Mehr Realismus in der Steuerpolitik - Der Chefökonom - 23. Juli 2021 - Handelsblatt

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Der Chefökonom – 23. Juli 2021

Mehr Realismus in der Steuerpolitik
Der nächsten Bundesregierung fehlt das Geld für eine spürbare Entlastung der
Bürger. Allerdings sollten die Unternehmen profitieren.
von Professor Bert Rürup

Wie vor jeder Bundestagswahl wird in Deutschland über Steuerpolitik gestritten - und dieses Mal
nicht nur zwischen den politischen Lagern, sondern sogar innerhalb der Union. Die Parteien des
bürgerlich-konservativen Lagers versuchen mit dem Versprechen zu punkten, möglichst alle Bürger
steuerlich zu entlasten - und setzen dabei auf die Selbstfinanzierungseffekte von Steuersenkungen.

Die Parteien links der Mitte wollen ihrer Klientel glaubhaft machen, dass die anstehenden Aufgaben
allein dadurch finanziert werden können, dass einige wenige gut verdienende Bürger zusätzliche
Reichen- oder Vermögensteuern zahlen müssen. Durch die Brille des Ökonomen betrachtet sind
Steuern auf das Erwerbseinkommen zunächst einmal schädlich, denn sie treiben einen Keil
zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Und je höher der Steuersatz, desto breiter wird
dieser Keil.

Im Extremfall, also bei einem Steuersatz von 100 Prozent, wird niemand mehr bereit sein zu
arbeiten, weil die damit verbundenen Mühen das Nettoeinkommen nicht erhöhen. Der US-Ökonom
Arthur B. Laffer leitete 1974 daraus ab, dass die Steuereinnahmen mit steigendem Steuersatz
zunächst anwachsen, um nach dem Erreichen eines Maximums zu sinken. Der Verlauf der Funktion
ähnele einem auf dem Kopf stehenden "U".

Somit gäbe es einen Punkt, ab dem höhere Steuersätze zu einem geringeren Aufkommen führten. Ist
dieser Punkt überschritten, führten niedrigere Steuersätze zu einem steigenden Aufkommen. Damit
war die Legende der sich selbst finanzierenden Steuerreform geboren.

Niemand kennt den Wendepunkt

Das Problem dabei: Niemand kennt diesen Wendepunkt oder kann ihn berechnen. So kam es, dass
US-Präsident Ronald Reagan, der ein großer Anhänger von Laffers Idee war, mit seinem
"Economic Recovery Tax Act" den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 70 Prozent mehr
als halbierte. Da das Steueraufkommen jedoch entgegen seinen Erwartungen nicht stieg, sondern
einbrach, hinterließ er seinem Nachfolger ein gigantisches Haushaltsdefizit.
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Diese Erfahrungen ändern nichts daran, dass heute die Befürworter von Steuersenkungen ähnlich
argumentieren: Geringere Steuersätze erhöhten das Wirtschaftswachstum, da diese niedrigeren
Steuersätze das Arbeits- oder Kapitalangebot steigen ließen. Die dadurch erhöhte
Wirtschaftsleistung führe wiederum zu höheren Steuer- und Beitragseinnahmen des Staates.

An dieser Argumentation ist zunächst wenig auszusetzen. Allerdings ist sie unvollständig. Denn sie
lässt die Frage unbeantwortet, ob die erzeugten Wachstumseffekte groß genug sind, damit der Staat
am Ende mindestens gleich hohe Steuereinnahmen wie zuvor erzielt.

Tatsächlich ist dies regelmäßig nicht der Fall, wie folgende Überschlagsrechnung verdeutlicht: Die
Steuerquote beträgt in Deutschland rund 23 Prozent. Ein um eine Milliarde Euro höheres
Bruttoinlandsprodukt führt also zu 230 Millionen Euro höheren Steuereinnahmen.

Rechnung geht für den Fiskus nicht auf

Nun stimulieren Steuersenkungen isoliert betrachtet zweifellos das Wachstum und erhöhen für sich
genommen das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Doch damit die Rechnung für den Fiskus aufgeht,
müsste für jede Milliarde Euro an steuerlicher Entlastung die Wirtschaftsleistung um etwa vier
Milliarden Euro steigen - was höchst unrealistisch ist.

Selbst wenn man bedenkt, dass eine höhere Wirtschaftsleistung auch mit höheren Sozialabgaben
einhergeht, geht die Rechnung nicht auf. Denn andererseits kommt hinzu, dass der Staat mit seinen
Einnahmen zumeist selbst zur Steigerung der Wirtschaftsleistung beiträgt, in dem er investiert oder
mehr Personal einstellt. Die eingenommenen Steuern sind gesamtwirtschaftlich also keineswegs
verloren, was den Selbstfinanzierungseffekt von Entlastungen verringert.

Schuldenfinanzierte Steuersenkungen mögen daher politisch attraktiv sein, kollidieren aber mit der
geltenden Schuldenbremse und können zudem ökonomisch wirkungslos sein, wenn heutige
Schulden als künftige Steuern wahrgenommen werden. Das Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW) hat die Einkommensteuerpläne der Parteien unter die Lupe
genommen, freilich ohne Verhaltensänderungen zu berücksichtigen, da diese niemand kennt. Die
FDP-Pläne kämen vor allem Gutverdienern zugute und würden die öffentlichen Hände 88
Milliarden Euro kosten.

Die Wirtschaftsleistung müsste also um rund 380 Milliarden Euro steigen, damit sich entsprechend
der Faustformel diese Reform selbst finanziert. Dazu wäre ein zusätzlicher Wachstumsschub von
etwa zehn bis zwölf Prozent erforderlich. Die Pläne der CDU/CSU sind weniger weitreichend als
die der FDP, weisen aber in dieselbe Richtung. Damit die angestrebte Entlastung von 33 Milliarden

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sich selbst finanziert, müsste das BIP als Folge dieser Steuerreform um reichlich vier Prozent
steigen. Selbst das ist unrealistisch.

Steuersenkungen kosten den Staat also stets Geld - Geld, über das die öffentlichen Hände nicht
zuletzt als Folge der Corona-Pandemie nicht verfügen. Dies muss wohl auch CDU-Chef und
Kanzlerkandidat Armin Laschet erkannt haben, als er die im Wahlprogramm der Union gemachten
Versprechen kurzerhand mit einem Finanzierungsvorbehalt versah.

Das rief die CSU auf den Plan. Parteichef Markus Söder betonte, "Steuerentlastungen sind die
Grundphilosophie der Union - das ist der Unterschied zur politischen Linken", verkündete er. Wie
sich diese Steuersenkungen finanzieren lassen, verriet er hingegen nicht.

Nun ist es zu begrüßen, dass in Deutschland über Steuerpolitik diskutiert wird. Allerdings wäre
mehr Ehrlichkeit in der Debatte wünschenswert: Die erste Wahrheit lautet, keine Steuersenkung
finanziert sich selbst, und die zweite Wahrheit lautet, für echte Entlastung fehlt das Geld.

Das bedeutet freilich nicht, dass die kommende Regierung steuerpolitisch untätig bleiben sollte.
Denn die dritte Wahrheit lautet, dass die Wachstums- und damit die Selbstfinanzierungseffekte von
Unternehmensteuersenkungen deutlich höher sind, als jene von Mehrwertsteuersenkungen oder von
Entlastungen für Gutverdiener.

Deutschland steht im internationalen Wettbewerb um mobiles Kapital, also um private
Investitionen. Und in kaum einem anderen Industrieland werden Gewinne von
Kapitalgesellschaften derzeit ähnlich hoch belastet, wie in Deutschland. Weil nun einmal die Nach-
Steuer-Rendite eine entscheidende Größe für Investitionen ist, machen Investoren immer öfter einen
Bogen um Deutschland. Daher wäre eine Unternehmensteuerreform mit niedrigeren Sätzen und
günstigeren Abschreibungsregeln geboten.

Würde diese durch eine gesamtwirtschaftlich weniger schädliche moderate Erhöhung des
Regelsatzes der Mehrwertsteuer gegenfinanziert, könnte Deutschland auf einen höheren
Wachstumspfad gelangen, ohne dass die öffentlichen Haushalte überstrapaziert würden oder andere
wichtige Ausgaben gekürzt werden müssten.

Abschied von Wahlkampfversprechen

Sicher, solch ein Reformplan, bei dem es nun einmal nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer
gibt, ist wenig wahlkampftauglich. Doch spätestens bei den Koalitionsverhandlungen wird für alle
nach Regierungsverantwortung strebenden Parteien die Zeit kommen, sich von vielen ihrer
Wahlkampfversprechen zu verabschieden.

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Auf Laffers unrealistische Ideen zu vertrauen würde es Deutschland vollends unmöglich machen,
die anstehenden fiskalischen Herausforderungen wie die Dekarbonisierung und die Alterung der
Gesellschaft zu bewältigen. Ab dem 27. September ist Realismus gefragt.

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