Bilanz eines Ratsvorsitzes Heinrich Bedford-Strohm und die Evangelische Kirche in Deutschland - SWR

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Bei SWR2 Glauben
Bilanz eines Ratsvorsitzes
Heinrich Bedford-Strohm und die Evangelische Kirche in
Deutschland
Von Tilmann Kleinjung
Übernahme von: BR, Evangelische Perspektiven vom 31.10.2022

Sendung: 31.10.2021, 12.05 Uhr
Redaktion: Nela Fichtner
Produktion: BR 2021

Er twittert, chattet und postet Video-Botschaften. Doch Heinrich Bedford-Strohm ist
mehr als das Sprachrohr der Protestantinnen und Protestanten. Der Ratsvorsitzende
der evangelischen Kirche in Deutschland äußert sich regelmäßig zu politischen und
zivilgesellschaftlichen Fragen, macht sich für Nachhaltigkeit, gerechten Welthandel
und Seenotrettung stark. Weniger polarisierend sind seine Ideen für die
Zukunftsfähigkeit seiner Kirche und seine Seelsorge an der bayrischen Kirchenbasis.
Bald ist er „nur“ noch Landesbischof. Eine Bilanz am Ende seiner Amtszeit als EKD-
Ratsvorsitzender.

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MUSIK 0.50

   1. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Von Nietzsche wird ja dieser Ausruf überliefert:
      ach, wenn die Christen doch etwas erlöster aussähen. Wir sollten nicht krampfhaft
      immer happy sein, aber wirklich aus der inneren Kraft leben und dankbar werden.
      0.15

MUSIK hoch

   2. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Ich glaube, dass es uns überhaupt nichts bringt,
      wenn wir verliebt sind in den Niedergang. Es kommt doch darauf an: Wie gehen
      wir damit um? 0.08

MUSIK hoch

   3. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Unabhängig von der Zahl, hängt die
      Ausstrahlungskraft der Kirche davon ab, wie wir in der Gesellschaft wirken, ob wir
      nur auf uns selbst zentriert sind, ob wir so eine fromme Innerlichkeit in unseren
      eigenen Zirkeln pflegen. Oder ob wir uns einmischen, ob wir für die Gesellschaft
      insgesamt da sind. Dann werden wir auch wahrgenommen. 0.18

MUSIK hoch

ATMO (Bremen)

Bremen. 11. November 2015. Die evangelische Kirche sucht einen Ratsvorsitzenden.
Der bayerische Landesbischof hat dieses Amt 2014, nach dem überraschenden Rücktritt
von Nikolaus Schneider bereits für eine Übergangsfrist übernommen. Seine Wiederwahl
müsste eigentlich reine Formsache sein. Doch Wahlen in der EKD-Synode folgen
eigenen Gesetzmäßigkeiten:

   4. ZUSPIELUNG (Szene Synode): Anzahl der abgegebenen Stimmen 125. Auf
      Landesbischof Bedford-Strohm entfielen 124 Stimmen. 0.30 [Applaus]

   5. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Ich hoffe es wird sie nicht überraschen. Ich
       nehme die Wahl an. Ich bin natürlich völlig überwältigt von diesem Wahlergebnis
       und ich will ihnen ganz herzlich danken. Es ist ein Riesenrückenwind in den auch
       schwierigen Themen. 0.15
Die „schwierigen Themen“: Im Jahr 2015 kommen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien zu
Zehntausenden in Deutschland an. Das Thema Flucht und Vertreibung wird den EKD
Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm während seiner gesamten Amtszeit
begleiten, nicht mehr loslassen. Am Anfang steht eine starke Geste.

ATMO (Hauptbahnhof)

Am Hauptbahnhof in München endet eine Odyssee. Flüchtlinge, die versuchen über die
sogenannte Balkanroute, über Serbien, Ungarn und Österreich in die EU zu gelangen,
dürfen einreisen. Die Münchner bereiten ihnen einen herzlichen Empfang. Auch der
bayerische Landesbischof und sein katholischer Amtskollege Kardinal Reinhard Marx
sind zum Bahnhof gekommen.

   6. ZUSPIELUNG (Marx/Bedford-Strohm): Wir haben uns beide heute Mittag spontan
      entschlossen, wir waren beide bei mir zum Mittagessen, ob es nicht gut wäre,
      heute vorbeizuschauen, weil wir gesehen haben, es kommen doch sehr viele
      Flüchtlinge heute an. / Die Menschen müssen mit Würde empfangen und
      behandelt werden. Und ich glaube, ein bisschen was davon hat man hier am
      Bahnhof erleben können. Ich bin unendlich dankbar den Menschen in Bayern und
      ganz Deutschland, die mithelfen, dass die Menschen, die hier ankommen mit
      Würde behandelt werden. 0.32

Deutschland erlebt eine Welle der Hilfsbereitschaft. In den Kirchengemeinden bilden sich
Helferkreise: Deutschkurse für Flüchtlinge und Hilfe bei Behördengängen.
Doch im Rückblick sprechen viele vor allem von der „Flüchtlingskrise“. Die politische
Rechte gar von einer angeblichen „unkontrollierten Masseneinwanderung“.

   7. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm) Man kann natürlich sagen: Es war alles sehr
      euphorisch. Aber ist das wirklich unser Problem, dass wir zu euphorisch
      Menschen mit Liebe begegnen? Wir haben normalerweise ganz andere
      Probleme, und deshalb bin ich stolz auf Bayern, auf Deutschland, dass
      Deutschland in diesen Tagen so reagiert hat, dass die Menschen aus ihren
      Häusern gekommen sind. Das war ehrenamtliches Engagement im allerbesten
      Sinne. Es war eine Revolution der Empathie, die wir da erlebt haben. 0.27

ATMO (Kirchentag)

Kirchentag 2019 in Dortmund. Noch eine „Revolution der Empathie“.

   8. ZUSPIELUNG (Kirchentag): In Europa, in Italien zumal heißt es brutale
      Flüchtlingsabwehr. Man lässt zur Abschreckung die Flüchtlingsboote untergehen
      und die Flüchtlinge ertrinken. Hunderte, Tausende. Und der italienische
      Innenminister Salvini verfolgt Flüchtlingshelfer, er erschlägt die Menschlichkeit.
      0.23
                                                                                           3
MUSIK (Ludovico Einaudi: Nightbook, Archivnummer: C1489860003)

Es ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. Jahr für Jahr sterben Tausende Menschen bei
der Überfahrt im Mittelmeer. Vor allem private Initiativen unternehmen etwas gegen das
Sterben: Sea Eye, Sea Watch, Open Arms.
Der Kirchentag verabschiedet eine Resolution an die Evangelische Kirche. Sie soll selbst
ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schicken. Denn es genüge nicht mehr, die Arbeit der
NGOs bei der Seenotrettung nur finanziell zu unterstützen. Die EKD soll im Mittelmeer
Flagge zeigen.

   9. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Ich habe mich entschlossen, Anfang Juli, nach
      Sizilien zu fahren, die Crew eines der beschlagnahmten Seenotrettungsboote zu
      besuchen, die Sea-Watch-Crew, und habe aus erster Hand gehört, wie die
      Situation ist, was die Menschen erleben, die die Flüchtlinge aus den
      Gummibooten retten. 0.19

Formal gesehen sind der Rat und die Synode der Evangelischen Kirche zuständig. Aber
vor allem der Ratsvorsitzende macht sich die Resolution des Dortmunder Kirchentags zu
eigen: Heinrich Bedford-Strohm will ein zusätzliches Rettungsschiff ins Mittelmeer
schicken. Und dafür reist er mehrfach nach Sizilien, sucht Verbündete, sammelt
Spenden und Argumente für dieses, sein Projekt.

   10. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Wir stellen uns hinter die zivilen Seenotretter,
       indem wir ein breites Bündnis bilden und gemeinsam dafür sammeln und werben,
       dass ein weiteres Schiff ins Mittelmeer geschickt wird und wir insofern deutlich
       sagen: Wenn die Staaten es nicht schaffen, diese Menschen zu retten, dann
       wollen wir selber mit dazu beitragen. 0.35

MUSIK (Ludovico Einaudi: Nightbook, Archivnummer: C1489860003)

Es gibt kaum ein Thema, das in der evangelischen Kirche in der Amtszeit von Heinrich
Bedford-Strohm so leidenschaftlich diskutiert wurde, wie die Beteiligung der EKD an der
Seenotrettung im Mittelmeer. In der Synode stand eine Mehrheit hinter dem Projekt. In
vielen Gemeinden wurden Spenden dafür gesammelt. Eine Minderheit blieb skeptisch.

   11. ZUSPIELUNG (Körtner): Also mein Punkt war, dass man letztlich in der Art und
       Weise, wie man sich hier einbringt, Politik macht und dabei auch noch kirchliche

                                                                                          4
Gelder in nicht geringem Maße einsetzt. Das habe ich für problematisch gehalten,
       und sehe das auch nach wie vor so. 0.16

Ulrich Körtner, Professor für Evangelische Theologie an der Universität Wien, hat in der
Zeitschrift „Zeitzeichen“ einen kritischen Kommentar zum EKD Seenotrettungs-Projekt
geschrieben. Titel: „Verpeiltes Kirchenschiff“.

   12. ZUSPIELUNG (Körtner): Die EKD hat mit ihrer Bootspolitik für eine bestimmte
       Linie eine Schneise geschlagen. Und das Dilemma, das dabei entsteht, dass
       man, auch wenn man es direkt keinesfalls will, dass man mittelbar wieder das
       Geschäft von Schleppern fördert. Damit ist man also stark in einem politischen
       Bereich. 0.14

   13. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Die Alternative, wenn man nicht rettet, ist, dass
       Menschen ertrinken. Es kann nicht sein, dass man einen Ansatz verfolgt, nach
       dem die Rettung von Menschenleben verhindert wird aus Abschreckungsgründen.
       0.16

Heinrich Bedford-Strohm hält an dem EKD-Projekt „United4Rescue“ fest. Auch gegen
Widerstände. Ein Bündnis aus verschiedenen Gruppen mit der Evangelischen Kirche an
der Spitze erwirbt ein ehemaliges Forschungsschiff.

ATMO (Kiel)

Der bayerische Landesbischof reist zur Schiffstaufe nach Kiel. Im Juli 2020 sticht die
„Seawatch 4“ in See und rettet gleich beim ersten Einsatz 200 Menschen aus Seenot.

MUSIK (Ludovico Einaudi: The tower, Archivnummer: C1489860009)

Was bleibt? Vielleicht dieser eine Satz: „Man kann diese Menschen nicht ertrinken
lassen.“ Dieses eine Projekt: „United4Rescue“. Das leidenschaftliche Engagement sagt
viel darüber aus, wie Heinrich Bedford-Strohm Kirche und Theologie versteht. Eine
Theologie, die niemals Selbstzweck sein darf. Eine Kirche, die sich in keine Nische
zurückziehen darf.

MUSIK (hoch)

                                                                                           5
Das scheint ihm in die Wiege gelegt. Heinrich Bedford-Strohm ist in Coburg
aufgewachsen. Als viertes von fünf Kindern. Vater Albert Strohm war dort Pfarrer.
Der Weg ins Pfarramt scheint vorgezeichnet. Auch wenn Bedford-Strohm betont: „Es war
keineswegs klar, dass ich Theologie studiere.“ Er studiert Theologie, wird Pfarrer.
Wechselt dann in die Wissenschaft. Promoviert beim Heidelberger Theologen Wolfgang
Huber, später einer seiner Vorgänger als Ratsvorsitzender der EKD.
2004 folgt Bedford-Strohm einem Ruf an die Universität Bamberg. Sein Spezialgebiet,
seine Leidenschaft: die „Öffentliche Theologie“. Kirche und Welt sind untrennbar
miteinander verbunden. Und deshalb hat die Kirche der Welt auch was zu sagen,
allerdings nur, wenn sie es versteht, in zwei Sprachen zu sprechen.

   14. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Wir müssen klar biblisch reden. Wir müssen
       klare theologische Position beziehen und nicht einfach uns anpassen an die
       säkulare Welt. Aber wir müssen gleichzeitig eine zweite Sprache sprechen,
       nämlich eine Sprache, die uns ermöglicht, in den Diskursen, die nicht geprägt sind
       von biblischen Grundlagen, diese Gesichtspunkte einzubringen. Wir müssen gut
       sein in beiden Sprachen. 0.20

In seinem nächsten Amt kann Heinrich Bedford-Strohm genau diesen Anspruch in die
Tat umsetzen. 2011 wird der damals 51-Jährige als Nachfolger von Johannes Friedrich
zum evangelischen Landesbischof von Bayern gewählt.

MUSIK (Ludovico Einaudi; Life, Archivnummer: C1547520103)

Aus dem Professor für öffentliche Theologie wird ein öffentlicher Theologe, einer, der
schon ganz selbstverständlich auf Facebook aktiv ist. Das steht in jedem Porträt über
den frisch gewählten bayerischen Landesbischof. Außerdem ein gern gesehener Gast in
Talkshows, weil er eben nicht redet wie ein Kirchenmann.

   15. ZUSPIELUNG (Talk Anne Will): Diskussionsrunde zu Flüchtlingsobergrenzen:
       Wie können Menschen, die in schlimmen Situationen sind irgendwie Zuflucht
       finden. Und da gibt’s viele verschiedene Punkte // Aber sie können nicht alle zu
       uns kommen? // Da sind wir uns einig. Das hat doch nie irgendjemand gesagt,
       das ist doch völliger Unsinn. Wir müssen gemeinsam überlegen, wo diese
       Menschen hinkönnen. // Wie wäre denn ihre Lösung, Herr Bedford-Strohm? //
       Libanon hat 1,5 Millionen Menschen aufgenommen und da müsste es doch
       Europa gelingen, mehr als eine Million Menschen in einem Kontinent, wo 500
       Millionen Menschen leben, unterzubringen und daran müssen wir arbeiten. //
       Applaus 0.48

                                                                                          6
MUSIK (Ludovico Einaudi; Life, Archivnummer: C1547520103)

Bedford-Strohm ist der „Chef des größten Gutmenschenclubs der Republik“, lästert die
„Zeit“. In jedem Fall widerlegt er das Klischee von spaßbefreiten Protestanten, er ist der
Sunnyboy der evangelischen Kirche. Und das Netz, das er so liebt, liebt ihn spöttisch
zurück als „ergrauten Konfirmanden“ mit Bubencharme.

   16. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm) Dass ich jetzt gerne mal lächle, kann ich auch
       nicht ändern. Ja, also das ist einfach so. Aber das hält mich überhaupt nicht
       davon ab, die Probleme anzuschauen. Ich weiß auch sehr genau, dass die Kirche
       nicht immer so voll ist, wie wenn der Landesbischof kommt. Aber wovon ich
       tatsächlich nichts halte und auch für die Zukunft, mir nichts davon verspreche, ist
       jetzt wirklich depressiv darin rumzuwühlen, anstatt zu sagen: Jetzt lasst uns
       einfach mal Kirche sein, lasst uns die Hoffnung des Glaubens ausstrahlen. 0.29

ATMO (Kirchentag)

2017. Die Evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation.

   17. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Ich begrüße Sie herzlich hier bei uns in
       Deutschland, in Berlin. 0.08

Bei einem Kirchentag im Mai, zu dem Ex US Präsident Barack Obama anreist.

   18. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm/Obama): …. It’s good to be back in Berlin. 0.16

Und am 31. Oktober mit einem Festakt in Wittenberg, der Stadt des Reformators Martin
Luther.

Gratulantin Bundeskanzlerin Angela Merkel:

   19. ZUSPIELUNG (Merkel): Wir erinnern heute an den Beginn der Reformation vor
       500 Jahren – daran, dass der streitbare Augustinermönch Martin Luther sich
       damals entschloss, seine Überzeugungen in 95 Thesen öffentlich zur Diskussion
       zu stellen. 0.15

Als Heinrich Bedford-Strohm im Jahr 2014 zum EKD Ratsvorsitzenden gewählt wurde,
da waren die Planungen für dieses Reformationsjubiläum schon weit gediehen und
dennoch ist es ihm gelungen, im Festjahr einen eigenen Akzent zu setzen.

                                                                                             7
20. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm). Für mich war der wichtigste Punkt in diesem
       500-jährigen Reformationsjubiläum, dass wir Christus neu entdecken. Es sollte
       ein großes Christusfest werden, nicht ein Jubiläum, wo wir unsere eigene Identität
       dadurch profilieren, dass wir die anderen abwerten, so wie es in den
       Jahrhunderten vorher war. 0.17

Kein Luther-Revival sollte dieses Jubiläumsjahr werden. Keine protestantische
Leistungsschau. Und vor allem aber wollte Bedford-Strohm nicht unter Ausschluss der
katholischen Geschwister feiern. Deshalb war für ihn der Höhepunkt des
Jubiläumsjahres nicht der Kirchentag in Berlin oder der Festakt in Wittenberg. Sondern:

   21. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm) Das war der Gottesdienst in Hildesheim unter
       dem Stichwort Heilung der Erinnerungen. Das hat mich sehr berührt, und das wird
       mich mein Leben lang begleiten. Wir haben in diesem Gottesdienst einander um
       Vergebung gebeten für all das, was seit der Reformation wir uns an Verletzungen
       zugefügt haben, die römisch-katholische Kirche und die evangelische Kirche auf
       der anderen Seite. 0.21

ATMO (Healing of Memories): Bedford Strohm / Marx

   22. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Dass ich sozusagen das alles mal gegenüber
       Kardinal Marx, der neben mir stand, so zum Ausdruck gebracht habe und er
       umgekehrt das Gleiche zu mir gesagt hat, das war sehr berührend. 0.09

ATMO (Healing of Memories) MUSIK hoch

Die beiden Vorsitzenden von katholischer Bischofskonferenz und EKD mögen sich – und
kennen sich aus München. Kardinal Reinhard Marx und Landesbischof Heinrich Bedford-
Strohm pflegen nicht nur im Jahr des Reformationsjubiläums eine Ökumene der kurzen
Wege. Eine Zeitungsschlagzeile fragt einmal: „Gibt’s die auch einzeln?“ Und so mancher
evangelische Zeitgenosse wünscht sich dann auch mehr protestantisches Profil im
Jubiläumsjahr.

   23. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm) Alle in unserem jeweils eigenen Reihen, die da
       skeptisch waren, da haben wir einfach versucht zu überzeugen. Und dann kam
       am Ende eine sehr, sehr berührende Erfahrung raus. Die werden nie verloren
       gehen. 0.15

                                                                                          8
Rund um den 500. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag hat die Ökumene gegen jede
Erwartung einen neuen Schub bekommen. Dafür wurden die beiden Bischöfe Ende 2017
mit dem Ökumene-Preis der Katholischen Akademie in Bayern ausgezeichnet.

   24. ZUSPIELUNG (Marx/Bedford-Strohm): Marx: Ja, ich habe ihn ja schon gekannt,
       als er noch Professor war, da war ich schon Bischof in Trier. Es trafen sich
       Kommissionen...HBS: Daran kannst Du dich sogar noch erinnern? Ich weiß es
       auch noch genau. Ein Abendessen in Berlin. Marx: Er schien mir nicht
       unsympathisch, auf keinen Fall. (lacht) Daraus scheint tatsächlich eine Frucht
       gewachsen zu sein; zumindest sind immer mehr Menschen beider Konfessionen
       der Überzeugung: „Die beiden bekommt ihr nie wieder auseinander, die gehören
       zusammen. 0.36

MUSIK (Ludovico Einaudi: In principio)

Im Jahr 2018 veröffentlicht die katholische Bischofskonferenz eine Studie, in der
erstmals der massenhafte Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Zahlen gefasst
wird. 3677 Opfer,1670 verdächtige Täter finden sich in kirchlichen Akten. Seit 1946. Die
Spitze eines Eisbergs.

MUSIK hoch

Auch bei der evangelischen Kirche melden sich Betroffene von Missbrauch und
Misshandlungen. Sie beklagen die schleppende Aufklärung der Fälle, das fehlende
Problembewusstsein. Es sind Menschen, denen als Minderjährige in evangelischen
Gemeinden und Einrichtungen Gewalt angetan wurde. Von Vertretern der Kirche:
Pfarrern, Erzieherinnen, Pädagogen. Von der Kirchenleitung bekamen sie lange wenig
Unterstützung. Bei der EKD Synode im Herbst 2018 in Würzburg fordert die damalige
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey die Evangelische Kirche und ihren
Ratsvorsitzenden auf, tätig zu werden.

   25. ZUSPIELUNG (Giffey): Menschen, die Kinder missbrauchen und sie damit für ihr
       Leben schädigen, haben in keinem Amt der Kirche mehr etwas zu suchen. Das ist
       meine Überzeugung. 0.16

   26. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Ich sage für uns als evangelische Kirche in aller
       Klarheit: Auch wir müssen weitere Konsequenzen ziehen, noch intensiver an
       Präventionskonzepten und zielgenauer Aufarbeitung arbeiten. Null-Toleranz

                                                                                           9
gegenüber Tätern und Mitwissern, dafür stehen wir in der Pflicht. Und da nehme
       ich eindeutig auf, was Sie, Frau Giffey gerade gesagt haben. [Applaus] Wenn im
       Rahmen dieser Institution Handlungen passieren, die das Leben von Menschen
       zerstören, dann wird mit Füßen getreten, wofür wir stehen. Einen tieferen
       Widerspruch kann ich mir kaum vorstellen. Ich bitte alle Menschen, denen solches
       Leid im Raum der evangelischen Kirche widerfahren ist, im Namen des Rates der
       EKD um Vergebung. 0.54

Mit dem Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm stellt sich die Evangelische Kirche erstmals
systematisch diesem Skandal. In Würzburg wendet er sich direkt an die Betroffenen:

   27. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): „Bitte melden sie sich bei uns. Wir wollen
       wissen, wenn Ihnen im Raum unserer Kirche etwas zugestoßen ist. Wir wollen es
       wissen.“ 0.07

MUSIK (Ludovico Einaudi: In principio)

Kerstin Claus hat sich gemeldet, schon längst vor diesem Aufruf, im Jahr 2001. Als
Jugendliche hat sie sexuellen Missbrauch durch einen evangelischen Pfarrer in
Niederbayern erlebt.

   28. ZUSPIELUNG (Claus): Das komplett zusammensehen konnte ich erst, als meine
       Tochter geboren ist und als ich tatsächlich erstmal realisiert habe, was dieser
       Mensch über zweieinhalb Jahre mit mir getan hat. 0.13

Sie wendet sich 2010 erneut an die Kirche, auch die Staatsanwaltschaft Passau schaltet
sich ein. Das Ergebnis: Der Fall ist verjährt. Hätte die evangelische Kirche die erste
Anzeige an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, wäre eine strafrechtliche Verfolgung
noch möglich gewesen. Der Pfarrer blieb im Dienst.

   29. ZUSPIELUNG (Claus): Und hier muss ich ganz deutlich sagen: Herr Bedford-
       Strohm hat gesagt: Es darf keine Toleranz mit Tätern geben und auch nicht mit
       Mitwissern. Für mich ist auch Herr Bedford-Strohm, ist die Landeskirche
       Mitwisser. Der Täter hat gestanden. Die sexualisierte Gewalt, der Missbrauch ist
       bewiesen und belegt. Und diese Person weiter unbeschadet im Dienst der
       Landeskirche zu belassen, ist für mich unsäglich. 0.29

Die EKD Synode beschließt Präventionsmaßnahmen, richtet eine Anlaufstelle ein, gibt
eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag. Doch es gibt immer wieder
Spannungen. Betroffene wie Kerstin Claus werfen der Kirche vor, ihre

                                                                                         10
Missbrauchsgeschichte nur halbherzig aufzuarbeiten. Opfer würden nicht angemessen
entschädigt, Täter nicht konsequent belangt.

   30. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Bestimmte Dinge sind umgesetzt, auch die
       Aufarbeitung, die Studien, die wir machen wollen, um zu sehen, was ist eigentlich
       im Raum der evangelischen Kirche passiert? Da muss Gründlichkeit vor
       Schnelligkeit gehen. Wir wollen das gut machen, haben deswegen also auch
       schon Symposien gemacht. Jedenfalls verbergen wir nichts. Wir wollen, ich auch
       persönlich möchte, dass alles, was da war, auf den Tisch kommt. Und da gibt es
       überhaupt keine Grenzen außer der rechtlichen Grenze, die man wahren muss.
       0.22

MUSIK (Ludovico Einaudi: Indaco; Archivnummer C1489860004)

Im Frühjahr 2020 legt die Corona Pandemie das öffentliche und kirchliche Leben
weitgehend lahm. Öffentliche Gottesdienste sind untersagt. Beerdigungen finden nur im
engsten Familienkreis statt, Besuche in Altenheimen und Kliniken sind verboten.
Wo Nähe gefragt war, muss die Kirche auf Distanz gehen, auch der Ratsvorsitzende
Heinrich Bedford-Strohm, der sonst immer und überall die Begegnung sucht: bei
Gemeindebesuchen, nach Gottesdiensten, am Rande von Synoden. Alles abgesagt.

MUSIK hoch

   31. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Natürlich werden wir zurückschauen.
       Insbesondere, wenn klarer, wird, welche Möglichkeiten bestanden hätten, werden
       wir zurückschauen und sagen: Hätten wir diese Möglichkeiten erkennen können
       oder nicht. Und was haben wir falsch gemacht? Also, der selbstkritische
       Rückblick, der muss auf jeden Fall sein. 0.17

Die Kritik gab und gibt es: Am deutlichsten wurde Christine Lieberknecht, ehemalige
Ministerpräsidentin in Thüringen und evangelische Theologin. Die Kirche habe in der
Corona-Krise versagt, so ihr Vorwurf. Habe geschwiegen, als öffentliche Gottesdienste
verboten wurden, als die Senioren in den Altenheimen allein gelassen wurden.

   32. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Wer immer sich dazu äußert, der muss schon
       auch so differenziert darüber reden, dass das Dilemma jedenfalls Thema wird.
       Vielleicht haben wir es falsch gemacht. Aber dass Menschen sterben, wenn das
       Virus eingeschleppt wird und zwar viele Menschen sterben in den Altenheimen.

                                                                                      11
Das wissen die Pflegeleitungen sehr genau, und deren Stimmen habe ich eben
        auch gehört. 0.17

Heinrich Bedford-Strohm will sich nicht nachsagen lassen: Die Kirche habe sich nicht zu
Wort gemeldet. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche sucht im Lockdown neue
Wege, um mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wie viele Pfarrerinnen und Pfarrer
auch.

ATMO (Facebook)

Jeden Morgen zeichnet er eine kurze Videoandacht auf und stellt sie ins Netz. Hochkant
für Instagram. Querformat für Facebook.

ATMO (Facebook): „Auf mich hat dieser Vers aus Jesaja schon immer eine besondere
Anziehungskraft ausgeübt.“

Der Bischof versucht zum Influencer zu werden. Seine Online Andachten sind kurz,
verständlich, professionell produziert. Ein Vorgeschmack auf die digitale Zukunft der
Kirche?

   33. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Man soll nicht sagen, dass da keine
       Gemeinschaft möglich ist, sondern ich erfahre das schon so, dass es eine große
       Ressource ist, dass wir auch über weite Distanzen uns sehen können und ein
       Stück von dem jedenfalls spüren können, was wir auch haben, wenn ein Mensch
       physisch präsent ist. Nicht alles, aber doch auch einiges, manchmal auch ziemlich
       viel. Dafür bin ich sehr dankbar. 0.21

„Die evangelische Kirche wird in Zukunft dem digitalen Raum hohe Aufmerksamkeit
widmen.“ So klingt das, wenn die EKD aus der Begeisterung des Ratsvorsitzenden für
digitale Formate eine These für die Zukunft macht. Zwölf solcher Leitsätze hat sich die
EKD Synode vor einem Jahr auf die Fahnen geschrieben. Wie passend: bei einer
Tagung, die coronabedingt nur virtuell stattfand. Die Leitsätze verraten die Handschrift
des „öffentlichen“ Theologen Bedford-Strohm: die Begeisterung fürs Digitale, seine
Forderung: Nicht mehr jede Kirchengemeinde muss alles anbieten: Gottesdienst,
Kirchenchor, Bibelkreis. Das kann sich eine Kirche, die sich über kurz oder lang in ganz
Deutschland in einer Diasporasituation wiederfindet, nicht mehr leisten. In Bedford-
Strohms Amtszeit fällt auch die Prognose eines Freiburger Forscherteams: Bis zum Jahr

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2060 wird sich die Zahl der Protestanten halbieren. Die Christen werden zur Minderheit.
Bedford-Strohms Mentor und Amtsvorgänger Wolfgang Huber hatte einst die Losung
ausgegeben, die Kirche solle „gegen den Trend“ wachsen. So verwegen ist der
bayerische Landesbischof nicht, aber entmutigen lassen will er sich auch nicht von den
Austrittstatistiken und negativen Prognosen: „Es bringt überhaupt nichts, wenn wir in den
Niedergang verliebt sind.“

   34. ZUSPIELUNG (Bedford-Strohm): Wir müssen etwas Anderes ausstrahlen als die
       historisch gewachsenen Strukturen einer preußischen Behörde. Wir müssen eine
       agile Kirche sein, eine Kirche, die auch mal was riskiert, die vielleicht auch mal
       provoziert, die jedenfalls nicht belanglos für Menschen ist. Und wir müssen vor
       allem eine Kirche sein, die berührt. Diese wunderbare Botschaft des Evangeliums,
       dass du nicht allein durchs Leben gehst, du in den schweren Zeiten jemand hast,
       der an deiner Seite steht – diese Botschaft muss die Herzen erreichen. Darum
       geht es, und das ist letztlich das Zentrum: Unsre geistlichen Quellen neu
       entdecken und dann selbst ausstrahlen. 0.34

MUSIK (Einaudi, Ludovico: Fly, Archivnummer: Z8025323201)

Im Herbst 2020 kündigt Heinrich Bedford-Strohm an, für eine weitere Amtszeit als
Ratsvorsitzender 2021 nicht mehr kandidieren zu wollen. Keine Überraschung. In der
evangelischen Kirche werden Ämter immer auf Zeit vergeben. Und trotzdem: im
deutschen Protestantismus geht eine kleine Ära zu Ende.

MUSIK Ende

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