NEUES VON "JUNKER JÖRG" - Thomas Kaufmann - Klassik Stiftung Weimar
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Meinem Freund Alejandro Zorzin und dem Andenken unseres Lehrers Bernd Moeller (19.5.1931 – 29.10.2020) gewidmet.
KONSTELLATIONEN 2 HERZOGIN ANNA AMALIA BIBLIOTHEK Neues von „Junker Jörg“ Lukas Cranachs frühreformatorische Druckgraphik. Beobachtungen, Anfragen, Thesen und Korrekturen Thomas Kaufmann
Neues von „Junker Jörg“ Ein Vorwort „Cranachs Bilderfluten“ ist der Titel einer Aus- eingeprägt hat“ und selbst ein „Erzeugnis der stellung, die von Museen und Bibliothek der Memoria“ ist. Die bekannten Holzschnitt- und Klassik Stiftung Weimar für den Renaissancesaal Gemäldefassungen des „Junkers Jörg“ gehören der Herzogin Anna Amalia Bibliothek erarbeitet demnach nicht in den Zusammenhang von Wart- und dort ab Ende 2021 gezeigt wird. Vorberei- burg-Aufenthalt und -Rückkehr in den Jahren tend fand am 24. Oktober 2019 ein öffentliches 1521/22. Es war vielmehr eine lebensgefährliche Arbeitsgespräch unter dem Titel „Cranach und Erkrankung im Jahr 1537, die ihn von einer Zu- die Memoria der Reformation“ statt, in dem das sammenkunft des Schmalkaldischen Bundes Wissen der Klassik Stiftung und ihrer Weimarer zurück nach Wittenberg führte. Dem Tod ent Projektpartner zusammengeführt und diskutiert ronnen wurde er – mit einem antipapistischen wurde. Am Vorabend berichtete der Göttinger Effekt – überlebend und kämpferisch in Erstfas- Kirchen- und Reformationshistoriker Thomas sungen ins Holz geschnitten und in Öl gemalt. Kaufmann über „Neues von Cranachs Reforma- Erst später wurde durch fortgesetzte Zuschrei- tion“. Dieser Vortrag liegt dem hier veröffent bungen aus dem Überlebenden eines Harnstein- lichten Text zugrunde. leidens ein „Junker Jörg“, der von der Wartburg Mit „Neues von ‚Junker Jörg‘“ rückt über zurückkehrte und eine protestantische Ordnung ein zentrales Bildmotiv Cranachs die Bedeutung stiftete. Diese „‚Transsubstantiation‘ des Bart imageprägender Bilder in den Blick sowie die trägers in ‚Junker Jörg‘“ ist Ergebnis der Luther- Geschichte der reformatorischen Bilderfindung, memoria nach dessen Tod und passt nicht zur ihre Funktionen und Verbreitungen. Das sind noch offenen Konstellation im März 1522, als Fragen und Themen, die auch für das Ausstel- Luther endgültig von der Wartburg nach Witten- lungsprojekt leitend sind. Als Ergebnis seiner berg zurückkehrte. Mit diesem Ansatz Kauf- Forschungen formuliert Thomas Kaufmann neue manns ist die Diskussion um Datierung und Thesen über das „Bild des bärtigen Mannes“, das Zuschreibung, auch mit ausführlichen Hinwei- sich im „kollektiven Gedächtnis als ‚Junker Jörg‘ sen auf den Forschungsstand neu eröffnet. 4
Für das Thema „Bilderfluten“ ist Kaufmanns Robert Sorg und Veronika Spinner möchten wir reformations- und medienhistorische Argumen- für ihre sachkundige Unterstützung an dieser tation aufschlussreich: So wirft Luthers Zurück- Stelle danken. haltung in Fragen der Bildpolitik ein Schlag- Der ganz besondere Dank von Reinhard licht auf die zentrale Rolle weiterer Akteure Laube gilt seinem ehemaligen Mitarbeiter An- wie Cranach oder auch auf Drucker wie Lotter. dreas Schirmer, der inzwischen seinen wohl Ebenso aber auch auf Formate wie Flugblatt, verdienten Ruhestand genießt. Er hat sowohl Bilderzyklus, Gemälde oder Buch. Mit „Neues die Reihe „Konstellationen“ mit seinen klugen von Junker Jörg“ wird die Reihe „Konstellatio- Ideen bereichert und sie mit aus der Taufe nen – Neue Sichten der Bibliothek“ fortgesetzt gehoben als auch die hier vorgelegte Publi und damit auch eine neue Konstellation in der kation in gewohnt professioneller Weise bis sammlungsbezogenen Zusammenarbeit zwi- zu ihrem Erscheinen begleitet. schen Museen und Bibliothek hergestellt. Die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek Wir danken Thomas Kaufmann sehr herz- e. V. unterstützt und ermöglicht durch ihre groß- lich für die Überlassung seines Vortragstextes zügige Förderung die Reihe „Konstellationen“, und freuen uns außerordentlich über die Mög- wofür stellvertretend ihrem Vorstand und vor lichkeit, diesen gewichtigen Beitrag zur Refor- allem der Vorsitzenden Annette Seemann herz- mationsforschung im Rahmen unserer noch jun- lich gedankt sei. gen Publikationsreihe „Konstellationen“ ver- öffentlichen zu dürfen. Ein nicht minder herz licher Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Holler der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, die sich Generaldirektor Museen für das Veröffentlichungs-Projekt eingesetzt und es mit großem Engagement realisiert haben. Ins- Reinhard Laube besondere Hannes Bertram, Andreas Schlüter, Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek 5
Lukas Cranachs früh- reformatorische Druckgraphik Beobachtungen, Anfragen, Thesen und Korrekturen * I. Wenn man sich in historischer Perspektive mit rungen bekräftigt: „[…] Luther und Cranach [müs- der Rolle der Cranachschen Druckgraphik in sen] schon bald erkannt haben, welch gegenseiti- der frühen Reformation beschäftigt, stellen sich ger Nutzen aus ihrer Zusammenarbeit erwachsen einige Fragen: Warum wurde die erfolgreiche könnte. Diese wäre nicht auf Dauer möglich gewe Bildpublizistik des Passionals Christi und Anti sen, wenn beide sich nicht auch persönlich eng christi von 1521 später in Wittenberg nicht fort einander verbunden gefühlt hätten.“3 gesetzt? Warum steuerte Cranach zu einer bibli- Gewiss – im Horizont des Weimarer Cranach- schen Schrift, der Luther 1522 sehr wenig theolo- Retabels liegt nichts näher, als sich Meister Lukas gische Sympathien entgegenbrachte – der Johan- und den Reformator freundschaftlich liiert vor- nesoffenbarung – im sogen. ‚Septembertesta- zustellen, Seite an Seite, vereint im gemeinsamen ment‘ besonders aufwändige Illustrationen bei? Glauben, verbunden in tiefer Loyalität gegenüber Warum polemisierte Cranach bereits 1522 mit ei- der ernestinischen Dynastie. (ABB 1) Im Bild des ner Unterschrift zu seinem „Junker Jörg“-Holz- Cranachaltars der Weimarer Stadtkirche4 wirkt schnitt so scharf gegen Karlstadt, obschon er ihm die bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts doch wenig zuvor durchaus eng verbunden war? vitale, mentalitär verwurzelte Macht der Memo Und warum fand der „Junker Jörg“ in der Zeit ria nach, die zugleich Gedächtnis, Erinnerung seiner angeblichen Entstehung (1521/2) im Ver- und Vergegenwärtigung bewirkte und gemein- gleich zu den übrigen druckgraphischen Luther- schaftsfundierend Tote und Lebende rechtlich porträts Cranachs so gut wie keine Rezeption? und sozial verband.5 Doch den Herausgeber der Ihren gemeinsamen Fokus haben diese Fra- Kritischen Gesamtausgabe Karlstadt6 – des vor gen in einem bestimmten Bild der engen, geradezu allem durch Luther und seine Epigonen zum ewi- symbiotischen Verbundenheit Luthers mit seinem gen „Bilderstürmer“ verdammten7 Kollegen und „Gevatter“1 Lukas Cranach – so das in Bezug auf „ärgsten Feind der Lehr halben“8 – drängt es, das das Briefcorpus des Reformators seltene, durch- Bild der sich wechselseitig nützlichen Freund- aus enge Vertrautheit signalisierende Epitheton schaft des Mönchs und des Malers für die Früh- in dem einzigen erhaltenen Brief Luthers an ihn.2 zeit der Reformation zu ‚stürmen‘. Das im Folgenden in Zweifel gezogene Bild der engen Verbundenheit Luthers und Cranachs hat ABB 1 Lukas Cranach d. J., Altar Stadtkirche St. Peter und unlängst Daniel Görres durch folgende Formulie- Paul, Mittelteil, Ausschnitt. 7
Dass Martin und Lukas und dann auch die Fami- getretene Veränderung seiner Denkungsart. Der lien Luther und Cranach persönlich verkehrten9, wandlungs- und anpassungsfähige Luther war der ist unstrittig; dieser Aspekt des ‚Bildes‘ kann in seiner Zeit wirkmächtige, der historische Lu- nicht ernsthaft infrage gestellt werden. Auch, ther – nicht das unverrückbare „Hier-stehe-ich“ – dass Luther im Laufe der Jahre ein ästhetisch Monument der Luthermemoria! und didaktisch begründetes Verhältnis zu Bildern Luthers bemerkenswerte Aussage, es wäre entwickelte, denen er bei der Vermittlung der „besser […] wir hetten sie [sc. die Bilder] gar Glaubensbotschaft eine wichtige Rolle zuer nicht. Ich bin jn auch nit holt“ fiel möglicher- kennen konnte10, ist bekannt. Doch betrifft dies weise gegenüber einer Hörergemeinde, deren Entwicklungen, die erst seit der Wende zu den politische Vertretung, der Wittenberger Stadtrat, 1530er Jahren Früchte tragen sollten. Für die unlängst, im Januar 1522, eine reformatorische Frühzeit der Reformation, die im Folgenden Kirchenordnung verabschiedet hatte, die eine in den Fokus rückt, ist es hingegen notwendig, Entfernung der Bilder vorsah.13 Und Luther traf jene Wendung aus der späteren Druckfassung diese Feststellung von der Kanzel in der Witten- der dritten Invocavitpredigt (11.3.1522) ernst zu berger Stadtkirche herab, die einem durch zahl- nehmen, in der der wenige Tage zuvor in der reiche Bildentfernungen stark veränderten Kir- Tarnung eines Edelmanns nach Wittenberg zu- chenraum zugewandt war.14 Ausgehend von ers- rückgekehrte Prediger Luther11 festgestellt hat: ten Störungen Anfang Dezember 1521, tumultua- „[…] umb die bilder ist es auch so gethan, das sie rischen Aktionen der Ordensbrüder Luthers von unnöttig, sonder frey sein, wir mögen sie haben Anfang Januar 1522 und der Aufnahme der Ent- oder nicht haben, wie wol es besser were, wir scheidung zur Bildentfernung aus der Stadtkir- hetten sie gar nicht. Ich bin jn auch nit holt.“12 chenordnung in einer berühmt gewordenen Pre- In Hinblick auf diese bekannte Aussage hat digt Karlstadts Von Abtuung der Bilder15 war es die Forschung, stimuliert durch die späteren Ent- wohl vornehmlich zu organisierten Bildentfer- wicklungen, vor allem Luthers theologisch ‚libe- nungen in der Regie des Wittenberger Rates ge- ral‘ anmutende Akzeptanz der Bilder und deren kommen. Indem Luther in einem vielleicht weit- Charakter als Adiaphora registriert. Doch um gehend bilderlosen Kirchenraum bekannte, dass Luther im Kontext der frühreformatorischen Ent- auch er den Bildern nicht ‚hold‘ sei, stellte er wicklungen angemessen zu verstehen, ist es ent- eine prinzipielle Übereinkunft mit dem bilder- scheidend, dass man sein Urteil, es wäre besser feindlichen Kurs der Wittenberger Stadtreforma- ‚wir‘ hätten keine Bilder und auch er sei ihnen tion her. Allerdings nutzte er diese Zustimmung nicht ‚hold‘, deutlicher akzentuiert, als dies ge- zur Missachtung der Bilder in einer – jedenfalls meinhin geschieht. In Bezug auf die Bilderfrage, in der gedruckten Version – rhetorisch überaus so scheint es, vollzog Luther eine ähnlich drama- geschickten Weise, um den Modus ihrer Umset- tische ‚Wende‘, wie in Hinblick auf das Verständ- zung im Zuge der Wittenberger Reformation der nis des Abendmahls, seinen Umgang mit der letzten beiden Monate zu kritisieren. Zunächst Judenheit und in der Haltung zum Krieg gegen gelte es, nicht die äußeren Bilder aus Holz, Stein, die Türken. Und wie bei den genannten Themen Leinwand oder Papier zu entfernen, sondern die wurde diese Selbstkorrektur des Wittenberger inneren ‚Bilder‘, die für den abergläubischen Um- Reformators stillschweigend vollzogen, d. h. gang mit den realen Bildern verantwortlich seien, ohne expliziten Hinweis auf die inzwischen ein- zu zerstören und deren abgöttischen Gebrauch 8
ABB 2 Lukas Cranach d. Ä ., Andreas Bodenstein von Karlstadt, Himmelswagen und Höllenwagen, deutsche Ausgabe, Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1519. qua Anbetung oder Stiftung als frommes Werk Bis in dieses Entscheidungsjahr der Reformation, durch eine evangelische Glaubensunterweisung 1522, hinein, gibt es kein eindeutiges Indiz dafür, zu überwinden.16 Reduziere man die Bilderfrage dass Luther ein konstruktives Interesse an bildli- auf einen Akt der schriftkonformen Orthopraxie, chen Ausdrucksmöglichkeiten besessen und den wie Luther es besonders Karlstadt unterstellte, ihm vielleicht seit 1508/9, dem Zeitpunkt seines dann unterbleibe die eigentliche Arbeit an der ersten Wittenbergaufenthaltes, bekannten Künst- religiösen Umerziehung, die die Bilder wirksam ler Lukas Cranach in diesem Sinne gefordert entmachten und schließlich auch eine Änderung oder in Anspruch genommen hätte – im Unter- der äußeren Formen herbeiführen werde. Dass schied zu Karlstadt, der in enger Zusammen sich der von der Wartburg zurückkehrende Au- arbeit mit Cranach das erste programmatische gustinermönch die Zukunft der wahren Kirche Bildflugblatt der frühen Reformation (ABB 2)17 im wesentlichen als bilderlos vorstellte, ist evi- entwarf und in einer lateinischen und einer deut- dent. schen Version verbreitete. Dass Karlstadt dafür 9
ABB 3 + 4 Lukas Cranach d. Ä ., Doppelporträt Karlstadt – Anna von Mochau, 1522. Sorge trug, dass dieses Blatt auch zu Dürer ge- II. langte18, zeigt, dass der vermeintliche Bilder- Die für die frühen Leipziger und die Wittenber- feind eine gewisse Kunstsinnigkeit besessen ger Lutherdrucke verwendeten Titelbordüren20 haben muss. Überdies spricht manches dafür, (ABB 5) aus Cranachs Werkstatt waren ‚Konfek dass Karlstadt sich und seine junge Frau, die tionsware‘, d. h. sie boten in aller Regel keine er im Januar 1522 heiratete, von Cranach porträ- spezifisch auf die Inhalte der Lutherschriften tieren ließ (ABB 3, 4).19 Ein eigentümlich inverser abgestimmten Bildmotive. Lediglich bei den Befund also kennzeichnet die frühreformatori- Titelholzschnitten21, die auf der fragmentari- sche Ausgangskonstellation: Der von obsessiven schen Erst- und der vollständigen Zweitausgabe Bildern bedrängte Karlstadt war ein Weltgeist der Theologia deutsch (ABB 6, 7) 1516 und 1518 zum licher und Bildinteressierter; der Bettelmönch Einsatz kamen, könnte ein gewisser Einfluss Luther war als Bildignorant ein Bildadiaphorist. Luthers wirksam geworden sein. Einen direkten 10
ABB 5 Titeleinfassung Lukas Cranach d. Ä . für Johannes Rhau-Grunenberg, Wittenberg, verwendet ab 1520, Holzschnitt. 11
ABB 6 Lukas Cranach d. Ä ., Titelblatt der Wittenberger Erst ABB 7 Lukas Cranach d. Ä ., Titelblatt der Wittenberger Erst ausgabe der Theologia deutsch, 1516. (VD 16 T 890, A 1r), ausgabe der vervollständigten Zweitausgabe Theologia Holzschnitt. deutsch, 1518. (VD 16 T 896, A 1r), Holzschnitt. Hinweis darauf aber gibt es nicht. Bemerkens- die Kosten für den Holzschnitt24 zu tragen hatte, wert ist freilich, dass Cranach bei dem zweiten wird er eine entscheidende Rolle gespielt haben. Holzschnitt bereits einige Einzelzüge des Bild- Im Unterschied zu der konventionellen Passions- komplexes „Gesetz und Gnade“22 vorformulierte, darstellung auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe die auch später noch zentral blieben: Der alte der Theologia deutsch von 1516 (ABB 6) realisierte Adam, der neue Mensch Christus, Tod und Cranach für die zweite Edition eine originelle Leben, Gericht und Gnade. Ob der Titelholz- Bildidee, die dem Inhalt der Schrift entsprach. schnitt bei der zweiten Ausgabe von 1518 ggf. Luthers entscheidender ‚Beitrag‘ zur Kunst wegen des veränderten Gesamttitels der Schrift, der frühen Reformation bestand wohl darin, für den Luther verantwortlich gewesen sein dass er Cranach theologisch inspirierte, religiös wird23, ausgetauscht wurde, ist unbekannt. Da ansprach und – ‚gewähren ließ‘. Möglicherweise wohl Johannes Rhau-Grunenberg als Drucker gilt dies schon für das Beispiel des Titelholz- 12
ABB 8 Lukas Cranach d. Ä ., Luther als Mönch, 1520, Kupferstich. ABB 9 Lukas Cranach d. Ä ., Luther als Mönch in der Nische, 1520, Kupferstich. schnitts zur Theologia deutsch von 1518. Mit für die Haltung des Dargestellten wie des Künst- großer Wahrscheinlichkeit trifft es jedenfalls lers gleichermaßen charakteristisch: Das phy für Cranachs erste ikonographische Parteinahme sische Bild und der Geist des Wittenberger Au- zugunsten der Reformation zu, die in den Luther- gustinereremiten stehen unvermittelt neben-, ja porträts von 1520 bestand. (ABB 8, 9). Diese Bilder gegeneinander; die Darstellung der vergäng waren mit einer prominent sichtbaren lateini- lichen, leiblichen Erscheinung und die ewige schen Inschrift ausgestattet (AETHERNA IPSE Wahrheit, für die der Geist Luthers eintritt, SUAE MENTIS SIMULACRA LUTHERUS EX- haben nichts miteinander zu tun.25 Diese mit PRIMIT AT VULTUS CERA LUCAE OCCI- stark spiritualisierenden, asketisch grundierten DUOS. „Die unvergänglichen Abbilder seines Überzeugungen des ‚jungen‘ Luther26 korrespon- Geistes bringt Luther selbst hervor, seine sterb dierende, dichotomische Tendenz in der Verhält- lichen Züge aber das Wachs des Lucas.“). Sie ist nisbestimmung von Äußerem und Innerem, Bild 13
und Geist, sterblicher Person und unvergäng lichem Geist ermöglichte ein schiedlich-fried liches Koexistenzmodell des Mönchs und des Malers. Es steckte Cranach klare Grenzen: Was immer er ins Bild setzte, hatte mit dem ‚wahren Wesen‘ Luthers nichts zu tun. Auch für Luther war es entlastend, denn sein ‚Bild‘ musste ihn, weil es im Äußeren blieb, nicht ernsthaft be- schäftigen. Zugleich gab dieses Koexistenz modell das äußere Bild Luthers in die freie Ver- fügbarkeit des gestaltenden Künstlers, der es als sein Werk namentlich kennzeichnete und mit seinem ‚Label‘, der gekrönten und geflügelten Schlange, versah.27 Einem Brief Luthers an den kurfürstlichen Sekretär Georg Spalatin vom 7. 3. 1521 sind einige Hinweise zu entnehmen, die für die kommuni kative Konstellation des frühreformatorischen Wittenberger Milieus aufschlussreich sind. Dem Schreiben war eine „[e]ffigies“ beigefügt. Cra- nach habe ihn, so ließ Luther wissen, um eine Unterschrift für dieses Bild gebeten. Der Augus- tinereremit aber wollte diese nicht selbst liefern; stattdessen gab er die Aufgabe an Spalatin wei- ter. Sodann teilte Luther mit, dass eine „Antithe- sis figurata Christi & papę“ vorbereitet werde, von der er annahm, dass es ein gutes Buch für die Laien werde.28 Bei der „effigies“ dürfte es sich vermutlich um das Lutherporträt mit Doktorhut29 (ABB 10) gehandelt haben. Die Inschrift lautete schließlich: „LUCAE OPUS EFFIGIES HAEC EST MORITURA LUTHERI AETHERNAM MENTIS EXPRIMIT IPSE SUAE.“ („Das Werk des Lucas ist dieses Bild der sterblichen Gestalt Luthers, das ewige Bild seines Geistes prägt er selbst.“). Sie wird wohl von Spalatin stammen; inhaltlich liegt sie ganz auf der Linie der Bild unterschrift des Vorjahres. Im Spiegel dieses Briefes stellt sich die kommunikative Konstellation der Wittenberger Reformationsakteure so dar, dass Cranach Luther ABB 10 Lukas Cranach d. Ä ., Luther als Doktor, 1521, Kupferstich. 14
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ABB 11 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] Titelblatt (VD 16 L 5584, A 1r), Holzschnitt. über seine Bildprojekte informierte und ihn zur man gegenüber Martin Warnkes These einer Mitwirkung bei der Formulierung von Textstü- kursächsischen ‚Bildpolitik‘30 in Bezug auf cken zu gewinnen suchte. Doch Luthers Sache „Cranachs Luther“ zurückhaltend sein. Auch war das nicht; er gab die Arbeiten des Hofmalers Hinweise auf Zensurmaßnahmen des Hofes an den Sekretär des Kurfürsten weiter. Immerhin besitzen wir in Bezug auf die rasch expandie- zeigte Luther ein gewisses Interesse am Passional rende Druckproduktion Wittenbergs vorerst Christi und Antichristi; doch dass er selbst an nicht.31 Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass dessen Gestaltung beteiligt gewesen wäre, wird es eine politische Dimension besaß, dass Spala- man ausschließen können. Georg Spalatin, den tin von den geplanten ikonographischen Publi wichtigsten Verbindungsmann zum Hof, einzu- kationen wusste, ja in ihre Gestaltung einbezo- beziehen, war freilich für Cranach und Luther gen war. Dies betrifft auch das hoch brisante gleichermaßen selbstverständlich. Gewiss mag und überaus polemische Projekt des Passionals 16
ABB 12 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, A 2v – A 3r), Holzschnitte: Der leidende, gemarterte Christus und der Papst in herrscherlichem Pomp. Christi und Antichristi, von dem der kursäch dar. Die vielleicht im Anschluss an die ars mori- sische Sekretär Kenntnis besaß. Es erschien endi–Literatur oder in Anlehnung an hussitische zunächst in unfirmierten lateinischen und deut- Bilderkodizes ausgeformte antithetische Bild- schen Ausgaben, unter einem neutralen, den sprache33 konfrontierte Christus und den päpst Inhalt camouflierenden Titelblatt (ABB 11) und lichen Antichristen und trug entscheidend dazu war nicht ohne weiteres mit dem kursächsischen bei, dass die seit Luthers Schrift An den christ Universitätsstädtchen ‚am Rande der Zivilisation‘ lichen Adel deutscher Nation (August 1520) pro- in Verbindung zu bringen.32 pagierte Überzeugung, dass der Papst der Anti- Das Passional Christi und Antichristi stellt christ sei, in starken Bildern wirkungsreich ver- den frühesten, wichtigsten, originellsten und pub- breitet wurde.34 Insofern hatte das Passional lizistisch erfolgreichsten Beitrag Lukas Cranachs einen maßgeblichen Anteil an der apokalyp zum frühreformatorischen Flugschriftenboom tischen ‚Aufheizung‘ der frühreformatorischen 17
ABB 13 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, B 2v – B [3]r), Holzschnitte: Der wandernde Christus und der in einer Sänfte getragene Papst. Bewegung; die apokalyptische Intensivierung dem Kaiser abgeforderten hochmütigen Fußkuss ist für den Erfolg der frühen reformatorischen des Papstes oder den wandernden Gottessohn Bewegung kaum zu überschätzen. dem in einer Sänfte getragenen Widerchristen Auch in inhaltlicher Hinsicht bestehen zwi- entgegen (ABB 13). Insofern könnten Kernthemen schen der Adelsschrift – Luthers maßgeblichem der Cranachschen Holzschnittserie auf Luther- reformatorischen Reformprogramm mit grund sche Anregungen zurückgeführt werden. Das legender Bedeutung für die in sich vielfältigen bedeutet aber nicht, dass der Wittenberger Augus- Prozesse der Stadt-, Territorial- und Gemeinde tinermönch an der Ausgestaltung des Projekts reformation35 – und dem Passional engste Ver- selbst beteiligt war. Das Ergebnis aber schätzte bindungen.36 (ABB 12) Luther hatte hier den armen er („mire placet“37) – und zwar vornehmlich als Christus und den prunkenden Papst konfrontiert; propagandistisches Medium zur Beeinflussung er setzte die demütige Fußwaschung Christi dem der Laien.38 18
ABB 14 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, A 4r), Detail Bildunterschrift der Antichristseite mit Zitaten aus der Apokalypse des Johannes und dem kanonischen Recht. Ein erstes gedrucktes Exemplar wohl der deut- (ABB 14). Vermutlich wusste Luther um Melanch schen Ausgabe des Passionals erhielt Luther auf thons und Schwertfegers Zusammenarbeit aus der Wartburg. Einem an Melanchthon gerichteten der Zeit vor seinem Aufbruch zum Wormser Brief vom 26. Mai 1521 sind gewisse Hinweise Reichstag am 2. 4. 1521. auf die Entstehungsgeschichte zu entnehmen. Für den Entstehungs- und Herstellungspro- Der exilierte Augustinereremit, der Gefallen an zess des Passionals ergibt sich folgende Rekon dem Büchlein fand, vermutete, dass Melanchthon struktionshypothese: Wohl ausgehend von einer von dem Wittenberger Juristen Johannes Schwert- vermutlich über der Lektüre der Adelsschrift ge- feger unterstützt worden war.39 Wahrscheinlich reiften konzeptionellen Idee Melanchthons oder bezog sich dies auf die aus dem kanonischen Cranachs, der mit seriellen graphischen und buch- Recht geschöpften Unterschriften, die sich auf graphischen Projekten durch einen Passions-, der jeweiligen Bildseite des Antichristen befinden einen Märtyrerzyklus sowie das Wittenberger 19
ABB 15 Lukas Cranach, Antithesis figurata vitae Christi et Antichristi [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5589, A 1r), kolorierter Holzschnitt. 20
ABB 16 [Hans Weiditz?], Passional Christi und Antichristi [Straßburg, Johannes Prüss 1521] (VD 16 L 5583, D 2v – D 3r), Holzschnitte: Christus als guter Hirte und der Papst als böser, die armen Gläubigen reißender Wolf. und Hallenser Heiltumsbuch (1509/1520)40 bes- und des Wittenberger Druckers durchgeführt tens vertraut war, wurde mit Unterstützung Wit- wurde. Für sehr unwahrscheinlich aber halte ich tenberger Gelehrter – des humanistischen Philo- es, dass Grunenberg die erheblichen Kosten für logen und Theologen Philipp Melanchthon und die 26 Holzschnitte, die bei ca. 150 fl. gelegen des Juristen Johannes Schwertfeger41 – ein Satz haben dürften, alleine getragen hat. Die Gelehrten an Bilderpaaren entworfen. Angesichts der er- steuerten die entsprechenden Bildunterschriften heblichen Kosten für die Holzschnitte halte ich aus der Bibel und dem kanonischen Recht bei. es für das Wahrscheinlichste, dass Cranach die Den Unterschriften kam eine zentrale Er- wirtschaftliche Gesamtverantwortung trug, also schließungsfunktion zu. Die Texte brachten re- Grunenberg als Drucker eines von ihm finanzier- formatorische Kernüberzeugungen zum Aus- ten Werkes in Anspruch nahm oder die Druck druck. Dies wurde in der lateinischen Ausgabe, legung als gemeinsame Unternehmung Cranachs die m. E. vor der deutschen abgefasst, aber erst 21
nach zwei der insgesamt vier Grunenbergschen reißt, gegenüber (ABB 16). Auf dem Tisch der Druckvarianten gedruckt worden ist42, beson- Antichrist-Seite sieht man einen von Mönchen, ders deutlich, denn hier finden sich zwei Disti- Chorherren und Ritterordensangehörigen um- chen auf dem Titelblatt (ABB 15), für die es in ringten Bauern, der genötigt wird, Geld zu er- der deutschen Ausgabe keine Analogie gibt. In brechen. Die Geräte, die die Geistlichen in den ihnen fordert ein gewisser „Eusebius“ den Nutzer Händen haben (Knochen, Getreidegarben etc.), der Antithesis auf, das Büchlein zu lesen, d. h. unterstreichen ihr brutales, ausbeuterisches es sich von den textlichen Elementen her zu er- Treiben. Dieses Bildpaar steht für eine poli- schließen. Dieser Gebrauch soll von der Liebe tisch brisante, antiklerikale Fortschreibung zur „pietas“ bestimmt sein, sich also nicht in des Cranachschen Bildprogramms, wie sie vor vordergründigem Antipapalismus erschöpfen. allem in Oberdeutschland wirksam wurde. Überdies solle die Lektüre des „libellus“ durch Im Unterschied zu dem präzis auf den die der Heiligen Schrift („codice“) vervollstän- Inhalt bezogenen lateinischen Titel der Anti digt werden, um zu wahrer Gelehrsamkeit („doc- thesis figurata Christi & Pape spielte der Haupt- tus“) zu gelangen.43 Der Druck der lateinischen begriff der deutschen Version mit dem Leitbegriff Ausgabe des Passionals, die Antithesis, enthielt „Passional“ (ABB 11) auf eine recht verbreitete also eine hermeneutische Gebrauchsanweisung, literarische Gattung der Frömmigkeitsliteratur die die Bilder textlich einhegte und ihre ‚Macht‘ an, nämlich die mit diesem Wort bezeichneten durch die Zuordnung zur Heiligen Schrift be- poetischen oder prosaischen, oft illustrierten grenzte. Damit bildet die Antithesis das früheste Sammlungen von Heiligen- und Märtyrerlegen- Beispiel für einen dezidiert reformatorisch ge- den im Anschluss an die Legenda aurea des prägten, streng instrumentell auf die Auslegung Jakob von Voragine.46 Durch die erläuternden und Aneignung der biblischen Botschaft bezoge- Genitivobjekte „Christi“ und „Antichristi“ wurde nen Bildgebrauch – ein innovatives Modell text- die durch den Haupttitel evozierte Gattungs bildlicher Wirkungskoinzidenz im Buch. Wie erwartung sogleich konterkariert: Hier ging es 1519 schon der Currus / Wagen Karlstadts war nicht um die bunte Welt der legendarisch über das Passional das Ergebnis einer engen Koope- lieferten Heiligenviten, sondern um Christus ration Cranachs mit verschiedenen Wittenberger und seinen Antagonisten, den Papst, um Heil Akteuren – außer Luther.44 und Verdammnis – und zwar in der eigenen In den deutschen Ausgaben [Grunenbergs] Gegenwart, jetzt! fehlten entsprechende hermeneutische Hin- Die Szenen aus dem Leben Jesu und des weise zum Text- bzw. Bildbezug; hier nahm Papstes folgten keinem eindeutigen Schema; man also in Kauf, dass das Bild seine eigene dadurch freilich, dass die Himmelfahrt Christi Wirkung auf den ‚gemeinen Mann‘ entfalten und die Höllenfahrt des Papstes den Abschluss konnte. An der weiteren Rezeptionsgeschichte bildeten (ABB 17), war eine Art Zielpunkt gesetzt. des Passionals, insbesondere einer bei [Johan- Die Texte der Christus-Seite hatten durchaus eine nes Prüss]45 in [Straßburg] erschienenen Aus- affirmative imitatio des armen, demütigen, welt- gabe, kann man beobachten, dass sein Gehalt licher Herrschaft entsagenden Christus im Visier; sozialkritisch zugespitzt wurde. Ein von Prüss insofern verband das Passional polemische und neu hinzugefügtes Bilderpaar stellte den guten katechetisch-erbauliche Funktionen. Bild und Hirten Christus dem Papstwolf, der Schafe Text waren jeweils komplementär aufeinander 22
ABB 17 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, C [5]v – [6]r), Holzschnitte: Himmelfahrt Christi und Höllenfahrt des Papstes. bezogen, aber die Bilder konnten natürlich Bild angeführt waren, rücken die punktuelle durchaus auch zu Illiteraten ‚sprechen‘. Flucht Jesu in grundsätzlichere Dimensionen: Programmatisch wird der Text-Bildzusam- Sein Reich sei nicht von dieser Welt (Joh 18,36). menhang etwa in dem eröffnenden Bilderpaar Daraus aber folge, dass auch seinen Jüngern ein deutlich. (ABB 18) Bild Nr. 1 zeigt Jesus, der vor weltförmiges, herrschaftliches Verhalten versagt einer großen Menschenmenge flieht; sie trägt sei, ja eine gegenteilige Logik gelten solle: der ihm eine Krone an. Der Holzschnitt setzt exakt Größte und Vornehmste habe sich zu erniedrigen den im unteren Textfeld an erster Stelle gebote- und zu dienen (Lk 22,25f.). Der ganz aus Bibel nen Vers Joh 6,15 um: „Do Jhesus innen wardt, zitaten komponierte Text zielte darauf ab, den das sie kommen wurden und yhnen tzum konig lesenden Betrachter des Bildes zur Nachfolge zu machen, ist er abermals uffin bergk geflohen, er veranlassen; er wies deutlich über die dargestellte allein.“47 Die weiteren Bibelstellen, die unter dem biblische Szenerie, die auch ein Illiterat erfassen 23
ABB 18 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, A 1v – A 2r), Holzschnitte: Christus flieht vor der ihm angetragenen Herrschaft und der Papst als weltlicher Herrscher. konnte, hinaus und transponierte sie auf Grund- Rittern im Harnisch; das geöffnete Helmvisier fragen des christlichen Weltverhältnisses hin. des Reiters im Vordergrund und der Segens- oder Auch das Bild auf der Gegenseite hatte Grussgestus des Papstes verdeutlichen, dass auch einen programmatischen Charakter. Es zeigt die berittenen Krieger zu ihm gehören und für den Papst und weitere Vertreter des Hochklerus ihn im Einsatz sind. Das Bild zeigt den Papst (Bischöfe/Äbte; Kardinäle) mit Landsknechten, also inmitten militärischer Machtmittel (Festung; die aufgestellte Hellebarden tragen. Zusammen Waffen; Berittene und Fußsoldaten). Das erste mit zwei Kanonen hält man sich auf einer durch Zitat im Textfeld, das aus dem Dekretale Pasto das päpstliche Wappen gekennzeichneten Fes- ralis Papst Clemens’ V.48 stammt, unterstreicht tungsanlage auf, vielleicht der Engelsburg. Der den Anspruch des Pontifex’, ‚Erbe‘ des Kaiser- Torbogen ist mit einer starken Kette verschlos- tums zu sein. Eingeleitet mit der bilanzierenden sen. Vor dem Tor befindet sich eine Gruppe von Formel „Summa summarum“49 wird dann in 24
Form eines – freilich manipulierten – Zitates50 aus dem 2. Petrusbrief mit den Worten jenes Apostels, der allen Päpsten voranging, rekapi tuliert, was aus dem im kanonischen Recht kodi- fizierten Herrschaftsanspruch des Papsttums folgt, nämlich dass der Papst zum „abgot und Antichrist“51 geworden sei. Bereits vom ersten Paarbild des Passionals Christi und Antichristi an wird so die im Titel avisierte Grundthese exponiert, die im Kern der 1. Mauer aus Luthers Adelsschrift52 entspricht: Der Papst ist der Anti- christ, weil und insofern er sich weltliche Herr- schaft anmaßt, während Christus auf diese ver- zichtet hat. Diese Tendenz war cum grano salis für den Zyklus als ganzen bestimmend: Während sich Christus den Menschen zuwendet und un- ter ihnen bewegt, hält sich der Papst ‚einfache‘ Gläubige vom Leibe; er ist zur Verehrung ent- rückt oder bedient sich militärischer Macht mittel – wie Julius II., der „blutseuffer“53, der Papst in Rüstung (ABB 19). Im Griff des Papstes nach der weltlichen Herrschaft, die jedem zeit- genössischen Betrachter des Jahres 1520 mannig fach vor Augen stand, fand der antichristliche ABB 19 Lukas Cranach d. Ä ., Passional Christi und Antichristi, Charakter des Papsttums seinen aktuellsten Aus- [Wittenberg, Johannes Rhau-Grunenberg 1521] (VD 16 L 5584, druck. Insofern trug das Passional dazu bei, den C 1r), Holzschnitt: Der Papst im Harnisch symbolisiert den Zugriff auf weltliche Herrschaft. Antichristen zu entbergen und den an der Nach- folge Christi orientierten Widerstand gegen ihn zu stärken. III. Luther hatte dem Passional in Bezug auf Einem Brief, den Melanchthon am 2. März 1522, die Mobilisierung des ‚gemeinen Mannes‘ etwas wenige Tage vor Luthers Rückkehr von der Wart- abgewinnen können. In dieser Einschätzung burg, an Spalatin schrieb, kann man entnehmen, dürfte wohl auch der Grund dafür zu finden dass offenbar eine Fortsetzung der Zusammen sein, dass eine mit dieser Schrift vergleichbare arbeit zwischen Cranach und ihm geplant war. Bildersprache im Wittenberg Luthers nicht Melanchthon hatte Papstvatizinien kennenge- mehr zur Anwendung kam. Luther sah bereits lernt, die man Joachim von Fiore zugeschrieb; 1521/2, dass – nicht zuletzt aufgrund agitatori- wahrscheinlich war ihm ein Bologneser Druck schen Materials wie dem Passional –, Aufruhr von 151555 in die Hände gefallen. Es handelte drohte54, den er verhindern wollte. sich dabei um mit Illustrationen verbreitete pro- phetische Texte zum Niedergang der Papstherr- 25
erweitern. Die Verbindung von biblischem Text und joachimitischer Prophetie dürfte – ähnlich dem Skopus des Passionals – darauf abgezielt haben, die finale Offenbarung des päpstlichen Antichristen in der eigenen Gegenwart zu demonstrieren. In demselben Brief teilte Melanchthon außerdem mit, dass ‚unser Elia‘57 Manuskripte von der Wartburg gesendet habe und er die Druck legung der Weihnachtspostille und der Überset- zung der vier Evangelien vorantreibe. Zu diesem Zeitpunkt war demnach noch beabsichtigt, die von Luther angefertigte Übersetzung des Neuen Testaments, entsprechend der im Frühsommer 1521 bereits von dessen Ordensbruder Johannes Lang begonnenen Praxis58, in Einzellieferungen zu publizieren; eine dieser Lieferungen sollte die Johannesoffenbarung sein.59 Die theologisch wegweisende Entscheidung, Luthers Übersetzung des Neuen Testaments als buchliche Einheit zu publizieren, fiel erst in der Zeit nach dessen Rückkehr von der Wartburg. Im Folgenden soll die These plausibel ge- ABB 20 [Ps.-] Joachim von Fiore, Vaticinia circa Apostolicos viros et ecclesiam Romanam, Bologna, Hieronymus Benedictus macht werden, dass Lukas Cranachs erstmals im 1515, B 1r: Ein Papst, ursprünglich Nikolaus III., füttert Bären – sogenannten Septembertestament gedruckte Serie eine Anspielung auf Nepotismus; die Sterne bedeuten aus den von großformatigen Illustrationen zur Johannes- Nepoten hervorgehende Kardinäle. offenbarung eine Sekundärverwertung des im Laufe des Frühjahrs 1522 aufgegebenen Plans einer illustrierten Publikation der deutschen schaft (ABB 20). Die historische Aussagekraft die- Übersetzung der Johannesapokalypse darstellte. ser Prophetien galt für den Wittenberger Profes- Die Argumente sind folgende: sor als erwiesen. Die Bild-Textproportionen des 1. Das Format der Holzschnitte60 war in Bezug Bologneser Drucks erinnern an das Passional auf den Druck des Neuen Testaments61 disfunk Christi und Antichristi. Melanchthon wollte die- tional, da es an vielen Stellen dazu führte, dass ses Büchlein einer von Lukas Cranach geplanten größere Teile einer Seite unbedruckt blieben illustrierten Ausgabe der deutschen Übersetzung (ABB 21); auch die satztypographische Zuordnung der Johannesoffenbarung anfügen.56 Dieses Pro- von Text und Bild war an mehreren Stellen prob- jekt einer illustrierten deutschen Apokalypse- lematisch. Ausgabe bestand zu diesem Zeitpunkt bereits. 2. Durch ihre Illustrationen erhielt die Johannes- Melanchthon wollte dieses Vorhaben um die offenbarung im Septembertestament eine Promi- apokalyptisch ausgerichteten Papstvatizinien nenz, die ihr nach Luthers kanonstheologischen 26
ABB 21 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, bb 1v/2r), Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.). Überlegungen gerade nicht zukommen sollte. Von Luthers theologischer Beurteilung der Apk Denn der Wittenberger Bibelübersetzer hatte die her liegt nichts ferner, als ihr durch großforma- Apokalypse zusammen mit dem Hebräer-, dem tige Illustrationen eine besondere Aufmerksam- Jakobus- und dem Judasbrief aus dem Kreis der keit zu verschaffen. durchnummerierten neutestamentlichen Schrif- 3. Die Cranachsche Holzschnittserie, deren z. T. ten herausgenommen (ABB 22) und auf einen quasi enger Anschluss an Albrecht Dürers 1498 in je deuterokanonischen Rang herabgestuft. Sodann einer lateinischen und einer deutschen und 1511 hatte er in der Vorrede zur Johannesoffenbarung noch einmal mit lateinischer Übersetzung er- festgestellt, dass durch die in diesem Buch ent- schienenen Apokalypse64 unübersehbar ist, hat haltenen „gesichte“62 Christus „widder geleret einen wesentlichen Skopus darin, die widergött- noch erkandt“63 werde, sie also an dem eigent lichen Mächte, die in den Visionen des Sehers lichen Skopus des ‚Evangeliums‘ vorbeigingen. Johannes eine wichtige Rolle spielen, mit dem 27
ABB 22 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, ABB 23 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, 4r), Inhaltsverzeichnis. [M. Lotter d. J. 1522] (Septembertestament) (VD 16 B 4318, cc 1v), Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.). Papsttum bzw. der römischen Kirche zu identifi- fügt hatte. Luther hatte keinerlei Interesse daran, zieren. Dieser Fokus nimmt die Perspektive des bisherige Anhänger der Papstkirche vom Kauf Passionals Christi und Antichristi auf; sie sollte ‚seines‘ Neuen Testament abzuhalten. Innerhalb auch durch die von Melanchthon erwogene Ver- des Septembertestaments erwies sich die Holz- bindung mit den Papstvatizinien fortgesetzt wer- schnittserie zur Apokalypse denn auch durchaus den. Diese Aktualisierung der Endzeitereignisse als Fremdkörper; dies führte bekanntlich dazu, in Bezug auf die eigene Gegenwart entsprach der dass deren antipapistische Tendenzen im soge- apokalyptischen ‚Aufheizung‘ der frühreforma- nannten Dezembertestament reduziert wurden torischen Bewegung.65 Sie stand aber in Span- (ABB 23, 24). Diese entschärfenden Korrekturen nung zu den auf Polemik und jeden Zeitbezug gingen gewiss auf den an seinem Gewinn interes- verzichtenden Paratexten, die der anonym blei- sierten Drucker Lotter zurück, der damit auf ein bende Luther ‚seinem‘ Neuen Testament beige- Mandat Herzog Georgs vom 7.11.1522 reagiert 28
ABB 24 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, ABB 25 Biblia, Wittenberg, Hans Lufft 1534, Bd. 2 (VD 16 B 2694, [M. Lotter d. J. 1522] (Dezembertestament) (VD 16 B 4319, fol. CXCIr), Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.); fol. LXXXIIv), Holzschnitt: Die beiden Zeugen (Apk 11,1ff.). kolorierter Holzschnitt (Weimarer Exemplar). haben könnte.66 Die Lotter verwendeten in den sie sich die günstigsten Absatzmöglichkeiten Folioausgaben ihrer späteren Wittenberger Dru- erwarteten. cke die Holzschnitte der Cranachwerkstatt in 4. Die Publikation von Dürers textlich auf der der entschärften Form des Dezembertestaments Kobergerbibel basierender deutscher Apoka weiter; in den Lufftschen Bibelausgaben (ABB 25) lypse lag im Jahre 1522 bereits mehr als zwei kehrte der Drache mit Tiara übrigens in einen Jahrzehnte zurück. Deshalb konnte es Cranach nun maßvoll, aber pointiert erneut mit Bildern als attraktives Publikationsprojekt erscheinen, versehenen Tempel- bzw. Kirchenraum zurück. eine Art Nachfolgeprodukt auf den Markt zu M. E. muss man sehr ernsthaft damit rechnen, bringen. Wäre der geplante Einzeldruck der il- dass die jeweiligen Drucker unabhängig von den lustrierten Apokalypse zustande gekommen, Künstlern und Autoren als eigenständige Akteure hätte er sich gegenüber der Dürerschen Vorlage wirkten und Bildlösungen verfolgten, von denen durch drei innovative Merkmale ausgezeichnet: 29
ABB 26 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511 ABB 27 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, (VD 16 B 5248, Bildnr. 11), [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, bb1v), Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.). Holzschnitt: Das sechste Siegel (Apk 6,12ff.). a) eine sprachlich zugänglichere, gefälligere, Überlieferung oder der künsterlischen Phantasie Erasmus’ Ausgabe des griechischen NT nut- entsprangen. Für jeden dieser Aspekte sei je- zende, insofern gesteigerten philologischen weils ein Beispiel angeführt. Zunächst zur Nähe Ansprüchen des Humanismus entsprechende Cranachs zum biblischen Text: In der Darstel- deutsche Übersetzung; b) eine Aktualisierung lung der in Apk 8 und 9 geschilderten Schre- des biblischen Textes in Bezug auf die Gegen- ckensereignisse folgt die Darstellung im Sep wart; die Ausgabe hätte auch als reformatori- tembertestament der Dürerschen (ABB 26, 27). sches Kampfmittel fungiert, das den heiligen Doch während Dürer alle Holzschnitte seiner Text applizierte und operationalisierte; c) eine Serie mit seinem Monogramm kennzeichnete, Konzentration der bildlichen Darstellungen auf unterblieb dies im Septembertestament. Viel- das im Bibeltext Enthaltene unter Verzicht auf leicht war das eine Folge der Integration in das Elemente und Motive, die der legendarischen Gesamtwerk der Bibeldrucks, aber wohl auch 30
ABB 28 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511 ABB 29 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, (VD 16 B 5248, Bildnr. 25), [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, cc4r), Holzschnitt: Die beiden Tiere (Apk 13,1ff.). Holzschnitt: Die beiden Tiere (Apk 13,1ff.). der in einigen Bildern enthaltenen vitalen das „WeWeWe“ (Apk 8,13) mit der Vulgata in antipäpstlichen Polemik und der Anonymität der Mitte des Bildes von einem Adler rufen lässt, des Druckes geschuldet. Die Abbildung im folgte die Cranachwerkstatt Luther, der hier eine Septembertestament lässt den Fall des wie eine Textversion des Erasmus67 aufnahm. Als Bei- Fackel brennenden Sternes mit Namen Wermut spiel einer polemisch-aktualisierenden Fort- (Apk 8,10f.) unerwähnt, während sie die Meeres- schreibung der Dürerschen Vorlage kann die szenerie näher an den Betrachter herangerückt Illustration zu Apk 13 gelten. (ABB 28, 29). Im ist. Die Verfinsterung der Sonne und des Mon- Septembertestament ist das zweite Tier nicht, des (Apk 8,12) werden in der Wittenberger Dar- wie bei Dürer, als Löwe, sondern gemäß dem stellung konsequenter ins Werk gesetzt. Auch Text (Apk 13,11) als Lamm dargestellt. Dass in der wichtigste Unterschied ist der größeren Cranachs Werkstatt dem siebenköpfigen Tier Nähe zum Text geschuldet: Während Dürer Flügel hinzugefügt wurden, dürfte ebenfalls 31
ABB 30 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511 (VD 16 B 5248, Bildnr. 3), Holzschnitt: Das Martyrium des Sehers Johannes. dem Bibeltext (Apk 13,2), der von einem Drachen Antichristen hin aktualisiert. Ob man die im spricht, geschuldet sein. Indem das lammartige zeitgenössischen Gelehrtenhabit präsentierten Tier in eine Mönchskutte gekleidet wurde, diente Zeugen mit konkreten Personen identifizieren die Darstellung der polemischen Positionierung kann, ist ungewiss. Klar ist es aber, dass dieses im Sinne von Frontstellungen, die nach Luthers Motiv der Dürerschen Serie hinzugefügt wurde, auf der Wartburg abgefasster Schrift De votis weil es Möglichkeiten bot, die Johannesoffen monasticis sehr aktuell waren. Ähnliches gilt für barung stärker mit der Gegenwart zu verschrän- den – übrigens völlig bildlosen – Tempelraum ken. Für den Verzicht auf Legendarisches, das (ABB 23) mit den beiden Zeugen (Apk 11,1ff.), die über den biblischen Text hinausgeht – mein drit- schließlich vom Tier aus dem Abgrund getötet ter Aspekt – mag Cranachs Umgang mit dem werden. Durch die Tiara wurde das Bild auf den fulminanten Eröffnungsblatt des Dürerschen Kampf der Wittenberger gegen den päpstlichen Apokalypsezyklus (ABB 30) stehen. Es setzt die 32
ABB 31 Albrecht Dürer, Apocalypsis cum figuris, 1511 ABB 32 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, (VD 16 B 5248, Bildnr. 9), [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, aa5v), Holzschnitt: Die vier apokalyptischen Reiter (Apk 6,1ff). Holzschnitt: Die vier apokalyptischen Reiter (Apk 6,1ff). Märtyrerlegende des Johannes, wie sie in einem breiteten Behauptung, dass Lukas Cranach und bei Koberger erschienenen Passional (1488)68 der Wittenberger Goldschmied Christian Döring bzw. in der Legenda aurea enthalten war, ins als Verleger des Septembertestaments fungierten, Bild. Cranach aber verzichtete auf dieses Motiv ist m. E. Zurückhaltung angebracht.70 Denn einen ersatzlos. eindeutigen Quellenbeleg dafür gibt es nicht. Und 5. Der Drucker des Septembertestaments war folgende Überlegung spricht dagegen: Warum bekanntlich Melchior Lotter d. J., dessen gleich- sollte ein erfahrener, prosperierender und profit- namiger Vater die in Leipzig ansässige größte orientierter Drucker wie Lotter, der freilich in und erfolgreichste Druckerei Mitteldeutschlands den Räumlichkeiten Cranachs arbeitete71, seinen betrieb.69 Ende des Jahres 1519 hatte er eine Wit- Gewinn minimieren, indem er andere daran be- tenberger Filiale eröffnet, die sein gleichnamiger teiligte? Dass Lotter die Illustrationen zur Apk Sohn leitete. Gegenüber der in der Literatur ver- verwendete, muss man nicht als Indiz für eine 33
ABB 33 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, ABB 34 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, cc1v), [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, dd3r), Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara. Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara. ‚verlegerische‘ Beteiligung Cranachs werten. Dies Konkurrenten, der überdies immer stärker auf scheint mir problemlos als Idee des Druckers vor- andere Künstler auswich, los werden wollten. stellbar, der das bereits vorliegende und wegen 6. Von kunsthistorischer Seite ist wahrschein- der Aufgabe eines Plans des illustrierten Einzel- lich gemacht worden, dass nur neun der 21 Holz- drucks der Apk überflüssig gewordene Bildmate- schnitte der Apokalypseserie dem Meister selbst rial Cranachs um einige weniger qualitätvolle zuzuschreiben sind.72 Da sich vornehmlich unter Holzschnitte erweitern ließ. Die späteren Kon- diesen ‚echten‘ Cranachschen Holzschnitten flikte, die schließlich zum Ende der für die früh- aktualisierende Bezugnahmen auf die Papstkir- reformatorische Publizistik entscheidenden Lot- che finden (ABB 33– 36), liegt es nahe, in ihnen den terschen Offizin in Wittenberg führten, hatten Kern des ursprünglichen Publikationsprojekts im Kern damit zu tun, dass Cranach und Döring zu sehen. Dass Cranach oder Lotter die Serie einen überaus gut verdienenden, unangenehmen später durch z. T. eher laienhaftere Hände voll- 34
ABB 35 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, ABB 36 Das Newe Testament Deutzsch, Wittenberg, [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, ee1r), [M. Lotter d. J. 1522] (VD 16 B 4318, ee2v), Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara. Holzschnitt: Bilder des Antichrists mit päpstlicher Tiara. enden ließen – man vergleiche etwa Dürers von der Hure Babylon und dem Tier aus dem und die Wittenberger apokalyptischen Reiter Abgrund, die zwischen dem September- und (ABB 31, 32) – könnte darauf hindeuten, dass dem Dezembertestament vorgenommen wurde – das Interesse des Künstlers an dem Vorhaben ist leichter zu erkären, wenn die Holzschnitte zurückging bzw. damit zusammenzuhängen, der Apokalypseserie bereits 1522 in Lotters dass die Gesamtverantwortung für den Druck Besitz übergegangen waren. des Septembertestaments bei dem Drucker Mel- Aus den genannten Beobachtungen folgt, chior Lotter lag. Die Firma Lotter verwendete dass auch die Illustrationen zur Johannesoffen- diese Holzschnitte noch längere Zeit, nachdem barung im Septembertestament nicht als Beispiel es zum Bruch mit Cranach gekommen war. Auch für eine sich wechselseitig befruchtende Koope- die Veränderungen an einigen Holzschnitten – ration zwischen Lukas Cranach und Martin insbes. die Entfernung der päpstlichen Tiara Luther in Betracht zu ziehen sind. 35
ABB 37 Lukas Cranach d. Ä ., Holzschnitt Luther als ABB 38 Lukas Cranach d. Ä ., Holzschnitt Luther als „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ A. „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ B. IV. Als weiteres, weithin bekanntes Beispiel Cra gelten, die sich gegenüber den anderen durch nachscher Druckgraphik aus der Frühzeit der eine substantielle Erweiterung des Textbestandes Reformation gilt der berühmte Holzschnitt des kennzeichnen lässt. Typus C begegnet in mindes- „Junkers Jörg“, der – soweit ich sehe – bisher tens zwei typographischen Varianten (ABB 39, 41); einhellig in die Jahre 1521 oder 1522 datiert Typus B fügte gegenüber A eine Überschrift wird.73 Allerdings gibt dieses Bild mehr Rätsel hinzu, die das Porträt des bärtigen Luther ins auf, als in der einschlägigen Literatur erörtert Jahr 1522 datierte. Typus C setzte gegenüber B oder gar geklärt wurden. Der Holzschnitt wurde drei Chronogramme hinzu, Typus D erweiterte für Einzelblattdrucke in vier Typen (ABB 37– 40) lediglich um ein Impressum.74 Gewisse Abnut- und mindestens fünf Varianten verwendet (ABB 41); zungsspuren an der rechten Schulter „Junker sie unterscheiden sich durch die Über- und Unter- Jörgs“ bei einigen Abzügen der Holzschnitte schriften. Als ‚Typus‘ mag jeweils eine Fassung mit den umfänglichsten Textbeigaben (ABB 39)75 36
ABB 39 Lukas Cranach d. Ä ., Holzschnitt Luther als ABB 40 Lukas Cranach d. Ä ., Holzschnitt Luther als „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ C. „Junker Jörg“, Ausfertigung Typ D. sprechen prima facie für eine relativ spätere den Quellen nicht eindeutig entnehmen.77 Einen Ansetzung dieses Typs. Hinweis darauf, dass ein von Cranach hergestell- Bisher wird der Holzschnitt des „Junkers tes Ölbild oder der Holzschnitt des „Junkers Jörg“ Jörg“ ebenso wie die beiden berühmtesten der vor 1537 existiert hat, gibt es nicht.78 sieben bekannten Ölfassungen, nämlich das Leip Was lässt sich über den Zeitpunkt sagen, ziger und das Weimarer Exemplar, einhellig auf zu dem Bilder des „Junkers Jörg“ – sei es als 1521/2 datiert.76 Dies hat gewiss auch damit zu Gemälde, sei es als Holzschnitt – in eine ‚Öffent- tun, dass man chronistische Überlieferungen so lichkeit‘ jenseits des Cranachschen Ateliers ge- verstanden hat, dass Cranach von dem von der langten? Im Unterschied zu den breit79, etwa Wartburg in Wittenberg eintreffenden Augustiner von Künstlern wie Erhard Schön, Baldung Grien, eremiten in ritterlicher Erscheinung eine Porträt- Hieronymus und Daniel Hopfer u. a. aufgenom- skizze angefertigt hatte. Allerdings kann man dies menen frühen Cranachschen Kupferstichen des 37
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