NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar

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NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
NEUES VON
„JUNKER JÖRG“
Thomas Kaufmann

                  KONSTELLATIONEN 2
NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
KONSTELLATIONEN 2
Neues von „Junker Jörg“
NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
Meinem Freund Alejandro Zorzin und dem Andenken unseres
Lehrers Bernd Moeller (19.5.1931 – 29.10.2020) gewidmet.
NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
KONSTELLATIONEN 2
HERZOGIN ANNA AMALIA BIBLIOTHEK

Neues von „Junker Jörg“
Lukas Cranachs frühreformatorische ­Druckgraphik.
Beobachtungen, Anfragen, Thesen und ­Korrekturen

Thomas Kaufmann
NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
Neues von „Junker Jörg“
Ein Vorwort

„Cranachs Bilderfluten“ ist der Titel einer Aus-    eingeprägt hat“ und selbst ein „Erzeugnis der
stellung, die von Museen und Bibliothek der         Memoria“ ist. Die bekannten Holzschnitt- und
Klassik Stiftung Weimar für den Renaissancesaal     Gemäldefassungen des „Junkers Jörg“ gehören
der Herzogin Anna Amalia Bibliothek erarbeitet      demnach nicht in den Zusammenhang von Wart-
und dort ab Ende 2021 gezeigt wird. Vorberei-       burg-Aufenthalt und -Rückkehr in den Jahren
tend fand am 24. Oktober 2019 ein öffentliches      1521/22. Es war vielmehr eine lebensgefährliche
Arbeitsgespräch unter dem Titel „Cranach und        Erkrankung im Jahr 1537, die ihn von einer Zu-
die Memoria der Reformation“ statt, in dem das      sammenkunft des Schmalkaldischen Bundes
Wissen der Klassik Stiftung und ihrer Weimarer      zurück nach Wittenberg führte. Dem Tod ent­
Projektpartner zusammengeführt und diskutiert       ronnen wurde er – mit einem antipapistischen
wurde. Am Vorabend berichtete der Göttinger         Effekt – überlebend und kämpferisch in Erstfas-
Kirchen- und Reformationshistoriker Thomas          sungen ins Holz geschnitten und in Öl gemalt.
Kaufmann über „Neues von Cranachs Reforma-          Erst später wurde durch fortgesetzte Zuschrei-
tion“. Dieser Vortrag liegt dem hier veröffent­     bungen aus dem Überlebenden eines Harnstein-
lichten Text zugrunde.                              leidens ein „Junker Jörg“, der von der Wartburg
      Mit „Neues von ‚Junker Jörg‘“ rückt über      zurückkehrte und eine protestantische Ordnung
ein zentrales Bildmotiv Cranachs die Bedeutung      stiftete. Diese „‚Transsubstantiation‘ des Bart­
imageprägender Bilder in den Blick sowie die        trägers in ‚Junker Jörg‘“ ist Ergebnis der Luther-
Geschichte der reformatorischen Bilderfindung,      memoria nach dessen Tod und passt nicht zur
ihre Funktionen und Verbreitungen. Das sind         noch offenen Konstellation im März 1522, als
Fragen und Themen, die auch für das Ausstel-        Luther endgültig von der Wartburg nach Witten-
lungsprojekt leitend sind. Als Ergebnis seiner      berg zurückkehrte. Mit diesem Ansatz Kauf-
Forschungen formuliert Thomas Kaufmann neue         manns ist die Diskussion um Datierung und
Thesen über das „Bild des bärtigen Mannes“, das     Zuschreibung, auch mit ausführlichen Hinwei-
sich im „kollektiven Gedächtnis als ‚Junker Jörg‘   sen auf den Forschungsstand neu eröffnet.

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Für das Thema „Bilderfluten“ ist Kaufmanns         Robert Sorg und Veronika Spinner möchten wir
reformations- und medienhistorische Argumen-       für ihre sachkundige Unterstützung an dieser
tation aufschlussreich: So wirft Luthers Zurück-   Stelle danken.
haltung in Fragen der Bildpolitik ein Schlag-             Der ganz besondere Dank von Reinhard
licht auf die zentrale Rolle weiterer Akteure      Laube gilt seinem ehemaligen Mitarbeiter An-
wie Cranach oder auch auf Drucker wie Lotter.      dreas Schirmer, der inzwischen seinen wohl­
Ebenso aber auch auf Formate wie Flugblatt,        verdienten Ruhestand genießt. Er hat sowohl
Bilderzyklus, Gemälde oder Buch. Mit „Neues        die Reihe „Konstellationen“ mit seinen klugen
von Junker Jörg“ wird die Reihe „Konstellatio-     Ideen bereichert und sie mit aus der Taufe
nen – Neue Sichten der Bibliothek“ fortgesetzt     gehoben als auch die hier vorgelegte Publi­
und damit auch eine neue Konstellation in der      kation in gewohnt professioneller Weise bis
sammlungsbezogenen Zusammenarbeit zwi-             zu ihrem Erscheinen begleitet.
schen Museen und Bibliothek hergestellt.                  Die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek
      Wir danken Thomas Kaufmann sehr herz-        e. V. unterstützt und ermöglicht durch ihre groß-
lich für die Überlassung seines Vortragstextes     zügige Förderung die Reihe „Konstellationen“,
und freuen uns außerordentlich über die Mög-       wofür stellvertretend ihrem Vorstand und vor
lichkeit, diesen gewichtigen Beitrag zur Refor-    allem der Vorsitzenden Annette Seemann herz-
mationsforschung im Rahmen unserer noch jun-       lich gedankt sei.
gen Publikationsreihe „Konstellationen“ ver-
öffent­lichen zu dürfen. Ein nicht minder herz­
licher Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen      Wolfgang Holler
der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, die sich      Generaldirektor Museen
für das Veröffentlichungs-Projekt eingesetzt und
es mit großem Engagement realisiert haben. Ins-    Reinhard Laube
besondere Hannes Bertram, Andreas Schlüter,        Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

                                                                                                       5
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Lukas Cranachs früh­-
reformatorische Druckgraphik
Beobachtungen, Anfragen, Thesen und Korrekturen *

I.
Wenn man sich in historischer Perspektive mit       rungen bekräftigt: „[…] Luther und Cranach [müs-
der Rolle der Cranachschen Druckgraphik in          sen] schon bald erkannt haben, welch gegenseiti-
der frühen Reformation beschäftigt, stellen sich    ger Nutzen aus ihrer Zusammenarbeit erwachsen
einige Fragen: Warum wurde die erfolgreiche         könnte. Diese wäre nicht auf Dauer möglich gewe­
Bildpublizistik des Passionals Christi und Anti­    sen, wenn beide sich nicht auch persönlich eng
christi von 1521 später in Wittenberg nicht fort­   einander verbunden gefühlt hätten.“3
gesetzt? Warum steuerte Cranach zu einer bibli-          Gewiss – im Horizont des Weimarer Cranach-
schen Schrift, der Luther 1522 sehr wenig theolo-   Retabels liegt nichts näher, als sich Meister Lukas
gische Sympathien entgegenbrachte – der Johan-      und den Reformator freundschaftlich liiert vor-
nesoffenbarung – im sogen. ‚Septembertesta-         zustellen, Seite an Seite, vereint im gemeinsamen
ment‘ besonders aufwändige Illustrationen bei?      Glauben, verbunden in tiefer Loyalität gegenüber
Warum polemisierte Cranach bereits 1522 mit ei-     der ernestinischen Dynastie. (ABB 1) Im Bild des
ner Unterschrift zu seinem „Junker Jörg“-Holz-      Cranachaltars der Weimarer Stadtkirche4 wirkt
schnitt so scharf gegen Karlstadt, obschon er ihm   die bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts
doch wenig zuvor durchaus eng verbunden war?        vitale, mentalitär verwurzelte Macht der Memo­
Und warum fand der „Junker Jörg“ in der Zeit        ria nach, die zugleich Gedächtnis, Erinnerung
seiner angeblichen Entstehung (1521/2) im Ver-      und Vergegenwärtigung bewirkte und gemein-
gleich zu den übrigen druckgraphischen Luther-      schaftsfundierend Tote und Lebende rechtlich
porträts Cranachs so gut wie keine Rezeption?       und sozial verband.5 Doch den Herausgeber der
      Ihren gemeinsamen Fokus haben diese Fra-      Kritischen Gesamtausgabe Karlstadt6 – des vor
gen in einem bestimmten Bild der engen, geradezu    allem durch Luther und seine Epigonen zum ewi-
symbiotischen Verbundenheit Luthers mit seinem      gen „Bilderstürmer“ verdammten7 Kollegen und
„Gevatter“1 Lukas Cranach – so das in Bezug auf     „ärgsten Feind der Lehr halben“8 – drängt es, das
das Briefcorpus des Reformators seltene, durch-     Bild der sich wechselseitig nützlichen Freund-
aus enge Vertrautheit signalisierende Epitheton     schaft des Mönchs und des Malers für die Früh-
in dem einzigen erhaltenen Brief Luthers an ihn.2   zeit der Reformation zu ‚stürmen‘.
Das im Folgenden in Zweifel gezogene Bild der
engen Verbundenheit Luthers und Cranachs hat        ABB 1 Lukas Cranach d. J., Altar Stadtkirche St. Peter und
unlängst Daniel Görres durch folgende Formulie-     Paul, Mittelteil, Ausschnitt.

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Dass Martin und Lukas und dann auch die Fami-        getretene Veränderung seiner Denkungsart. Der
lien Luther und Cranach persönlich verkehrten9,      wandlungs- und anpassungsfähige Luther war der
ist unstrittig; dieser Aspekt des ‚Bildes‘ kann      in seiner Zeit wirkmächtige, der historische Lu-
nicht ernsthaft infrage gestellt werden. Auch,       ther – nicht das unverrückbare „Hier-stehe-ich“ –
dass Luther im Laufe der Jahre ein ästhetisch        Monument der Luthermemoria!
und didaktisch begründetes Verhältnis zu Bildern           Luthers bemerkenswerte Aussage, es wäre
entwickelte, denen er bei der Vermittlung der        „besser […] wir hetten sie [sc. die Bilder] gar
Glaubensbotschaft eine wichtige Rolle zuer­          nicht. Ich bin jn auch nit holt“ fiel möglicher-
kennen konnte10, ist bekannt. Doch betrifft dies     weise gegenüber einer Hörergemeinde, deren
Entwicklungen, die erst seit der Wende zu den        politische Vertretung, der Wittenberger Stadtrat,
1530er Jahren Früchte tragen sollten. Für die        unlängst, im Januar 1522, eine reformatorische
Frühzeit der Reformation, die im Folgenden           Kirchenordnung verabschiedet hatte, die eine
in den Fokus rückt, ist es hingegen notwendig,       Entfernung der Bilder vorsah.13 Und Luther traf
jene Wendung aus der späteren Druckfassung           diese Feststellung von der Kanzel in der Witten-
der dritten Invocavitpredigt (11.3.1522) ernst zu    berger Stadtkirche herab, die einem durch zahl-
nehmen, in der der wenige Tage zuvor in der          reiche Bildentfernungen stark veränderten Kir-
Tarnung eines Edelmanns nach Wittenberg zu-          chenraum zugewandt war.14 Ausgehend von ers-
rückgekehrte Prediger Luther11 festgestellt hat:     ten Störungen Anfang Dezember 1521, tumultua-
„[…] umb die bilder ist es auch so gethan, das sie   rischen Aktionen der Ordensbrüder Luthers von
unnöttig, sonder frey sein, wir mögen sie haben      Anfang Januar 1522 und der Aufnahme der Ent-
oder nicht haben, wie wol es besser were, wir        scheidung zur Bildentfernung aus der Stadtkir-
hetten sie gar nicht. Ich bin jn auch nit holt.“12   chenordnung in einer berühmt gewordenen Pre-
      In Hinblick auf diese bekannte Aussage hat     digt Karlstadts Von Abtuung der Bilder15 war es
die Forschung, stimuliert durch die späteren Ent-    wohl vornehmlich zu organisierten Bildentfer-
wicklungen, vor allem Luthers theologisch ‚libe-     nungen in der Regie des Wittenberger Rates ge-
ral‘ anmutende Akzeptanz der Bilder und deren        kommen. Indem Luther in einem vielleicht weit-
Charakter als Adiaphora registriert. Doch um         gehend bilderlosen Kirchenraum bekannte, dass
Luther im Kontext der frühreformatorischen Ent-      auch er den Bildern nicht ‚hold‘ sei, stellte er
wicklungen angemessen zu verstehen, ist es ent-      eine prinzipielle Übereinkunft mit dem bilder-
scheidend, dass man sein Urteil, es wäre besser      feindlichen Kurs der Wittenberger Stadtreforma-
‚wir‘ hätten keine Bilder und auch er sei ihnen      tion her. Allerdings nutzte er diese Zustimmung
nicht ‚hold‘, deutlicher akzentuiert, als dies ge-   zur Missachtung der Bilder in einer – jedenfalls
meinhin geschieht. In Bezug auf die Bilderfrage,     in der gedruckten Version – rhetorisch überaus
so scheint es, vollzog Luther eine ähnlich drama-    geschickten Weise, um den Modus ihrer Umset-
tische ‚Wende‘, wie in Hinblick auf das Verständ-    zung im Zuge der Wittenberger Reformation der
nis des Abendmahls, seinen Umgang mit der            letzten beiden Monate zu kritisieren. Zunächst
Judenheit und in der Haltung zum Krieg gegen         gelte es, nicht die äußeren Bilder aus Holz, Stein,
die Türken. Und wie bei den genannten Themen         Leinwand oder Papier zu entfernen, sondern die
wurde diese Selbstkorrektur des Wittenberger         inneren ‚Bilder‘, die für den abergläubischen Um-
Reformators stillschweigend vollzogen, d. h.         gang mit den realen Bildern verantwortlich seien,
ohne expliziten Hinweis auf die inzwischen ein-      zu zerstören und deren abgöttischen Gebrauch

8
ABB 2 Lukas Cranach d.  Ä ., Andreas Bodenstein von Karlstadt, Himmelswagen und Höllenwagen, deutsche Ausgabe, Wittenberg,
Johannes Rhau-Grunenberg 1519.

qua Anbetung oder Stiftung als frommes Werk                    Bis in dieses Entscheidungsjahr der Reformation,
durch eine evangelische Glaubensunterweisung                   1522, hinein, gibt es kein eindeutiges Indiz dafür,
zu überwinden.16 Reduziere man die Bilderfrage                 dass Luther ein konstruktives Interesse an bildli-
auf einen Akt der schriftkonformen Orthopraxie,                chen Ausdrucksmöglichkeiten besessen und den
wie Luther es besonders Karlstadt unterstellte,                ihm vielleicht seit 1508/9, dem Zeitpunkt seines
dann unterbleibe die eigentliche Arbeit an der                 ersten Wittenbergaufenthaltes, bekannten Künst-
religiösen Umerziehung, die die Bilder wirksam                 ler Lukas Cranach in diesem Sinne gefordert
entmachten und schließlich auch eine Änderung                  oder in Anspruch genommen hätte – im Unter-
der äußeren Formen herbeiführen werde. Dass                    schied zu Karlstadt, der in enger Zusammen­
sich der von der Wartburg zurückkehrende Au-                   arbeit mit Cranach das erste programmatische
gustinermönch die Zukunft der wahren Kirche                    Bildflugblatt der frühen Reformation (ABB 2)17
im wesentlichen als bilderlos vorstellte, ist evi-             entwarf und in einer lateinischen und einer deut-
dent.                                                          schen Version verbreitete. Dass Karlstadt dafür

                                                                                                                             9
ABB 3 + 4 Lukas Cranach d.  Ä ., Doppelporträt Karlstadt – Anna von Mochau, 1522.

Sorge trug, dass dieses Blatt auch zu Dürer ge-                    II.
langte18, zeigt, dass der vermeintliche Bilder-                    Die für die frühen Leipziger und die Wittenber-
feind eine gewisse Kunstsinnigkeit besessen                        ger Lutherdrucke verwendeten Titelbordüren20
haben muss. Überdies spricht manches dafür,                        (ABB 5) aus Cranachs Werkstatt waren ‚Konfek­
dass Karlstadt sich und seine junge Frau, die                      tionsware‘, d. h. sie boten in aller Regel keine
er im Januar 1522 heiratete, von Cranach porträ-                   spezifisch auf die Inhalte der Lutherschriften
tieren ließ (ABB 3, 4).19 Ein eigentümlich inverser                abgestimmten Bildmotive. Lediglich bei den
Befund also kennzeichnet die frühreformatori-                      Titelholzschnitten21, die auf der fragmentari-
sche Ausgangskonstellation: Der von obsessiven                     schen Erst- und der vollständigen Zweitausgabe
Bildern bedrängte Karlstadt war ein Weltgeist­                     der Theologia deutsch (ABB 6, 7) 1516 und 1518 zum
licher und Bildinteressierter; der Bettelmönch                     Einsatz kamen, könnte ein gewisser Einfluss
Luther war als Bildignorant ein Bildadiaphorist.                   Luthers wirksam geworden sein. Einen direkten

10
ABB 5 Titeleinfassung Lukas Cranach d.  Ä . für Johannes Rhau-Grunenberg, Wittenberg,
verwendet ab 1520, Holzschnitt.

                                                                                        11
ABB 6 Lukas Cranach d.  Ä ., Titelblatt der Wittenberger Erst­   ABB 7 Lukas Cranach d.  Ä ., Titelblatt der Wittenberger Erst­
ausgabe der Theologia deutsch, 1516. (VD 16 T 890, A 1r),         ausgabe der vervollständigten Zweitausgabe Theologia
­Holzschnitt.                                                     deutsch, 1518. (VD 16 T 896, A 1r), ­Holzschnitt.

Hinweis darauf aber gibt es nicht. Bemerkens-                     die Kosten für den Holzschnitt24 zu tragen hatte,
wert ist freilich, dass Cranach bei dem zweiten                   wird er eine entscheidende Rolle gespielt haben.
Holzschnitt bereits einige Einzelzüge des Bild-                   Im Unterschied zu der konventionellen Passions-
komplexes „Gesetz und Gnade“22 vorformulierte,                    darstellung auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe
die auch später noch zentral blieben: Der alte                    der Theologia deutsch von 1516 (ABB 6) realisierte
Adam, der neue Mensch Christus, Tod und                           Cranach für die zweite Edition eine originelle
Leben, Gericht und Gnade. Ob der Titelholz-                       Bildidee, die dem Inhalt der Schrift entsprach.
schnitt bei der zweiten Ausgabe von 1518 ggf.                           Luthers entscheidender ‚Beitrag‘ zur Kunst
wegen des veränderten Gesamttitels der Schrift,                   der frühen Reformation bestand wohl darin,
für den Luther verantwortlich gewesen sein                        dass er Cranach theologisch inspirierte, religiös
wird23, ausgetauscht wurde, ist unbekannt. Da                     ansprach und – ‚gewähren ließ‘. Möglicherweise
wohl Johannes Rhau-Grunenberg als Drucker                         gilt dies schon für das Beispiel des Titelholz-

12
ABB 8 Lukas Cranach d.  Ä ., Luther als Mönch, 1520, Kupferstich.   ABB 9 Lukas Cranach d.  Ä ., Luther als Mönch in der Nische,
                                                                    1520, Kupferstich.

schnitts zur Theologia deutsch von 1518. Mit                        für die Haltung des Dargestellten wie des Künst-
großer Wahrscheinlichkeit trifft es jedenfalls                      lers gleichermaßen charakteristisch: Das phy­
für Cranachs erste ikonographische Parteinahme                      sische Bild und der Geist des Wittenberger Au-
zugunsten der Reformation zu, die in den Luther-                    gustinereremiten stehen unvermittelt neben-, ja
porträts von 1520 bestand. (ABB 8, 9). Diese Bilder                 gegeneinander; die Darstellung der vergäng­
waren mit einer prominent sichtbaren lateini-                       lichen, leiblichen Erscheinung und die ewige
schen Inschrift ausgestattet (AETHERNA IPSE                         Wahrheit, für die der Geist Luthers eintritt,
SUAE MENTIS SIMULACRA LUTHERUS EX-                                  haben nichts miteinander zu tun.25 Diese mit
PRIMIT AT VULTUS CERA LUCAE OCCI-                                   stark spiritualisierenden, asketisch grundierten
DUOS. „Die unvergänglichen Abbilder seines                          Überzeugungen des ‚jungen‘ Luther26 korrespon-
Geistes bringt Luther selbst hervor, seine sterb­                   dierende, dichotomische Tendenz in der Verhält-
lichen Züge aber das Wachs des Lucas.“). Sie ist                    nisbestimmung von Äußerem und Innerem, Bild

                                                                                                                                   13
und Geist, sterblicher Person und unvergäng­
lichem Geist ermöglichte ein schiedlich-fried­
liches Koexistenzmodell des Mönchs und des
Malers. Es steckte Cranach klare Grenzen: Was
immer er ins Bild setzte, hatte mit dem ‚wahren
Wesen‘ Luthers nichts zu tun. Auch für Luther
war es entlastend, denn sein ‚Bild‘ musste ihn,
weil es im Äußeren blieb, nicht ernsthaft be-
schäftigen. Zugleich gab dieses Koexistenz­
modell das äußere Bild Luthers in die freie Ver-
fügbarkeit des gestaltenden Künstlers, der es
als sein Werk namentlich kennzeichnete und mit
seinem ‚Label‘, der gekrönten und geflügelten
Schlange, versah.27
      Einem Brief Luthers an den kurfürstlichen
Sekretär Georg Spalatin vom 7. 3. 1521 sind einige
Hinweise zu entnehmen, die für die kommuni­
kative Konstellation des frühreformatorischen
Wittenberger Milieus aufschlussreich sind. Dem
Schreiben war eine „[e]ffigies“ beigefügt. Cra-
nach habe ihn, so ließ Luther wissen, um eine
Unterschrift für dieses Bild gebeten. Der Augus-
tinereremit aber wollte diese nicht selbst liefern;
stattdessen gab er die Aufgabe an Spalatin wei-
ter. Sodann teilte Luther mit, dass eine „Antithe-
sis figurata Christi & papę“ vorbereitet werde,
von der er annahm, dass es ein gutes Buch für die
Laien werde.28 Bei der „effigies“ dürfte es sich
vermutlich um das Lutherporträt mit Doktorhut29
(ABB 10) gehandelt haben. Die Inschrift lautete
schließlich: „LUCAE OPUS EFFIGIES HAEC
EST MORITURA LUTHERI AETHERNAM
MENTIS EXPRIMIT IPSE SUAE.“ („Das Werk
des Lucas ist dieses Bild der sterblichen Gestalt
Luthers, das ewige Bild seines Geistes prägt er
selbst.“). Sie wird wohl von Spalatin stammen;
inhaltlich liegt sie ganz auf der Linie der Bild­
unterschrift des Vorjahres.
      Im Spiegel dieses Briefes stellt sich die
kommunikative Konstellation der Wittenberger
Reformationsakteure so dar, dass Cranach Luther       ABB 10 Lukas Cranach d.  Ä ., Luther als Doktor, 1521, Kupferstich.

14
15
ABB 11 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi,
[Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] Titelblatt
(VD 16 L 5584, A 1r), Holzschnitt.

über seine Bildprojekte informierte und ihn zur                    man gegenüber Martin Warnkes These einer
Mitwirkung bei der Formulierung von Textstü-                       kursächsischen ‚Bildpolitik‘30 in Bezug auf
cken zu gewinnen suchte. Doch Luthers Sache                        „Cranachs Luther“ zurückhaltend sein. Auch
war das nicht; er gab die Arbeiten des Hofmalers                   Hinweise auf Zensurmaßnahmen des Hofes
an den Sekretär des Kurfürsten weiter. Immerhin                    besitzen wir in Bezug auf die rasch expandie-
zeigte Luther ein gewisses Interesse am Passional                  rende Druckproduktion Wittenbergs vorerst
Christi und Antichristi; doch dass er selbst an                    nicht.31 Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass
dessen Gestaltung beteiligt gewesen wäre, wird                     es eine politische Dimension besaß, dass Spala-
man ausschließen können. Georg Spalatin, den                       tin von den geplanten ikonographischen Publi­
wichtigsten Verbindungsmann zum Hof, einzu-                        kationen wusste, ja in ihre Gestaltung einbezo-
beziehen, war freilich für Cranach und Luther                      gen war. Dies betrifft auch das hoch brisante
gleichermaßen selbstverständlich. Gewiss mag                       und überaus polemische Projekt des Passionals

16
ABB 12 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]
(VD 16 L 5584, A 2v – A 3r), Holzschnitte: Der leidende, gemarterte Christus und der Papst in herrscherlichem Pomp.

Christi und Antichristi, von dem der kursäch­                     dar. Die vielleicht im Anschluss an die ars mori-
sische Sekretär Kenntnis besaß. Es erschien                       endi–Literatur oder in Anlehnung an hussitische
zunächst in unfirmierten lateinischen und deut-                   Bilderkodizes ausgeformte antithetische Bild-
schen Ausgaben, unter einem neutralen, den                        sprache33 konfrontierte Christus und den päpst­
Inhalt camouflierenden Titelblatt (ABB 11) und                    lichen Antichristen und trug entscheidend dazu
war nicht ohne weiteres mit dem kursächsischen                    bei, dass die seit Luthers Schrift An den christ­
Universitätsstädtchen ‚am Rande der Zivilisation‘                 lichen Adel deutscher Nation (August 1520) pro-
in Verbindung zu bringen.32                                       pagierte Überzeugung, dass der Papst der Anti-
      Das Passional Christi und Antichristi stellt                christ sei, in starken Bildern wirkungsreich ver-
den frühesten, wichtigsten, originellsten und pub-                breitet wurde.34 Insofern hatte das Passional
lizistisch erfolgreichsten Beitrag Lukas Cranachs                 einen maßgeblichen Anteil an der apokalyp­
zum frühreformatorischen Flugschriftenboom                        tischen ‚Aufheizung‘ der frühreformatorischen

                                                                                                                      17
ABB 13 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]
(VD 16 L 5584, B 2v – B [3]r), Holzschnitte: Der wandernde Christus und der in einer Sänfte getragene Papst.

Bewegung; die apokalyptische Intensivierung                       dem Kaiser abgeforderten hochmütigen Fußkuss
ist für den Erfolg der frühen reformatorischen                    des Papstes oder den wandernden Gottessohn
Bewegung kaum zu überschätzen.                                    dem in einer Sänfte getragenen Widerchristen
      Auch in inhaltlicher Hinsicht bestehen zwi-                 entgegen (ABB 13). Insofern könnten Kernthemen
schen der Adelsschrift – Luthers maßgeblichem                     der Cranachschen Holzschnitt­serie auf Luther-
reformatorischen Reformprogramm mit grund­                        sche Anregungen zurückgeführt werden. Das
legender Bedeutung für die in sich vielfältigen                   bedeutet aber nicht, dass der Wittenberger Augus-
Prozesse der Stadt-, Territorial- und Gemeinde­                   tinermönch an der Ausgestaltung des Projekts
reformation35 – und dem Passional engste Ver-                     selbst beteiligt war. Das Ergebnis aber schätzte
bindungen.36 (ABB 12) Luther hatte hier den armen                 er („mire placet“37) – und zwar vornehmlich als
Christus und den prunkenden Papst konfrontiert;                   propagandistisches Medium zur Beeinflussung
er setzte die demütige Fußwaschung Christi dem                    der Laien.38

18
ABB 14 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, A 4r),
Detail Bildunterschrift der Antichristseite mit Zitaten aus der Apokalypse des Johannes und dem kanonischen Recht.

Ein erstes gedrucktes Exemplar wohl der deut-                      (ABB 14). Vermutlich wusste Luther um Melanch­
schen Ausgabe des Passionals erhielt Luther auf                    thons und Schwertfegers Zusammenarbeit aus
der Wartburg. Einem an Melanchthon gerichteten                     der Zeit vor seinem Aufbruch zum Wormser
Brief vom 26. Mai 1521 sind gewisse Hinweise                       Reichstag am 2. 4. 1521.
auf die Entstehungsgeschichte zu entnehmen.                              Für den Entstehungs- und Herstellungspro-
Der exilierte Augustinereremit, der Gefallen an                    zess des Passionals ergibt sich folgende Rekon­
dem Büchlein fand, vermutete, dass Melanchthon                     struktionshypothese: Wohl ausgehend von einer
von dem Wittenberger Juristen Johannes Schwert-                    vermutlich über der Lektüre der Adelsschrift ge-
feger unterstützt worden war.39 Wahrscheinlich                     reiften konzeptionellen Idee Melanchthons oder
bezog sich dies auf die aus dem kanonischen                        Cranachs, der mit seriellen graphischen und buch-
Recht geschöpften Unterschriften, die sich auf                     graphischen Projekten durch einen Passions-,
der jeweiligen Bildseite des Antichristen befinden                 einen Märtyrerzyklus sowie das Witten­berger

                                                                                                                                19
ABB 15 Lukas Cranach, Antithesis figurata vitae Christi et Antichristi
     [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5589, A 1r), kolorierter Holzschnitt.

20
ABB 16 [Hans Weiditz?], Passional Christi und Antichristi [Straßburg, Johannes Prüss 1521] (VD 16 L 5583, D 2v – D 3r),
­Holzschnitte: Christus als guter Hirte und der Papst als böser, die armen Gläubigen reißender Wolf.

und Hallenser Heiltumsbuch (1509/1520)40 bes-                       und des Wittenberger Druckers durchgeführt
tens vertraut war, wurde mit Unterstützung Wit-                     wurde. Für sehr unwahrscheinlich aber halte ich
tenberger Gelehrter – des humanistischen Philo-                     es, dass Grunenberg die erheblichen Kosten für
logen und Theologen Philipp Melanchthon und                         die 26 Holzschnitte, die bei ca. 150 fl. gelegen
des Juristen Johannes Schwertfeger41 – ein Satz                     haben dürften, alleine getragen hat. Die Gelehrten
an Bilderpaaren entworfen. Angesichts der er-                       steuerten die entsprechenden Bildunterschriften
heblichen Kosten für die Holzschnitte halte ich                     aus der Bibel und dem kanonischen Recht bei.
es für das Wahrscheinlichste, dass Cranach die                            Den Unterschriften kam eine zentrale Er-
wirtschaftliche Gesamtverantwortung trug, also                      schließungsfunktion zu. Die Texte brachten re-
Grunenberg als Drucker eines von ihm finanzier-                     formatorische Kernüberzeugungen zum Aus-
ten Werkes in Anspruch nahm oder die Druck­                         druck. Dies wurde in der lateinischen Ausgabe,
legung als gemeinsame Unternehmung Cranachs                         die m. E. vor der deutschen abgefasst, aber erst

                                                                                                                           21
nach zwei der insgesamt vier Grunenbergschen        reißt, gegenüber (ABB 16). Auf dem Tisch der
Druckvarianten gedruckt worden ist42, beson-        Antichrist-Seite sieht man einen von Mönchen,
ders deutlich, denn hier finden sich zwei Disti-    Chorherren und Ritterordensangehörigen um-
chen auf dem Titelblatt (ABB 15), für die es in     ringten Bauern, der genötigt wird, Geld zu er-
der deutschen Ausgabe keine Analogie gibt. In       brechen. Die Geräte, die die Geistlichen in den
ihnen fordert ein gewisser „Eusebius“ den Nutzer    Händen haben (Knochen, Getreidegarben etc.),
der Antithesis auf, das Büchlein zu lesen, d. h.    unterstreichen ihr brutales, ausbeuterisches
es sich von den textlichen Elementen her zu er-     Treiben. Dieses Bildpaar steht für eine poli-
schließen. Dieser Gebrauch soll von der Liebe       tisch brisante, antiklerikale Fortschreibung
zur „pietas“ bestimmt sein, sich also nicht in      des Cranachschen Bildprogramms, wie sie vor
vordergründigem Antipapalismus erschöpfen.          allem in Oberdeutschland wirksam wurde.
Überdies solle die Lektüre des „libellus“ durch           Im Unterschied zu dem präzis auf den
die der Heiligen Schrift („codice“) vervollstän-    Inhalt bezogenen lateinischen Titel der Anti­
digt werden, um zu wahrer Gelehrsamkeit („doc-      thesis figurata Christi & Pape spielte der Haupt-
tus“) zu gelangen.43 Der Druck der lateinischen     begriff der deutschen Version mit dem Leitbegriff
Ausgabe des Passionals, die Antithesis, enthielt    „Passional“ (ABB 11) auf eine recht verbreitete
also eine hermeneutische Gebrauchsanweisung,        literarische Gattung der Frömmigkeitsliteratur
die die Bilder textlich einhegte und ihre ‚Macht‘   an, nämlich die mit diesem Wort bezeichneten
durch die Zuordnung zur Heiligen Schrift be-        poetischen oder prosaischen, oft illustrierten
grenzte. Damit bildet die Antithesis das früheste   Sammlungen von Heiligen- und Märtyrerlegen-
Beispiel für einen dezidiert reformatorisch ge-     den im Anschluss an die Legenda aurea des
prägten, streng instrumentell auf die Auslegung     Jakob von Voragine.46 Durch die erläuternden
und Aneignung der biblischen Botschaft bezoge-      Genitivobjekte „Christi“ und „Antichristi“ wurde
nen Bildgebrauch – ein innovatives Modell text-     die durch den Haupttitel evozierte Gattungs­
bildlicher Wirkungskoinzidenz im Buch. Wie          erwartung sogleich konterkariert: Hier ging es
1519 schon der Currus / Wagen Karlstadts war        nicht um die bunte Welt der legendarisch über­
das Passional das Ergebnis einer engen Koope-       lieferten Heiligenviten, sondern um Christus
ration Cranachs mit verschiedenen Wittenberger      und seinen Antagonisten, den Papst, um Heil
Akteuren – außer Luther.44                          und Verdammnis – und zwar in der eigenen
      In den deutschen Ausgaben [Grunenbergs]       Gegenwart, jetzt!
fehlten entsprechende hermeneutische Hin-                 Die Szenen aus dem Leben Jesu und des
weise zum Text- bzw. Bildbezug; hier nahm           Papstes folgten keinem eindeutigen Schema;
man also in Kauf, dass das Bild seine eigene        dadurch freilich, dass die Himmelfahrt Christi
Wirkung auf den ‚gemeinen Mann‘ entfalten           und die Höllenfahrt des Papstes den Abschluss
konnte. An der weiteren Rezeptionsgeschichte        bildeten (ABB 17), war eine Art Zielpunkt gesetzt.
des Passionals, insbesondere einer bei [Johan-      Die Texte der Christus-Seite hatten durchaus eine
nes Prüss]45 in [Straßburg] erschienenen Aus-       affirmative imitatio des armen, demütigen, welt-
gabe, kann man beobachten, dass sein Gehalt         licher Herrschaft entsagenden Christus im Visier;
sozialkritisch zugespitzt wurde. Ein von Prüss      insofern verband das Passional polemische und
neu hinzuge­fügtes Bilderpaar stellte den guten     katechetisch-erbauliche Funktionen. Bild und
Hirten Christus dem Papstwolf, der Schafe           Text waren jeweils komplementär aufeinander

22
ABB 17 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]
(VD 16 L 5584, C [5]v – [6]r), Holzschnitte: Himmelfahrt Christi und Höllenfahrt des Papstes.

bezogen, aber die Bilder konnten natürlich                        Bild angeführt waren, rücken die punktuelle
durchaus auch zu Illiteraten ‚sprechen‘.                          Flucht Jesu in grundsätzlichere Dimensionen:
      Programmatisch wird der Text-Bildzusam-                     Sein Reich sei nicht von dieser Welt (Joh 18,36).
menhang etwa in dem eröffnenden Bilderpaar                        Daraus aber folge, dass auch seinen Jüngern ein
deutlich. (ABB 18) Bild Nr. 1 zeigt Jesus, der vor                weltförmiges, herrschaftliches Verhalten versagt
einer großen Menschenmenge flieht; sie trägt                      sei, ja eine gegenteilige Logik gelten solle: der
ihm eine Krone an. Der Holzschnitt setzt exakt                    Größte und Vornehmste habe sich zu erniedrigen
den im unteren Textfeld an erster Stelle gebote-                  und zu dienen (Lk 22,25f.). Der ganz aus Bibel­
nen Vers Joh 6,15 um: „Do Jhesus innen wardt,                     zitaten komponierte Text zielte darauf ab, den
das sie kommen wurden und yhnen tzum konig                        lesenden Betrachter des Bildes zur Nachfolge zu
machen, ist er abermals uffin bergk geflohen, er                  veranlassen; er wies deutlich über die dargestellte
allein.“47 Die weiteren Bibelstellen, die unter dem               biblische Szenerie, die auch ein Illiterat erfassen

                                                                                                                   23
ABB 18 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521]
(VD 16 L 5584, A 1v – A 2r), Holzschnitte: Christus flieht vor der ihm angetragenen Herrschaft und der Papst als weltlicher Herrscher.

konnte, hinaus und transponierte sie auf Grund-                     Rittern im Harnisch; das geöffnete Helmvisier
fragen des christlichen Weltverhältnisses hin.                      des Reiters im Vordergrund und der Segens- oder
      Auch das Bild auf der Gegenseite hatte                        Grussgestus des Papstes verdeutlichen, dass auch
einen programmatischen Charakter. Es zeigt                          die berittenen Krieger zu ihm gehören und für
den Papst und weitere Vertreter des Hochklerus                      ihn im Einsatz sind. Das Bild zeigt den Papst
(Bischöfe/Äbte; Kardinäle) mit Landsknechten,                       also inmitten militärischer Machtmittel (Festung;
die aufgestellte Hellebarden tragen. Zusammen                       Waffen; Berittene und Fußsoldaten). Das erste
mit zwei Kanonen hält man sich auf einer durch                      Zitat im Textfeld, das aus dem Dekretale Pasto­
das päpstliche Wappen gekennzeichneten Fes-                         ralis Papst Clemens’ V.48 stammt, unterstreicht
tungsanlage auf, vielleicht der Engelsburg. Der                     den Anspruch des Pontifex’, ‚Erbe‘ des Kaiser-
Torbogen ist mit einer starken Kette verschlos-                     tums zu sein. Eingeleitet mit der bilanzierenden
sen. Vor dem Tor befindet sich eine Gruppe von                      Formel „Summa summarum“49 wird dann in

24
Form eines – freilich manipulierten – Zitates50
aus dem 2. Petrusbrief mit den Worten jenes
Apostels, der allen Päpsten voranging, rekapi­
tuliert, was aus dem im kanonischen Recht kodi-
fizierten Herrschaftsanspruch des Papsttums
folgt, nämlich dass der Papst zum „abgot und
Antichrist“51 geworden sei. Bereits vom ersten
Paarbild des Passionals Christi und Antichristi
an wird so die im Titel avisierte Grundthese
exponiert, die im Kern der 1. Mauer aus Luthers
Adelsschrift52 entspricht: Der Papst ist der Anti-
christ, weil und insofern er sich weltliche Herr-
schaft anmaßt, während Christus auf diese ver-
zichtet hat.
      Diese Tendenz war cum grano salis für
den Zyklus als ganzen bestimmend: Während
sich Christus den Menschen zuwendet und un-
ter ihnen bewegt, hält sich der Papst ‚einfache‘
Gläubige vom Leibe; er ist zur Verehrung ent-
rückt oder bedient sich militärischer Macht­
mittel – wie Julius II., der „blutseuffer“53, der
Papst in Rüstung (ABB 19). Im Griff des Papstes
nach der weltlichen Herrschaft, die jedem zeit-
genössischen Betrachter des Jahres 1520 mannig­
fach vor Augen stand, fand der antichristliche
                                                     ABB 19 Lukas Cranach d.  Ä ., Passional Christi und Antichristi,
Charakter des Papsttums seinen aktuellsten Aus-      [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584,
druck. Insofern trug das Passional dazu bei, den     C 1r), Holzschnitt: Der Papst im Harnisch symbolisiert den
                                                     Zugriff auf weltliche Herrschaft.
Antichristen zu entbergen und den an der Nach-
folge Christi orientierten Widerstand gegen ihn
zu stärken.                                          III.
      Luther hatte dem Passional in Bezug auf        Einem Brief, den Melanchthon am 2. März 1522,
die Mobilisierung des ‚gemeinen Mannes‘ etwas        wenige Tage vor Luthers Rückkehr von der Wart-
abgewinnen können. In dieser Einschätzung            burg, an Spalatin schrieb, kann man entnehmen,
dürfte wohl auch der Grund dafür zu finden           dass offenbar eine Fortsetzung der Zusammen­
sein, dass eine mit dieser Schrift vergleichbare     arbeit zwischen Cranach und ihm geplant war.
Bildersprache im Wittenberg Luthers nicht            Melanchthon hatte Papstvatizinien kennenge-
mehr zur Anwendung kam. Luther sah bereits           lernt, die man Joachim von Fiore zugeschrieb;
1521/2, dass – nicht zuletzt aufgrund agitatori-     wahrscheinlich war ihm ein Bologneser Druck
schen Materials wie dem Passional –, Aufruhr         von 151555 in die Hände gefallen. Es handelte
drohte54, den er verhindern wollte.                  sich dabei um mit Illustrationen verbreitete pro-
                                                     phetische Texte zum Niedergang der Papstherr-

                                                                                                                   25
erweitern. Die Verbindung von biblischem Text
                                                                     und joachimitischer Prophetie dürfte – ähnlich
                                                                     dem Skopus des Passionals – darauf abgezielt
                                                                     haben, die finale Offenbarung des päpstlichen
                                                                     Antichristen in der eigenen Gegenwart zu
                                                                     demonstrieren.
                                                                           In demselben Brief teilte Melanchthon
                                                                     außerdem mit, dass ‚unser Elia‘57 Manuskripte
                                                                     von der Wartburg gesendet habe und er die Druck­
                                                                     legung der Weihnachtspostille und der Überset-
                                                                     zung der vier Evangelien vorantreibe. Zu diesem
                                                                     Zeitpunkt war demnach noch beabsichtigt, die
                                                                     von Luther angefertigte Übersetzung des Neuen
                                                                     Testaments, entsprechend der im Frühsommer
                                                                     1521 bereits von dessen Ordensbruder Johannes
                                                                     Lang begonnenen Praxis58, in Einzellieferungen
                                                                     zu publizieren; eine dieser Lieferungen sollte die
                                                                     Johannesoffenbarung sein.59 Die theologisch
                                                                     wegweisende Entscheidung, Luthers Übersetzung
                                                                     des Neuen Testaments als buchliche Einheit zu
                                                                     publizieren, fiel erst in der Zeit nach dessen
                                                                     Rückkehr von der Wartburg.
                                                                           Im Folgenden soll die These plausibel ge-
ABB 20 [Ps.-] Joachim von Fiore, Vaticinia circa Apostolicos
viros et ecclesiam Romanam, Bologna, Hieronymus Benedictus           macht werden, dass Lukas Cranachs erstmals im
1515, B 1r: Ein Papst, ursprünglich Nikolaus III., füttert Bären –   sogenannten Septembertestament gedruckte Serie
eine Anspielung auf Nepotismus; die Sterne bedeuten aus den
                                                                     von großformatigen Illustrationen zur Johannes-
Nepoten hervorgehende Kardinäle.
                                                                     offenbarung eine Sekundärverwertung des im
                                                                     Laufe des Frühjahrs 1522 aufgegebenen Plans
                                                                     einer illustrierten Publikation der deutschen
schaft (ABB 20). Die historische Aussagekraft die-                   Übersetzung der Johannesapokalypse darstellte.
ser Prophetien galt für den Wittenberger Profes-                     Die Argumente sind folgende:
sor als erwiesen. Die Bild-Textproportionen des                      1. Das Format der Holzschnitte60 war in Bezug
Bologneser Drucks erinnern an das Passional                          auf den Druck des Neuen Testaments61 disfunk­
Christi und Antichristi. Melanchthon wollte die-                     tional, da es an vielen Stellen dazu führte, dass
ses Büchlein einer von Lukas Cranach geplanten                       größere Teile einer Seite unbedruckt blieben
illustrierten Ausgabe der deutschen Übersetzung                      (ABB 21); auch die satztypographische Zuordnung
der Johannesoffenbarung anfügen.56 Dieses Pro-                       von Text und Bild war an mehreren Stellen prob-
jekt einer illustrierten deutschen Apokalypse-                       lematisch.
Ausgabe bestand zu diesem Zeitpunkt bereits.                         2. Durch ihre Illustrationen erhielt die Johannes-
Melanchthon wollte dieses Vorhaben um die                            offenbarung im Septembertestament eine Promi-
apokalyptisch ausgerichteten Papstvatizinien                         nenz, die ihr nach Luthers kanonstheologischen

26
ABB 21 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, bb 1v/2r),
Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.).

Überlegungen gerade nicht zukommen sollte.                       Von Luthers theologischer Beurteilung der Apk
Denn der Wittenberger Bibelübersetzer hatte die                  her liegt nichts ferner, als ihr durch großforma-
Apokalypse zusammen mit dem Hebräer-, dem                        tige Illustrationen eine besondere Aufmerksam-
Jakobus- und dem Judasbrief aus dem Kreis der                    keit zu verschaffen.
durchnummerierten neutestamentlichen Schrif-                     3. Die Cranachsche Holzschnittserie, deren z. T.
ten herausgenommen (ABB 22) und auf einen quasi                  enger Anschluss an Albrecht Dürers 1498 in je
deuterokanonischen Rang herabgestuft. Sodann                      einer lateinischen und einer deutschen und 1511
hatte er in der Vorrede zur Johannesoffenbarung                  noch einmal mit lateinischer Übersetzung er-
festgestellt, dass durch die in diesem Buch ent-                 schienenen Apokalypse64 unübersehbar ist, hat
haltenen „gesichte“62 Christus „widder geleret                   einen wesentlichen Skopus darin, die widergött-
noch erkandt“63 werde, sie also an dem eigent­                   lichen Mächte, die in den Visionen des Sehers
lichen Skopus des ‚Evangeliums‘ vorbeigingen.                    Johannes eine wichtige Rolle spielen, mit dem

                                                                                                                27
ABB 22 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,                   ABB 23 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
[M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, 4r), Inhaltsverzeichnis.   [M. Lotter d. J. 1522] (Septembertestament) (VD 16 B 4318, cc 1v),
                                                                 ­Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.).

Papsttum bzw. der römischen Kirche zu identifi-                  fügt hatte. Luther hatte keinerlei Interesse daran,
zieren. Dieser Fokus nimmt die Perspektive des                   bisherige Anhänger der Papstkirche vom Kauf
Passionals Christi und Antichristi auf; sie sollte               ‚seines‘ Neuen Testament abzuhalten. Innerhalb
auch durch die von Melanchthon erwogene Ver-                     des Septembertestaments erwies sich die Holz-
bindung mit den Papstvatizinien fortgesetzt wer-                 schnittserie zur Apokalypse denn auch durchaus
den. Diese Aktualisierung der Endzeitereignisse                  als Fremdkörper; dies führte bekanntlich dazu,
in Bezug auf die eigene Gegenwart entsprach der                  dass deren antipapistische Tendenzen im soge-
apokalyptischen ‚Aufheizung‘ der frühreforma-                    nannten Dezembertestament reduziert wurden
torischen Bewegung.65 Sie stand aber in Span-                    (ABB 23, 24). Diese entschärfenden Korrekturen
nung zu den auf Polemik und jeden Zeitbezug                      gingen gewiss auf den an seinem Gewinn interes-
verzichtenden Paratexten, die der anonym blei-                   sierten Drucker Lotter zurück, der damit auf ein
bende Luther ‚seinem‘ Neuen Testament beige-                     Mandat Herzog Georgs vom 7.11.1522 reagiert

28
ABB 24 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,                ABB 25 Biblia, Wittenberg, Hans Lufft 1534, Bd. 2 (VD 16 B 2694,
[M. Lotter d. J. 1522] (Dezembertestament) (VD 16 B 4319,      fol. CXCIr), Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.);
fol. LXXXIIv), Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.).   kolorierter Holzschnitt (Weimarer Exemplar).

haben könnte.66 Die Lotter verwendeten in den                  sie sich die günstigsten Absatzmöglichkeiten
Folioausgaben ihrer späteren Wittenberger Dru-                 erwarteten.
cke die Holzschnitte der Cranachwerkstatt in                   4. Die Publikation von Dürers textlich auf der
der entschärften Form des Dezembertestaments                   Kobergerbibel basierender deutscher Apoka­
weiter; in den Lufftschen Bibelausgaben (ABB 25)               lypse lag im Jahre 1522 bereits mehr als zwei
kehrte der Drache mit Tiara übrigens in einen                  Jahrzehnte zurück. Deshalb konnte es Cranach
nun maßvoll, aber pointiert erneut mit Bildern                 als attraktives Publikationsprojekt erscheinen,
versehenen Tempel- bzw. Kirchenraum zurück.                    eine Art Nachfolgeprodukt auf den Markt zu
M. E. muss man sehr ernsthaft damit rechnen,                   bringen. Wäre der geplante Einzeldruck der il-
dass die jeweiligen Drucker unabhängig von den                 lustrierten Apokalypse zustande gekommen,
Künstlern und Autoren als eigenständige Akteure                hätte er sich gegenüber der Dürerschen Vorlage
wirkten und Bildlösungen verfolgten, von denen                 durch drei innovative Merkmale ausgezeichnet:

                                                                                                                           29
ABB 26 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511   ABB 27 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
(VD 16 B 5248, Bildnr. 11),                            [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, bb1v),
Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.).         Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.).

a) eine sprachlich zugänglichere, gefälligere,         Überlieferung oder der künsterlischen Phantasie
Erasmus’ Ausgabe des griechischen NT nut-              entsprangen. Für jeden dieser Aspekte sei je-
zende, insofern gesteigerten philologischen            weils ein Beispiel angeführt. Zunächst zur Nähe
Ansprüchen des Humanismus entsprechende                Cranachs zum biblischen Text: In der Darstel-
deutsche Übersetzung; b) eine Aktualisierung           lung der in Apk 8 und 9 geschilderten Schre-
des biblischen Textes in Bezug auf die Gegen-          ckensereignisse folgt die Darstellung im Sep­
wart; die Ausgabe hätte auch als reformatori-          tembertestament der Dürerschen (ABB 26, 27).
sches Kampfmittel fungiert, das den heiligen           Doch während Dürer alle Holzschnitte seiner
Text applizierte und operationalisierte; c) eine       Serie mit seinem Monogramm kennzeichnete,
Konzentration der bildlichen Darstellungen auf         unterblieb dies im Septembertestament. Viel-
das im Bibeltext Enthaltene unter Verzicht auf         leicht war das eine Folge der Integration in das
Elemente und Motive, die der legendarischen            Gesamtwerk der Bibeldrucks, aber wohl auch

30
ABB 28 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511   ABB 29 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
(VD 16 B 5248, Bildnr. 25),                            [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, cc4r),
Holzschnitt: Die beiden Tiere (Apk 13,1ff.).           Holzschnitt: Die beiden Tiere (Apk 13,1ff.).

der in einigen Bildern enthaltenen vitalen             das „WeWeWe“ (Apk 8,13) mit der Vulgata in
antipäpstlichen Polemik und der Anonymität             der Mitte des Bildes von einem Adler rufen lässt,
des Druckes geschuldet. Die Abbildung im               folgte die Cranachwerkstatt Luther, der hier eine
Septembertestament lässt den Fall des wie eine         Textversion des Erasmus67 aufnahm. Als Bei-
Fackel brennenden Sternes mit Namen Wermut             spiel einer polemisch-aktualisierenden Fort-
(Apk 8,10f.) unerwähnt, während sie die Meeres-        schreibung der Dürerschen Vorlage kann die
szenerie näher an den Betrachter herangerückt          Illustration zu Apk 13 gelten. (ABB 28, 29). Im
ist. Die Verfinsterung der Sonne und des Mon-          Septembertestament ist das zweite Tier nicht,
des (Apk 8,12) werden in der Wittenberger Dar-         wie bei Dürer, als Löwe, sondern gemäß dem
stellung konsequenter ins Werk gesetzt. Auch           Text (Apk 13,11) als Lamm dargestellt. Dass in
der wichtigste Unterschied ist der größeren            Cranachs Werkstatt dem siebenköpfigen Tier
Nähe zum Text geschuldet: Während Dürer                Flügel hinzugefügt wurden, dürfte ebenfalls

                                                                                                         31
ABB 30 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511
(VD 16 B 5248, Bildnr. 3),
Holzschnitt: Das Martyrium des Sehers Johannes.

dem Bibeltext (Apk 13,2), der von einem Drachen        Antichristen hin aktualisiert. Ob man die im
spricht, geschuldet sein. Indem das lammartige         zeitgenössischen Gelehrtenhabit präsentierten
Tier in eine Mönchskutte gekleidet wurde, diente       Zeugen mit konkreten Personen identifizieren
die Darstellung der polemischen Positionierung         kann, ist ungewiss. Klar ist es aber, dass dieses
im Sinne von Frontstellungen, die nach Luthers         Motiv der Dürerschen Serie hinzugefügt wurde,
auf der Wartburg abgefasster Schrift De votis          weil es Möglichkeiten bot, die Johannesoffen­
monasticis sehr aktuell waren. Ähnliches gilt für      barung stärker mit der Gegenwart zu verschrän-
den – übrigens völlig bildlosen – Tempelraum           ken. Für den Verzicht auf Legendarisches, das
(ABB 23) mit den beiden Zeugen (Apk 11,1ff.), die      über den biblischen Text hinausgeht – mein drit-
schließlich vom Tier aus dem Abgrund getötet           ter Aspekt – mag Cranachs Umgang mit dem
werden. Durch die Tiara wurde das Bild auf den         fulminanten Eröffnungsblatt des Dürerschen
Kampf der Wittenberger gegen den päpstlichen           Apokalypsezyklus (ABB 30) stehen. Es setzt die

32
ABB 31 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511        ABB 32 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
(VD 16 B 5248, Bildnr. 9),                                  [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, aa5v),
Holzschnitt: Die vier apokalyptischen Reiter (Apk 6,1ff).   Holzschnitt: Die vier apokalyptischen Reiter (Apk 6,1ff).

Märtyrerlegende des Johannes, wie sie in einem              breiteten Behauptung, dass Lukas Cranach und
bei Koberger erschienenen Passional (1488)68                der Wittenberger Goldschmied Christian Döring
bzw. in der Legenda aurea enthalten war, ins                als Verleger des Septembertestaments fungierten,
Bild. Cranach aber verzichtete auf dieses Motiv             ist m. E. Zurückhaltung angebracht.70 Denn einen
ersatzlos.                                                  eindeutigen Quellenbeleg dafür gibt es nicht. Und
5. Der Drucker des Septembertestaments war                  folgende Überlegung spricht dagegen: Warum
bekanntlich Melchior Lotter d. J., dessen gleich-           sollte ein erfahrener, prosperierender und profit-
namiger Vater die in Leipzig ansässige größte               orientierter Drucker wie Lotter, der freilich in
und erfolgreichste Druckerei Mitteldeutschlands             den Räumlichkeiten Cranachs arbeitete71, seinen
betrieb.69 Ende des Jahres 1519 hatte er eine Wit-          Gewinn minimieren, indem er andere daran be-
tenberger Filiale eröffnet, die sein gleichnamiger          teiligte? Dass Lotter die Illustrationen zur Apk
Sohn leitete. Gegenüber der in der Literatur ver-           verwendete, muss man nicht als Indiz für eine

                                                                                                                        33
ABB 33 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,              ABB 34 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
[M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, cc1v),                 [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, dd3r),
Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara.   Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara.

‚verlegerische‘ Beteiligung Cranachs werten. Dies            Konkurrenten, der überdies immer stärker auf
scheint mir problemlos als Idee des Druckers vor-            andere Künstler auswich, los werden wollten.
stellbar, der das bereits vorliegende und wegen              6. Von kunsthistorischer Seite ist wahrschein-
der Aufgabe eines Plans des illustrierten Einzel-            lich gemacht worden, dass nur neun der 21 Holz-
drucks der Apk überflüssig gewordene Bildmate-               schnitte der Apokalypseserie dem Meister selbst
rial Cranachs um einige weniger qualitätvolle                zuzuschreiben sind.72 Da sich vornehmlich unter
Holzschnitte erweitern ließ. Die späteren Kon-               diesen ‚echten‘ Cranachschen Holzschnitten
flikte, die schließlich zum Ende der für die früh-           aktualisierende Bezugnahmen auf die Papstkir-
reformatorische Publizistik entscheidenden Lot-              che finden (ABB 33– 36), liegt es nahe, in ihnen den
terschen Offizin in Wittenberg führten, hatten               Kern des ursprünglichen Publikationsprojekts
im Kern damit zu tun, dass Cranach und Döring                zu sehen. Dass Cranach oder Lotter die Serie
einen überaus gut verdienenden, unangenehmen                 später durch z. T. eher laienhaftere Hände voll-

34
ABB 35 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,              ABB 36 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg,
[M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, ee1r),                 [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, ee2v),
Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara.   Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara.

enden ließen – man vergleiche etwa Dürers                    von der Hure Babylon und dem Tier aus dem
und die Wittenberger apokalyptischen Reiter                  Abgrund, die zwischen dem September- und
(ABB 31, 32) – könnte darauf hindeuten, dass                 dem Dezembertestament vorgenommen wurde –
das Interesse des Künstlers an dem Vorhaben                  ist leichter zu erkären, wenn die Holzschnitte
zurückging bzw. damit zusammenzuhängen,                      der Apokalypseserie bereits 1522 in Lotters
dass die Gesamtverantwortung für den Druck                   Besitz übergegangen waren.
des Septembertestaments bei dem Drucker Mel-                        Aus den genannten Beobachtungen folgt,
chior Lotter lag. Die Firma Lotter verwendete                dass auch die Illustrationen zur Johannesoffen-
diese Holzschnitte noch längere Zeit, nachdem                barung im Septembertestament nicht als Beispiel
es zum Bruch mit Cranach gekommen war. Auch                  für eine sich wechselseitig befruchtende Koope-
die Veränderungen an einigen Holzschnitten –                 ration zwischen Lukas Cranach und Martin
insbes. die Entfernung der päpstlichen Tiara                 Luther in Betracht zu ziehen sind.

                                                                                                                          35
ABB 37 Lukas Cranach d.  Ä ., Holzschnitt Luther als   ABB 38 Lukas Cranach d.  Ä ., Holzschnitt Luther als
„Junker Jörg“, Ausfertigung Typ A.                     „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ B.

IV.
Als weiteres, weithin bekanntes Beispiel Cra­          gelten, die sich gegenüber den anderen durch
nachscher Druckgraphik aus der Frühzeit der            eine substantielle Erweiterung des Textbestandes
Reformation gilt der berühmte Holzschnitt des          kennzeichnen lässt. Typus C begegnet in mindes-
„Junkers Jörg“, der – soweit ich sehe – bisher         tens zwei typographischen Varianten (ABB 39, 41);
einhellig in die Jahre 1521 oder 1522 datiert          Typus B fügte gegenüber A eine Überschrift
wird.73 Allerdings gibt dieses Bild mehr Rätsel        hinzu, die das Porträt des bärtigen Luther ins
auf, als in der einschlägigen Literatur erörtert       Jahr 1522 datierte. Typus C setzte gegenüber B
oder gar geklärt wurden. Der Holzschnitt wurde         drei Chronogramme hinzu, Typus D erweiterte
für Einzelblattdrucke in vier Typen (ABB 37– 40)       lediglich um ein Impressum.74 Gewisse Abnut-
und mindestens fünf Varianten verwendet (ABB 41);      zungsspuren an der rechten Schulter „Junker
sie unterscheiden sich durch die Über- und Unter-      Jörgs“ bei einigen Abzügen der Holzschnitte
schriften. Als ‚Typus‘ mag jeweils eine Fassung        mit den umfänglichsten Textbeigaben (ABB 39)75

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ABB 39 Lukas Cranach d.  Ä ., Holzschnitt Luther als   ABB 40 Lukas Cranach d.  Ä ., Holzschnitt Luther als
„Junker Jörg“, Ausfertigung Typ C.                     „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ D.

sprechen prima facie für eine relativ spätere          den Quellen nicht eindeutig entnehmen.77 Einen
Ansetzung dieses Typs.                                 Hinweis darauf, dass ein von Cranach hergestell-
      Bisher wird der Holzschnitt des „Junkers         tes Ölbild oder der Holzschnitt des „Junkers Jörg“
Jörg“ ebenso wie die beiden berühmtesten der           vor 1537 existiert hat, gibt es nicht.78
sieben bekannten Ölfassungen, nämlich das Lei­p ­           Was lässt sich über den Zeitpunkt sagen,
ziger und das Weimarer Exemplar, einhellig auf         zu dem Bilder des „Junkers Jörg“ – sei es als
1521/2 datiert.76 Dies hat gewiss auch damit zu        Gemälde, sei es als Holzschnitt – in eine ‚Öffent-
tun, dass man chronistische Überlieferungen so         lichkeit‘ jenseits des Cranachschen Ateliers ge-
verstanden hat, dass Cranach von dem von der           langten? Im Unterschied zu den breit79, etwa
Wartburg in Wittenberg eintreffenden Augustiner­       von Künstlern wie Erhard Schön, Baldung Grien,
eremiten in ritterlicher Erscheinung eine Porträt-     Hieronymus und Daniel Hopfer u. a. aufgenom-
skizze angefertigt hatte. Allerdings kann man dies     menen frühen Cranachschen Kupferstichen des

                                                                                                              37
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