Leben mit Asperger oder anderer Autismus-Spektrum-Störung - SWR
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Bei SWR2 Glauben Leben mit Asperger oder anderer Autismus-Spektrum- Störung von Nela Fichtner Sendung: 28.11.2021, 12.05 Uhr Redaktion: Nela Fichtner Produktion: SWR 2021 Klare Worte, Abläufe und Strukturen sind für Menschen mit Autismus-Spektrum- Störung wichtig. Das gilt für jede Form: vom leichten Asperger-Syndrom über die seltene Inselbegabung bis hin zum schweren frühkindlichen Autismus. Wenn sich die Gesellschaft auf autistische Menschen einstellt, kann ihre sensible Wahrnehmung bereichern, ihre direkte Sprache klärend wirken und ihr Blick fürs Detail zu besonderen Kompetenzen führen. Darum bemühen sich pädagogische Einrichtungen wie das Stuttgarter „Schneckenhaus“ oder einige wenige Arbeitgeber, wie das Software-Unternehmen SAP. Andere autistische Menschen gehen einen erfolgreichen Weg, indem sie sich selbstständig machen. SWR2 Glauben können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/swr2/programm/podcast-swr2-glauben-100.html Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern,
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01 O-Ton-Collage, 0`39 (6 Sek. Atmo am Ende) „Kennst Du einen Autisten, kennst Du EINEN Autisten. Wir sind alle unterschiedlich. Wenn wir alle gleich wären, wär die Welt langweilig. „Ich hatte anfangs große Probleme im Miteinander im Kollegenkreis. Die anderen haben oft gedacht, ich würde sie meiden, ich wäre abweisend, Und für mich war das einfach ganz wichtig offen zu sein mit meinen Auffälligkeiten.“ „Ich verwende die Energie lieber auf produktive Sachen als auf alltägliche und soziale Sachen. Also, wie der angesprochene Augenkontakt: Wenn ich den halt nicht halte, dann kann ich mich in der selben Zeit auf was Anderes konzentrieren.“ (über die Atmo am Collagenende:) 02 Sprecherin Ansage, 0`04 „Leben mit Autismus“, eine Sendung von Nela Fichtner 03 Atmo Kochen, 0`11 freistehend, dann dem Text unterlegen „Kartoffeln sind schon im Ofen - Panierstraße…..“ “ne da kommen die Eier rein…“ „Mehl…“ Sprecherin: Schnitzel mit Ofenkartoffeln gehört zu Leos Lieblingsgerichten. Der schlaksige 15-jährige in Jeans, blauem Sweatshirt und Hausschuhen bespricht mit seinem Betreuer, was zu tun ist. Mit dem Handrücken streicht er sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn. 04 Atmo Eier aufschlagen kurz allein, dann dem Text unterlegen...
Sprecherin: Während Leo Eier für die Panade aufschlägt, legt Silvan Graf das Fleisch bereit. Die Küche gehört zum „Schneckenhaus 5“, einem Hort der diakonischen "Stiftung Jugendhilfe aktiv“ in Stuttgart. In die Gruppe gehen derzeit sieben autistische Jungen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Zwei Fachkräfte und zwei Praktikantinnen unterstützen sie sowohl in schulischen als auch in lebenspraktischen Fragen. Wenn die Jungen Ruhe brauchen, können sie sich jederzeit zurückziehen. Wenn nicht, nehmen sie am familiären Alltag der Gruppe teil. Unter letztem Satz Kreuzblende mit 05 Atmo Tisch decken, kurz allein stehen lassen, dann unter folgendem O-Ton Kreuzblende mit 05b Atmo Essen 06 O-Ton Graf, 0`20 Wir haben hier Kinder, die mehr autistisch sind, Kinder, die weniger autistisch sind, trotzdem haben alle Kinder bei uns den richtigen Platz, weil sie oftmals in ihren sozialen Interaktionen so eingeschränkt sind, dass sie da einfach große Unterstützung brauchen und in einer normalen Schule, einer Regelschule, nur ganz ganz schwer Fuß fassen könnten. 05b Atmo Essen hochziehen, unterm folgendem Satz ausblenden Sprecherin: 4
Leo kam vor drei Jahren ins Schneckenhaus. In seiner früheren Schule, hätten ihn die Lehrerinnen nicht verstanden, sagt er. Und seine Mitschülerinnen und - schüler hätten ihn gemobbt. 07 O-Ton Leo, ausgelacht/ Traumstunde, 0`33 „da haben mich einfach alle ausgelacht, also da haben sie zu mir gesagt `mit Dir stimmt was nicht, mit Dir stimmt was nicht…` , hab ich gesagt: `sagt mal, spinnt Ihr? Mit mir ist alles in Ordnung, was habt Ihr denn mit mir?` Weil da wusste ich ja noch nicht, dass ich Autist bin, dass ich ein besonderer Mensch bin. Und dann hab ich sie gewechselt, man könnte sagen, es war eine Traumstunde, da sind einfach die Lehrerinnen so nett, die Betreuer auch, es war einfach schrecklich in der alten Schule. 08 Atmo Schulhof kurz frei, dann dem Text unterlegen Specherin: Nun besucht Leo vormittags eine Förderschule in Fußnähe des Schneckenhauses. Er und die anderen aus seiner Gruppe bilden dort eine sogenannte Außenklasse. Das heißt, sie werden von zwei Sonderpädagoginnen separat unterrichtet, können aber in den Pausen -wie auch in Arbeitsgemeinschaften- anderen Schülerinnen und Schülern begegnen und ihre Sozialkontakte erweitern – ein wichtiges Übungsfeld für autistische Kinder und Jugendliche. Atmo unter vorangegangenem Satz ausblenden ….nach dem Unterricht gehen die Jungen gemeinsam ins Schneckenhaus. Die Räume liegen im Parterre eines Mietshauses in einer ruhigen Seitenstraße von Stuttgart-Möhringen. Leo führt mich durch die helle Fünf-Zimmer-Wohnung. 5
Erste 5 Sek. = Schritte, bitte unter vorangegangenen Text legen 09 O-Ton, Leo Führung, 0`31 „Ja, also hier gibt’s einen Raum, da kann man Tischkicker spielen, da kann man sich mal ausruhen…. (Schritte) „Des is das Esszimmer, da essen wir immer gemeinsam….hier sind Spielsachen, also wenn mal einem langweilig ist, kann auch welche malen…“ (4`20) letzte 5 Sek. Schritte unter folgenden Text legen Sprecherin: Leo ist sichtlich stolz auf sein zweites Zuhause. Er ist froh, dass ihn im Schneckenhaus alle verstehen. Und dass immer jemand für ihn da ist. 10 Atmo HA-Betreuung 1 einblenden, unterm Text bis 11 ….zum Beispiel bei den Hausaufgaben. Leo zeigt der Betreuerin sein Arbeitsblatt – er soll Brüche in Torten-Diagramme übertragen. Mathe ist nicht seine Stärke. Hinzu kommt sein Anspruch, alles hundertprozentig korrekt zu machen. Und die Unsicherheit, irgendetwas falsch verstanden zu haben. 11 Atmo HA-Betreuung 2 „Löse die Aufgabe mit Hilfe einer Zeichnung…“ Nach circa 11 Sekunden folgendem Text unterlegen Sprecherin: Geduldig erklärt Denise Schertler-Bonnet Leo die Fragestellung. 6
Die individuelle Hausaufgabenhilfe ist Teil eines klar strukturierten und verlässlichen Tagesablaufs. Der ist für autistische Menschen ebenso wichtig wie eine reizarme, ruhige Umgebung. Denn ihre Wahrnehmung ist in einzelnen Bereichen überdurchschnittlich sensibel. 12 O-Ton Leo Gehör, 0`33 Ich als Autist kann anders hören, also ich hör ganz gut, ich weiß ganz genau, was zum Beispiel das für ein Ton ist vielleicht (tocktocktock): D! Des hör ich genau beim Klavier, wenn`s verstimmt ist, ich hör, wenn`s so schwingt. Es kann auch bei mir passieren, dass ich Fehler höre, zum Beispiel hör ich Gespenster, aber in Wirklichkeit sind es Vögel, die ganz weit weg sind. Sprecherin: In U-Bahnen zum Beispiel nimmt Leo eine Vielzahl von Geräuschen wahr, die neurotypische, also nicht-autistische, Menschen gar nicht bemerken: 13 Atmo U-Bahn unter vorangegangenem Satz einblenden, kurz hochziehen, dann dem folgenden Text unterlegen …er hört unterschiedliche Töne bei verschiedenen Neigungswinkeln der Bahnen, bestimmten Weichenstellungen und Schwingungen oder klangliche Veränderungen in großen und kleinen Tunneln… seit Leo diese Vielfalt entdeckt hat, ist er von U-Bahnen fasziniert. Er fuhr mehrmals das gesamte Streckennetz ab und prägte sich Längen und Fahrpläne jeder einzelnen Linie ein. U-Bahn-Geräusche ausblenden 7
….ein Spezialinteresse oder Hobby, wie es viele autistische Menschen pflegen. Typisch sind für sie auch Schwierigkeiten in der Kommunikation: Ironie und indirekte Aussagen verstehen sie kaum. 14 Atmo vor der Gruppenstunde (einblenden) Sprecherin: Um Missverständnisse zu vermeiden, üben die Jugendlichen im Schneckenhaus, nachzufragen, wenn sie etwas nicht eindeutig verstanden haben. Die Erwachsenen leiten sie an, ihrem Gegenüber zu spiegeln, was bei ihnen wie angekommen ist. Und trainieren mit ihnen, wahrzunehmen, welche Gefühle die Reaktionen der Anderen bei ihnen auslösen. Im täglichen Miteinander lernen sie, ihre Emotionen einzuordnen und sich gegebenenfalls zu wehren. Leo und die meisten seiner Mitschüler können ihre Situation inzwischen gut reflektieren. Atmo kurz hochziehen, dann unterm O-Ton ausblenden 14b O-Ton Leo: Stärken und Schwächen, 0`20 „Ich muss mutiger sein und….des is halt so: des fällt mir schwer. Zuzugeben kann ich richtig gut und Verlass ist auf mich auch. Aber zum Beispiel ich kann jetzt nicht sagen, was mich ärgert, das muss ich noch lernen, was mich stört.“ Sprecherin: Auch der Umgang mit Alltagsritualen ist nicht leicht. Zum Beispiel hilft es Leo und vielen autistischen Menschen, ihre Pflichten immer zur gleichen Zeit zu erledigen. Das gibt ihnen Halt und Orientierung. 8
Doch sobald die Gewohnheiten zwanghaft werden, müssen sie lernen, sich Schritt für Schritt davon zu lösen. Leo und seine Freunde haben gute Chancen, später ein selbstständiges Leben zu führen. Mit ihrem Asperger-Syndrom oder ähnlicher „Autismus- Spektrum-Störung“ ist das möglich – wobei viele das Wort „Störung“ in diesem Fachbegriff für fragwürdig halten. Bei Menschen mit schwerem frühkindlichen Autismus dagegen ist ein unabhängiges Leben nicht zu erwarten. Für sie sind schon einfache Abläufe, die andere im Kindesalter durch Nachahmung und Intuition begreifen, ein Problem. Da hilft die sogenannte „Teach-Methode“ weiter, erklärt Jugend- und Heimerzieherin Denise Schertler-Bonnet: 15 O-Ton, Schertler-Bonnet, Teach, 0`49 Also bei manchen fängt es schon beim Händewaschen an, da gibt’s dann die Möglichkeit wirklich Schritt für Schritt mit Zeichnungen, die man dann aufhängt, erstmal Hände nass machen, okay, dann sucht man ein Symbol für Hände unters Wasser halten und dass man das dann aufreiht und dann kann derjenige erstmal an den Zeichnungen entlang hangeln. Und wenn man dann merkt, die Zeichnungen sind nicht mehr notwendig, dann kann man die auch wieder abhängen. Und das ist auch das Schöne bei uns, dass man da auch ganz individuell drauf eingehen kann. Also wenn der eine bei Hygiene Unterstützung braucht, dann kann man da unterstützen. Wenn jemand beim Einkaufen Hilfe braucht, dann kann man da unterstützen. 16 Filmmusik Rain Man unterm Text einblenden Labelname: Capitol, LC: 00148, Bestellnummer: CDP 7 91866 2, Rain Man - Original Motion Picture Soundtrack …Uns ist es halt sehr sehr wichtig, dass die Kinder später ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können.“ 9
Sprecherin: …anders als der im Heim lebende Raymond, die Hauptfigur im Kinofilm „Rain Man“ aus den späten 1980er Jahren. Musik kurz allein, dann leise weiter unterm Text und Sprechertext Vielen, die ihn gesehen haben, kommt beim Thema Autismus sofort Schauspieler Dustin Hoffmann in den Sinn - wie er als Raymond mit starrem Blick und schräg gehaltenem Kopf dem coolen Charlie -gespielt von Tom Cruise- hinterher tippelt. 17 Sprecher, Rain Man, 0`31 Nach dem Tod des Vaters macht sich Charlie, der sich im Testament benachteiligt sieht, auf die Suche nach dem unbekannten Haupterben mit Namen Raymond oder Ray. Er erfährt erst jetzt, dass dieser sein leiblicher Bruder ist. Und findet ihn in einem Heim für behinderte Menschen. Ray ist stark autistisch, kombiniert mit einer Inselbegabung, dem sogenannten Savant-Syndrom. Als Charlie ihn bewegen will, nach Los Angeles mitzufliegen, bringt Ray mit seinem Spezialwissen und seiner Angst alles durcheinander: Filmmusik unterm -ausschnitt ausblenden 18 Filmausschnitt Rain Man, 0`39 FESAD Archivnr. 302423, „Bitte Umblättern“ Folge 75, 27.03.1989 10
Dialog Dustin Hoffmann – Tom Cruise „wir nehmen die Continental“…“Ja, abgestürzt 15.November 1987, Flug 1713, 28 Tote.“ „Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht sicher ist!“ „Quantes hatte nie Abstürze“…“Quantes? Da müsste man erstmal nach Melbourne!“ - „Australien“ - „Melbourne, Australien, um dort ein Flugzeug zu bekommen nach Los Angeles? Hörst Du mich?“ – „Ja, Canberra ist die Hauptstadt, 16,2 Millionen Gesamtbevölkerung, große, saubere Badestrände“ – „Du und ich werden jetzt in das verdammt Flugzeug einsteigen!“ (Raymond schreit) – „Wir werden das Flugzeug nicht nehmen“ (ruft:) „Er ist okay, er ist okay! (zu Ray:) Wir werden die Maschine nicht nehmen, bitte, ich mach ja alles, was Du willst. Also beruhige Dich, Ray, beruhige Dich.“ Filmmusik Rain Man erneut unterlegen Sprecherin: Bevor Rain Man in die Kinos kam, war Autismus in der amerikanischen Öffentlichkeit kaum bekannt. Erst der Film hat das Thema ins Bewusstsein gebracht: In den Jahren danach stieg in den USA die Zahl der Autismus- Diagnosen auf das Dreifache. Gleichzeitig nahm die Zahl sogenannter „geistiger Behinderungen unbekannter Ursache“ deutlich ab. Ähnliche Entwicklungen gab es in Europa. Musik kurz hochziehen, dann unter folgendem Satz ausblenden Der Film „Rain Man“ erzeugte aber auch Vorurteile: Viele gingen nun davon aus, dass alle autistischen Menschen wie Raymond seien. Dabei macht dessen Savant-Syndrom im wirklichen Leben nur einen sehr kleinen Teil der Autismus-Spektrum-Störungen aus. Die meisten 11
autistischen Menschen haben gar keine Insel- oder Hochbegabung, sondern die gleichen geistigen Fähigkeiten wie neurotypische -nicht- autistische- Menschen. Die Spezialinteressen autistischer Menschen haben andere Ursachen: Sie basieren vor allem auf ihrer hochsensiblen Wahrnehmung. Die lenkt das Interesse auf ungewöhnliche Themen, wie zum Beispiel die vielstimmigen U-Bahn-Geräusche, die Leo faszinieren. Außerdem fokussieren sich autistische Menschen gern auf Einzelheiten, was oft zu einem beeindruckenden Faktenwissen führt, erklärt Fabian Diekmann vom Selbsthilfeverband autistischer Menschen in Deutschland 19 O-Ton, Diekmann Fokussierung, 0`14 Das menschliche Hirn neigt dazu, einzelne Aspekte der Umgebung zu scannen und zu einem Gesamtbild zusammenzuschließen. Viele Autisten haben da einen Unterschied, in dem der Blick eher aufs Detail geht. Auch das Bedürfnis nach klar vorhersehbaren Abläufen spielt eine wichtige Rolle – etwa wenn sich autistische Menschen für Fahrpläne oder Bahnhöfe begeistern. Christine Preißmann zum Beispiel, die ich im hessischen Roßdorf besuche, liebt Flughäfen und Weihnachtsmärkte. 20 O-Ton Preißmann, Weihnachten, 0`34 Die Stände standen immer auf dem Platz, wo sie im letzten Jahr standen, da konnt ich gut meine Pläne machen und jedes Jahr wurden meine Pläne erfüllt und das war toll natürlich. Und irgendwann ist aus diesem – ja – sehr isolierten Interesse dann ein Interesse an dem Weihnachtsfest als solchem geworden. Tatsächlich auch an dem Religiösen, ich bin religiös erzogen worden und auch heute noch sehr gerne im christlichen Glauben verhaftet. 12
Ja und auch Weihnachtslieder, das leckere Weihnachtsgebäck – all das Schöne, was es da so gibt, inzwischen mag ich das wirklich alles sehr gern. Sprecherin: Christine Preißmann ist Ärztin und Psychotherapeutin. Außerdem leitet sie im Selbsthilfeverband den autistischen Beirat. Die sportlich gekleidete Frau mit den kurzen, rot-blonden Locken schaut mich einen Moment lang an. Dann weichen ihre ernsten blauen Augen meinem Blick wieder aus. In ihrem Behandlungszimmer sitzen wir uns in auffallend großem Abstand auf weißen Sesseln gegenüber. Die Patientinnen und Patienten, die Christine Preißmann behandelt, haben fast alle eine Autismus-Spektrum-Störung. Auf die Frage, ob sie -als Betroffene- autistische Menschen besser behandeln kann als andere Therapeutinnen, sagt Preißmann: 21 O-Ton, Preißmann, Schwächen in eig. Praxis, 0`36 Ich würde nicht sagen „besser“, aber ich glaube, man kann vieles besser verstehen, weil man es einfach selbst so erkennt. Ich habe sicher auch meine Defizite, natürlich. Viele Patienten haben sich daran gestört, dass ich sie nicht anschaue. Das ist etwas, was bei autistischen Menschen keine Rolle spielt, das stört die nicht. Und so hab ich hier die Möglichkeit, meine Schwächen nicht ganz so doll zum Tragen kommen zu lassen, sondern mich ganz gezielt auf das zu konzentrieren, was mir leicht fällt. Ich bin halt eben ein sehr ruhiger Mensch und das ist für viele Menschen einfacher, als wenn da jemand säße, der so laut und chaotisch und schnell wäre. Sprecherin: … eine ruhige, klar strukturierte Kommunikation, so Preißmann, schätzen vor allem Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen. Übrigens sind Jungen und Männer mindestens dreimal so häufig betroffen 13
wie Mädchen und Frauen, manche Quellen sprechen sogar von einem noch höheren männlichen Anteil. Die Gründe dafür sind allerdings nicht bekannt. Die Gesamtzahl autistischer Menschen wird häufig unterschätzt: In Deutschland sind es rund 800.000 - das ist immerhin EIN Prozent der Bevölkerung. Und ihr Therapiebedarf ist hoch: 22 O-Ton Preißmann Therapiebedarf, 0`29 Untersuchungen zeigen, dass die Hälfte bis zwei Drittel eine Depression oder eine behandlungsbedürftige Angststörung haben, grade als Erwachsene. Es gibt schon welche, die unter ihrer Art leiden, weil sie sagen: `es blockiert mich einfach in ganz Vielem, es blockiert mich bei der Arbeit, es blockiert mich bei Sozialkontakten oder auch bei der gesellschaftlichen Teilhabe, wie man so sagt. Aber es gibt schon auch solche Menschen, die darunter leiden, dass einfach die Rahmenbedingungen nicht passen, vor allem bei der Arbeit.“ Sprecherin: Dabei können schon niederschwellige Angebote eine große Hilfe sein: Flexible Arbeitszeiten zum Beispiel, home office oder Pausenräume: Denn die Kommunikation mit Kollegen ist für viele autistische Menschen anstrengend. „Wir brauchen Rückzugsmöglichkeiten“, betont Christine Preißmann. Trotzdem seien autistische Menschen keineswegs lieber allein als neurotypische. Von ihrem früheren Job in einer Klinik erzählt sie: 23 O-Ton Preißmann, Transparenz, 0`40 „Ich hatte anfangs große Probleme im Miteinander im Kollegenkreis. Die anderen haben oft gedacht, ich würde sie meiden, ich wäre abweisend, was einfach der Aufregung geschuldet ist. Ich bin nicht mitgegangen, wenn die anderen zum Essen gegangen sind. Und so im Kollegenkreis hab ich die 14
anderen bei Besprechungen oft kritisiert, wenn sie zu spät gekommen sind und das hat mir natürlich nicht so sehr viele Sympathien eingebracht. Und als dann die anderen wussten, dass das mein – zugegebenermaßen ungeschickter Versuch war, mit ihnen in Kontakt zu kommen, dann konnten sie das einfach ganz anders einschätzen. Und für mich war das einfach ganz wichtig offen zu sein mit meinen Auffälligkeiten.“ Sprecherin: Autistische Menschen werden nicht nur wegen ihres ungewöhnlichen Verhaltens missverstanden. Sondern auch, weil ihr Sprachverständnis anders funktioniert: sie gehen grundsätzlich vom direkten Wortsinn aus. Ironie, Anspielungen und Redewendungen kommen kaum bei ihnen an. Schon in der Schule, erzählt Christine Preißmann, bekam sie deshalb Einträge ins Klassenbuch. Als sie gefragt wurde, ob sie das Fenster öffnen könne, antwortete sie -nach bestem Wissen und Gewissen- mit „Ja“ und blieb sitzen. Dass in der Frage eine indirekte Aufforderung steckte, konnte Christine nicht erkennen. Mit der Folge, dass die Lehrerin sich provoziert fühlte. Ein anderes Missverständnis erlebte Preißmann erst vor kurzem 24 O-Ton Preißmann Missverständnisse, 0`28 Als ich zum Beispiel in einem kleinen Ort war in der Eifel bei einer Fortbildung, wo man sagte: `abends werden dort spätestens um 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt`, bin ich davon ausgegangen, das sei eine besondere Art von Bürgersteigen, die man hochklappen könnte…also es ist eigentlich jeden Tag irgendwas. Als meine Eltern beim Autofahren sagten: `Du musst dich da vorne rechts halten`, das sind so Momente, wo man irgendwo das Gefühl hat, man muss sich rechts festhalten, ne? 16 Filmmusik einblenden 15
Sprecherin: Fast täglich, erzählt Christine Preißman, interpretiere sie Aussagen anders als sie gemeint sind. Inzwischen kann sie damit umgehen. 16 Filmmusik kurz hochziehen, dann unter folgendem Text Andere autistische Menschen sind noch nicht so weit. In der Arbeitswelt ist das besonders schwierig. Dort können Missverständnisse zu eingeschränkten Teamleistungen und letztlich zu Umsatzeinbußen führen. Das mag ein Grund dafür sein, dass viele autistische Menschen Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden. Unterm Text Kreuzblende von Filmmusik und 5 Sek. Anfangsmusik von 25 SAP-Video- O-Ton, SAP: 80% unemployed, 0`14 über engl. Stimme Synchronisation 26 Sprecher SAP, 0`06 Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 80 % der Menschen aus dem autistischen Spektrum arbeitslos. SAP will das verändern. Sprecherin: …heißt es in einem Werbevideo des Software-Unternehmens. Es hat erkannt, dass es von den Kompetenzen autistischer Menschen profitieren kann. Deshalb hat der Konzern 2015 ein spezielles Programm aufgelegt: „Autism at work“. Das Unternehmen wirbt gezielt autistische Fachkräfte an und unterstützt sie. Weltweit hat SAP derzeit zweihundertvierzig autistische Mitarbeitende. 26b Atmo Betriebskantine unterm vorangegangenem Satz einblenden, kurz frei stehend, dann unterm Text weiter 16
An den Standorten Walldorf und Sankt Leon-Roth sind dreiundvierzig Beschäftigte autistisch. Die zuständige Personalerin Stefanie Lawitzke hat selbst einen autistischen Sohn. Wir treffen uns in der Betriebskantine Atmo kurz frei stehend 27 O-Ton Lawitzke, Innovationskraft, 0`30 Wir glauben eben auch fest, dass Innovation oft aus einer anderen Wahrnehmung heraus geboren wird. Also Innovation kommt oft von den Rändern, ja? Also nicht aus dem Mainstream heraus. Und wir bieten unseren Kollegen eben auch ein tolles, innovatives Umfeld, wo sie ihre andere Wahrnehmung frei äußern können, wo sie Sachen ausprobieren können, wo das auch aufgenommen und kultiviert wird quasi. Und diese Innovationskraft brauchen wir ja auch. Sprecherin: Nach ein paar Minuten stößt Daniel Vanderputten zu uns, der vor sieben Jahren über das Autismus-Programm zu SAP gekommen ist. Obwohl das Licht in der Kantine gedämpft ist, erscheint der 35-jährige IT- Sicherheits-Experte mit großer Sonnenbrille unter der schwarzen Basecap. Wie viele autistische Menschen ist er lichtempfindlich. Damit ihn die Kolleginnen und Kollegen nicht für abweisend halten, muss man ihnen das erklären, betont Stefanie Lawitzke. Wie auch manche andere Verhaltensweise. Dass es zum Beispiel nichts mit Desinteresse am Team zu tun hat, wenn Daniel Vanderputten bei Vorträgen niemanden anschaut. 17
28 O-Ton Daniel Produktives statt Soziales, Augenkontakt, 0`18 „Ich verwende die Energie lieber auf produktive Sachen als auf alltägliche und soziale Sachen. Also, wie der angesprochene Augenkontakt: Wenn ich den halt nicht halte, dann kann ich mich in der selben Zeit auf was Anderes konzentrieren, zum Beispiel irgendwas in nem Schriftstück sehen oder in nem Diagramm sehen, was ich halt nicht sonst nicht sehen kann, wenn ich dem anderen in die Augen schaue.“ Sprecherin: Missverständnisse vermeiden ist besonders beim Bewerbungsgespräch wichtig, der ersten beruflichen Hürde. Der dort übliche Anfangs-Small-talk kann für autistische Menschen schnell zur Falle werden. Deshalb führt Stefanie Lawitzke schon im Vorfeld Gespräche. Von den autistischen Bewerberinnen und Bewerbern erfragt sie, was sie außer ihrem Fachgebiet persönlich interessiert. Dann rät sie den jeweiligen Führungskräften, beim „Warming-up“ dieses Interessengebiet anzusprechen anstelle des Wetters, der Anfahrt oder anderer Belanglosigkeiten. Daniel Vanderputten weiß die Offenheit seines Arbeitgebers zu schätzen. 29 O-Ton Daniel und Lawitzke, Bewerbungsgespräch, 0`36 „Also die Chance besteht vor allem darin, nicht mit den regulären Einstellungsmethoden kämpfen zu müssen. Dass halt der Fokus wirklich darauf gesetzt wurde, welche analytischen und praktischen Skills bringt man mit und nicht solche oberflächlichen Sachen: hält man unbedingt Augenkontakt oder wie verhält man sich im Gespräch.“ 18
„und dieses Thema small talk ist gerade im Bewerbungsgespräch total wichtig. Und dann ist der Einstieg für den autistischen Bewerber schon total schwierig, weil er damit nichts anfangen kann.“ „Ich empfind das als nutzlos, also zum Informationsaustausch trägt das nicht bei – also wenn man reden will, kann man auch über ein Thema reden.“ Sprecherin: Kurz darauf kommt Sascha Dietsch in unsere Runde. Er studierte noch, als er bei SAP anfing – heute ist er dort Experte für Produktsicherheit. Von dem Programm „autism at work“ hat er bei einer Veranstaltung erfahren. Obwohl er Sakko, Hemd und Aktentasche trägt, wirkt Sascha mit seinen dunklen Wuschelhaaren deutlich jünger als 30. Dass er mir in die Augen schauen kann, habe er jahrelang geübt. Seine Eltern hätten eine Stange Geld für das Sozialtraining bezahlt. Auf die Frage, ob die Fähigkeiten autistischer Menschen besonders gut zum IT-Bereich passen, schüttelt er den Kopf. 30 O-Ton Sascha/Lawitzke/Daniel Autismus und IT, 0`55 „Kennst Du einen Autisten, kennst Du EINEN Autisten. Also ich kenn einen Autisten, der zeichnet seine Bilder wie ein Drucker ein Bild ausdruckt. Ich dagegen, wenn ich einen Stift in der Hand halte, ist es gut, wenn ich überhaupt eine gerade Linie zeichnen kann. Wenn wir alle gleich wären, wär die Welt langweilig. Wir sind alle unterschiedlich.“ „Wobei ich schon denke, dass die IT eine besondere Faszination auf viele ausstrahlt, weil viele Dinge in der IT halt eindeutig sind. Letztendlich sind es Nullen und Einsen. Das ist ja schon etwas, was Ihr ja schon eher mögt…“ – 19
„Ja…“…wenn etwas eher schwarz oder weiß ist und nicht 50.000 Schattierungen von Grau.“ „Ich würd nicht sagen, dass IT besonders geeignet ist. Es ist halt wie bei allen Menschen, jeder hat halt irgendeinen Fokus, worin er gut ist. Und wenn ein Autist in IT gut ist, dann ist er gut für IT gedacht. Und wenn er in einem künstlerischen Interesse besser ist, dann ist das wahrscheinlich besser für ihn als in die IT zu gehen.“ 16 Filmmusik einblenden, dem letzten O-Ton unterlegen 31 O-Ton Sascha, Schlusswort, 0`18 „Wir sind alle unterschiedlich. Ich hab tatsächlich auch schon Kontakt zu anderen Autisten, die sind Lehrer! Oder Erzieherinnen oder Erzieher! Das, was man eigentlich einem Autisten nicht zutraut, wenn man nach dem vorherrschenden Vorurteil geht. Die schaffen das. Man muss halt denen mal ne Chance geben. Filmmusik hochziehen – auf Schluss 20
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