Migranten auf Gran Canaria Geduldet, angefeindet oder als Gäste empfangen - SWR
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Bei SWR2 Glauben Migranten auf Gran Canaria Geduldet, angefeindet oder als Gäste empfangen Von Michael Marek und Sven Weniger Sendung: 26.09.2021, 12.05 Uhr Redaktion: Susanne Babila Produktion: SWR 2021 Allein im vergangenen Jahr hat die kanarische Seenotrettung rund 24.000 Migrantinnen und Migranten aus Westafrika aus dem Atlantik geholt. Das hat auf der Insel zu großen Konflikten geführt. Besonders während der Covid-19-Pandemie, in der zehntausende Einheimische ihre Arbeit verloren haben und Touristenhotels leer stehen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung. Aber es gibt auch Hotelbetreiber, die die Menschen in christlicher Nächstenliebe aufgenommen haben. Ein Feature von Sven Weniger und Michael Marek SWR2 Glauben können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/swr2/programm/podcast-swr2-glauben-100.html Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
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Manuskript: O-Ton 1: Musikakzent Spanisch O-Ton 2: Unn Tove Lucock "I would say ..." VO 2.1: Ich würde sagen: Öffnet die Tür, habt keine Angst und bezieht jeden Menschen ein, der in euer Leben treten will! O-Ton 3: Demonstrant "El turismo es incompatible con la inmigración." VO 3.1: Tourismus und Migration sind inkompatibel. O-Ton 4: Michael Wüstenberg "Das ist einer der Grundpfeiler der katholischen Soziallehre: Solidarität miteinander – weltweit. Wir brauchen Experten in Sachen Menschlichkeit!" Ansager: Flüchtlingskrise und kein Ende. Wie sich Menschen auf Gran Canaria um Migranten kümmern. Feature von Michael Marek und Sven Weniger. O-Ton 1: Fortsetzung Musikakzent Spanisch O-Ton 5: Sulaiman Jallah "I never knew a place named even called Gran Canaria until I be here." VO 1.1: Bevor ich dort ankam, hatte ich noch nie von einem Ort gehört, der Gran Canaria heißt. O-Ton 6: Atmo Meeresrauschen Sprecher: Sulaiman Jallah [sprich: Suläiman Dschalla] spricht den Satz gedehnt aus, Wort für Wort, so als könne er es selbst immer noch kaum fassen. Von Gran Canaria, einer der Lieblingsferieninseln der Deutschen, hatte Sulaiman noch nie etwas gehört. Bis er hier in einer Februarnacht dieses Jahres landete. Angelandet wurde, sollte man besser sagen, auf einem der feuerroten, bulligen Kreuzer des Salvamento Marítimo, der kanarischen Seenotrettung.
4 O-Ton 7: Atmo Seenotrettung Sprecher: Die hatte ihn und gut dreißig Mitreisende Stunden zuvor 200 Seemeilen entfernt draußen aus dem Atlantik "gefischt". Von einem der Hunderte klapprigen Holzboote und Zodiacs, die seit Jahren zu den kanarischen Inseln aufbrechen - in einem nicht enden wollenden Exodus aus Westafrika: O-Ton 8: Sulaiman Jallah "The first time … but no one speaks French." VO 1.2: Als ich das Boot bestieg, sagten sie mir, wir würden nach Spanien fahren. Ich hatte keine Idee, wie Spanien aussehen würde. Also dachte ich, in ein, zwei Stunden wären wir dort. Dann sprang ich ins Boot. Nach ein, zwei Stunden verlor ich die Nerven, da ich noch nie vorher auf einem Boot gewesen war. Ich fragte die anderen, warum wir noch nicht angekommen seien. Da begannen die zu lachen und in ihrer Sprache zu reden, die ich natürlich nicht verstand. Ich fühlte mich total blöd, weil ich nicht wusste, was sie sagten. Die einzige Sprache, die ich etwas besser sprechen und verstehen kann, ist Französisch. Aber niemand auf dem Boot sprach Französisch. O-Ton 9: Musikakzent afrikanisch Sprecher: Sulaiman Jallah aus dem Senegal sitzt uns gegenüber: spindeldürr und fast zwei Meter groß. Der 32-Jährige war vom arabischen Nachbarland Mauretanien aufgebrochen nach Europa, dem Ort der Hoffnung für Millionen Afrikaner. Ein Trip von gut 1.000 Kilometern, der im besten Fall eine Woche dauert – oder tragisch im Meer endet. O-Ton 10: Sulaiman Jallah "So I was afraid … we are in Gran Canaria!" VO 1.3: Ich hatte Angst, wenn ich etwas Dummes sage, dass sie mich dann vielleicht ins Wasser werfen würden. Und das wäre das Ende meines Lebens. Also hielt ich die Klappe und gab auf, da ich niemals vorher in so einer Lage gewesen war. Nirgendwo konnte ich Land sehen, nur Wasser. Also blieb ich einfach im Boot liegen. Nach vier, fünf Tagen stieß mich ein Typ an: 4
5 Sulaiman, Sulaiman, wir sind da! Ich fragte: Sind wir in Spanien? Nein, nicht Spanien, wir sind auf Gran Canaria! O-Ton 10: Atmo Straße + Vögel Sprecher: Sulaiman Jallah hatte Glück. Er blieb nicht lange im Auffanglager von Arguineguín [sprich: Arginegin], einem Fischerort im Südwesten der Insel, der in der Presse schnell den Ruf eines kanarischen Lampedusa bekam. Bis zu 1.300 Flüchtlinge waren dort auf der Hafenmole wochenlang in Zelten untergebracht - einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld. O-Ton 11: Atmo Hotel Holiday Club Puerto Calma Sprecher: Unhaltbare Zustände, sagt der emeritierte katholische Bischof Michael Wüstenberg, die nichts mit christlicher Nächstenliebe gemein haben. Der 67-Jährige weiß aus erster Hand, wovon er redet. Wüstenberg arbeitete 25 Jahre als Theologe und Seelsorger in Südafrika. Sollten sich die Kirchen finanziell und personell in der Flüchtlingshilfe engagieren? O-Ton 12: Michael Wüstenberg "Vielleicht eine Frage da vorweg: Wer ist denn das eigentlich: die Kirche? Also, viele identifizieren ja Kirche mit den Bischöfen oder den Priestern oder dann auch den Papst. Aber es sind ja eigentlich alle gefragt. Und ich denke, dass das eine positive Motivation auch ausüben kann, wenn Kirchen da was tun, also als verfasste Institution, und damit auch anderen womöglich eine Anregung geben: Ihr könnt ihr euch auch beteiligen, privat und Spenden, ihr bekommt sogar eine Spendenbescheinigung dafür in unserem Steuersystem, dass man das so macht, weil das eine Kernaufgabe der Kirche ist, wo wir manchmal vielleicht nur symbolisch, aber wenn alle das tun, auch ganz effektiv handeln können, nämlich uns einsetzen für die Würde der Menschen, für Menschen in Not. Und da dann auch schauen wie kann das weitergehen mit dem Gemeinwohl, mit dem, dass die Güter der Welt für alle bestimmt sind." O-Ton 10: Fortsetzung Atmo Straße + Vögel Sprecher: Sulaiman Jallah wurde auch nicht in eines der Massencamps für illegale Immigranten in die Hauptstadt Las Palmas geschafft. Stattdessen kam er nur wenige Kilometer entfernt in Puerto Rico unter, in einem verwaisten Touristenhotel des beliebten Urlaubsortes - bei Unn Tove Lucock [sprich: 5
6 Ünn Towe Lukok]: O-Ton 13: Unn Tove Lucock "When they arrived here … a joy to be a part of it." VO 2.2: Als die Flüchtlinge hier ankamen, hatte ich zunächst vor allem die Aufgabe, sie mit Essen zu versorgen. Um den Rest kümmerte sich das Rote Kreuz. Aber man sah sofort, dass das allein nicht möglich sein würde. Man muss helfen. Das ganze Personal, die Reinigungskräfte, die hier arbeiten, der Empfang, Instandhaltung, die Leute im Restaurant – alle haben da mitgemacht. Zusammen mit dem Roten Kreuz waren wir ein großes Team. Die haben bestimmt manchmal gedacht, wir stünden eher im Weg. Aber es war toll, ein Teil des Ganzen zu sein. O-Ton 14: Atmo Hotel Holiday Club Puerto Calma Sprecher: Unn Tove Lucock ist Norwegerin, 51 Jahre alt mit kurzen schwarzen Haaren. Seit 22 Jahren auf Gran Canaria im Hotelgewerbe tätig, war sie eine der wenigen, die der Bitte der Inselregierung sofort entsprach, im Hotel Holiday Club Puerto Calma Bootsflüchtlinge aufzunehmen. Fast alle Hotel- und Apartmentkomplexe in Puerto Rico, der größten Feriensiedlung im äußersten Südwesten Gran Canarias, sind seit Corona geschlossen. O-Ton 15: Musikakzent + Meeresrauschen Sprecher: Weiße Apartmenthäuser und Hotelkomplexe ziehen sich an beiden Seiten die steilen Felshänge des Tals hinauf, das direkt ins Meer übergeht. Der Ort mit seinen 20.000 Betten ist ein Produkt des Massentourismus, der ab den 1960er-Jahren die Kanareninsel zu einem der beliebtesten Ferienziele deutscher Sonnensucher machte. Jetzt flattern keine bunten Fahnen, nur noch Bettlaken mit aufgemalten Protestnoten am leeren Strand im Wind. "SOS, das Gastgewerbe stirbt", ist da zu lesen. O-Ton 16: Atmo Demonstration gegen Migranten Sprecher: Dennoch wollten die wenigsten Hoteliers Immigranten in ihren Anlagen unterbringen, obwohl dies Arbeitsplätze schaffte, vom Staat bezahlt wurde, obwohl immer noch kaum Touristen kommen und den Kanaren 14 Milliarden Euro Einnahmen aus dem Fremdenverkehr verloren gegangen 6
7 sind. Ende 2020 zogen regelmäßig Protestzüge durch die Stadt: gegen Arbeitslosigkeit, Covid-19-Lockdown, Beherbergungsverbote – und die Unterbringung von Flüchtlingen in leer stehenden Hotelbetrieben. Tourismus und Immigration vertrügen sich nicht, das war und ist der allgemeine Tenor: O-Ton 17: Demonstrationszug mit Ansprache "Nosotros tenemos que ser solidarios ... incompatible con la inmigración." VO 3.2: Wir müssen solidarisch sein mit den Männern und Frauen, die in den Hotels arbeiten. Niemand von denen hat zurzeit Arbeit. Es gibt hier Hotels, die nicht einen Gast haben. Hier in Puerto Rico haben wir 4.300 Einwohner und 4.000 Immigranten, das gibts nirgendwo sonst in der Welt. Wir sind einfache Leute, wir wollen einfach nur arbeiten. Wie können wir das, wenn Immigranten in Urlaubsorten untergebracht werden? Wir wollen sie gut behandeln, mit Respekt. Aber Tourismus und Migration sind inkompatibel. O-Ton18: Atmo Klatschen Demonstration + Straßenverkehr Sprecher: Das findet auch Taxifahrer José Domingo Rodríguez [sprich: Rodríges]. Seine Kundschaft hat sich in Luft aufgelöst, seit kaum noch Urlauber nach Gran Canaria kommen. Deswegen steht er etwas verloren neben seinem Wagen am Taxistand: O-Ton 19: José Domingo Rodríguez "Lo estamos ... para albergar esto." VO 6.1: Es geht uns schlecht. Die Situation ist sehr schwierig. Das hier ist ein Touristenort. Und die Corona-Krise hat unsere Arbeit stark beeinträchtigt. Außerdem gibt es das Thema der illegalen Immigranten. Es besorgt uns, dass sie in Feriensiedlungen untergebracht sind, das ist schlecht. Wir sind nicht gegen die illegale Einwanderung als solche, die wird es immer geben. Man muss die Leute gut behandeln, sich ihrer annehmen, ihnen helfen. Aber touristische Zonen sind nicht für die Unterbringung von Immigranten geeignet. O-Ton 20: Atmo Kaffeemaschine Sprecher: Gegenüber vom Taxistand beeilt sich Miguel González Ortega [sprich: 7
8 Gonssales] in seinem Kiosk, diese Haltung nicht fremdenfeindlich erscheinen zu lassen. Aber seine Wut ist auch gegen den Lärm der zischenden Kaffeemaschine zu hören. O-Ton 21: Miguel González Ortega "A parte de que tenemos el covid....los canarios somos racistas." VO 7.1: Wir haben nicht nur Covid-19 am Hals, es gibt keine Touristen. Und obendrein kommt dann noch die Last mit den Migranten, die wir hier aufnehmen, versorgen, unterbringen in Hotels, um uns dann sagen lassen zu müssen, wir Canarios seien Rassisten. O-Ton 20: Fortsetzung Atmo Kaffeemaschine Sprecher: Man hört das oft in diesen Tagen. Alles breche gleichzeitig über die Kanaren und ihre Bewohner herein: Covid-19-Pandemie und Boatpeople – der Super-Gau. Dabei sei die Wut weniger Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit als von Verzweiflung, erklärt Efigenio Hildalgo Sánchez [sprich: Efichenio Idalgo SSantsches]: O-Ton 21: Efigenio Hidalgo Sánchez "La situación es crítica ... es para el turismo." VO 4.1: Die Situation ist kritisch: Seit es neben der Covid-19-Pandemie noch die Immigration gibt, haben wir ein doppeltes Problem. Der Tourismus auf den Kanaren ist eine Industrie, der wichtigste Sektor für alles, was hier wirtschaftlich läuft. Wenn wir Immigranten in Hotelkomplexe stecken, schädigen wir diesen Bereich. Nicht, weil wir fremdenfeindlich sind, sondern weil die Tourismusindustrie für den Tourismus da ist. Sprecher: Efigenio Hildalgo Sánchez [sprich: Efichenio Idalgo SSantsches] ist Chef eines Apartmentkomplexes in Puerto Rico. Ein stets hilfsbereiter, liebenswürdiger Mittsechziger, der seit bald 50 Jahren im Geschäft ist. Wie fast alle in der Branche hat auch er Angst vor dem Imageschaden, den die Kanaren durch die Bootsflüchtlinge erleiden könnten. O-Ton 22: Musikakzent O-Ton 23: Michael Wüstenberg 8
9 "Es ist ja erst einmal was Schönes, dass Leute nach Europa gehen wollen, weil die nämlich eine gute Vorstellung von Europa haben. Vielleicht ist das gar nicht gerechtfertigt in manchen Fällen. Die haben erst einmal ein positives Bild. Da ist ein Kontinent, da ist Frieden, da ist Sicherheit, da ist Gerechtigkeit, da kann man Arbeit finden, da kann man ausgebildet werden." Sprecher: Bischof Michael Wüstenberg hat dazu einen eigenen Standpunkt: O-Ton 23: Fortsetzung Michael Wüstenberg "Manche reden von Wirtschaftsflüchtlingen, Armutsmigranten sagen andere, was vielleicht angemessener ist, und vielleicht müssen wir noch ein besseres Wort finden auf der Suche nach guten Worten. Das sagten mir zwei Leute aus Ghana: Es ist ein Problem, dass die internationale Fischereiindustrie die Ozeane leerfischt und die kleine lokale Fischerei nicht mehr laufen kann. Und da gibt es dann Leute, die haben beschlossen: Du musst jetzt nach Europa und uns Geld verdienen, und dann schickst du uns das Geld, damit wir überleben." Sprecher: Anfang 2021 begleitete Wüstenberg das Rettungsschiff "Sea-Eye 4" auf seiner ersten Fahrt nach Spanien. Die Regensburger Organisation "Sea- Eye" versucht, schiffbrüchige Migranten aus Afrika zu retten. An Bord besonders beeindruckt habe ihm die Crew aus jungen Leuten und Aktivist:innen, erzählt Bischoff Wüstenberg rückblickend: O-Ton 24: Michael Wüstenberg "Und was ich so gelernt habe dabei auch, ist, die sprachen über diese Dinge, diese Einrichtungen: Das sind die Gästeunterkünfte. Da waren fünf Container, die mussten hergerichtet werden. Also, allein die Achtsamkeit für die Sprache. Die haben von Gästen geredet, nicht von Flüchtlingen, oder da kennen wir ja noch viel unangenehmere Terminologien, die benutzt werden, um Leute mit irgendwelchen Etiketten zu versehen. Das sind erstmal Gäste oder Migranten vielleicht. Schon allein das Wort Flüchtling, das ist ein unangenehmes Wort - bemüht, Respekt zu haben, und dann den Leuten zuzuhören." O-Ton 25: Musikakzent + Atmo Seenotrettung Sprecher: Seit die Mittelmeerroute weitgehend abgeschnitten ist, kommen täglich Dutzende, oft auch Hunderte Menschen zu den spanischen Inseln im Atlantik. Über 23.000 Bootsflüchtlinge – von Marokko bis nach Sierra Leone 9
10 – schafften es 2020 auf die Kanaren – achteinhalbmal so viele wie 2019. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres kamen schon über 5.000 Menschen, gut 30 Prozent mehr als zu Beginn des letzten Jahres. Die kürzeste Entfernung von der marokkanischen Küste zu den Kanaren beträgt gut hundert Kilometer. Aus den Ländern südlich der von Marokko annektierten Westsahara sind es mindestens 1.500. Alle Routen gelten wegen starker Strömungen und der Passatwinde als gefährlich, viele Boote sind überfüllt und nicht sicher. O-Ton 26: Atmo Seenotrettung Sprecher: Die meisten Migrant:innen müssen auf dem Atlantik gerettet werden. Schätzungen der spanischen Küstenwache gehen davon aus, dass in den letzten Jahren zudem eine vierstellige Zahl Menschen während der Reise ertrunken oder an Entkräftung gestorben ist – vielleicht aber auch noch mehr. O-Ton 27: Atmo Verkehr Sprecher: Zurück in Puerto Rico: Efigenio Hildalgo Sánchez hat, wie fast alle in der Branche, auch Angst vor dem Imageschaden, den die Kanaren durch die Bootsflüchtlinge erleiden könnten. O-Ton 28: Efigenio Hidalgo Sánchez "Yo no conozco Lampedusa ... ya busco orto destino turístico." VO 4.2: Ich kenne Lampedusa nicht. Aber wenn mir jemand sagt, Lampedusa ist ein wunderschöner Ort, und ich weiß, dass ich dort mit einem Problem konfrontiert werde, das es nicht geben sollte, dann fahre ich da nicht hin und suche mir ein anderes Urlaubsziel. O-Ton 29: Musikakzent Sprecher: Die norwegische Hotelmanagerin Unn Tove Lucock hat mit den Flüchtlingen, die es auf die Insel Gran Canaria geschafft haben und in ihrem Hotel untergebracht wurden, gute Erfahrungen gemacht: Ich habe den obigen Absatz etwas neutraler getextet, damit es kein Problem beim Kürzen gibt. O-Ton 30: Unn Tove Lucock 10
11 "When it comes … create the same problems." VO 2.3: Was den Tourismus anbelangt: Die meisten Touristen stehen dem, was wir machen, positiv gegenüber. Ich habe Hunderte Facebook-Posts erhalten und denke, dass wir das Richtige tun. Ich engagiere mich hier auch nicht des Geldes wegen. Absolut nicht. Ich würde das jederzeit wieder machen für umsonst. Du siehst hier nämlich eine Seite der Immigranten, die du noch nie zuvor gesehen hast. Natürlich ist die Situation für die Kanaren sehr schwierig. Aber es sollte sich hier nicht das wiederholen, was in Griechenland passiert ist, und so die gleichen Probleme schaffen. O-Ton 29: Fortsetzung Musikakzent Sprecher: Ähnlich differenziert sieht es Nicolás Villalobos. Er ist nicht nur Generaldirektor der Hotelkette Cordial, sondern auch Vorstand des grancanarischen Hotelverbands FEHT. Und er pocht darauf, für wirtschaftliche Interessen nicht moralische Grundsätze über Bord zu werfen: O-Ton 31: Nicolás Villalobos "Ich meine, wir sind immer neben Afrika gewesen. Das ist nichts Neues. Wir haben immer den einen oder anderen Migranten, der hier angekommen ist. Ein Problem ist, dass jetzt während der Pandemie Afrika richtig gelitten hat. Und die haben nicht die Maßnahmen, die wir reiche Länder haben. Die sterben halt. Dann: Die Menschen, die verhungern, die müssen natürlich einen Ausweg finden, und die setzen sich in Boote und die kommen hier halt Richtung Europa. Kanaren sind Europa, und die wollen halt ein besseres Leben und ein sicheres Leben haben. Wir betrachten die Menschenrechte. Ich meine, auch wenn die nicht das Recht hatten, hier reinzukommen, aber gut, die sind Menschen, und die haben Menschenrechte, und es darf nicht so sein, dass die sich unmenschlich und grausam in einem Hafen häufen. Ich meine, wir sind Europa!" Sprecher: Bischoff Michael Wüstenberg hebt das Gebot der christlichen Nächstenliebe hervor: O-Ton 32: Michael Wüstenberg "Weil das Engagement für die Armen und die am Rande und die in Not geraten immer ein Teil christlichen und judäo-christlichen Engagements war. Und das Interesse an den Armen und gerade auch an den Fremden ist ein 11
12 altes Thema im ersten Testament oder alten Testament. Und von daher rührt das, dass da auch Kirchen sich engagieren. Aber eben auch über dieses United for Rescue, in die auch viele andere kirchliche Organisationen, also nicht nur Landeskirchen oder Diozösen, sondern auch einzelne Gemeinden, einzelne Organisationen, auch Individuen daran beteiligt. Und das hat mich daran sehr auch fasziniert, dass da Leute ganz unterschiedlicher Herkunft beisammen sind." Sprecher: Auch Antonio Morales sieht die Flüchtlingssituation auf den Kanaren wesentlich entspannter als viele seiner Mitbürger. Morales hat das höchste politische Amt Gran Canarias inne. Der Inselpräsident empfängt in seinem Büro in der Hauptstadt Las Palmas. Morales ist ein Mann leiser Worte. O-Ton 33: Antonio Morales "Yo creo que no ... rechazo." VO 8.1: Ich halte die Immigranten nicht für ein Problem. Hier gibt es doch viel weniger als auf den Straßen von London, Paris oder Berlin. Die Bürger Europas sind daran gewöhnt, mit Einwanderern zusammenzuleben. Eine andere Sache ist eher die Frage, wie man ihnen umgeht, die inhumane Behandlung, die Maßnahmen ihrer Abschiebung. Das ist eher das Problem! Die Reaktionen von Teilen der Bevölkerung hier sind eher Ausdruck eines gesellschaftlichen Alarms, einer Angst. Außerdem gibt es viel Desinformation, die diese Ablehnung oder gar diesen Hass provoziert. O-Ton 34: Musikakzent Sprecher: Für viele Canarios ist Solidarität mit Bedürftigen hingegen Teil ihrer DNA: Denn die Geschichte der Kanaren selbst war stets geprägt von Elend und Auswanderung nach Lateinamerika – vor allem als vor gut 100 Jahren bittere Armut auf den Inseln zwischen El Hierro und Lanzarote herrschte. O-Ton 35: Musikakzent Afrikanisch Sprecher: Seit in sozialen Medien und der kanarischen Presse über das Flüchtlingshotel mit Meerblick berichtet wurde, bekam das Projekt viel Zuspruch und Aufmerksamkeit – auch aus dem Ausland. Etwa 120 Menschen aus einem halben Dutzend Ländern waren zur Hochzeit, Anfang 2021, im Holiday Club Puerto Calma untergebracht - samt 12
13 Quaratänestation für Neuankömmlinge. Die Bewohner kommen und gehen ein und aus, sie gestalten ihren Tagesablauf nach eigenem Gusto. Man sieht sie im Ort, am Strand beim Fußballspielen oder joggend auf der Uferpromenade. Bischoff Michael Wüstenberg sieht im respektvollen Umgang mit den Migranten die katholische Soziallehre verwirklicht: O-Ton 36: Michael Wüstenberg "Ich habe einige Zeit in Südafrika gearbeitet und eine Sache war auch: soziale Aktion, Leute zu befähigen, dass sie soziale Aktionen machen könnten. Und was wir immer sagten: Die katholische Soziallehre ist das bestgehütete Geheimnis, das wir haben in der Kirche. Vielen ist die überhaupt nicht bekannt. Die Frage nach der Menschenwürde, dass das erst einmal vorne ansteht bei allem, was wir tun, egal, wo wir sind, uns kommt eine Würde zu. Und das sagt ja auch unsere Verfassung. Viele andere, auch Religionen, haben diesen Gedanken. Dann hängt damit zusammen: Solidarität. Das ist einer der Grundpfeiler der katholischen Soziallehre. Solidarität miteinander – weltweit. Wir brauchen Experten in Sachen Menschlichkeit!" O-Ton 37: Atmo Gang durch das Holiday Club Puerto Calma, Kleiderkammer Sprecher: Viele Canarios machten sich diese Menschlichkeit zu eigen und reagierten auf die Ankömmlinge ganz anders, als in den Medien porträtiert - mit Essenslieferungen, Kleiderspenden, dem Ausrichten von Dame-Turnieren, die in vielen Ländern Afrikas sehr beliebt sind. Es gab Anfragen, unbegleitete Kinder und Jugendliche zuhause aufzunehmen, von denen es viele auf den Flüchtlingsbooten gibt. Eine Rentnerin beherbergte über Monate einen jungen Mann aus Sierra Leone und half ihm, legal nach Festlandspanien zu reisen, alles auf ihre Kosten. Im Holiday Club Puerto Calma organisierten Canarios Spanischunterricht. Immer samstags öffnet Unn Tove einen Saal voll mit Kleidung für Männer, Frauen und Kinder, die während der Woche abgegeben wurde. O-Ton 38: Musikakzent Afrikanisch O-Ton 39: Unn Tove Lucock "When I come to work … we’ve been doing some games." 13
14 VO 2.4: Wenn ich zur Arbeit komme, gibt es zuerst Frühstück. Dafür teilen wir die Leute in drei Gruppen auf entsprechend den Corona-Maßnahmen, selbst nachdem sie ja schon über Monate zusammen gewohnt haben: also, Masken tragen, Abstand halten! Nach dem Frühstück haben sie eine Pause und gehen Aktivitäten nach wie malen, Spanisch und Englisch lernen, Spiele spielen. O-Ton 40: Atmo Kirche + Kinder Sprecher: Wenn Unn Tove, die mit Mann und zwei Kindern im Nachbarort wohnt, mittags eintrifft, wird sie von freudigen Gesichtern empfangen, in den Arm genommen, gedrückt. "Mama Africa" wurde sie getauft, eine Mutter Teresa für afrikanische Boatpeople, die auf Gran Canaria ein Willkommen erlebten, mit dem die wenigsten gerechnet hatten. Auch Sulaiman Jallah nicht: O-Ton 41: Sulaiman Jallah "To be honest with you ... then I got transferred to hotel." VO 1.4: Um ehrlich zu sein, dachte ich nicht, dort von jemandem empfangen zu werden. Dafür bin ich bis heute dankbar. Man betritt ja ein anderes Land ohne jede Erwartung. Und wird dann dort aufgenommen, ohne Papiere oder irgendwas sonst zu haben. Und wenn man dann in einem Zelt untergebracht wird, muss man dafür dankbar sein. Ich blieb im Aufnahmecamp (von Arguineguín) vier, fünf Tage. Dann kam ich hier ins Hotel. Sprecher: Sulaiman Jallahs Geschichte ist eine Blaupause für die der meisten afrikanischen Flüchtlinge: Bürgerkrieg im Senegal, Vertreibung, Landflucht. O-Ton 42: Sulaiman Jallah "My father died … go to the city." VO 1.5: Mein Vater starb während des Kriegs, als ich noch ein kleines Kind war. Ich sah meine Freunde zur Schule gehen, aber ich musste zu Hause bleiben. Also fragte ich meine Mutter, warum? Meine Mutter sagte: Ich kann es mir nicht leisten, dich in die Schule zu schicken, ich habe nichts, kein Geschäft. Da bin ich abgehauen und in die Stadt gegangen. Sprecher: Sulaiman lebte in Dakar auf der Straße, bis eine Frau sich seiner erbarmte, 14
15 ihn bei sich und ihren vier Kindern aufnahm und aufzog. Für den Schulbesuch hatte aber auch sie kein Geld, Sulaiman lernte stattdessen mit ihren Kindern zu Hause. Eine Lebensperspektive sah er dort jedoch nicht. Aber er saugte ein Bild von Europa auf, das in den sozialen Medien Westafrikas kursiert und den Nachbarn im Norden als Weltregion beschreibt, in der Milch und Honig fließen. Unn Tove Lucock kennt dieses Zerrbild nur zu gut: O-Ton 43: Unn Tove Lucock "If you´ve see the propaganda ... help them with that now." VO 2.5: Wenn man sich die Propaganda anschaut, die man in Afrika für Arbeit in Spanien macht, das ist schrecklich. Da erzählen dir Leute: Geht nach Spanien, da gibt es so viel Arbeit und fantastische Bezahlung! Und viele Afrikaner fallen darauf rein und kommen. Alles auf Social Media. Ich finde das verheerend. Sie kommen hierher, und ihre Träume verpuffen. Viele Jungs wollen dann zurück in ihre Länder; und wir versuchen, ihnen dabei zu helfen. Sprecher: Sulaiman Jallah aber hatte besonderes Glück. Seiner Größe wegen lud ihn der lokale Handballverein zum Mitspielen ein. Nun wird er regelmäßig abgeholt, um im 20 Kilometer entfernten Vecindario [sprich: Wessindario] mit einheimischen Jungs zu trainieren: O-Ton 44: Sulaiman Jallah "God made it so possible for me ... I got there three times a week." VO 1.6: Es war Gott, der mir das ermöglicht hat. Ich habe einige gute Menschen getroffen, und jetzt habe ich dieses Team in Vecindario. Die haben mit aufgenommen und sind wirklich nette Leute. Die Canarios sind tolle Menschen, weil sie keinen Unterschied machen, woher du bist – nein. Ich gehe da jetzt dreimal die Woche hin. O-Ton 45: Atmo Sprecher: Als Dauerlösung war die Unterbringung von afrikanischen Bootsflüchtlingen in Touristenhotels nie geplant. In anderen Hotelanlagen, vor allem solchen, die mit jungen Nordafrikanern belegt waren, gab es auch Probleme – vor 15
16 allem mit der Polizei und auch Randale untereinander, die das Bild aller Immigranten in der öffentlichen Wahrnehmung stark beeinträchtigten. O-Ton 46: Musikakzent afrikanisch Sprecher: Unn Tove Lucock teilt dieses Bild nicht. Sie weist darauf hin, dass sie ihre 15-jährige Tochter jederzeit allein mit den Bewohnern ihres Hotels lässt. Die beiden Sicherheitsleute, die der Staat am Eingang des Holiday Club Puerto Calma postiert hat, langweilten sich den ganzen Tag. Und dabei muss die Norwegerin lachen. O-Ton 47: Atmo Sprecher: Cheryl Jenner arbeitet seit der ersten Stunde im Restaurant des Holiday Club Puerto Calma. Die junge Engländerin hat offenbar nur gute Erfahrungen gemacht, die sie jetzt, wo das Hotelprojekt bald ausläuft, emotional stark bewegen: O-Ton 48: Cheryl Jenner "For me … as everybody else. VO 5.1: Für mich ist das eine der besten Erfahrungen meines Lebens gewesen. Es war wirklich eine Achterbahn der Gefühle. Es gibt Tage, da bist du so frustriert wie die Jungs, manchmal bist du traurig ihretwegen, dann wieder willst du alles für sie tun. Es liegt halt in der menschlichen Natur, anderen zu helfen. Man erlebt die Jungs glücklich, ängstlich, hungrig. Und klar, du bist nicht mehr nur jemand, der im Restaurant arbeitet. Du wirst zum Sozialarbeiter. O-Ton 49: Atmo Schiffssirene + Menschen + Verkehr Sprecher: Die spanische Regierung wird die meisten Flüchtlinge dennoch in Sammellager überstellen, die sie auf Teneriffa, Fuerteventura und Gran Canaria errichtet hat. Auch das Puerto Calma wird dann wieder verwaisen. Cheryl Jenner kann ihre Trauer darüber nicht verbergen. O-Ton 50: Cheryl Jenner "I’m extremely sad … (Regie: weint) ... but on another level." 16
17 VO 5.2: Ich bin sehr, sehr traurig. Wenn mich jemand vor fünf Monaten gefragt hätte: Wie wirst Du dich fühlen? Hätte ich gesagt: Sie sind Kunden, sie sind hier, und wir sind hier, um einen Job zu erledigen. Aber für mich ist es weit mehr als eine Arbeit gewesen, viel mehr. Diese Jungs bedeuten mir so viel – auf einer ganz anderen Ebene. O-Ton 51: Atmo Meeresrauschen Sprecher: Auch Unn Tove, die zugehört hat, wird von ihren Gefühlen überwältigt und wischt sich verstohlen die Augen. Am Ende hat die Hotelmanagerin eine Empfehlung für die Mitmenschen: O-Ton 52: Unn Tove Lucock "I would say … learn from us." VO 2.6: Ich würde sagen: Öffnet die Tür, habt keine Angst und bezieht jeden Menschen ein, der in euer Leben treten will! Es wird euch viel Freude bescheren. Ich habe in den letzten fünf Monaten mehr gelacht als in vielen Jahren davor. Es sind wunderbare Leute. Wir können viel von ihnen lernen, viel mehr, als sie von uns lernen können. O-Ton 53: Musikakzent 17
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