstim-      nehmlich nicht darum, irgendeinen        hat, zurechtzurücken und darzulegen,
mung breit, und jetzt schon vereinzelt,   Dialog zu führen oder den Islam zu       warum auch er der Meinung sei, der
am Ende des 16. Jahrhunderts nach         verstehen bzw. ein Verständnis zu ver-   Türke als Gefahr fürs Vaterland müsse
den Wirren in der Religionsfrage dann     mitteln. Dass der Muslim ein H  ­ eide   bekämpft werden.
massiv gab es nicht wenige Autoren,       war, der einem Irrglauben anhing, war       Hat die Schrift „Vom Kriege widder
die im Türken eine „Geißel Gottes“        keine Frage, sondern eine unumstöß-      die Türcken“ (verfasst vor der Erobe-
erblickten, mit der er die zerstrittene   liche Tatsache. Allerdings war eine      rung Pests) noch eher einen warnen-
und unbußfertige Christenheit strafen     Frage, wie man mit diesem Heiden         den und mahnenden Charakter, so
wollte und mit der er das nahe Welten-    und Irrgläubigen umgehen sollte. Sei-    die „Heerpredigt wider den Türcken“
de ankündigte.                            ne ersten beiden literarischen Ausein­   (verfasst nach dem Fall Pests und der
  Dass Luther sich 1529, im unmittel-     andersetzungen mit den Muslimen          Belagerung Wiens) stärker einen er-
baren Kontext der Bedrohung Wiens         sind dann auch keine inhaltlichen        mutigenden. Allerdings zeichnen sich
durch die Osmanen, zum Islam äu-          Glanzwerke, sondern er versucht, eine    in beiden Texten bereits zwei Elemen-
                                                                                   te ab, die man auch in späteren immer
                                                                                   wieder finden wird. Zum einen: Luther
                                                                                   hat „den Türken“ vor Augen. Nicht den
                                                                                   Islam. Wie viele seiner Zeitgenossen
                                                                                   auch konnte er den Inhalten dieser
                                                                                   Religion, die er auch nur vom Hören-
                                                                                   sagen und nicht durch ein eigenes
                                                                                   Studium des Koran kannte, so wenig
                                                                                   abgewinnen, dass er nicht wirklich an
                                                                                   einer theologischen Auseinanderset-
                                                                                   zung damit interessiert war; vielmehr
                                                                                   galt ihm „der Türke“ als Feindbild,
                                                                                   mit dem es weniger zu diskutieren
                                                                                   als den es zu bekämpfen galt. Und
                                                                                   zum anderen: Es gibt sehr wohl auch
                                                                                   positive Äußerungen Luthers zu den
                                                                                   Türken. Und zwar immer dann, wenn
                                                                                   er den Papst in ganz herausragender
                                                                                   Weise diskreditieren will: Der Türke
                                                                                   ist schon schlimm. Aber der Papst ist
                                                                                   noch schlimmer.
                                                                                      Die beiden Türkenschriften von
                                                                                   1529 und 1530 nun sind für beides
                                                                                   schöne Beispiele. Die Zielscheibe Lu-
                                                                                   thers ist ganz eindeutig der Papst und
                                                                                   weniger „der Türke“. Die bisherigen
                                                                                   Niederlagen gegen die türkischen

                                                                                     Abb. 3: Historische Ausgabe von
                                                                                   Luthers Rede, 1529, „Vom Kriege
                                                                                   wid=der die Tür=cken. Martinus
                                                                                   Luther. Gedruckt zu Wit=temberg.
                                                                                   M.D.XXIX.“

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Luther und der Islam

  Abb. 4: Titelblatt und erste
Textseite: „Eine Heer=predigt wider
den Türcken. Mart. Luther. Wittem-
berg M.D.XXX. Nürnberg, Johannes
Stüchs 1530.

Heere in Rhodos und in Ungarn sind
für ihn Zeichen dafür, dass Gott mit
„dem Türken“ die sündige Christen-
heit straft. Luther schreibt: „Und weil
denselben [Artikel] die Papisten ohne
Schrift, aus Mutwillen verwerfen,
muss der Türke sich dessen annehmen
und denselben mit der Faust und mit
der Tat bestätigen. Wollen wir es nicht   Konkretisierung der Zwei-Regimen-        ist ein Diener des Teufels, der nicht al-
aus der Schrift lernen, so muss uns       te-Lehre: Nicht Papst, Bischöfe und      lein Land und Leute verdirbt mit dem
der Türke aus der [Schwert]scheide        Priester haben gegen „den Türken“        Schwert [...], sondern auch den christ-
lehren, bis wir es mit Schaden erfah-     Krieg zu führen, sondern die weltli-     lichen Glauben und unseren lieben
ren, dass Christen nicht Krieg führen     chen Fürsten. Die Kirche, so Luthers     Herrn Jesus Christus verwüstet. [...
noch dem Übel widerstehen sollen.“        unmissverständliche Ansage, hat kei-     E]r lässt wahrlich die Christen nicht
(WA 30/II, 113/14-18) Es geht in die-     nen Krieg und kein Schwert zu führen:    öffentlich zusammen kommen, und es
sem Kontext also um die weitergehen-      „Sie hat andere Feinde als Fleisch und   darf auch niemand öffentlich Chris-
de Frage, ob und wann Christen über-      Blut, welche ‚böse Teufel in der Luft’   tus bekennen oder wider Mohammed
haupt Krieg führen sollen und dürfen      heißen, darum hat sie auch andere        predigen oder lehren. Was ist das für
und ob und wie Widerstand gegen die       Waffen und Schwerter und andere          eine Freiheit des Glaubens, wenn man
weltliche Obrigkeit zu begründen ist.     Kriege, womit sie genug zu schaffen      Christus nicht predigen noch beken-
Luther ist an dieser Stelle sogar ziem-   hat; sie hat sich in des Kaisers oder    nen darf, wo doch unser Heil in eben
lich frech und behauptet, das Einmi-      in der Fürsten Kriege nicht einzumi-     diesem Bekenntnis steht [...]?“ (WA
schen der geistlichen Gewalt in diese     schen.“ (WA 30/II, 114/25-28)            30/II, 120/26-35)
weltliche Aufgabe, gegen den Türken         Gleichwohl: Der Türke ist eine ernst      Luther bekennt, nicht viel vom Koran
vorzugehen, sei für diese gescheiter-     zu nehmende Gefahr, dem zunächst         zu wissen, und nimmt sich vor, dieses
ten Kriegszüge verantwortlich. Im         und vor allem mit inständigem Gebet      Buch einmal zu übersetzen, „auf dass
Grunde geht es Luther mithin um eine      zu begegnen ist. „Denn der Türke [...]   jedermann sehe, was für ein faules,

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011                                                                                      63
Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Lexutt

  Abb. 5: Die ersten Suren des
Korans (siehe Abb. 7).

schändliches Buch es ist“. (WA 30/
II, 122/1f.) Das wenige, was er kennt,
reicht ihm allerdings auch schon.
Denn obwohl Christus und Maria da-
rin gelobt würden, so haben sie doch
nicht die Geltung, die ihnen zukommt.
Christus ist nicht mehr als ein Pro-
phet. Sämtliche christologischen und
die Erlösung betreffenden Lehrstücke
wie die Trinität, die Zwei-Naturen-
Lehre und die Rechtfertigung werden
von den Türken geleugnet. Was Luther
besonders ärgert ist, dass trotz dieser
Irrlehren der türkische Glaube so viele
Anhänger hat. Und er hat auch gleich
eine Erklärung dafür parat: „Denn es      hat ihn auch gehabt – hin ist hin: Sie    es aber auch der Heilige Krieg, das
gefällt der Vernunft über die Maßen       haben nun den Papst. Und ihr Deut-        Vorgehen mit dem Schwert, welches
gut, dass Christus nicht Gott sei, wie    schen braucht nicht zu denken, dass       Luther anklagt, das großen Schaden
die Juden auch glauben.“ (WA 30/II,       ihr ihn ewig haben werdet, denn der       anrichtet. In Luthers Augen ist „der
122/26f. Das ist nicht ganz von der       Undank und die Verachtung wird ihn        Türke“ schlicht ein Mörder, dessen
Hand zu weisen: Der Verstand und die      nicht bleiben lassen.“ (WA 15, 32/7-13)   Schlagkraft und Dauer darin be-
Vernunft tun sich leichter, wenn sie      Wer sich jetzt nicht für Christus ent-    gründet sei, dass ihm das Morden,
das komplizierte Verhältnis zwischen      scheidet, der ist es nicht wert, dass     Schlachten und Rauben in seiner Hei-
Gott-Vater und Gott-Sohn und das          man sich um seine Rettung bemüht.         ligen Schrift als göttliches und Gott
nicht minder komplizierte Verhältnis      Luther lebt tatsächlich in der Erwar-     wohlgefälliges Werk vorgestellt, ja
zwischen göttlicher und menschlicher      tung eines nicht mehr allzu fernen        befohlen werden. Und weil das so ist,
Natur Jesu Christi nicht logisch nach-    Weltendes, und angesichts des baldi-      stellt auch die muslimische weltliche
vollziehbar erklären müssen.              gen Gerichts stehen alle Menschen in
   Luthers Aussage ist aber in ande-      der Entscheidung. Der Kampf gegen
rer Hinsicht viel bemerkenswerter,        Jude, Türke, Papst und alle Verleugner
denn nicht umsonst erwähnt er in die-     des Erlösungswerkes Christi allein aus
sem Zusammenhang auch die Juden.          Gnade ist daher als apokalyptischer
Durch die Schriften des mittleren und     Endkampf zu betrachten und also alles
des alten Luther zieht sich das wie ein   andere als ein Spiel.
roter Faden: Papst, Jude und Türke          Neben der theologischen Verwir-
werden zu den Feinden der Christus-       rung, die „der Türke“ anrichtet, ist
Botschaft schlechthin, ja zum Werk-
zeug des Teufels und zum Antichrist
stilisiert. „Gottes Wort und Gnade ist
ein fahrender Platzregen, der nicht         Abb. 6: „Lob- und Dancklied
wiederkommt, wo er einmal gewesen         Wegen deß höchst-erfreulichen
ist. Er ist bei den Juden gewesen –       Entsatzes der Kaiserlichen Residentz-
aber hin ist hin: Sie haben nun nichts.   Statt Wien von deß Blut-durstigen
Paulus brachte ihn nach Griechenland.     Christenfeinds des Türcken harter
Hin ist auch hin: Sie haben nun den       Belagerung:…“, Schwäbisch Hall
Türken. Rom und das lateinische Land      1683: Laidigen. 2 Blatt.

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Luther und der Islam

Obrigkeit keine „ordentliche“ Obrig-      kann es ein grausameres, gefährliche-     einem großen Aufgebot an Soldaten
keit dar, denn Aufgabe einer solchen      res, schrecklicheres Gefängnis geben      und Waffen, denn die Schlagkraft
„ordentlichen“ Obrigkeit wäre es, für     als unter solchem Regiment zu leben?      „des Türken“ ist nach Luther in keiner
Frieden zu sorgen und also gerade         Lüge zerstört das geistliche Regiment;    Weise zu unterschätzen (WA 30/II,
nicht unaufhörlich mit dem Schwert        Mord zerstört den weltlichen Stand;       145/27-146/18). Von einem Angriffs-
dreinzuschlagen.                          Unehe zerstört den Ehestand. Nimm         krieg redet Luther mit keiner Silbe,
   Schließlich nimmt Luther noch ein      nun aus der Welt weg veram religio-       selbst dann nicht, als er in der zweiten
drittes Element auf, das ihm im Blick     nem, veram politiam, veram oecono-        Schrift dazu rät, mutig und beherzt
auf die Lehre des Islam ein Dorn im       miam (das ist rechtes geistliches We-     das Schwert zu erfassen (WA 30/II,
Auge ist: die Missachtung des Ehe-        sen, rechte weltliche Obrigkeit, rechte   162/15f.). Im Zusammenhang mit ei-
standes. Auch wenn, so Luther, nicht      Hauszucht): Was bleibt übrig in der       ner neuerlichen Polemik gegen den
alle davon Gebrauch machten, sich         Welt als eitel Fleisch, Welt und Teufel   Papst, der in gleicher Weise sündige
zehn oder zwanzig Frauen zu nehmen        [...]?“ (WA 30/II, 127/5-17) Luthers      wie der Türke und daher in gleicher
und sie zu verstoßen und auszutau-        Lehre von den drei Ständen, nach der      Weise zu strafen sei, zitiert Luther
schen, wie es ihnen gerade beliebt, so    die Welt von Beginn an durch Gott in      daher Mt 26, 52: „Wer das Schwert
gibt es doch die Möglichkeit dazu, und    dreifacher Hinsicht geordnet ist, kol-    nimmt, soll durch das Schwert um-
dies verletze das göttliche Gebot der     lidiert fundamental mit dem, was er       kommen.“ (WA 30/II, 142/27-143/1)
Treue zwischen Eheleuten. Wie sollen      vom Koran zu kennen glaubt. Der Tür-      Dies gilt natürlich umgekehrt auch
„die zwei ein Leib sein“ (Gen 2, 24),     ke und seine Heilige Schrift zerstören    für den Christen, der, ohne bedroht zu
wenn die Zahl 2 so klar überschritten     also Gottes Werk und Heilsplan von        werden, zum Schwert greift.
werden kann?                              Grund auf. Der gemeine Christ soll           Luther geht sogar noch weiter und
   Luther fasst zusammen: „Lass nun       und muss daher dem Türken im und          warnt regelrecht vor einem Glaubens-
unter den Türken etliche Christen         durch das Gebet widerstehen. Der          krieg: „Denn ich rate, weder gegen
sein, lass sie Mönche haben, lass et-     Kaiser und die Fürsten, denen als ver-    den Türken noch gegen den Papst zu
liche ehrbare Laien unter ihnen sein:     längertem Arm des göttlichen Willens      streiten seines falschen Glaubens und
Was kann aber im Regiment und im          in der Welt die Aufgabe zukommt, die      Lebens halber, sondern seines Mor-
ganzen türkischen Wandel und Wesen        Christenheit zu schützen, sollen diese    dens und Verstörens halber.“ (WA 30/
Gutes sein, wenn nach ihrem Koran         Aufgabe mit allen ihnen zur Verfü-        II, 143/1-3) Und in der Heerpredigt:
diese drei Stücke bei ihnen frei regie-   gung stehenden Mitteln wahrnehmen.        „[S]o habe ich geraten und rate noch
ren: Lügen, Mord, Unehe? Und jeder-       Und dazu gehört auch das Schwert.         so, dass wohl ein jeder sich befleißi-
mann daneben die christliche Wahr-        Allerdings: Es darf sich dabei nur um     gen soll, ein Christ zu sein, willig und
heit verschweigen muss [...]? Wie         Verteidigung handeln, und das mit         bereit vom Türken und von jedermann

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Lexutt

  Abb. 7: Übersetzung der ersten Sure
des Korans aus: Der Koran. Aus dem
Arabischen für die „Bibliothek der
Gesamt-Litteratur“ neu übersetzt von
Theodor Fr. Grigull. Halle a. d. S., o. J.

Leiden hinzunehmen. Aber er soll
nicht streiten als ein Christ oder un-
ter eines Christen Namen, sondern er
lasse seine weltlichen Herren Krieg
führen.“ (WA 30/II, 173/29-32) Der
Reformator ist an diesem Punkt bis
fast zu seinem Lebensende sehr kon-
sequent. Seiner Ansicht und Hoffnung
nach wird sich das Wort Gottes da-
durch durchsetzen, dass immer mehr
Menschen verstehen werden, worum
es dabei geht und worum es dabei
nicht geht. Erst als er sich im hohen
Alter in dieser seiner Hoffnung bit-
ter enttäuscht sieht, wird er zu dem         zu studieren, gar zu übersetzen, aber   kischen Gefangenschaft, diente seit
radikalen Polemiker, den wir als aus-        er sorgt doch dafür, dass „der Tür-     seiner Entstehung (zwischen 1475
gesprochen unangenehm und nahezu             ke“ nicht ein blasser Begriff bleibt,   und 1481) dazu, Sitten und Gebräu-
widerwärtig namentlich aus seinen            sondern verständlicher wird, was        che der Türken einem christlichen
späten Judenschriften kennen.                man sich darunter vorzustellen hat.     Publikum näher zu bringen. Luthers
  Ein Jahr nach diesen beiden Schrif-        In diesem Sinne verfasste er für eine   klares Anliegen ist es, seine und der
ten, die unter dem unmittelbaren             Neuausgabe des „Libellus de ritu        Leser Kenntnisse über den Koran zu
Eindruck des Vordringens der Osma-           et moribus Turcorum“ ein Vorwort.       erweitern. Er beklagt als erstes in der
nen in den Westen entstanden sind,           Dieser Libellus, verfasst von dem Do-   Vorrede, er habe bis jetzt nur zwei
verwirklicht Luther zwar noch nicht          minikaner Georg von Ungarn unter        Texte über den Koran kennengelernt:
seinen Wunsch, den Koran genauer             dem Eindruck seiner 20-jährigen tür-    die „Confutatio Alkorani“ des Domi-
                                                                                     nikaners Riccoldo de Monte Croce
                                                                                     aus dem Jahre 1300 und die „Cribra-
         DIE AUTORIN                                                                 tio Alkorani“ des Nikolaus von Kues.
                                                                                     Beiden wirft er vor, die Dinge nicht
         Athina Lexutt, Jahrgang 1966, ist seit 2002 Professorin für Kirchen-        im rechten Licht darzustellen, da sie
         und Theologiegeschichte am Institut für Evangelische Theologie der          den Koran nur verwerfen würden, um
         Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen        das Römisch-Päpstliche um so herr-
         im Bereich der Reformationsgeschichte (vor allem Luther) und der Kon-       licher erstrahlen lassen zu können.
                                              fessionskunde. Sie ist Prädikan-       In diesem Zusammenhang schlägt
                                              tin der Evangelischen Kirche im        Luther einen neuen und ausgespro-
                                              Rheinland und engagiert in der         chen bemerkenswerten Ton an. Er
                                              Laienfortbildung der EKiR und          schreibt: „Er [der Luther unbekann-
                                              der EKHN; zudem leitet sie seit ei-    te Verfasser des Libellus] erzählt
                                              nigen Jahren zusammen mit Kol-         [die Dinge] nämlich so, dass er nicht
                                              legen die Frühjahrsakademie der        nur ihre schlechten Seiten bekannt
                                              Lutherakademie Sondershausen-          macht, sondern auch ihre besten Sei-
                                              Ratzeburg.                             ten auf gleiche Art entgegenhält und

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Luther und der Islam

  Abb. 8: Titelblatt und erste
Textseite der „Vermanunge zum
Gebet / Wider den Türcken. Mart.
Luth. Wittemberg. M.D. XLI.

sie so aussagt, dass er die Menschen
bei uns durch einen Vergleich mit ih-
nen zurechtweist und tadelt. [...] Dies
sind in der Tat die gewissen Zeichen
eines redlichen und aufrichtigen Her-
zens, das nichts aus Hass schreibt,
sondern alles aus Liebe zur Wahrheit
erzählt. Wer nämlich den Feind nur
tadelt und sich bloß über das, was an
ihm schändlich und widersinnig ist,
beschwert, aber über das schweigt,
was an ihm ehrenhaft und löblich ist,     lung, nicht mehr und nicht weniger,         dessen, was dort zu beobachten und
der schadet der Sache mehr als dass       und ihm dürfte nicht zuletzt auch mit       anzumerken ist, Rom und den Papst
er nützt.“ (Zit. nach [2] Lexutt, Athi-   Blick auf sich selbst an einer solchen      bloßzustellen. Denn da dieser ja auch
na/Metz, Detlef (Hgg.): 2009, 175)        Gerechtigkeit gelegen sein.                 in dem Evangelium unangemessener
Eine der Sache gerechte Darstellung         Diese ausgewogene Lektüre er-             Weise das Äußere und die Gesetze
fordert Luther also, und er ist umso      möglicht es Luther, sich im Vorwort         betont, könnte er, wenn er denn schon
erstaunter, als diese Darstellung aus-    zu einem nicht geringen Teil lobend         der Botschaft von der Rechtfertigung
gerechnet von einem Autor kommt,          über die Anhänger des Mohammed zu           allein aus Glauben zuwiderhandelt,
der schließlich eine nicht unwesent-      äußern. In fast allen äußeren Zeremo-       das auch richtig machen und sich vom
liche Anzahl von Jahren in der Gefan-     nien, in der äußeren Erscheinung ih-        Heiden eine gute Scheibe abschnei-
genschaft der Türken verbracht hat        rer Religion, so konstatiert er, sind sie   den. Denn bei allem Lob bleibt doch
und vermutlich doch allen Grund hät-      nahezu vorbildhaft, ja sie stellen sogar    auch weiterhin klar, dass es sich bei
te, nicht gerade in überschwänglicher     die christlichen Mönche und From-           allem möglicherweise im Islam zu
Freude über die Türken zu schreiben.      men einschließlich der Papisten mü-         beobachtenden Tugendhaften und
Von religiöser Toleranz zu sprechen,      helos in den Schatten. Wieder einmal        sittlich Reinen doch eben leider um
wäre indes weit gefehlt; es geht dem      geht es Luther nicht um den Islam,          einen Irrglauben handelt, der im Blick
Reformator um eine gerechte Darstel-      sondern es geht ihm darum, mit Hilfe        auf das Innere auf dem völlig falschen

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Lexutt

   Abb. 9: Der Koran. Aus dem
Arabischen für die „Bibliothek der
Gesamt-Litteratur“ neu übersetzt von
Theodor Fr. Grigull. Halle a. d. S.,
o. J.; (links) „Facsimile einer Koran-
Handschrift aus der Stuttgarter
Bibliothek. Sure XCIII (ohne Über-
schrift), Sure XCIV und Sure XCV
(Vers 1 u. 2)“.

Weg ist. So ist am Ende das Lob auf
den Türken doch wieder sehr relativ.

Da hilft nur beten

Nach einer langen Pause meldet sich
Luther im Blick auf den Türken dann
explizit erst wieder 1541 zu Wort in            Luther war durch entsprechende         schlägt, vertieft diese Vorstellung,
der „Vermahnung zum Gebet wider              Nachrichten schon auf diese Aufgabe       für die missliche politische Lage
den Türken“. Wieder ist der Anlass die       vorbereitet und konnte den Text dann      selbst verantwortlich zu sein, und so
neu entbrannte Türkengefahr, nach-           schnell zu Papier bringen. Unter der      tritt der Trost hinter den Bußruf klar
dem Suleiman d. Gr. am 2. September          Hand gerät er ihm zu einer Rückschau      zurück. Luther ist getrieben davon,
Ungarns Hauptstadt erobert, aus der          auf den mit vielen Tiefen versehenen      mit allem und jedem abzurechnen,
Hauptkirche eine Moschee gemacht             Gang seiner Reformation, und wie          der ganz offenbar die Zeichen der
und das Reich unter osmanische Ver-          schon in den frühen Schriften prangert    Zeit nicht erkannt und das Ziel der
waltung gestellt hatte. Wieder stand         er mehr die Verfehlungen der Christen     reformatorischen Bewegung nicht
der Türke vor Wien, und nachdem die          an, die solche Strafe Gottes verdien-     verstanden oder gar verraten hat. Die
Religionsgespräche zwischen Protes-          ten, als „den Türken“ selbst. Auch hier   weltliche Obrigkeit mahnt er, sich be-
tanten und Altgläubigen gescheitert          wird weniger zum Kampf gegen die          wusst zu machen, dass ihr Kriegszug
waren, wuchs die Unsicherheit, ob            Türken aufgerufen als dazu, die aktu-     gegen „den Türken“ in diesem Sinne
Karl V. es schaffen würde, ein großes        ellen Ereignisse als scharfe Anfrage      ein Kampf gegen das Heer des Teu-
und starkes Heer aufzubieten, das            an das eigene Fehlverhalten durch all     fels ist. Daher dürften sie sich nicht
den Ansturm aufhalten konnte. Der            die Jahre hindurch zu begreifen und       auf ihre Waffen verlassen, die in ei-
sächsische Kurfürst Johann Fried-            darin den Ruf zu Umkehr und Buße zu       nem solchen Kampf am Ende nutzlos
rich beauftragte Luther, rekurrierend        vernehmen. Sein Rat an die Christen       sind; verlassen sollten sie sich dage-
auf dessen beide Türkenschriften von         ist daher der folgende: „[Dass] man       gen auf Gottes Wort. Welch eine pro-
1529/1530, man „solle den Predigern          [...] Gott anfinge zu fürchten und auf    blematische Sicht, die das fehlende
im ganzen Kurfürstentum zu Sachsen           seine Güte zu vertrauen. Wo das ge-       Kriegsglück der Vergangenheit dar-
[...] befehlen, dass sie das Volk in allen   schehe, so wissen wir sehr wohl, dass     auf zurückführt, dass man Gott nicht
Predigten zum Gebet wegen des Tür-           weder Türke noch Teufel uns etwas an-     durch Gebet auf seine Seite zwang,
ken bevorstehender Not und tyranni-          haben können. Denn so Gott mit uns        und umgekehrt das Kriegsglück da-
scher Handlung mit höchstem Ernst            ist, wer wollte wider uns sein?“( WA      von abhängig macht, ob man Gottes
vermahnten, und dass man Gottes              51, 593/33-594/18) Er kann in dieser      Wort als stärkste Waffe einsetzt – und
Allmächtigkeit um gnädige Abwen-             Weise „den Türken“ sogar als Schul-       das sicher nicht so verstanden, als ob
dung auch allen denen, die wider den         meister bezeichnen, der die Christen      es ein Kampf mit Worten, eine Ausei-
Türken stritten, gnädigen Sieg und           die rechte Gottesfurcht und das Beten     nandersetzung über den Dialog wäre.
Überwindung zu geben und zu verlei-          lehrt. (WA 51, 594/26-28).                Sondern dass man sich das Kreuzes-
hen, von ganzem Herzen emsig bitten             Was Luther dann weiterhin als sehr     zeichen auf die Fahnen stickt und Ka-
solle“. (WA 51, 578)                         konkrete Anleitungen zum Beten vor-       nonen segnet!

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Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
Luther und der Islam

Papst, Mohammed und die                  problematische Sicht, Gott selbst be-      seiner eigenen Widerlegung zu sein:
anderen Teufel                           diene sich „des Türken“ zum Strafge-       „Wohlan, Gott gebe uns seine Gnade
                                         richt über die unbelehrbaren Christen,     und strafe beide, Papst und Mahmet
Zum Schluss unserer Übersicht zu         dazu, Gott als den in Wahrheit einzi-      samt ihren Teufeln. Ich habe das Mei-
Luthers Stellung zum Islam müssen        gen Gott zu beweisen und Vertrauen         ne getan als ein treuer Prophet und
wir noch auf einen Text eingehen,        auf ihn allein zu lehren. Bissig und       Prediger. Wer nicht hören will, der
der Luthers Wunsch, sich intensiv mit    bitter bezeichnet er in einer eigenen,     mag’s lassen. Ich bin jetzt entschul-
dem Koran auseinanderzusetzen, um        der Riccoldo-Edition angehängten           digt, künftig jeden Tag und in Ewig-
die Lehre Mohammeds besser ver-          Widerlegung die falschen Christen          keit. Die aber glauben, werden es mir
stehen – und besser widerlegen! – zu     als „christliche Türken“, die noch         hier und dort danken. Denn sie sind es
können, am nächsten kommt. 1542,         schlimmer seien als die „mahmeti-          (wo Gott Glück geben wird), die es um
also nur ein Jahr später, übersetzte     schen“, und noch bissiger wünscht er       Gott mit Glauben, Beten und Dulden
und edierte Luther die von ihm vorher    den türkischen Heeren Kriegsglück,         verdienen und das beste tun werden.
so skeptisch beäugte „Confutatio Al-     damit die falschen Christen endlich        Das helfe ihnen Gott, der barmherzi-
korani“ des Riccoldo de Monte Croce.     auf drastische Weise über ihre Irrtü-      ge Vater durch seinen lieben Sohn Je-
Seine Skepsis scheint sich durchaus      mer und Gotteslästerungen aufgeklärt       sus Christus mit dem Heiligen Geist,
verloren zu haben, weil er inzwischen    würden. (WA 53, 391/11-24) Die Hoff-       gelobt in Ewigkeit. Amen.“ (WA 53,
erstmals eine lateinische Koranaus-      nung auf Bekehrung der Türken indes        396/28-35)
gabe in die Hand bekommen hatte.         hat Luther – wie auf die der Juden und
Zwar fand er die Übersetzung grau-       der Papisten – drei Jahre vor seinem       Luther und der Islam heute
enhaft; nichtsdestoweniger bestätig-     Tod längst aufgegeben. Der leicht re-
te sie seine negative Sicht, so dass     signative Unterton ist von daher keine     Eigentlich war das ein wunderbares
der Verdacht, der Islam käme bei         Überraschung. Die penetrante, jeden-       Schlusswort. Nun ist aber noch nach
Riccoldo nur so schlecht weg, um die     falls redundante Parallelisierung von      dem aktuellen Ertrag dieser histori-
römische Kirche erstrahlen zu las-       Juden und Türken, die doch beide wis-
sen, sich nicht mehr halten ließ. Im     sen, was es heißt zu glauben, die doch
Vorwort zu seiner Übersetzung der        beide Christus kennen, aber nicht er-
Widerlegung nimmt Luther frühere         kennen als den, der er ist, verdeutlicht     Abb. 10: Übersetzung der 93. bis
Gedanken auf und spricht wieder-         dieses resignative Moment. Dafür be-       96. Sure des Korans (siehe Abb. 9)
um intensiv vom Türken als Teil des      sonders sprechend scheinen mir noch        aus: Der Koran. Aus dem Arabischen
Strafgerichts über die Christen, die     einmal die gebetsartigen Schlusssätze      von Max Henning. Leipzig 1901.
ihre Chance verpasst haben, Gottes
Willen auf Erden zu entsprechen. Zu-
gleich spricht er nun aber auch vom
Strafgericht über die Türken, die,
obwohl sie von Gott als Instrument
eingesetzt werden, keinen Gewinn
davon tragen werden.
  Und er spricht einen weiteren Ge-
danken deutlicher aus als bisher:
„Summa, wo wir die Sarrazenen und
nunmehr die Türken nicht bekehren
können, dass wir dennoch fest und
stark bleiben in unserem Glauben.“
(WA 53, 274/7f) Die Stärke der tür-
kischen Heere soll also gerade nicht
in Anfechtung führen oder gar dazu,
an der Allmacht und Kraft Gottes zu
zweifeln, so als besiege der türkische
Gott nach und nach den christlichen.
Vielmehr dient die in unseren Ohren

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011                                                                                    69
Lexutt

schen Betrachtungen zu fragen. Hat                                                    Abb. 11: Martin Luther im Alter
Luther uns etwas zu den Herausforde-                                               von Lucas Cranach d. Ä.
rungen unserer Tage zu sagen? Dazu
in aller gebotenen Kürze vier Thesen:

1. Die Wahrnehmung schärfen. Lu-                                                   Schwächen wahrzunehmen, und er
thers Situation 1529 und 1541ff. war                                               hat vor einseitiger Wahrnehmung ge-
eine ganz andere als unsere heute                                                  warnt. Sein Motiv mag sicher nicht
2010/2011. In den Jahren 1529 und                                                  lauter gewesen sein – sein Aufruf ist
1541ff. hatten die Osmanen Pest und                                                es allemal.
Ofen eingenommen und standen vor
den Toren Wiens. Heute, 470 Jahre                                                  2. Abgrenzungen vornehmen. Nota
später, haben die Muslime unserer                                                  bene: Abgrenzungen! Nicht: Aus-
Zeit die Stadttore längst und dauerhaft                                            grenzungen! Die Sarrazinische Sar-
durchschritten, haben Läden aufge-                                                 razenenschelte ist unerträglich und
macht, gestalten Politik, schicken ihre                                            in dieser Weise absurd, weil sie be-
Kinder in deutsche Schulen und prä-                                                grifflich unscharf ist und Argumen-
gen ganze Stadtviertel. „Der Türke“       der bzw. der Schülerinnen und Schü-      tationsebenen in unsäglicher Weise
stellt nicht mehr per se ein Feindbild    ler mit Migrationshintergrund 80%        munter mischt und dabei auch welche
dar, „der Türke“ ist längst kein Syno-    beträgt, funktionieren anders und        neu erfindet, die spätestens mit dem
nym mehr für das unbekannte Gegen-        leisten anderes als Klassen, in denen    Untergang des Nazi-Wahns hätten er-
über. Der Islam gehört zu Deutsch-        dieser Anteil wesentlich geringer ist.   ledigt sein müssen. Ausgrenzungen,
land. Mit allem, was dieser knappe        Insbesondere, aber nicht ausschließ-     noch dazu in einer solch dummen Art
Satz bedeuten mag. Wir können nicht       lich in den Deutschkenntnissen und       begründet, führen nur den Ausgren-
so tun, als könnten wir die Muslime       -fertigkeiten wird sich dies bemerk-     zenden selbst in die Isolation – quod
in Deutschland in all ihrer Farbigkeit    bar machen. Das zu leugnen wäre          erat demonstrandum. Abgrenzungen
und Vielschichtigkeit einfach ignorie-    fatal, das zu erwähnen hat nichts mit    indes sind notwendig, weil sie den
ren. Und wir können vor allem nicht       latenter oder gar offener Xenophobie     Anderen in seiner Andersheit ernst
so tun, als beeinflusse dies die Kultur   zu tun. Hier müssen Fakten wahrge-       nehmen. Denn eine „Kuschelpoli-
und Gesellschaft dieses Landes nicht.     nommen und benannt werden, um            tik“ ist ebenso fatal, unerträglich
Diesen Einfluss gilt es mit all seinen    die Probleme nicht schleifen zu las-     und absurd, weil sie das Gegenüber
Chancen und mit all seinen Problemen      sen und in andere Bereiche zu prolon-    nicht Gegenüber sein lässt, sondern
verschärft wahrzunehmen. Und auch         gieren. Luther hat sich sehr bemüht,     Integration, also Eingliederung, mit
darzustellen und unter dem Stichwort      „den Türken“ in seinen Stärken und       Vereinnahmung verwechselt. Dass
„Herausforderungen“ zu bemerken,
nicht in monokausalierender und dis-
kreditierender Absicht, sehr wohl aber
in einer solchen, welche die Augen da-
vor nicht verschließt und Lösungen
finden will.
   Ein Beispiel: Grundschulklassen, in
denen der Anteil der Migrantenkin-

   Abb. 12: Titelblatt aus Muhammad:
Qur’an/Corani Textus Arabicus. Ad
fidem librorum manu scriptorum et
impressorum... Koranausgabe in
arabischer und lateinischer Sprache
mit Erläuterungen, Lipsiae 1834.

70                                                                                     Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam

Luther über Integration der Muslime       jüdisch-christliche Tradition bemüht       mehr wissen, was Christsein eigent-
nicht nachgedacht hat ist ihm ange-       wurde, um eben jene Zugehörigkeit zu       lich bedeutet und für die Gestaltung
sichts der Situation im 16. Jahrhun-      leugnen, dann sollte man wenigstens        von Politik, Kultur und Gesellschaft
dert nicht zu verdenken. Sehr wohl        wissen, worin denn, bitteschön, diese      ausmacht. Bildung tut Not! •
aber hat er über die andere Seite die-    Tradition und dieses Erbe bestehen,
ser Medaille nachgedacht, die wir nur     und sich, bitteschön, auch als würdi-      * Der Text ist die gekürzte Fassung
allzu gerne vergessen, über die aber      ge Nachlassverwalter erweisen. Die         eines Vortrags, den Prof. Dr. Athina
nach dem Stichwort „Abgrenzung“           Berufung auf ein solches Erbe macht        Lexutt vor der Evangelischen Erwach-
sofort geredet werden muss, damit         doch nur Sinn, wenn es als Teil ei-        senenbildung Worms am 27. Mai 2011
aus der Abgrenzung eben tunlichst         nes Profils gelebt und nicht als bloße     gehalten hat.
keine Ausgrenzung wird. Daher:            Worthülse missbraucht wird. Die am
                                          lautesten geschrieen haben, werden
3. Identität finden und Profil ent-
wickeln. Henryk M. Broder, der Bis-
                                          wohl die gewesen sein, die ansonsten
                                          das Christentum und die Kirche in die
                                                                                     ǺǺ       LITERATUR

sige und Kein-Blatt-vor-den-Mund-         privatesten Winkel verbannen wollen.       [1] Lutherschriften: WA – Martin Lu-
Nehmende, hat es in einem Buchtitel       Luther hat in seiner Zeit für nichts         thers Werke. Kritische Gesamtaus-
provokant auf den Punkt gebracht:         anderes gekämpft als für ein klares          gabe, Weimar 1883ff.;
„Hurra, wir kapitulieren!“ Seine The-     und deutliches christliches Profil. Wir    [2] Athina Lexutt/Detlef Metz
se von der willentlich und wissentlich    könnten uns das zum Vorbild nehmen,          (Hgg.): Christentum – Islam. Ein
geschehenden Überformung durch            weil wir – stärker als Luther das im         Quellenkompendium (8.-21. Jh.),
den Islam ist sicher böse und ein biss-   16. Jahrhundert zu sehen gezwungen           Köln, Weimar u.a. 2009;
chen Karikatur. Das Wahre daran aber      war – wissen, dass Identität und Profil    [3] Johannes Ehmann: Luther, Tür-
ist, dass den meistenteils ausgespro-     die einzigen gangbaren Wege zur To-          ken und Islam. Eine Untersuchung
chen selbstbewusst und in religiösen      leranz sind. Also:                           zum Türken- und Islambild Martin
Fragen souverän auftretenden Mus-                                                      Luthers (1515-1546) (QFRG 80), Gü-
limen kaum ein Christ etwas entge-        4. Toleranz lernen und üben. Der             tersloh 2008
genzusetzen hat. Es geht mitnichten       Weg zum Herzen eines anderen Men-
darum, wie einst Elia am Karmel ein       schen geht nicht darüber, dass ich der
Gottesgericht heraufzubeschwören.         Andere werde. Sondern dass ich Ich         KONTAKT
Aber es heißt Flagge zu zeigen im in-     bleibe und dem Anderen sein Anders-        Prof. Dr. Athina Lexutt
terreligiösen Dialog. Wenn nach dem       sein lasse. Tolerare, das lateinische      Justus-Liebig-Universität
                                                                                     Institut für Evangelische Theologie
Satz des Bundespräsidenten, der Is-       Wort, heißt nicht accipere – anneh-
                                                                                     Karl-Glöckner-Straße 21, Haus H
lam gehöre zu Deutschland, die Wel-       men. Sondern: ertragen! Dass dies          35394 Gießen
len hochgeschlagen haben und die          nur gegenseitig funktioniert dürfte        Telefon: 0641 99-27120
                                          ebenso klar sein wie die Anknüpfung        Athina.Lexutt@theologie.uni-giessen.de

                                          an das Stichwort „Identität und Pro-
                                          fil“. Ich kann nur tragen und ertragen,
                                          wenn ich weiß, wer ich bin, das heißt
                                          woher ich komme, wo ich stehe und
                                          wohin ich will. Und wenn ich auch be-
                                          reit bin, das offen auszusprechen. Zu
                                          bekennen. Luther mahnt die Toleranz
                                          vor allem auf der Seite der Türken an,
                                          die den Christen ihre freie Religions-
                                          ausübung verwehren, und an dieser
                                          Stelle ist Luther von erschreckender
                                          Aktualität. Heute wie damals aber
                                          würde er sicher vor allem auch an-
                                          mahnen, dass unter uns viele „christ-
                                          liche Türken“ sind, will in Luthers Sin-
                                          ne sagen: Viele, die nicht oder nicht

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011                                                                                           71
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