Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit - Dossier
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Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 2 Einleitung Wenn von den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989/90 und der Deutschen Einheit die Rede ist, finden die Sichtweisen von Migrantinnen und Migranten selten Eingang in die Gedenkfeierlichkeiten und Geschichtsbücher. Dabei änderten sich mit der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer auch die Lebensbedingungen der Menschen, die als Arbeitskräfte, Studierende oder Schutzsuchende in die Bundesrepublik und in die DDR gekommen waren. Das Dossier nimmt die Deutsche Einheit aus der Perspektive unterschiedlicher migrantischer Gruppen in den Blick. Dabei liefern die eingebundenen Beiträge und Dokumentarfilme einen Ausschnitt der Situation migrantischer Gruppen Anfang der 1990er-Jahre: Während etwa der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in West-Berlin eine Stimme gibt, skizzieren die Filme "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir bleiben hier" die Situation aus Vietnam stammender ehemaliger Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in Ostberlin kurz nach dem Mauerfall. Das Dossier wird in Kürze um didaktische Materialien und weitere Beiträge ergänzt. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 3 Inhaltsverzeichnis 1. Filme 4 1.1 "Nobody seemed to care" 5 1.2 Interview mit Can Candan zum Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" 9 1.3 "Wir würden gerne mitfeiern, aber wurden aufgefordert zu gehen" 10 2. Historische Hintergründe 17 2.1 Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland 18 2.2 Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im geteilten Deutschland 22 2.3 "Die Mauer fiel uns auf den Kopf." Arbeitswelten von Türkeistämmigen und die Berliner 32 Wiedervereinigung 2.4 Arbeiten im Bruderland. Arbeitsmigranten in der DDR und ihr Zusammenleben mit der 37 deutschen Bevölkerung 3. Gemeinschaften und Netzwerke 45 3.1 Zwischen Rückkehr in die Heimatländer und Existenzsicherung vor Ort 46 3.2 Mauerfall und Deutsche Einheit aus Perspektive mosambikanischer Migrantinnen und 52 Migranten 3.3 Migranten aus Polen im wiedervereinigten Deutschland 60 3.4 Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre 66 3.5 Migrantenorganisationen in Zeiten der Wiedervereinigung 71 3.6 Türkische Migranten und der Mauerfall 77 4. Redaktion 85 bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 4 Filme 10.12.2020 Der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" stellt die Situation und Perspektive türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten auf den Mauerfall und auf die Jahre kurz nach der Deutschen Einheit dar. Die Kurzfilme "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir bleiben hier" begleiten im gleichen Zeitraum vietnamesischstämmige Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in Ostberlin. Die bpb veröffentlicht die Filme hier erstmalig als Online-Streams, Ömer Alkin und Duc Ngo Ngoc analysieren und bewerten sie im Rahmen von Filmbesprechungen. Im Videointerview spricht Can Candan, Regisseur von "Duvarlar – Mauern – Walls", über die Dreharbeiten und die zentralen Themen seines Films. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 5 "Nobody seemed to care" Eine Filmbesprechung zu "Duvarlar – Mauern – Walls" Von Ömer Alkin 1.3.2021 Dr. Ömer Alkin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Medienwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" betrachtet, welche Folgen der Fall der Mauer auf den Alltag der türkischen Community in Berlin hatte. Für den Medienwissenschaftler Ömer Alkin ist der Film eine Pionierleistung, da er ein umfassendes Bild über die Auswirkungen von rassistischer Gewalt und Bedrohung in Deutschland zeichnet. "Nobody seemed to care", ("Niemand schien sich zu interessieren") spricht die Voice-Over-Stimme des türkischen Regisseurs Can Candan zu Beginn des Dokumentarfilms "Duvarlar – Mauern – Walls". Zu diesen Worten zeigt uns die Kamera eine glänzende Turbine, in der sich das Flugzeug spiegelt, mit dem Candan 1991 aus den USA nach Berlin reiste. Der damals 20-jährige Filmstudent wollte die Sicht türkischer Migrant*innen auf den Mauerfall dokumentarisch festhalten. Und tatsächlich sollte der Regisseur mit seiner Aussage Recht behalten: Das Interesse an dem Thema blieb auch in den Folgejahren überschaubar. So stellt "Duvarlar – Mauern – Walls" des inzwischen wieder in der Türkei lebenden und an einer Istanbuler Universität lehrenden Can Candan bis dato den einzigen (dokumentar-)filmischen Versuch dar, die Transformationsprozesse rund um den Mauerfall aus der Perspektive türkischer Migrant*innen zu erzählen, von denen Anfang 1991 140.000 in Berlin lebten. Candan spricht in dem Film mit engagierten Expert*innen, genauso wie mit Studierenden, Jugendlichen, Geflüchteten oder Arbeiter*innen. Sie erzählen von den Folgen des Mauerfalls und ihren Zukunftsperspektiven im wiedervereinten Deutschland. Und so unterschiedlich sich die soziale Herkunft der Befragten gestaltet – dominantes Thema bei allen Interviewpartner*innen ist ihre Sorge vor dem zunehmendem Rassismus im Land. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 6 (http://www.bpb.de/mediathek/305232/duvarlar-mauern-walls) Betroffenheitsperspektive Schon kurz vor Candans einleitenden Worten, in denen er seine Reiseabsicht erklärt, ertönen Klänge einer traditionellen türkischen Flöte (dilli kaval). Sie weckt Assoziationen an die Musik, die zahlreiche Filme des deutsch-türkischen Kinos der 1970er bis 90er Jahre ("Betroffenheitskino") begleitete. Auch der vorliegende Film lässt sich jener Phase des Migrationskinos zuordnen: Er entwickelt Betroffenheit für die dargestellte Welt der Migrant*innen, die in Deutschland zwischen zwei Kulturen ihren Platz zu finden versuchen. Der Regisseur bleibt während des gesamten Films weitgehend unsichtbar und reflektiert über das Voice-Over Themen wie Heimat, Zugehörigkeit und Fremdheit. Der Film folgt einer impliziten Dreiteilung. Der erste Teil erklärt das Phänomen der Arbeitsmigration mit Hilfe von Interviews mit Expert*innen sowie den nahezu ikonisch gewordenen Fotos aus dem Bildband "Arbeitsemigranten" des Kunstkritikers John Berger und des Fotografen Jean Mohr (1976).[1] Der Band zeigt u.a. Bilder von deutschen Ärzten, die "Gastarbeiter*innen" auf ihre Tauglichkeit hin untersuchten. Dadurch, dass der Film die Arbeitsmigration selbst in einen Zusammenhang von Ausbeutung arbeitsuchender und verarmter Menschen stellt, schließt Candan hier wie an vielen anderen Stellen an kritische und linke Diskurse zur Arbeitsmigration an. Im zweiten Teil des Films lässt der Regisseur dann besonders die Skepsis der Migrant*innen zur Maueröffnung deutlich werden. Illustriert werden die Vorbehalte insbesondere durch Aussagen von türkischen Souvenirverkäufer*innen, die Mauerstücke oder andere Andenken an interessierte Tourist* innen verkaufen. Die Ostberliner*innen werden von den Interviewten vorrangig als neue Konkurrent* innen auf dem Arbeitsmarkt und als ursächlich für die zunehmende Arbeitslosigkeit, aber auch als in Teilen offen rassistische Menschen dargestellt, die ihren Frust über das eigene Abgehängtsein nun auf Türk*innen projizieren würden. Stadtteile, so die Interviewten, würden sich durch die geografische Rejustierung Berlins und den daraus resultierenden Verdrängungsprozessen und Wohnungsnöten zu Ungunsten der Westberliner Migrant*innen verändern. Candan lässt diese Aussagen unkommentiert. Mit Blick auf rassistische Anschläge in Westdeutschland in den 1980er-Jahren (so etwa 1984 auf die türkische Familie Satır in Duisburg Wanheimerort mit sieben Toten – der Fall wurde vom bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 7 Migrationsmuseum Domid erst kürzlich wieder recherchiert und publik gemacht)[2] ist die Verortung des Rassismus lediglich im Osten jedoch eine problematische Narration, die der gesamtgesellschaftlichen Dimension schon seinerzeit nicht gerecht wurde. Schlüsselthema Rassismus Im dritten Teil des Films geht es dem Regisseur um die Sichtbarmachung der rassistischen Gefahren für Migrant*innen nach der Deutschen Einheit. Während die Zeitzeug*innen ihre vornehmlich als rassistisch empfundene Sicht auf die Gesellschaft in Deutschland artikulieren, zeigt uns der Regisseur die Stadt Berlin als von Slogans und symbolträchtigen Statuen durchzogenen Ort. Die Graffiti auf den Marx- und Lenin-Statuen sowie auf den Mauerstücken in der Stadt bestätigen bildlich die Aussagen der Interviewten: "Nein zum 4. Reich", "Bild [gemeint ist die Boulevardzeitung] ist rassistisch". Candan begleitet eine antifaschistische Demonstration und eine Auseinandersetzung von Aktivist*innen mit der Polizei. Die Polizei wird auch in einigen Interviews mit den Zeitzeug*innen kritisiert: Mehrere Male kommt die Passivität der Behörden bei den Übergriffen auf die Heime in Hoyerswerda zur Sprache. Auch die Bilder einer angriffslustigen Polizei auf der antifaschistischen Demo spitzen das einseitige Bild einer latent rassistischen Polizeikultur weiter zu. Angesichts aktueller Fälle von rechtsextremistischen Einstellungen innerhalb der Polizei zeigen diese Szenen, dass Migrant*innen die Haltung der Polizei schon damals problematisiert haben. Candans Doku lässt Menschen zu Wort kommen, die bis dahin ungehört geblieben waren. Sein Film zeigt Zusammenhänge, deren Wirkmächtigkeit angesichts der Verbreitung rechtsextremistischer Denk- und Empfindungskulturen immer noch schockierende Ausmaße hat. Gerade aufgrund der direkten Artikulation rassistischer Verhältnisse in Deutschland erlaubt der Film die Bezugnahme auf Diskurse, die auch nach inzwischen dreißig Jahren nicht an Relevanz verloren haben. Rezeption des Films bis heute Was bleibt Kritisches zu sagen angesichts der Pionierleistung von Candans Film – insbesondere was die Analyse rassistischer Verhältnisse aus der Perspektive der Betroffenen betrifft? In den vielzähligen Veranstaltungen, bei denen Candans Film gezeigt wird, wird stets die Einseitigkeit seiner Perspektive kritisiert, die ausschließlich die Migrant*innensicht in den Mittelpunkt rückt. Der Rassismus werde dadurch nicht sichtbar, sondern vielmehr die Angstgefühle der Menschen, die Candan befragt. Als migrantischer Wissenschaftler kann ich die Beklemmung in den Worten der Sprechenden in "Duvarlar – Mauern – Walls" nachempfinden –- beklemmende Gefühle, die ich, bevor ich den Film sah, so nie medial artikuliert gefunden hatte. Selbstbewusst entgegnet Candan denjenigen, die seine einseitige Sicht kritisieren, meist mit seiner eindeutigen politischen Haltung gegenüber Rassismus. Diese einseitige Haltung zeichnet Candans Film letztlich aus, allerdings macht sie auch die Sichtung des Films schwierig, in dem Rassismus nur noch als ein soziales und politisches Übel erscheint, das bekämpft werden muss. Rassismus ist ein komplexes System, das sich nicht auf Fremdheitskonstruktionen reduzieren lässt. Das weiß der Film, und das lässt er seine Interviewten auch sagen. Die entsprechenden Bilder dieser Systemseite von Rassismus konnten bis heute aber nur die wenigsten Filme sichtbar machen. Auch "Duvarlar – Mauern – Walls" geht hier noch nicht weit genug. In den anderen Dokumentationen des Regisseurs stehen die Menschen und das Aktivistische ebenfalls im Zentrum: In "My Child" (2013) lässt Candan Eltern aus der Türkei von inzwischen erwachsenen LGBT (http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/geschlechtliche-vielfalt-trans/267843/mehr-als-zwei- geschlechter)-Kindern über ihre Erfahrungen sprechen und begleitet auch hier die Straßenproteste von LGBT-Aktivist*innen. In "Üç Saat" ("Drei Stunden", 2008) filmt er mehrere Jugendliche in der Türkei über einen längeren Zeitraum bei der Vorbereitung ihrer Abschlussprüfungen, um darüber das fragwürdige System der Zugangsprüfung für die Hochschulen zu kritisieren. Zu fragen bleibt, ob eine bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 8 solche Betroffenheitsperspektive allein – um mit einer berühmten Frage der postkolonialen Theoretikerin Spivak zu sprechen – die "Subalternen", also diejenigen, die als die Unterdrückten einer Gesellschaft zu betrachten sind, zum Sprechen bringen kann. Das hängt wie so oft davon ab, ob die Stimmen der Subalternen überhaupt gehört werden können. Bei einem Screening von Duvarlar im Februar 2020 in Köln – nur wenige Tage vor dem rechtsterroristischen Anschlag von Hanau mit neun Toten – wollte einer der Zuschauer mehr Repräsentation positiver gesellschaftlicher Verhältnisse und bat darum, auch die Integrationserfolge in Deutschland zu würdigen. Candan entgegnete dem Fragenden damals sinngemäß: Noch heute würden Menschen von den Ängsten sprechen, die sein Film erstmals gezeigt hat. Ihre Sicht der Dinge sichtbar zu machen, das sei damals seine Aufgabe gewesen. Candans Film abstrahiert vom zeithistorischen Problem des Mauerfalls auf ein gesellschaftsübergreifendes Problem. Diese eindeutige pro-migrantische Haltung von Candans Film scheint auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung eine Perspektive zu sein, die dringender benötigt wird denn je. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autor: Ömer Alkin für bpb.de Fußnoten 1. Berger, John/Mohr, Jean (1976): Arbeitsemigranten. Erfahrungen, Bilder, Analysen. Reinbek bei Hamburg. 2. Vgl. Leue, Vivien (2019): Initiative möchte Brandanschlag 1984 in Duisburg neu untersuchen, Deutschlandfunk-Beitrag vom 3. Juli 2019. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ rassismus-als-moegliches-motiv-initiative-moechte.976.de.html?dram:article_id=452885 (https:// www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-als-moegliches-motiv-initiative-moechte.976.de.html?dram: article_id=452885) (Stand: 15.01.2021) bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 9 Interview mit Can Candan zum Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" 1.3.2021 Im Videointerview erläutert der türkische Regisseur Can Candan die Hintergründe und den politisch-historischen Kontext seines Films, in dem er die Sicht türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten auf den Mauerfall und die Jahre nach der Wiedervereinigung eingefangen hat. (http://www.bpb.de/mediathek/319068/interview-mit-can-candan-zu-seinem-dokumentarfilm-duvarlar-mauern- walls) Das Interview mit Can Candan entstand im Rahmen des Projektes "Mit offenem Blick | Açık bakışla", das sich mit migrantischen Perspektiven zur Erinnerungskultur des Mauerfalls und der Wendezeit – insbesondere in Berlin-Kreuzberg – auseinandergesetzt hat. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 10 "Wir würden gerne mitfeiern, aber wurden aufgefordert zu gehen" Eine Filmbesprechung zu "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir bleiben hier" Von Duc Ngo Ngoc 5.3.2021 Duc Ngo Ngoc ist Regisseur und Drehbuchautor. Er realisiert sowohl Spiel- als auch Kinodokumentarfilme. Für seinen Masterabschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg "Trading Happiness - Trao Đ i H nh Phúc" bekam er 2020 den Publikumspreis beim Max Ophüls Festival und wurde in drei Kategorien für den renommierten First Steps Award nominiert. Die Dokumentarfilme "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt" bilden vietnamesische Perspektiven auf die deutsche Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre ab. Der Regisseur Duc Ngo Ngoc nähert sich beiden Filmen auf Grundlage seiner persönlichen Geschichte. Wenn ich an den Mauerfall denke, habe ich direkt Bilder von friedvoll feiernden Menschen im Kopf. Aber es waren vor allem die weißen, deutschen Bürger*innen, die sich feierlich in den Armen lagen. Wie erging es eigentlich den insgesamt 60.000 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die in die DDR gekommen waren um den Arbeitskräftemangel zu kompensieren? Wie haben sie die Wiedervereinigung und die darauffolgenden Jahre erlebt? Das vietnamesische Paar Ha und Son hat die Wiedervereinigung zu Hause vor dem Fernseher verbracht. Gerne hätten sie mit ihren Arbeitskolleg*innen gefeiert, doch aus Angst vor rassistischen Überfällen sind sie lieber in den eigenen vier Wänden geblieben. Das erzählen sie im Dokumentarfilm "Wir bleiben hier" von Dirk Otto aus dem Jahr 1990. Diese unsichere Situation von Vietnames*innen in der Zeit nach dem Mauerfall wird auch im Dokumentarfilm "Bruderland ist abgebrannt" der Regisseurin Angelika Nguyen aus dem Jahr 1992 deutlich. Ein Vietnamese berichtet darin vom einem rassistischen Angriff, bei dem die Täter in den vermeintlich sicheren Ort der eigenen Wohnung eindrangen und seinen Bruder und ihn brutal zusammenschlugen. Mein Vater gehört zu den wenigen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die nach der Wende in Deutschland geblieben sind. Die Mehrzahl seiner Kolleg*innen war aufgrund des Rückführungsabkommens der Bundesregierung nach Vietnam zurückgekehrt. In dieser Zeit bin ich als fünfjähriger Junge in das nur drei Jahre zuvor wiedervereinte Deutschland gekommen und musste mich neu sozialisieren. Für mich war es ein aufregender Lebensabschnitt, geprägt von Heimweh und Neugier zugleich – vordergründig eine heile Welt. Für meine Eltern war es ein belastender Schwebezustand mit vielen Sorgen und großen Ängsten, die sie mir vorenthalten haben, um mich zu beschützen. Die beiden Dokumentarfilme "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt" begleiten das vietnamesische Leben in Ostberlin während und kurz nach der Wiedervereinigung. Sie werfen also auch einen Blick auf meine Kindheitserfahrungen und spiegeln diese Zeit sehr eindringlich wider. Ich möchte diese Filme, die mich nicht nur als Regisseur, sondern auch als Deutsch-Vietnamese zweiter Generation beschäftigen, einander gegenüberstellen und analysieren. Hierbei arbeite ich zunächst heraus, wie der Einsatz von Voice-over und Musik die unterschiedliche Haltung der Filmemacher* innen gegenüber der vietnamesischen Community unterstreicht. Im zweiten Teil des Textes beleuchte ich dann, auf welche Weise Interviews als dokumentarisches Mittel die Erfahrungen der Protagonist* innen spürbar machen. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 11 Eine zeitgenössische Momentaufnahme der Lage ehemaliger Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter aus Vietnam kurz nach der Wiedervereinigung. Ein Film über rechtliche und soziale Unsicherheit, über das Ankommen und den Abschied auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. (© 1991 Angelika Nguyen) (http://www.bpb.de/mediathek/317607/bruderland- ist-abgebrannt) "Bruderland ist abgebrannt" Der Film "Bruderland ist abgebrannt" von Angelika Nguyen ist in sechs Episoden aufgeteilt und zeigt pro Episode unterschiedliche Perspektiven von Vietnames*innen und deutschen Zeitzeug*innen, die mit der vietnamesischen Diaspora in Ostberlin in Berührung standen. Der Film beginnt mit Eindrücken vom Flughafen Schönefeld. Wir sehen Anzeigetafeln, Polizeibeamt*innen, beklebte Koffer und viele Vietnamesen*innen, die sich auf die Rückreise nach Vietnam vorbereiten. Das filmische Element des Voice-Overs (https://www.kinofenster.de/lehrmaterial/glossar/voice_over/) wird in den ersten Szenen direkt eingeführt. Die Stimme der Regisseurin Angelika Nguyen gibt Informationen über die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen: "60.000 leben 1989 in der DDR. [...] Rund 14.000 sind noch hier. [...] 80 Prozent sind arbeitslos. Eine Geschichte geht zu Ende. Die Geschichte der gegenseitigen Hilfe zweier Bruderländer." Im Zusammenspiel mit dem kurz darauf eingeblendeten Titel lässt sich bereits erahnen, dass es kein würdiger Abschied für die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen aus Deutschland ist. Es scheint, als wären die einst solidarischen Bruderstaaten nur noch ein abgebrannter Trümmerhaufen, der beseitigt werden muss. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 12 Voice-Over der Regisseurin als kritischer Kommentar Später im Film sieht man eine weitere Szene auf dem Flughafen Schönefeld. Ein Koffer nach dem anderen wird am Gepäckband abgewiesen. Die Regisseurin Nguyen kommentiert: "Alle haben mehr Gepäck als zugelassen. Der Umzug nach jahrelanger Arbeit von einem reichen Weltteil in einen armen bringt das mit sich was in der Amtssprache 'Übergepäck' heißt." Der kritische Unterton sowie die Wortwahl der Regisseurin untermalen die absurde Situation am Flughafen und wirken fast komödiantisch. Dazu trägt auch die Montage der darauffolgenden Sequenz bei: Ein Vertragsarbeiter rechtfertigt sein Übergepäck im Gespräch mit einem Mitarbeiter der Fluggesellschaft mit dem geringeren Körpergewicht von Vietnames*innen gegenüber Europäer*innen. Als nächste Szene montiert Nguyen die Aufnahme eines dickleibigen, weißen Mannes, der ebenfalls mit seinem Gepäck am Flugschalter wartet. Angelika Nguyen, die selbst Tochter einer deutschen Mutter und eines vietnamesischen Vaters ist und aufgrund ihres Aussehens Ausgrenzungserfahrungen erlebte, positioniert sich durch diese Montage auf der Seite der Vietnames*innen. In einem Interview, das ich vergangenes Jahr mit ihr geführt habe, erzählte sie mir: "Durch meine halb vietnamesische Herkunft habe ich eine besondere Beziehung zu ihnen. Mir war klar, dass ich einen Film über vietnamesische Menschen in Ostberlin machen wollte. Die massenhafte Arbeitslosigkeit, der ungeklärte Aufenthaltsstatus, sowie der steigende Rassismus machten die soziale Lage extrem prekär für die Vietnames*innen." Der Einsatz des Voice-Overs als kritischer Kommentar wird auch in einer Szene deutlich, in der es um die Wohnsituation der Vietnames*innen im Heim geht. Nguyen bezieht erneut klar Haltung und äußert sich zu den überteuerten Mieten: "Von dem Rest kann kein Mensch leben. Diese Wohnsituation ist die krasseste Aufforderung von Seiten der Institutionen an die Vietnamesen das Land zu verlassen." Nguyen kommentiert die Missstände dieser Zweiklassengesellschaft kritisch und direkt. Als Zuschauer* in spürt man das Mitgefühl der Regisseurin und ihre Verärgerung über die deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen. So vermittelt das filmische Mittel des Voice-Overs in Bruderland ist abgebrannt nicht nur Zahlen und Infos, sondern verdeutlicht die Verbundenheit der Regisseurin mit der vietnamesischen Bevölkerung in Deutschland und unterstreicht ihre Haltung als Filmemacherin. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 13 Beobachtungen in einer vietnamesischstämmigen Familie nach dem Zusammenbruch der DDR. Auf die Freude über den politischen Wandel und die Wiedervereinigung folgen Erfahrungen mit wachsendem Rassismus und die Angst, nach Vietnam abgeschoben zu werden. (© 1990 DEFA, ICESTORM Entertainment GmbH) (http://www.bpb.de/ mediathek/310871/wir-bleiben-hier) "Wir bleiben hier" Dirk Otto wählte in seiner Fernsehdokumentation "Wir bleiben hier" einen anderen Ansatz: Er portraitiert Ha und Son, ein vietnamesisches Ehepaar, das in der DDR studiert und gearbeitet hat. Nach dem Mauerfall haben sie ihre Tochter aus Vietnam nach Deutschland geholt. Sie geht in Ostberlin in die Grundschule und lernt Deutsch. Ha ist Dolmetscherin und übersetzt für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen bei Arzt- und Amtsbesuchen. Son arbeitet in der Textilindustrie. Ihre Arbeitsverträge neigen sich dem Ende zu, und sie werden als Arbeiter*in bald nicht mehr gebraucht. Trotz der ungewissen Zukunft wollen sie in Deutschland bleiben. "Wir bleiben hier" ist somit nicht nur der Filmtitel, sondern steht auch für die Einstellung der jungen vietnamesischen Familie, die diese Aussage hoffnungsvoll wiederholt. Sie nutzen den Film als Bühne, um diese Botschaft zu den Zuschauer*innen zu tragen. Der Regisseur Dirk Otto gibt ihnen Raum und lässt sie umfassend und eindringlich zu Wort kommen. Das Voice-Over in "Wir bleiben hier" taucht im Gegensatz zum Film von Angelika Nguyen nur zu Beginn auf. Die Worte des Sprechers werden von einer Orchestermusik Richard Wagners begleitet. Die Tonalität der Musik wirkt dabei fehl am Platz und übertrieben dramatisch. Zugleich sehen wir die vietnamesische Familie – Vater, Mutter, Tochter – die inszeniert über einen leeren Platz läuft. Die männliche Stimme des Voice-Overs untermalt die Bilder wie folgt: "Vietnamesen in Deutschland. Geflohen vor Hunger und politischer Verfolgung, in den Westen oder im Osten über ein Regierungsabkommen als Gastarbeiter in ein Land geholt, das es nicht mehr gibt. So wie Ha und Son, die mit ihrer Tochter in Ostberlin wohnen. Wir haben sie in den Tagen um die deutsche Vereinigung und auf ihrem ersten Ausflug nach Hamburg begleitet." bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 14 Herablassende Distanz und empathische Nähe zugleich Die Wortwahl des Kommentars in Verbindung mit der zugespitzten Musik erinnert an eine Tierdokumentation, die die vermeintlich "seltenen und politisch verfolgten" Vietnames*innen zeigt, die sich im Osten und Westen Deutschlands angesiedelt haben. Somit suggeriert das Voice-Over direkt zu Beginn der Dokumentation einen sehr herablassenden Blick auf die Familie. Das Resultat ist die Herstellung einer Distanz zwischen Zuschauer*in und Protagonist*innen. Wir schauen mit westlichem, weißem Blick auf die vietnamesischen Protagonist*innen und aufgrund des Voice-Overs erscheint es direkt unmöglich ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Der Einsatz des Titels mit Abschluss des Voice-Overs verfestigt diese Wahrnehmung. Auf einer perfekt gerahmten Kameraeinstellung der Familie erscheint in blutroter Schrift der Filmtitel "Wir bleiben hier". Wieder steigt die Orchestermusik bedrohlich an und zeichnet in Verbindung mit der Farbwahl des Titels ein Gefühl von Gefahr, das man als Zuschauer*in auf die vietnamesische Familie im Bild beziehen kann. Somit schafft der Regisseur ein klares Bild der "Anderen", das keine Nähe sondern Distanz aufzeigt. Diese Anfangssequenz des DEFA-Films spiegelt den deutschen Blick auf die damaligen Vertragsarbeiter*innen sehr treffend wider. Unter dem Deckmantel der Solidarität kommt ein strukturierter und mehr oder weniger subtiler Rassismus zum Vorschein. Der Filmeinstieg erzeugte bei mir eine abwehrende Haltung, die mich beim Sichten des Films weiter begleitete. Klammert man allerdings das anfängliche Voice-Over und den wiederholten Einsatz der dramatischen Musik aus, so gelingt es doch eine Verbindung zu den Protagonist*innen aufzubauen. Im Kontrast zum Einstieg des Films wird den Protagonist*innen im weiteren Verlauf der Dokumentation in einem Interview Raum gegeben, ihre Wünsche und Ängste zu äußern. Die Montage lässt die Interviewfragen bewusst außen vor, sodass man als Zuschauer*in gänzlich bei den Worten und Gedanken der Protagonist*innen verweilen kann. Diese Montagetechnik erzeugt ein Gefühl des Beisammenseins – man könnte denken, dass man gemeinsam mit den Protagonist*innen am Tisch sitzt. Auch die subtile Anwesenheit der Tochter, die selbst nie Interviewfragen beantwortet, schafft eine familiäre Atmosphäre, die mich sehr an meine eigene Kindheit erinnert hat. Das junge Mädchen steht symbolisch für die Hoffnung und Zukunft der Familie. Durch sie gelingt es mir Empathie für das Elternpaar zu empfinden und ich erkenne mich in ihrer Welt und Situation wieder. Während sie ihren Kaugummi kaut oder Frühlingsrollen brät, lauscht sie den Worten ihrer Eltern aufmerksam. Man spürt, dass sie die Sorgen und Ängste ihrer Familie wahrnimmt. Trotzdem vermitteln die Eltern ihr ein sicheres Gefühl von Geborgenheit. Die Tatsache, dass der Film "Wir bleiben hier" diese kindliche Gefühlswelt anhand eines Familienporträts für Außenstehende spürbar macht, empfinde ich als wertvoll. Im Gegensatz zu "Bruderland ist abgebrannt" gelingt es Dirk Otto damit auch, den Blick sowohl auf die Vertragsarbeiter*innen als auch auf die zweite Generation von Deutsch-Vietnames*innen zu lenken. Kurzporträts vs. Familienporträt Die episodische Erzählweise von Angelika Nguyen steht im Kontrast zum Porträt Dirk Ottos. Aufgrund der gewählten Form können die Protagonist*innen in "Bruderland ist abgebrannt" nur vergleichsweise kurz zu Wort kommen. Sie erscheinen und verschwinden. Gleichzeitig repräsentieren die unterschiedlichen Protagonist*innen einen guten Querschnitt der damaligen Lage und Situation der Vietnamesen*innen in Ostberlin. So begegnen wir dem Vertragsarbeiter, der davon erzählt, wie er im Wohnheim von vier maskierten Jugendlichen überfallen und körperlich verletzt wurde. Die Tatsache, dass dieser Fall nicht strafrechtlich verfolgt wurde, ist ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß Rassismus von staatlichen Behörden und Institutionen hingenommen wurde. Die geschilderte Szene erinnert auch an einen Moment in Dirk Ottos Film, in dem der Familienvater Son einen ähnlichen rassistischen Überfall im Hinterhof seines Wohnhauses beschreibt. Allerdings gelingt es Nguyen im Gegensatz zu Otto durch die Mehrzahl an Protagonist*innen, das Thema Rassismus aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen. Dies wird beispielsweise deutlich, als bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 15 sie ein deutsch-vietnamesisches Paar dazu befragt, welche Unterschiede sie zwischen ihrem Leben und dem Leben der im Wohnheim untergebrachten Vertragsarbeiter*innen sehen. Der junge, vietnamesische Vater antwortet daraufhin, dass seine Familie weniger Miete zahlen müsse als seine Kollegen*innen im Wohnheim. Die Partnerschaft mit einer deutschen Frau gebe ihm zudem mehr Freiheiten. Doch vor nächtlichen, gewaltsamen Übergriffen hätten er und seine Frau trotzdem Angst. Rassismus begegne auch ihnen im Alltag, beispielsweise wenn alte deutsche Männer ihnen "Die Ausländer nehmen uns unsere Frauen weg!" hinterherriefen. Durch gezielte Interviewfragen, die im Schnitt des Films hörbar bleiben, lässt Angelika Nguyen ihre Protagonist*innen Ungerechtigkeiten aussprechen und erkennen. Auch Ha und Son im Dokumentarfilm "Wir bleiben hier" sprechen offen von ihrer Angst vor rassistischen Angriffen. Am Abend der Wiedervereinigung fällt ein Satz, den ich in ähnlicher Form auch von meinem Vater nur zu gut kenne: "Wir freuen uns auch sehr mit dem deutschen Volk, aber [...] wir haben auch Angst dabei. Die Ausländerfeindlichkeit ist sehr zugespitzt." Die Familie verfolgt den historischen Abend vor dem Fernseher, und die gezielte Montage von Bildern, die den Blick aus dem Fenster auf Berlin festhalten, lässt die Kluft zwischen der Freude und der Angst und Ausgrenzung spürbar werden. Obwohl das Ehepaar Deutsch spricht, in der DDR studiert hat und jahrelang in Berlin gearbeitet hat, gehören sie nicht zum vereinigten Deutschland. Sie verweilen aus Angst vor Rassismus zu Hause und können ihre Freude nicht mit Kolleg*innen teilen. Fassade der Solidarität Angelika Nguyens Film Bruderland ist abgebrannt hält auch diese Kolleg*innen vor der Kamera fest. Die Deutschen, die zu Wort kommen, vertreten meist Institutionen und Vereine und repräsentieren somit deren Haltung gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Beispielsweise begegnen wir einer Mitarbeiterin der ARWOGE Wohnungsbaugesellschaft, die die miserable Wohnungssituation der Vietnames*innen auf die Betriebe und die Politik schiebt. Sie verweist die Schuld auf andere, unterstützt aber durch ihre Arbeit selbst das System, das rassistisch und diskriminierend handelt. Ähnlich wie sie verstecken sich auch drei deutsche Mitarbeiter*innen eines Betriebes am Flughafen gekonnt hinter ihrer beruflichen Rolle. Bei der Auszahlung der Prämie für die "freiwillige" Ausreise der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen fängt die situative Kameraführung die Interaktion grandios ein: der eine bewacht den Geldkoffer, die andere protokolliert und noch ein weiterer sitzt lässig da und zählt das Geld. Die Deutschen begrüßen ihre vietnamesischen Kolleg*innen beim Vornamen, fertigen sie dann aber förmlich ab: "Trang, mach‘s gut!", sind die letzten Worte, die eine der Vertragsarbeiterinnen hinterhergerufen bekommt. Ein trauriger Abschied, der von einer merkwürdigen zwischenmenschlichen Beziehung zeugt und deutlich macht, dass die so beteuerte Solidarität der DDR mit dem vietnamesischen Volk nur eine Fassade war, um billige, effiziente Arbeitskräfte einzustellen und schlussendlich wieder loszuwerden. Und so endet der Film, wo er auch angefangen hat: am Flughafen Schönefeld. Eine schöne dramaturgische Klammer, die die episodischen Erzählungen abschließt. Dirk Otto und Angelika Nguyen haben mit den Filmen "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt" zwei wertvolle historische Dokumente der deutschen als auch der vietnamesischen Geschichte geschaffen. Angelika Nguyen positioniert sich klar auf der Seite der vietnamesischen Vertragsarbeiter* innen und nutzt das Voice-Over, diese Haltung zu verdeutlichen. Konträr zu dieser Position verhält sich die Eröffnungsszene von "Wir bleiben hier". Durch die Platzierung des Voice-Overs und die dramatische Orchestermusik wird die vietnamesische Familie bedrohlich inszeniert. Jedoch gelingt es beiden Filmen durch den Austausch mit den jeweiligen Protagonist*innen ein vielschichtiges Bild der Situation von Vertragsarbeiter*innen und ihren Kindern in der Wendezeit zu schaffen. Besonders die Erfahrungen mit Rassismus im alltäglichen Leben und die damit zusammenhängenden Ängste der Vietnames*innen treten durch die gekonnte Interviewführung der Regisseur*innen in den Vordergrund. Angelika Nguyen erzählte im Interview mit mir, dass zum Zeitpunkt des Drehs kein deutscher Fernsehsender an ihrem Filmprojekt Interesse zeigte. Sie sagte: "Die Deutschen hatten damals ihre eigenen Sorgen. Was sollten sie mit migrantischen Geschichten?" Sowohl ihr als auch mir fällt auf, bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 16 dass das Interesse für die deutsch-vietnamesischen Realitäten in Deutschland in den letzten Jahren zunimmt. Zu Recht bekommen diese beiden wichtigen Dokumentarfilme momentan wieder Aufmerksamkeit. Doch obwohl das dreißigjährige Jubiläum der deutschen Einheit ein guter Anlass ist, um diese Filme zu besprechen, sollte Solidarität gegenüber Minderheiten auch ohne Jubiläum in der Gesellschaft vorhanden sein. Ich bin heute, mehr als dreißig Jahre später, stolzer Sohn eines vietnamesischen Vertragsarbeiters, besitze einen deutschen Pass und obwohl ich es liebe mit meinen Mitmenschen zu feiern, werde auch ich immer wieder aufgefordert zu gehen. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autor: Duc Ngo Ngoc für bpb.de bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 17 Historische Hintergründe 1.3.2021 Die Nachkriegszeit wurde in beiden deutschen Staaten durch Zuwanderung oder die Anwerbung von Arbeitskräften mitgeprägt. Die Migrations- und Integrationspolitiken und die Debatten rund um die Themen Asyl und Einwanderung gestalteten sich in der DDR und in der Bundesrepublik jedoch sehr unterschiedlich. Das Kapitel gibt einen Einblick in historische Hintergründe. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 18 Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland Von Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer 20.9.2017 Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. E-Mail: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. E-Mail: joltmer@uni-osnabrueck.de Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt. Ein Blick auf Wanderungen seit dem 17. Jahrhundert zeigt, dass die Migrationsgeschichte des Landes nicht erst mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er Jahren begann. Ein undatiertes, privates Foto aus den siebziger Jahren zeigt eine türkische Gastarbeiterfamilie vor ihrem Auto. (© picture-alliance/dpa) bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 19 Wanderungsbewegungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte in einigen deutschen Gebieten zu starken Zerstörungen und einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Die jeweiligen Landesherren warben daher erwerbsfähige und steuerzahlende Personen aus anderen, z.T. übervölkerten Regionen an, die sich in den kriegszerstörten Gebieten niederlassen sollten ("Peuplierungspolitik"). Diese wurden so zu zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Auch Glaubensflüchtlinge aus anderen Teilen Europas zog es ins frühneuzeitliche Deutschland. Die umfangreichste sowie wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Zuwanderergruppe waren die Hugenotten. Nach dem Widerruf des 1598 verkündeten Edikts von Nantes (1685) wanderten 30.000-40.000 von ihnen in deutsche Territorien vorwiegend nördlich des Mains ein (v.a. nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die welfischen Herzogtümer und in die Hansestädte).[1] Nach diesen Einwanderungsbewegungen, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts anhielten, dominierte bis in die 1830er Jahre die kontinentale Abwanderung nach Ost- und Südosteuropa, bis zum späten 19. Jahrhundert dann die transatlantische Abwanderung, vornehmlich in die USA. Von den 1680er Jahren bis 1800 wanderten rund 740.000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nach Ost-, Ostmittel- und Südeuropa. Zwischen 1816 und 1914 zogen dann rund 5,5 Millionen deutsche Abwanderer[2] in die Vereinigten Staaten. Dort stellte die in Deutschland geborene Bevölkerung 1820-1860 mit rund 30 Prozent nach den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste Einwanderergruppe. Die erhebliche Ausweitung wirtschaftlicher Chancen aufgrund von Hochindustrialisierung und Agrarmodernisierung in Deutschland sowie die Wirtschaftskrise in den USA führten Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zu einem deutlichen Rückgang der transatlantischen Migrationsbewegungen. Flucht und Zwangsarbeit in und zwischen den Kriegen Mit und nach dem Ersten Weltkrieg begann das "Jahrhundert der Flüchtlinge". Die Weimarer Republik wurde zum Ziel Hunderttausender von Flüchtlingen, die vor den Folgen der russischen Oktoberrevolution 1917, dem anschließenden Bürgerkrieg und der Durchsetzung des Sowjetsystems auswichen. Hinzu traten Zehntausende von osteuropäischen Juden, die vor Pogromen und antisemitischen Strömungen in vielen Teilen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas Schutz suchten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Deutschland erneut – wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg – zu einem asylfeindlichen Staat. Außerdem vertrieben die neuen Machthaber rund eine halbe Million Menschen. Das betraf politische Gegner des Regimes, solche, die das Regime dafür hielt und vor allem all jene, die aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu geächteten Fremden in Deutschland erniedrigt und zunehmend verfolgt wurden. Dazu zählten vor allem Juden, von denen wohl 280.000 bis 330.000 zwischen 1933 und 1940 das Reich verließen. Etwa 195.000 deutsche Juden, die nicht (mehr) fliehen konnten, wurden bis Kriegsende ermordet, nur rund 15.000 bis 20.000 überlebten die Lager oder versteckt im Reichsgebiet. Aufnahme für die Fliehenden gewährten weltweit mehr als 80 Staaten, nicht selten – und im Laufe der 1930er Jahre zunehmend – widerwillig und zögerlich, weil die Schutzsuchenden aus Deutschland vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise als Belastung für Ökonomie und Sozialsysteme galten. In den beiden Weltkriegen (1914-1918 (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ ersterweltkrieg/) und 1939-1945 (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-zweite- weltkrieg/)) führte der Arbeitskräftebedarf (v.a. in der Rüstungsindustrie) zu einem starken Zuzug von Arbeitskräften aus anderen Staaten. Dieser erfolgte jedoch in der Regel nicht freiwillig: Zwangsarbeit prägte die Ausländerbeschäftigung in Kriegszeiten. Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich waren von Vertreibung und Fluchtbewegungen dominiert. Rund 14 Millionen "Reichsdeutsche" und "Volksdeutsche" (Angehörige deutscher Minderheiten ohne deutsche Staatsangehörigkeit) flohen aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa in Richtung Westen. In der Bundesrepublik Deutschland erleichterte die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre fundamental die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Gleichzeitig bildeten sie ein qualifiziertes und hochmobiles Arbeitskräftepotenzial, das den wirtschaftlichen bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 20 Wiederaufstieg mittrug. "Gastarbeiteranwerbung", Anwerbestopp und Familiennachzug In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die noch junge Bundesrepublik Deutschland einen Wirtschaftsboom, der mit einer enormen Expansion des Arbeitsmarktes einherging. Da das inländische Arbeitskräftepotenzial nicht ausreichte, um die Nachfrage zu decken, schloss die Bundesrepublik 1955 mit Italien und 1960 mit Griechenland und Spanien erste Vereinbarungen zur Anwerbung von Arbeitskräften aus diesen Ländern ab. Es folgten entsprechende Abkommen (http://www.bpb.de/ geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/) mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten übernahmen in der Regel un- und angelernte Tätigkeiten in der industriellen Produktion mit hoher körperlicher Beanspruchung, gesundheitlicher Belastung und Lohnbedingungen, die viele Einheimische nicht (mehr) akzeptieren wollten. Die Anwerbung der sogenannten "Gastarbeiter" wurde im Zuge der Öl(preis)krise und steigender Arbeitslosigkeit 1973 beendet. Hintergrund dieser Entscheidung war aber auch die zunehmende Niederlassung der ausländischen Arbeitnehmer im selbsterklärten "Nichteinwanderungsland" Deutschland. Vom Ende der 1950er Jahre bis zum "Anwerbestopp" (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche- geschichte/anwerbeabkommen/43270/anwerbestopp-1973) 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen etwa 11 Millionen nur temporär im Land verblieben und wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Die anderen blieben und zogen ihre Familien nach. So kam es, dass die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen zwar nach dem Ende der Anwerbezeit sank – von 2,6 Millionen 1973 auf 1,6 Millionen 1989 – die ausländische Wohnbevölkerung aber im selben Zeitraum von 3,97 Millionen auf 4,9 Millionen wuchs. Und in der DDR? Auch in der DDR gab es einen Arbeitskräftemangel, der vor allem auf die massive Abwanderung in den Westen zurückzuführen war: Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 waren mindestens 2,7 Millionen Menschen in die Bundesrepublik gegangen, während der Umfang der Bewegung aus Westdeutschland in die DDR nur bei rund 500.000 in diesem Zeitraum lag. Die durch die Abwanderung vor allem junger und gut qualifizierter Menschen entstandene Lücke sollte zumindest teilweise durch ausländische Arbeitskräfte geschlossen werden. Dazu schloss die Regierung Abkommen mit sozialistischen "Bruderländern". 1968 trafen die ersten der sogenannten Vertragsarbeiter aus Ungarn ein. Es folgten Arbeitskräfte aus Algerien, Angola, Polen, Mosambik und Kuba. Die größte Gruppe stammte aus Vietnam. Sie durften nur für eine befristete Zeit in der DDR bleiben. Da private Kontakte zu Einheimischen unerwünscht waren, lebten sie isoliert in Wohnheimen. Nähere Kontakte zu DDR- Bürgern waren genehmigungs- und berichtspflichtig. Zur Wende hielten sich rund 94.000 Vertragsarbeiter in der DDR auf, darunter 60.000 Vietnamesen. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 verließen viele von ihnen das Land – in der Regel, weil ihnen wegen des Auslaufens der Aufenthaltsgenehmigungen keine Alternative blieb.* * Weitere Informationen zum Migrationsgeschehen in der DDR unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/ migration/dossier-migration/56368/migrationspolitik-in-der-ddr?p=all (http://www.bpb.de/gesellschaft/ migration/dossier-migration/56368/migrationspolitik-in-der-ddr?p=all) (Zugriff: 24.8.2017). bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 21 Zuwanderung im vereinigten Deutschland: Asylmigration und Aussiedlerzuwanderung in den 1980er und 1990er Jahren Mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs", dem Wandel der politischen Systeme in den ehemaligen Staaten des "Ostblocks" und dem Ende der DDR 1989/90 veränderten sich die Migrationsmuster in Europa. In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa deutlich an. Sie überschritt 1988 die Marke von 100.000, kletterte im Jahr der europäischen Revolutionen 1989 auf etwa 120.000, erreichte im vereinigten Deutschland 1990 rund 190.000 und 1992 schließlich fast 440.000 (siehe "Flucht und Asyl"). Neben der Zuwanderung von Asylbewerbern stieg Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre besonders die Zahl der Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland stark an. Die Bezeichnung "Aussiedler" stammt aus den frühen 1950er Jahren. Nach dem Ende von Flucht und Vertreibung (http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/207251/flucht-und-vertreibung) in der Folge des Zweiten Weltkriegs lebten 1950 nach Behördenangaben noch rund vier Millionen Deutsche in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Ihnen sicherte das Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Aufnahme als deutsche Staatsangehörige zu. Von 1950-1975 passierten insgesamt rund 800.000, von 1976-1987 weitere etwa 616.000 Aussiedler die westdeutschen Grenzdurchgangslager, bis mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" deren Massenzuwanderung begann: Von 1987 an gingen die Zahlen vor dem Hintergrund von "Glasnost" und "Perestrojka" (http://www.bpb.de/izpb/192793/perestrojka-und-glasnost) in der UdSSR rasch nach oben, in den folgenden anderthalb Jahrzehnten kamen mehr als drei Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt wanderten damit im Zeitraum 1950-2016 rund 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler zu. Dieser Text ist Teil des Migrationsprofils Deutschland (http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/ laenderprofile/208594/deutschland). Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer für bpb.de Fußnoten 1. Hierzu und zum Folgenden siehe Oltmer, Jochen (2016): Migration im 19. und 20. Jahrhundert. 3. Aufl. München. 2. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Migrationsprofil Deutschland häufig auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Die Angaben beziehen sich jedoch ausdrücklich auf Angehörige beider Geschlechter. bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 22 Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im geteilten Deutschland Von Patrice G. Poutrus 5.3.2021 Dr. Patrice G. Poutrus ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt im Projekt "Diktaturerfahrung und Transformation - Partizipative Erinnerungsforschung" und seit 2016 Mitglied im DFG-Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung". Fragen der Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingspolitik wurden im Lauf der 1980er Jahre in beiden deutschen Staaten einer Neubestimmung unterzogen. Dabei war die DDR- Migrationspolitik geprägt von Homogenitätsvorstellungen der kommunistischen Staatspartei, aber auch von einer Zuspitzung der Versorgungskrise. In der Bundesrepublik wandelte sich die Debatte um das Asylrecht zu einer zentralen innenpolitischen Auseinandersetzung. Türkischstämmige Migrantenfamilien lebten laut Patrice Poutrus in der Bundesrepublik schon in den späten 1970er Jahren in einem gesellschaftlichen Paradox – in einer Einwanderungssituation in einem Nicht-Einwanderungsland. (© picture-alliance/dpa) Für so gut wie alle nationalstaatlich organisierten Länder stellte und stellt der gesellschaftliche Wandel, der mit transnationaler Migration einhergeht, eine zentrale Herausforderung dar. Flucht wie Einwanderung zwingen Nationalstaaten dazu, Kategorien und Kriterien für Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit sowie eine Vielzahl von Regulierungsmechanismen zu entwickeln, die sowohl auf Einwanderer wie Einheimische und deren Handlungsoptionen einwirken. Die Bedeutung des sozialen Phänomens und politischen Themas Migration erschöpft sich aber nicht mit einem scheinbaren Abschluss der Nationsbildungsprozesse[1], sondern zieht sich – und, so will es scheinen, in immer bpb.de
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021) 23 stärker werdendem Maße – bis in die Gegenwart hinein: Erwähnt sei, für beide deutsche Staaten und das vereinigte Deutschland, der schwierige Übergang von der seit 1871 postulierten und im Sinne des Abstammungsprinzips lange Zeit vorherrschende Vorstellung einer ethnisch homogenen deutschen Nation hin zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland. Dieser Prozess hat nicht nur vielfältige Einflüsse auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse gehabt, sondern einen stetigen und bei weitem noch nicht beendeten Prozess der Neubestimmung dessen provoziert, was als Gesellschaft, als Gesellschaftsziel, mithin als sozialer Inhalt moderner Staaten verstanden werden soll.[2] Harmonisierende Bilder und alltägliches Misstrauen: Arbeitsmigranten in der DDR Auf bemerkenswerte Weise offenbarte sich diese Problemstellung für die DDR und die alte Bundesrepublik gerade auch im letzten Jahrzehnt vor dem Ende der deutschen Teilung im Jahr 1990. Und obwohl bis in die jüngste Gegenwart Ostdeutschland viel eindeutiger als Ausreise- und nicht als Einwanderungsgesellschaft charakterisiert werden kann, stand der SED-Staat gerade in den letzten Jahren seiner Existenz auch vor diesen gesellschaftlichen Herausforderungen: Arbeitsmigrant:innen aus Vietnam, Mosambik, Angola, Kuba und Polen bildeten die größte Gruppe von in der DDR lebenden Ausländern – sieht man einmal ab von den sowjetischen Truppen.[3] Im Jahr 1989 registrierte der SED-Staat rund 95.000 ausländische Beschäftigte. Die Gruppe der sogenannten Vertragsarbeiter lag damit auch weit vor den wenigen politischen Emigrant:innen[4] und der deutlich größeren Gruppe ausländischer Studierender.[5] In den Massenmedien des SED-Staates galt der Aufenthalt der "ausländischen Werktätigen" im Arbeiter-und-Bauern-Staat als "Arbeitskräftekooperation" im Rahmen der "sozialistischen ökonomischen Integration": Durch "Arbeitskräftekooperation" sollte das unterschiedliche Entwicklungsniveau zwischen den sozialistischen Staaten ausgeglichen werden. Der Aufenthalt in der DDR sollte insbesondere die vietnamesischen "Werktätigen" auf die "künftige Arbeit beim Aufbau des Sozialismus" vorbereiten und galt entsprechend als staatlicher Auftrag, dem die "Entsandten" ihre persönlichen Interessen unterzuordnen hatten.[6] In der Presse wurde ein ausnahmslos harmonisierendes Bild vom Leben und Arbeiten von Vertragsarbeiter:innen in der ostdeutschen Gesellschaft gezeichnet. Hilfsbereitschaft, Solidarität und harmonisches Lernen und Arbeiten mit und vor allem von Seiten der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen wurden hervorgehoben. Aber das alltägliche Zusammenleben in der Mangel- und Misstrauensgesellschaft der DDR kam schlicht nicht vor. Widersprüche und Konflikte wurden – wenn überhaupt – nur als Anpassungsprobleme der Arbeitsmigrant:innen an den Alltag in der "fortschrittlichen" Industrieproduktion dargelegt. Implizit erschienen die Vertragsarbeiter:innen entweder als Bestätigung des kommunistischen Ideals vom Revolutionär in der Welt oder sie galten als behütete Schützlinge und folgsame Schüler des Sozialismus in der DDR.[7] bpb.de
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