Luther und der Islam beten und büßen statt reden und kämpfen
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Luther und der Islam Beten und Büßen statt Reden und Kämpfen* Von Athina Lexutt 60 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Entgegen mancher Vorstellung hat es seit der Entstehung des Islam zwischen Christen und Muslimen immer wieder Versuche gegeben, sich über Dialoge einander anzu- nähern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kirchengeschicht- M lichen Professur des Instituts für artin Luther begegnet dem Ereignis, das die strenge Umsetzung Evangelische Theologie der Univer- Islam nicht voraussetzungs- des Wormser Ediktes und die konse- sität Gießen haben für alle Jahr- los. Er lernt den Islam nie quente Verfolgung seiner Anhänger hunderte Beispiele solcher Dialoge direkt, sondern immer nur vermittelt unterband. Zu sehr war der junge zusammengetragen und in einem kennen; insofern sind seine Islam- Kaiser Karl V. auf die Unterstützung Quellenkompendium kommentiert kenntnisse sehr beschränkt und von aller Stände angewiesen, wenn es herausgegeben. Dabei gab es so den Vorurteilen und Urteilen seiner zum bedrohlich nahen Krieg gegen manche Überraschung und so man- Vorgänger und Zeitgenossen einge- die Türken kommen sollte. Fast zehn che Anregung, wie etwa die visio- färbt. Als Luther sich mit dem Islam Jahre kämpfte Karl gegen die Um- näre, für seine Zeit (15. Jh.) mehr zu beschäftigen hatte, konnte er davon klammerung seines Reiches – vom als nur fortschrittliche Vorstellung ausgehen, dass dem Muslim jedenfalls Osten durch die Türken, vom Westen des Nikolaus von Kues, der einen in absehbarer Zeit friedlich nicht bei- durch den machtbeflissenen Franzo- Frieden im Glauben unter bestimm- zukommen war. Daran war natürlich senkönig Franz I. – und hatte alles ten Voraussetzungen für möglich auch das unaufhaltsame Vordringen andere zu tun, als sich um renitente der Osmanen nicht schuldlos, die an Mönche und ihre Spießgesellen zu hielt. Auch in der Reformationszeit einem friedlichen Gespräch genau- kümmern. Die reformatorische Be- setzte man sich mit dem stärker in so wenig interessiert waren wie der wegung konnte sich mehr oder we- das Abendland vordringenden Islam abendländische Kaiser, der sich als niger in aller Ruhe ausbreiten, ohne in Gestalt „des Türken“ auseinan- Missionar des römischen Christen- dass der Kaiser oder die kaiserlichen der. Dafür sind ein eindrückliches tums verstand, und wie der Papst, der Behörden gegen sie wirksam vorge- Beispiel die Türkenschriften Martin seinen Anspruch auf Universalherr- gangen wären. Luthers. schaft gerade von allen Seiten bedroht sah. „Der Türke“ galt als große Gefahr, und es wurden wahre Schreckensbil- der wie der Teufel an die Wand ge- malt. Lange hatten die Johanniter auf Rhodos dem Ansturm der Türken auf die Insel standgehalten. Die Nachrich- ten vom Sieg gegen die Johanniter und Abb. 1: Niclas Meldemann, vom Fall Rhodos im Jahr 1521 waren Belagerung der Stadt Wien, Nürnberg es dann u.a., die den Westen erneut 1530: „Der stadt Wien belegerung, erschütterten. wie die auff dem hohen sant Steffan- Luther konnte den Türken sehr thurn allenthalben gerings vm die dankbar sein. War es doch dieses ganze stadt zu wasser vund landt mit allen dingen anzusehen gewest ist…“ Kolorierter Holzschnitt. (Druck von 6 Stöcken). Ausschnitt. Abb. 2: Der Mönch Martin Luther, Quelle: dilibri Rheinland-Pfalz, www.dilibri.de Lucas Cranach d.Ä., 1520. Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 61
Lexutt Als die Türken 1529 vor Wien stan- ßert, ist also kaum noch verwunder- missverstandene Äußerung, die er den und ihr Vordringen kaum noch lich. Und auch die Art und Weise ist 1520 in der Auseinandersetzung mit aufzuhalten war, machten sich Angst wenig erstaunlich, ging es doch vor- der Bannandrohungsbulle gemacht und eine diffuse Weltuntergangsstim- nehmlich nicht darum, irgendeinen hat, zurechtzurücken und darzulegen, mung breit, und jetzt schon vereinzelt, Dialog zu führen oder den Islam zu warum auch er der Meinung sei, der am Ende des 16. Jahrhunderts nach verstehen bzw. ein Verständnis zu ver- Türke als Gefahr fürs Vaterland müsse den Wirren in der Religionsfrage dann mitteln. Dass der Muslim ein H eide bekämpft werden. massiv gab es nicht wenige Autoren, war, der einem Irrglauben anhing, war Hat die Schrift „Vom Kriege widder die im Türken eine „Geißel Gottes“ keine Frage, sondern eine unumstöß- die Türcken“ (verfasst vor der Erobe- erblickten, mit der er die zerstrittene liche Tatsache. Allerdings war eine rung Pests) noch eher einen warnen- und unbußfertige Christenheit strafen Frage, wie man mit diesem Heiden den und mahnenden Charakter, so wollte und mit der er das nahe Welten- und Irrgläubigen umgehen sollte. Sei- die „Heerpredigt wider den Türcken“ de ankündigte. ne ersten beiden literarischen Ausein (verfasst nach dem Fall Pests und der Dass Luther sich 1529, im unmittel- andersetzungen mit den Muslimen Belagerung Wiens) stärker einen er- baren Kontext der Bedrohung Wiens sind dann auch keine inhaltlichen mutigenden. Allerdings zeichnen sich durch die Osmanen, zum Islam äu- Glanzwerke, sondern er versucht, eine in beiden Texten bereits zwei Elemen- te ab, die man auch in späteren immer wieder finden wird. Zum einen: Luther hat „den Türken“ vor Augen. Nicht den Islam. Wie viele seiner Zeitgenossen auch konnte er den Inhalten dieser Religion, die er auch nur vom Hören- sagen und nicht durch ein eigenes Studium des Koran kannte, so wenig abgewinnen, dass er nicht wirklich an einer theologischen Auseinanderset- zung damit interessiert war; vielmehr galt ihm „der Türke“ als Feindbild, mit dem es weniger zu diskutieren als den es zu bekämpfen galt. Und zum anderen: Es gibt sehr wohl auch positive Äußerungen Luthers zu den Türken. Und zwar immer dann, wenn er den Papst in ganz herausragender Weise diskreditieren will: Der Türke ist schon schlimm. Aber der Papst ist noch schlimmer. Die beiden Türkenschriften von 1529 und 1530 nun sind für beides schöne Beispiele. Die Zielscheibe Lu- thers ist ganz eindeutig der Papst und weniger „der Türke“. Die bisherigen Niederlagen gegen die türkischen Abb. 3: Historische Ausgabe von Luthers Rede, 1529, „Vom Kriege wid=der die Tür=cken. Martinus Luther. Gedruckt zu Wit=temberg. M.D.XXIX.“ 62 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Abb. 4: Titelblatt und erste Textseite: „Eine Heer=predigt wider den Türcken. Mart. Luther. Wittem- berg M.D.XXX. Nürnberg, Johannes Stüchs 1530. Heere in Rhodos und in Ungarn sind für ihn Zeichen dafür, dass Gott mit „dem Türken“ die sündige Christen- heit straft. Luther schreibt: „Und weil denselben [Artikel] die Papisten ohne Schrift, aus Mutwillen verwerfen, muss der Türke sich dessen annehmen und denselben mit der Faust und mit der Tat bestätigen. Wollen wir es nicht Konkretisierung der Zwei-Regimen- ist ein Diener des Teufels, der nicht al- aus der Schrift lernen, so muss uns te-Lehre: Nicht Papst, Bischöfe und lein Land und Leute verdirbt mit dem der Türke aus der [Schwert]scheide Priester haben gegen „den Türken“ Schwert [...], sondern auch den christ- lehren, bis wir es mit Schaden erfah- Krieg zu führen, sondern die weltli- lichen Glauben und unseren lieben ren, dass Christen nicht Krieg führen chen Fürsten. Die Kirche, so Luthers Herrn Jesus Christus verwüstet. [... noch dem Übel widerstehen sollen.“ unmissverständliche Ansage, hat kei- E]r lässt wahrlich die Christen nicht (WA 30/II, 113/14-18) Es geht in die- nen Krieg und kein Schwert zu führen: öffentlich zusammen kommen, und es sem Kontext also um die weitergehen- „Sie hat andere Feinde als Fleisch und darf auch niemand öffentlich Chris- de Frage, ob und wann Christen über- Blut, welche ‚böse Teufel in der Luft’ tus bekennen oder wider Mohammed haupt Krieg führen sollen und dürfen heißen, darum hat sie auch andere predigen oder lehren. Was ist das für und ob und wie Widerstand gegen die Waffen und Schwerter und andere eine Freiheit des Glaubens, wenn man weltliche Obrigkeit zu begründen ist. Kriege, womit sie genug zu schaffen Christus nicht predigen noch beken- Luther ist an dieser Stelle sogar ziem- hat; sie hat sich in des Kaisers oder nen darf, wo doch unser Heil in eben lich frech und behauptet, das Einmi- in der Fürsten Kriege nicht einzumi- diesem Bekenntnis steht [...]?“ (WA schen der geistlichen Gewalt in diese schen.“ (WA 30/II, 114/25-28) 30/II, 120/26-35) weltliche Aufgabe, gegen den Türken Gleichwohl: Der Türke ist eine ernst Luther bekennt, nicht viel vom Koran vorzugehen, sei für diese gescheiter- zu nehmende Gefahr, dem zunächst zu wissen, und nimmt sich vor, dieses ten Kriegszüge verantwortlich. Im und vor allem mit inständigem Gebet Buch einmal zu übersetzen, „auf dass Grunde geht es Luther mithin um eine zu begegnen ist. „Denn der Türke [...] jedermann sehe, was für ein faules, Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 63
Lexutt Abb. 5: Die ersten Suren des Korans (siehe Abb. 7). schändliches Buch es ist“. (WA 30/ II, 122/1f.) Das wenige, was er kennt, reicht ihm allerdings auch schon. Denn obwohl Christus und Maria da- rin gelobt würden, so haben sie doch nicht die Geltung, die ihnen zukommt. Christus ist nicht mehr als ein Pro- phet. Sämtliche christologischen und die Erlösung betreffenden Lehrstücke wie die Trinität, die Zwei-Naturen- Lehre und die Rechtfertigung werden von den Türken geleugnet. Was Luther besonders ärgert ist, dass trotz dieser Irrlehren der türkische Glaube so viele Anhänger hat. Und er hat auch gleich eine Erklärung dafür parat: „Denn es hat ihn auch gehabt – hin ist hin: Sie es aber auch der Heilige Krieg, das gefällt der Vernunft über die Maßen haben nun den Papst. Und ihr Deut- Vorgehen mit dem Schwert, welches gut, dass Christus nicht Gott sei, wie schen braucht nicht zu denken, dass Luther anklagt, das großen Schaden die Juden auch glauben.“ (WA 30/II, ihr ihn ewig haben werdet, denn der anrichtet. In Luthers Augen ist „der 122/26f. Das ist nicht ganz von der Undank und die Verachtung wird ihn Türke“ schlicht ein Mörder, dessen Hand zu weisen: Der Verstand und die nicht bleiben lassen.“ (WA 15, 32/7-13) Schlagkraft und Dauer darin be- Vernunft tun sich leichter, wenn sie Wer sich jetzt nicht für Christus ent- gründet sei, dass ihm das Morden, das komplizierte Verhältnis zwischen scheidet, der ist es nicht wert, dass Schlachten und Rauben in seiner Hei- Gott-Vater und Gott-Sohn und das man sich um seine Rettung bemüht. ligen Schrift als göttliches und Gott nicht minder komplizierte Verhältnis Luther lebt tatsächlich in der Erwar- wohlgefälliges Werk vorgestellt, ja zwischen göttlicher und menschlicher tung eines nicht mehr allzu fernen befohlen werden. Und weil das so ist, Natur Jesu Christi nicht logisch nach- Weltendes, und angesichts des baldi- stellt auch die muslimische weltliche vollziehbar erklären müssen. gen Gerichts stehen alle Menschen in Luthers Aussage ist aber in ande- der Entscheidung. Der Kampf gegen rer Hinsicht viel bemerkenswerter, Jude, Türke, Papst und alle Verleugner denn nicht umsonst erwähnt er in die- des Erlösungswerkes Christi allein aus sem Zusammenhang auch die Juden. Gnade ist daher als apokalyptischer Durch die Schriften des mittleren und Endkampf zu betrachten und also alles des alten Luther zieht sich das wie ein andere als ein Spiel. roter Faden: Papst, Jude und Türke Neben der theologischen Verwir- werden zu den Feinden der Christus- rung, die „der Türke“ anrichtet, ist Botschaft schlechthin, ja zum Werk- zeug des Teufels und zum Antichrist stilisiert. „Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht Abb. 6: „Lob- und Dancklied wiederkommt, wo er einmal gewesen Wegen deß höchst-erfreulichen ist. Er ist bei den Juden gewesen – Entsatzes der Kaiserlichen Residentz- aber hin ist hin: Sie haben nun nichts. Statt Wien von deß Blut-durstigen Paulus brachte ihn nach Griechenland. Christenfeinds des Türcken harter Hin ist auch hin: Sie haben nun den Belagerung:…“, Schwäbisch Hall Türken. Rom und das lateinische Land 1683: Laidigen. 2 Blatt. 64 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Obrigkeit keine „ordentliche“ Obrig- kann es ein grausameres, gefährliche- einem großen Aufgebot an Soldaten keit dar, denn Aufgabe einer solchen res, schrecklicheres Gefängnis geben und Waffen, denn die Schlagkraft „ordentlichen“ Obrigkeit wäre es, für als unter solchem Regiment zu leben? „des Türken“ ist nach Luther in keiner Frieden zu sorgen und also gerade Lüge zerstört das geistliche Regiment; Weise zu unterschätzen (WA 30/II, nicht unaufhörlich mit dem Schwert Mord zerstört den weltlichen Stand; 145/27-146/18). Von einem Angriffs- dreinzuschlagen. Unehe zerstört den Ehestand. Nimm krieg redet Luther mit keiner Silbe, Schließlich nimmt Luther noch ein nun aus der Welt weg veram religio- selbst dann nicht, als er in der zweiten drittes Element auf, das ihm im Blick nem, veram politiam, veram oecono- Schrift dazu rät, mutig und beherzt auf die Lehre des Islam ein Dorn im miam (das ist rechtes geistliches We- das Schwert zu erfassen (WA 30/II, Auge ist: die Missachtung des Ehe- sen, rechte weltliche Obrigkeit, rechte 162/15f.). Im Zusammenhang mit ei- standes. Auch wenn, so Luther, nicht Hauszucht): Was bleibt übrig in der ner neuerlichen Polemik gegen den alle davon Gebrauch machten, sich Welt als eitel Fleisch, Welt und Teufel Papst, der in gleicher Weise sündige zehn oder zwanzig Frauen zu nehmen [...]?“ (WA 30/II, 127/5-17) Luthers wie der Türke und daher in gleicher und sie zu verstoßen und auszutau- Lehre von den drei Ständen, nach der Weise zu strafen sei, zitiert Luther schen, wie es ihnen gerade beliebt, so die Welt von Beginn an durch Gott in daher Mt 26, 52: „Wer das Schwert gibt es doch die Möglichkeit dazu, und dreifacher Hinsicht geordnet ist, kol- nimmt, soll durch das Schwert um- dies verletze das göttliche Gebot der lidiert fundamental mit dem, was er kommen.“ (WA 30/II, 142/27-143/1) Treue zwischen Eheleuten. Wie sollen vom Koran zu kennen glaubt. Der Tür- Dies gilt natürlich umgekehrt auch „die zwei ein Leib sein“ (Gen 2, 24), ke und seine Heilige Schrift zerstören für den Christen, der, ohne bedroht zu wenn die Zahl 2 so klar überschritten also Gottes Werk und Heilsplan von werden, zum Schwert greift. werden kann? Grund auf. Der gemeine Christ soll Luther geht sogar noch weiter und Luther fasst zusammen: „Lass nun und muss daher dem Türken im und warnt regelrecht vor einem Glaubens- unter den Türken etliche Christen durch das Gebet widerstehen. Der krieg: „Denn ich rate, weder gegen sein, lass sie Mönche haben, lass et- Kaiser und die Fürsten, denen als ver- den Türken noch gegen den Papst zu liche ehrbare Laien unter ihnen sein: längertem Arm des göttlichen Willens streiten seines falschen Glaubens und Was kann aber im Regiment und im in der Welt die Aufgabe zukommt, die Lebens halber, sondern seines Mor- ganzen türkischen Wandel und Wesen Christenheit zu schützen, sollen diese dens und Verstörens halber.“ (WA 30/ Gutes sein, wenn nach ihrem Koran Aufgabe mit allen ihnen zur Verfü- II, 143/1-3) Und in der Heerpredigt: diese drei Stücke bei ihnen frei regie- gung stehenden Mitteln wahrnehmen. „[S]o habe ich geraten und rate noch ren: Lügen, Mord, Unehe? Und jeder- Und dazu gehört auch das Schwert. so, dass wohl ein jeder sich befleißi- mann daneben die christliche Wahr- Allerdings: Es darf sich dabei nur um gen soll, ein Christ zu sein, willig und heit verschweigen muss [...]? Wie Verteidigung handeln, und das mit bereit vom Türken und von jedermann Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 65
Lexutt Abb. 7: Übersetzung der ersten Sure des Korans aus: Der Koran. Aus dem Arabischen für die „Bibliothek der Gesamt-Litteratur“ neu übersetzt von Theodor Fr. Grigull. Halle a. d. S., o. J. Leiden hinzunehmen. Aber er soll nicht streiten als ein Christ oder un- ter eines Christen Namen, sondern er lasse seine weltlichen Herren Krieg führen.“ (WA 30/II, 173/29-32) Der Reformator ist an diesem Punkt bis fast zu seinem Lebensende sehr kon- sequent. Seiner Ansicht und Hoffnung nach wird sich das Wort Gottes da- durch durchsetzen, dass immer mehr Menschen verstehen werden, worum es dabei geht und worum es dabei nicht geht. Erst als er sich im hohen Alter in dieser seiner Hoffnung bit- ter enttäuscht sieht, wird er zu dem zu studieren, gar zu übersetzen, aber kischen Gefangenschaft, diente seit radikalen Polemiker, den wir als aus- er sorgt doch dafür, dass „der Tür- seiner Entstehung (zwischen 1475 gesprochen unangenehm und nahezu ke“ nicht ein blasser Begriff bleibt, und 1481) dazu, Sitten und Gebräu- widerwärtig namentlich aus seinen sondern verständlicher wird, was che der Türken einem christlichen späten Judenschriften kennen. man sich darunter vorzustellen hat. Publikum näher zu bringen. Luthers Ein Jahr nach diesen beiden Schrif- In diesem Sinne verfasste er für eine klares Anliegen ist es, seine und der ten, die unter dem unmittelbaren Neuausgabe des „Libellus de ritu Leser Kenntnisse über den Koran zu Eindruck des Vordringens der Osma- et moribus Turcorum“ ein Vorwort. erweitern. Er beklagt als erstes in der nen in den Westen entstanden sind, Dieser Libellus, verfasst von dem Do- Vorrede, er habe bis jetzt nur zwei verwirklicht Luther zwar noch nicht minikaner Georg von Ungarn unter Texte über den Koran kennengelernt: seinen Wunsch, den Koran genauer dem Eindruck seiner 20-jährigen tür- die „Confutatio Alkorani“ des Domi- nikaners Riccoldo de Monte Croce aus dem Jahre 1300 und die „Cribra- DIE AUTORIN tio Alkorani“ des Nikolaus von Kues. Beiden wirft er vor, die Dinge nicht Athina Lexutt, Jahrgang 1966, ist seit 2002 Professorin für Kirchen- im rechten Licht darzustellen, da sie und Theologiegeschichte am Institut für Evangelische Theologie der den Koran nur verwerfen würden, um Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen das Römisch-Päpstliche um so herr- im Bereich der Reformationsgeschichte (vor allem Luther) und der Kon- licher erstrahlen lassen zu können. fessionskunde. Sie ist Prädikan- In diesem Zusammenhang schlägt tin der Evangelischen Kirche im Luther einen neuen und ausgespro- Rheinland und engagiert in der chen bemerkenswerten Ton an. Er Laienfortbildung der EKiR und schreibt: „Er [der Luther unbekann- der EKHN; zudem leitet sie seit ei- te Verfasser des Libellus] erzählt nigen Jahren zusammen mit Kol- [die Dinge] nämlich so, dass er nicht legen die Frühjahrsakademie der nur ihre schlechten Seiten bekannt Lutherakademie Sondershausen- macht, sondern auch ihre besten Sei- Ratzeburg. ten auf gleiche Art entgegenhält und 66 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Abb. 8: Titelblatt und erste Textseite der „Vermanunge zum Gebet / Wider den Türcken. Mart. Luth. Wittemberg. M.D. XLI. sie so aussagt, dass er die Menschen bei uns durch einen Vergleich mit ih- nen zurechtweist und tadelt. [...] Dies sind in der Tat die gewissen Zeichen eines redlichen und aufrichtigen Her- zens, das nichts aus Hass schreibt, sondern alles aus Liebe zur Wahrheit erzählt. Wer nämlich den Feind nur tadelt und sich bloß über das, was an ihm schändlich und widersinnig ist, beschwert, aber über das schweigt, was an ihm ehrenhaft und löblich ist, lung, nicht mehr und nicht weniger, dessen, was dort zu beobachten und der schadet der Sache mehr als dass und ihm dürfte nicht zuletzt auch mit anzumerken ist, Rom und den Papst er nützt.“ (Zit. nach [2] Lexutt, Athi- Blick auf sich selbst an einer solchen bloßzustellen. Denn da dieser ja auch na/Metz, Detlef (Hgg.): 2009, 175) Gerechtigkeit gelegen sein. in dem Evangelium unangemessener Eine der Sache gerechte Darstellung Diese ausgewogene Lektüre er- Weise das Äußere und die Gesetze fordert Luther also, und er ist umso möglicht es Luther, sich im Vorwort betont, könnte er, wenn er denn schon erstaunter, als diese Darstellung aus- zu einem nicht geringen Teil lobend der Botschaft von der Rechtfertigung gerechnet von einem Autor kommt, über die Anhänger des Mohammed zu allein aus Glauben zuwiderhandelt, der schließlich eine nicht unwesent- äußern. In fast allen äußeren Zeremo- das auch richtig machen und sich vom liche Anzahl von Jahren in der Gefan- nien, in der äußeren Erscheinung ih- Heiden eine gute Scheibe abschnei- genschaft der Türken verbracht hat rer Religion, so konstatiert er, sind sie den. Denn bei allem Lob bleibt doch und vermutlich doch allen Grund hät- nahezu vorbildhaft, ja sie stellen sogar auch weiterhin klar, dass es sich bei te, nicht gerade in überschwänglicher die christlichen Mönche und From- allem möglicherweise im Islam zu Freude über die Türken zu schreiben. men einschließlich der Papisten mü- beobachtenden Tugendhaften und Von religiöser Toleranz zu sprechen, helos in den Schatten. Wieder einmal sittlich Reinen doch eben leider um wäre indes weit gefehlt; es geht dem geht es Luther nicht um den Islam, einen Irrglauben handelt, der im Blick Reformator um eine gerechte Darstel- sondern es geht ihm darum, mit Hilfe auf das Innere auf dem völlig falschen Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 67
Lexutt Abb. 9: Der Koran. Aus dem Arabischen für die „Bibliothek der Gesamt-Litteratur“ neu übersetzt von Theodor Fr. Grigull. Halle a. d. S., o. J.; (links) „Facsimile einer Koran- Handschrift aus der Stuttgarter Bibliothek. Sure XCIII (ohne Über- schrift), Sure XCIV und Sure XCV (Vers 1 u. 2)“. Weg ist. So ist am Ende das Lob auf den Türken doch wieder sehr relativ. Da hilft nur beten Nach einer langen Pause meldet sich Luther im Blick auf den Türken dann explizit erst wieder 1541 zu Wort in Luther war durch entsprechende schlägt, vertieft diese Vorstellung, der „Vermahnung zum Gebet wider Nachrichten schon auf diese Aufgabe für die missliche politische Lage den Türken“. Wieder ist der Anlass die vorbereitet und konnte den Text dann selbst verantwortlich zu sein, und so neu entbrannte Türkengefahr, nach- schnell zu Papier bringen. Unter der tritt der Trost hinter den Bußruf klar dem Suleiman d. Gr. am 2. September Hand gerät er ihm zu einer Rückschau zurück. Luther ist getrieben davon, Ungarns Hauptstadt erobert, aus der auf den mit vielen Tiefen versehenen mit allem und jedem abzurechnen, Hauptkirche eine Moschee gemacht Gang seiner Reformation, und wie der ganz offenbar die Zeichen der und das Reich unter osmanische Ver- schon in den frühen Schriften prangert Zeit nicht erkannt und das Ziel der waltung gestellt hatte. Wieder stand er mehr die Verfehlungen der Christen reformatorischen Bewegung nicht der Türke vor Wien, und nachdem die an, die solche Strafe Gottes verdien- verstanden oder gar verraten hat. Die Religionsgespräche zwischen Protes- ten, als „den Türken“ selbst. Auch hier weltliche Obrigkeit mahnt er, sich be- tanten und Altgläubigen gescheitert wird weniger zum Kampf gegen die wusst zu machen, dass ihr Kriegszug waren, wuchs die Unsicherheit, ob Türken aufgerufen als dazu, die aktu- gegen „den Türken“ in diesem Sinne Karl V. es schaffen würde, ein großes ellen Ereignisse als scharfe Anfrage ein Kampf gegen das Heer des Teu- und starkes Heer aufzubieten, das an das eigene Fehlverhalten durch all fels ist. Daher dürften sie sich nicht den Ansturm aufhalten konnte. Der die Jahre hindurch zu begreifen und auf ihre Waffen verlassen, die in ei- sächsische Kurfürst Johann Fried- darin den Ruf zu Umkehr und Buße zu nem solchen Kampf am Ende nutzlos rich beauftragte Luther, rekurrierend vernehmen. Sein Rat an die Christen sind; verlassen sollten sie sich dage- auf dessen beide Türkenschriften von ist daher der folgende: „[Dass] man gen auf Gottes Wort. Welch eine pro- 1529/1530, man „solle den Predigern [...] Gott anfinge zu fürchten und auf blematische Sicht, die das fehlende im ganzen Kurfürstentum zu Sachsen seine Güte zu vertrauen. Wo das ge- Kriegsglück der Vergangenheit dar- [...] befehlen, dass sie das Volk in allen schehe, so wissen wir sehr wohl, dass auf zurückführt, dass man Gott nicht Predigten zum Gebet wegen des Tür- weder Türke noch Teufel uns etwas an- durch Gebet auf seine Seite zwang, ken bevorstehender Not und tyranni- haben können. Denn so Gott mit uns und umgekehrt das Kriegsglück da- scher Handlung mit höchstem Ernst ist, wer wollte wider uns sein?“( WA von abhängig macht, ob man Gottes vermahnten, und dass man Gottes 51, 593/33-594/18) Er kann in dieser Wort als stärkste Waffe einsetzt – und Allmächtigkeit um gnädige Abwen- Weise „den Türken“ sogar als Schul- das sicher nicht so verstanden, als ob dung auch allen denen, die wider den meister bezeichnen, der die Christen es ein Kampf mit Worten, eine Ausei- Türken stritten, gnädigen Sieg und die rechte Gottesfurcht und das Beten nandersetzung über den Dialog wäre. Überwindung zu geben und zu verlei- lehrt. (WA 51, 594/26-28). Sondern dass man sich das Kreuzes- hen, von ganzem Herzen emsig bitten Was Luther dann weiterhin als sehr zeichen auf die Fahnen stickt und Ka- solle“. (WA 51, 578) konkrete Anleitungen zum Beten vor- nonen segnet! 68 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Papst, Mohammed und die problematische Sicht, Gott selbst be- seiner eigenen Widerlegung zu sein: anderen Teufel diene sich „des Türken“ zum Strafge- „Wohlan, Gott gebe uns seine Gnade richt über die unbelehrbaren Christen, und strafe beide, Papst und Mahmet Zum Schluss unserer Übersicht zu dazu, Gott als den in Wahrheit einzi- samt ihren Teufeln. Ich habe das Mei- Luthers Stellung zum Islam müssen gen Gott zu beweisen und Vertrauen ne getan als ein treuer Prophet und wir noch auf einen Text eingehen, auf ihn allein zu lehren. Bissig und Prediger. Wer nicht hören will, der der Luthers Wunsch, sich intensiv mit bitter bezeichnet er in einer eigenen, mag’s lassen. Ich bin jetzt entschul- dem Koran auseinanderzusetzen, um der Riccoldo-Edition angehängten digt, künftig jeden Tag und in Ewig- die Lehre Mohammeds besser ver- Widerlegung die falschen Christen keit. Die aber glauben, werden es mir stehen – und besser widerlegen! – zu als „christliche Türken“, die noch hier und dort danken. Denn sie sind es können, am nächsten kommt. 1542, schlimmer seien als die „mahmeti- (wo Gott Glück geben wird), die es um also nur ein Jahr später, übersetzte schen“, und noch bissiger wünscht er Gott mit Glauben, Beten und Dulden und edierte Luther die von ihm vorher den türkischen Heeren Kriegsglück, verdienen und das beste tun werden. so skeptisch beäugte „Confutatio Al- damit die falschen Christen endlich Das helfe ihnen Gott, der barmherzi- korani“ des Riccoldo de Monte Croce. auf drastische Weise über ihre Irrtü- ge Vater durch seinen lieben Sohn Je- Seine Skepsis scheint sich durchaus mer und Gotteslästerungen aufgeklärt sus Christus mit dem Heiligen Geist, verloren zu haben, weil er inzwischen würden. (WA 53, 391/11-24) Die Hoff- gelobt in Ewigkeit. Amen.“ (WA 53, erstmals eine lateinische Koranaus- nung auf Bekehrung der Türken indes 396/28-35) gabe in die Hand bekommen hatte. hat Luther – wie auf die der Juden und Zwar fand er die Übersetzung grau- der Papisten – drei Jahre vor seinem Luther und der Islam heute enhaft; nichtsdestoweniger bestätig- Tod längst aufgegeben. Der leicht re- te sie seine negative Sicht, so dass signative Unterton ist von daher keine Eigentlich war das ein wunderbares der Verdacht, der Islam käme bei Überraschung. Die penetrante, jeden- Schlusswort. Nun ist aber noch nach Riccoldo nur so schlecht weg, um die falls redundante Parallelisierung von dem aktuellen Ertrag dieser histori- römische Kirche erstrahlen zu las- Juden und Türken, die doch beide wis- sen, sich nicht mehr halten ließ. Im sen, was es heißt zu glauben, die doch Vorwort zu seiner Übersetzung der beide Christus kennen, aber nicht er- Widerlegung nimmt Luther frühere kennen als den, der er ist, verdeutlicht Abb. 10: Übersetzung der 93. bis Gedanken auf und spricht wieder- dieses resignative Moment. Dafür be- 96. Sure des Korans (siehe Abb. 9) um intensiv vom Türken als Teil des sonders sprechend scheinen mir noch aus: Der Koran. Aus dem Arabischen Strafgerichts über die Christen, die einmal die gebetsartigen Schlusssätze von Max Henning. Leipzig 1901. ihre Chance verpasst haben, Gottes Willen auf Erden zu entsprechen. Zu- gleich spricht er nun aber auch vom Strafgericht über die Türken, die, obwohl sie von Gott als Instrument eingesetzt werden, keinen Gewinn davon tragen werden. Und er spricht einen weiteren Ge- danken deutlicher aus als bisher: „Summa, wo wir die Sarrazenen und nunmehr die Türken nicht bekehren können, dass wir dennoch fest und stark bleiben in unserem Glauben.“ (WA 53, 274/7f) Die Stärke der tür- kischen Heere soll also gerade nicht in Anfechtung führen oder gar dazu, an der Allmacht und Kraft Gottes zu zweifeln, so als besiege der türkische Gott nach und nach den christlichen. Vielmehr dient die in unseren Ohren Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 69
Lexutt schen Betrachtungen zu fragen. Hat Abb. 11: Martin Luther im Alter Luther uns etwas zu den Herausforde- von Lucas Cranach d. Ä. rungen unserer Tage zu sagen? Dazu in aller gebotenen Kürze vier Thesen: 1. Die Wahrnehmung schärfen. Lu- Schwächen wahrzunehmen, und er thers Situation 1529 und 1541ff. war hat vor einseitiger Wahrnehmung ge- eine ganz andere als unsere heute warnt. Sein Motiv mag sicher nicht 2010/2011. In den Jahren 1529 und lauter gewesen sein – sein Aufruf ist 1541ff. hatten die Osmanen Pest und es allemal. Ofen eingenommen und standen vor den Toren Wiens. Heute, 470 Jahre 2. Abgrenzungen vornehmen. Nota später, haben die Muslime unserer bene: Abgrenzungen! Nicht: Aus- Zeit die Stadttore längst und dauerhaft grenzungen! Die Sarrazinische Sar- durchschritten, haben Läden aufge- razenenschelte ist unerträglich und macht, gestalten Politik, schicken ihre in dieser Weise absurd, weil sie be- Kinder in deutsche Schulen und prä- grifflich unscharf ist und Argumen- gen ganze Stadtviertel. „Der Türke“ der bzw. der Schülerinnen und Schü- tationsebenen in unsäglicher Weise stellt nicht mehr per se ein Feindbild ler mit Migrationshintergrund 80% munter mischt und dabei auch welche dar, „der Türke“ ist längst kein Syno- beträgt, funktionieren anders und neu erfindet, die spätestens mit dem nym mehr für das unbekannte Gegen- leisten anderes als Klassen, in denen Untergang des Nazi-Wahns hätten er- über. Der Islam gehört zu Deutsch- dieser Anteil wesentlich geringer ist. ledigt sein müssen. Ausgrenzungen, land. Mit allem, was dieser knappe Insbesondere, aber nicht ausschließ- noch dazu in einer solch dummen Art Satz bedeuten mag. Wir können nicht lich in den Deutschkenntnissen und begründet, führen nur den Ausgren- so tun, als könnten wir die Muslime -fertigkeiten wird sich dies bemerk- zenden selbst in die Isolation – quod in Deutschland in all ihrer Farbigkeit bar machen. Das zu leugnen wäre erat demonstrandum. Abgrenzungen und Vielschichtigkeit einfach ignorie- fatal, das zu erwähnen hat nichts mit indes sind notwendig, weil sie den ren. Und wir können vor allem nicht latenter oder gar offener Xenophobie Anderen in seiner Andersheit ernst so tun, als beeinflusse dies die Kultur zu tun. Hier müssen Fakten wahrge- nehmen. Denn eine „Kuschelpoli- und Gesellschaft dieses Landes nicht. nommen und benannt werden, um tik“ ist ebenso fatal, unerträglich Diesen Einfluss gilt es mit all seinen die Probleme nicht schleifen zu las- und absurd, weil sie das Gegenüber Chancen und mit all seinen Problemen sen und in andere Bereiche zu prolon- nicht Gegenüber sein lässt, sondern verschärft wahrzunehmen. Und auch gieren. Luther hat sich sehr bemüht, Integration, also Eingliederung, mit darzustellen und unter dem Stichwort „den Türken“ in seinen Stärken und Vereinnahmung verwechselt. Dass „Herausforderungen“ zu bemerken, nicht in monokausalierender und dis- kreditierender Absicht, sehr wohl aber in einer solchen, welche die Augen da- vor nicht verschließt und Lösungen finden will. Ein Beispiel: Grundschulklassen, in denen der Anteil der Migrantenkin- Abb. 12: Titelblatt aus Muhammad: Qur’an/Corani Textus Arabicus. Ad fidem librorum manu scriptorum et impressorum... Koranausgabe in arabischer und lateinischer Sprache mit Erläuterungen, Lipsiae 1834. 70 Justus-Liebig-Universität Gießen
Luther und der Islam Luther über Integration der Muslime jüdisch-christliche Tradition bemüht mehr wissen, was Christsein eigent- nicht nachgedacht hat ist ihm ange- wurde, um eben jene Zugehörigkeit zu lich bedeutet und für die Gestaltung sichts der Situation im 16. Jahrhun- leugnen, dann sollte man wenigstens von Politik, Kultur und Gesellschaft dert nicht zu verdenken. Sehr wohl wissen, worin denn, bitteschön, diese ausmacht. Bildung tut Not! • aber hat er über die andere Seite die- Tradition und dieses Erbe bestehen, ser Medaille nachgedacht, die wir nur und sich, bitteschön, auch als würdi- * Der Text ist die gekürzte Fassung allzu gerne vergessen, über die aber ge Nachlassverwalter erweisen. Die eines Vortrags, den Prof. Dr. Athina nach dem Stichwort „Abgrenzung“ Berufung auf ein solches Erbe macht Lexutt vor der Evangelischen Erwach- sofort geredet werden muss, damit doch nur Sinn, wenn es als Teil ei- senenbildung Worms am 27. Mai 2011 aus der Abgrenzung eben tunlichst nes Profils gelebt und nicht als bloße gehalten hat. keine Ausgrenzung wird. Daher: Worthülse missbraucht wird. Die am lautesten geschrieen haben, werden 3. Identität finden und Profil ent- wickeln. Henryk M. Broder, der Bis- wohl die gewesen sein, die ansonsten das Christentum und die Kirche in die ǺǺ LITERATUR sige und Kein-Blatt-vor-den-Mund- privatesten Winkel verbannen wollen. [1] Lutherschriften: WA – Martin Lu- Nehmende, hat es in einem Buchtitel Luther hat in seiner Zeit für nichts thers Werke. Kritische Gesamtaus- provokant auf den Punkt gebracht: anderes gekämpft als für ein klares gabe, Weimar 1883ff.; „Hurra, wir kapitulieren!“ Seine The- und deutliches christliches Profil. Wir [2] Athina Lexutt/Detlef Metz se von der willentlich und wissentlich könnten uns das zum Vorbild nehmen, (Hgg.): Christentum – Islam. Ein geschehenden Überformung durch weil wir – stärker als Luther das im Quellenkompendium (8.-21. Jh.), den Islam ist sicher böse und ein biss- 16. Jahrhundert zu sehen gezwungen Köln, Weimar u.a. 2009; chen Karikatur. Das Wahre daran aber war – wissen, dass Identität und Profil [3] Johannes Ehmann: Luther, Tür- ist, dass den meistenteils ausgespro- die einzigen gangbaren Wege zur To- ken und Islam. Eine Untersuchung chen selbstbewusst und in religiösen leranz sind. Also: zum Türken- und Islambild Martin Fragen souverän auftretenden Mus- Luthers (1515-1546) (QFRG 80), Gü- limen kaum ein Christ etwas entge- 4. Toleranz lernen und üben. Der tersloh 2008 genzusetzen hat. Es geht mitnichten Weg zum Herzen eines anderen Men- darum, wie einst Elia am Karmel ein schen geht nicht darüber, dass ich der Gottesgericht heraufzubeschwören. Andere werde. Sondern dass ich Ich KONTAKT Aber es heißt Flagge zu zeigen im in- bleibe und dem Anderen sein Anders- Prof. Dr. Athina Lexutt terreligiösen Dialog. Wenn nach dem sein lasse. Tolerare, das lateinische Justus-Liebig-Universität Institut für Evangelische Theologie Satz des Bundespräsidenten, der Is- Wort, heißt nicht accipere – anneh- Karl-Glöckner-Straße 21, Haus H lam gehöre zu Deutschland, die Wel- men. Sondern: ertragen! Dass dies 35394 Gießen len hochgeschlagen haben und die nur gegenseitig funktioniert dürfte Telefon: 0641 99-27120 ebenso klar sein wie die Anknüpfung Athina.Lexutt@theologie.uni-giessen.de an das Stichwort „Identität und Pro- fil“. Ich kann nur tragen und ertragen, wenn ich weiß, wer ich bin, das heißt woher ich komme, wo ich stehe und wohin ich will. Und wenn ich auch be- reit bin, das offen auszusprechen. Zu bekennen. Luther mahnt die Toleranz vor allem auf der Seite der Türken an, die den Christen ihre freie Religions- ausübung verwehren, und an dieser Stelle ist Luther von erschreckender Aktualität. Heute wie damals aber würde er sicher vor allem auch an- mahnen, dass unter uns viele „christ- liche Türken“ sind, will in Luthers Sin- ne sagen: Viele, die nicht oder nicht Spiegel der Forschung · Nr. 2/2011 71
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