Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit - Dossier

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Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit - Dossier
Dossier
   Migrantische
   Perspektiven auf die
   Deutsche Einheit

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Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit - Dossier
Dossier: Migrantische Perspektiven auf die Deutsche Einheit (Erstellt am 28.09.2021)                 2

Einleitung
Wenn von den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989/90 und der Deutschen Einheit die Rede ist, finden
die Sichtweisen von Migrantinnen und Migranten selten Eingang in die Gedenkfeierlichkeiten und
Geschichtsbücher. Dabei änderten sich mit der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer auch
die Lebensbedingungen der Menschen, die als Arbeitskräfte, Studierende oder Schutzsuchende in
die Bundesrepublik und in die DDR gekommen waren.

Das Dossier nimmt die Deutsche Einheit aus der Perspektive unterschiedlicher migrantischer Gruppen
in den Blick. Dabei liefern die eingebundenen Beiträge und Dokumentarfilme einen Ausschnitt der
Situation migrantischer Gruppen Anfang der 1990er-Jahre: Während etwa der Dokumentarfilm
"Duvarlar – Mauern – Walls" türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in West-Berlin eine
Stimme gibt, skizzieren die Filme "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir bleiben hier" die Situation aus
Vietnam stammender ehemaliger Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in Ostberlin kurz nach dem
Mauerfall.

Das Dossier wird in Kürze um didaktische Materialien und weitere Beiträge ergänzt.

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Inhaltsverzeichnis

 1.        Filme                                                                                         4

 1.1             "Nobody seemed to care"                                                                 5

 1.2             Interview mit Can Candan zum Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls"                 9

 1.3             "Wir würden gerne mitfeiern, aber wurden aufgefordert zu gehen"                         10

 2.        Historische Hintergründe                                                                      17

 2.1             Historische Entwicklung der Migration nach und aus Deutschland                          18

 2.2             Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im geteilten Deutschland                 22

 2.3             "Die Mauer fiel uns auf den Kopf." Arbeitswelten von Türkeistämmigen und die Berliner   32
                 Wiedervereinigung

 2.4             Arbeiten im Bruderland. Arbeitsmigranten in der DDR und ihr Zusammenleben mit der       37
                 deutschen Bevölkerung

 3.        Gemeinschaften und Netzwerke                                                                  45

 3.1             Zwischen Rückkehr in die Heimatländer und Existenzsicherung vor Ort                     46

 3.2             Mauerfall und Deutsche Einheit aus Perspektive mosambikanischer Migrantinnen und        52
                 Migranten

 3.3             Migranten aus Polen im wiedervereinigten Deutschland                                    60

 3.4             Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre                              66

 3.5             Migrantenorganisationen in Zeiten der Wiedervereinigung                                 71

 3.6             Türkische Migranten und der Mauerfall                                                   77

 4.        Redaktion                                                                                     85

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Filme
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Der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" stellt die Situation und Perspektive türkischstämmiger
Migrantinnen und Migranten auf den Mauerfall und auf die Jahre kurz nach der Deutschen Einheit dar.
Die Kurzfilme "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir bleiben hier" begleiten im gleichen Zeitraum
vietnamesischstämmige Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in Ostberlin. Die bpb veröffentlicht die
Filme hier erstmalig als Online-Streams, Ömer Alkin und Duc Ngo Ngoc analysieren und bewerten sie
im Rahmen von Filmbesprechungen. Im Videointerview spricht Can Candan, Regisseur von "Duvarlar –
Mauern – Walls", über die Dreharbeiten und die zentralen Themen seines Films.

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"Nobody seemed to care"
Eine Filmbesprechung zu "Duvarlar – Mauern – Walls"
Von Ömer Alkin                                                                                               1.3.2021
 Dr. Ömer Alkin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Medienwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg.

Der Dokumentarfilm "Duvarlar – Mauern – Walls" betrachtet, welche Folgen der Fall der Mauer
auf den Alltag der türkischen Community in Berlin hatte. Für den Medienwissenschaftler Ömer
Alkin ist der Film eine Pionierleistung, da er ein umfassendes Bild über die Auswirkungen von
rassistischer Gewalt und Bedrohung in Deutschland zeichnet.

"Nobody seemed to care", ("Niemand schien sich zu interessieren") spricht die Voice-Over-Stimme
des türkischen Regisseurs Can Candan zu Beginn des Dokumentarfilms "Duvarlar – Mauern – Walls".
Zu diesen Worten zeigt uns die Kamera eine glänzende Turbine, in der sich das Flugzeug spiegelt,
mit dem Candan 1991 aus den USA nach Berlin reiste. Der damals 20-jährige Filmstudent wollte die
Sicht türkischer Migrant*innen auf den Mauerfall dokumentarisch festhalten.

Und tatsächlich sollte der Regisseur mit seiner Aussage Recht behalten: Das Interesse an dem Thema
blieb auch in den Folgejahren überschaubar. So stellt "Duvarlar – Mauern – Walls" des inzwischen
wieder in der Türkei lebenden und an einer Istanbuler Universität lehrenden Can Candan bis dato den
einzigen (dokumentar-)filmischen Versuch dar, die Transformationsprozesse rund um den Mauerfall
aus der Perspektive türkischer Migrant*innen zu erzählen, von denen Anfang 1991 140.000 in Berlin
lebten.

Candan spricht in dem Film mit engagierten Expert*innen, genauso wie mit Studierenden,
Jugendlichen, Geflüchteten oder Arbeiter*innen. Sie erzählen von den Folgen des Mauerfalls und ihren
Zukunftsperspektiven im wiedervereinten Deutschland. Und so unterschiedlich sich die soziale
Herkunft der Befragten gestaltet – dominantes Thema bei allen Interviewpartner*innen ist ihre Sorge
vor dem zunehmendem Rassismus im Land.

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  (http://www.bpb.de/mediathek/305232/duvarlar-mauern-walls)

Betroffenheitsperspektive
Schon kurz vor Candans einleitenden Worten, in denen er seine Reiseabsicht erklärt, ertönen Klänge
einer traditionellen türkischen Flöte (dilli kaval). Sie weckt Assoziationen an die Musik, die zahlreiche
Filme des deutsch-türkischen Kinos der 1970er bis 90er Jahre ("Betroffenheitskino") begleitete. Auch
der vorliegende Film lässt sich jener Phase des Migrationskinos zuordnen: Er entwickelt Betroffenheit
für die dargestellte Welt der Migrant*innen, die in Deutschland zwischen zwei Kulturen ihren Platz zu
finden versuchen. Der Regisseur bleibt während des gesamten Films weitgehend unsichtbar und
reflektiert über das Voice-Over Themen wie Heimat, Zugehörigkeit und Fremdheit.

Der Film folgt einer impliziten Dreiteilung. Der erste Teil erklärt das Phänomen der Arbeitsmigration
mit Hilfe von Interviews mit Expert*innen sowie den nahezu ikonisch gewordenen Fotos aus dem
Bildband "Arbeitsemigranten" des Kunstkritikers John Berger und des Fotografen Jean Mohr (1976).[1]
Der Band zeigt u.a. Bilder von deutschen Ärzten, die "Gastarbeiter*innen" auf ihre Tauglichkeit hin
untersuchten. Dadurch, dass der Film die Arbeitsmigration selbst in einen Zusammenhang von
Ausbeutung arbeitsuchender und verarmter Menschen stellt, schließt Candan hier wie an vielen
anderen Stellen an kritische und linke Diskurse zur Arbeitsmigration an.

Im zweiten Teil des Films lässt der Regisseur dann besonders die Skepsis der Migrant*innen zur
Maueröffnung deutlich werden. Illustriert werden die Vorbehalte insbesondere durch Aussagen von
türkischen Souvenirverkäufer*innen, die Mauerstücke oder andere Andenken an interessierte Tourist*
innen verkaufen. Die Ostberliner*innen werden von den Interviewten vorrangig als neue Konkurrent*
innen auf dem Arbeitsmarkt und als ursächlich für die zunehmende Arbeitslosigkeit, aber auch als in
Teilen offen rassistische Menschen dargestellt, die ihren Frust über das eigene Abgehängtsein nun
auf Türk*innen projizieren würden. Stadtteile, so die Interviewten, würden sich durch die geografische
Rejustierung Berlins und den daraus resultierenden Verdrängungsprozessen und Wohnungsnöten zu
Ungunsten der Westberliner Migrant*innen verändern. Candan lässt diese Aussagen unkommentiert.
Mit Blick auf rassistische Anschläge in Westdeutschland in den 1980er-Jahren (so etwa 1984 auf die
türkische Familie Satır in Duisburg Wanheimerort mit sieben Toten – der Fall wurde vom

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Migrationsmuseum Domid erst kürzlich wieder recherchiert und publik gemacht)[2] ist die Verortung
des Rassismus lediglich im Osten jedoch eine problematische Narration, die der
gesamtgesellschaftlichen Dimension schon seinerzeit nicht gerecht wurde.

Schlüsselthema Rassismus
Im dritten Teil des Films geht es dem Regisseur um die Sichtbarmachung der rassistischen Gefahren
für Migrant*innen nach der Deutschen Einheit. Während die Zeitzeug*innen ihre vornehmlich als
rassistisch empfundene Sicht auf die Gesellschaft in Deutschland artikulieren, zeigt uns der Regisseur
die Stadt Berlin als von Slogans und symbolträchtigen Statuen durchzogenen Ort. Die Graffiti auf den
Marx- und Lenin-Statuen sowie auf den Mauerstücken in der Stadt bestätigen bildlich die Aussagen
der Interviewten: "Nein zum 4. Reich", "Bild [gemeint ist die Boulevardzeitung] ist rassistisch". Candan
begleitet eine antifaschistische Demonstration und eine Auseinandersetzung von Aktivist*innen mit
der Polizei. Die Polizei wird auch in einigen Interviews mit den Zeitzeug*innen kritisiert: Mehrere Male
kommt die Passivität der Behörden bei den Übergriffen auf die Heime in Hoyerswerda zur Sprache.
Auch die Bilder einer angriffslustigen Polizei auf der antifaschistischen Demo spitzen das einseitige
Bild einer latent rassistischen Polizeikultur weiter zu. Angesichts aktueller Fälle von
rechtsextremistischen Einstellungen innerhalb der Polizei zeigen diese Szenen, dass Migrant*innen
die Haltung der Polizei schon damals problematisiert haben.

Candans Doku lässt Menschen zu Wort kommen, die bis dahin ungehört geblieben waren. Sein Film
zeigt Zusammenhänge, deren Wirkmächtigkeit angesichts der Verbreitung rechtsextremistischer
Denk- und Empfindungskulturen immer noch schockierende Ausmaße hat. Gerade aufgrund der
direkten Artikulation rassistischer Verhältnisse in Deutschland erlaubt der Film die Bezugnahme auf
Diskurse, die auch nach inzwischen dreißig Jahren nicht an Relevanz verloren haben.

Rezeption des Films bis heute
Was bleibt Kritisches zu sagen angesichts der Pionierleistung von Candans Film – insbesondere was
die Analyse rassistischer Verhältnisse aus der Perspektive der Betroffenen betrifft? In den vielzähligen
Veranstaltungen, bei denen Candans Film gezeigt wird, wird stets die Einseitigkeit seiner Perspektive
kritisiert, die ausschließlich die Migrant*innensicht in den Mittelpunkt rückt. Der Rassismus werde
dadurch nicht sichtbar, sondern vielmehr die Angstgefühle der Menschen, die Candan befragt.

Als migrantischer Wissenschaftler kann ich die Beklemmung in den Worten der Sprechenden in
"Duvarlar – Mauern – Walls" nachempfinden –- beklemmende Gefühle, die ich, bevor ich den Film
sah, so nie medial artikuliert gefunden hatte. Selbstbewusst entgegnet Candan denjenigen, die seine
einseitige Sicht kritisieren, meist mit seiner eindeutigen politischen Haltung gegenüber Rassismus.
Diese einseitige Haltung zeichnet Candans Film letztlich aus, allerdings macht sie auch die Sichtung
des Films schwierig, in dem Rassismus nur noch als ein soziales und politisches Übel erscheint, das
bekämpft werden muss.

Rassismus ist ein komplexes System, das sich nicht auf Fremdheitskonstruktionen reduzieren lässt.
Das weiß der Film, und das lässt er seine Interviewten auch sagen. Die entsprechenden Bilder dieser
Systemseite von Rassismus konnten bis heute aber nur die wenigsten Filme sichtbar machen. Auch
"Duvarlar – Mauern – Walls" geht hier noch nicht weit genug.

In den anderen Dokumentationen des Regisseurs stehen die Menschen und das Aktivistische ebenfalls
im Zentrum: In "My Child" (2013) lässt Candan Eltern aus der Türkei von inzwischen erwachsenen
LGBT (http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/geschlechtliche-vielfalt-trans/267843/mehr-als-zwei-
geschlechter)-Kindern über ihre Erfahrungen sprechen und begleitet auch hier die Straßenproteste
von LGBT-Aktivist*innen. In "Üç Saat" ("Drei Stunden", 2008) filmt er mehrere Jugendliche in der Türkei
über einen längeren Zeitraum bei der Vorbereitung ihrer Abschlussprüfungen, um darüber das
fragwürdige System der Zugangsprüfung für die Hochschulen zu kritisieren. Zu fragen bleibt, ob eine

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solche Betroffenheitsperspektive allein – um mit einer berühmten Frage der postkolonialen
Theoretikerin Spivak zu sprechen – die "Subalternen", also diejenigen, die als die Unterdrückten einer
Gesellschaft zu betrachten sind, zum Sprechen bringen kann.

Das hängt wie so oft davon ab, ob die Stimmen der Subalternen überhaupt gehört werden können.
Bei einem Screening von Duvarlar im Februar 2020 in Köln – nur wenige Tage vor dem
rechtsterroristischen Anschlag von Hanau mit neun Toten – wollte einer der Zuschauer mehr
Repräsentation positiver gesellschaftlicher Verhältnisse und bat darum, auch die Integrationserfolge
in Deutschland zu würdigen. Candan entgegnete dem Fragenden damals sinngemäß: Noch heute
würden Menschen von den Ängsten sprechen, die sein Film erstmals gezeigt hat. Ihre Sicht der Dinge
sichtbar zu machen, das sei damals seine Aufgabe gewesen.
Candans Film abstrahiert vom zeithistorischen Problem des Mauerfalls auf ein
gesellschaftsübergreifendes Problem. Diese eindeutige pro-migrantische Haltung von Candans Film
scheint auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung eine Perspektive zu sein, die dringender
benötigt wird denn je.

                    Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/
                    deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/)
                    Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/4.0/deed.de/ Autor: Ömer Alkin für bpb.de

Fußnoten

1.    Berger, John/Mohr, Jean (1976): Arbeitsemigranten. Erfahrungen, Bilder, Analysen. Reinbek bei
      Hamburg.
2.    Vgl. Leue, Vivien (2019): Initiative möchte Brandanschlag 1984 in Duisburg neu untersuchen,
      Deutschlandfunk-Beitrag vom 3. Juli 2019. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/
      rassismus-als-moegliches-motiv-initiative-moechte.976.de.html?dram:article_id=452885 (https://
      www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-als-moegliches-motiv-initiative-moechte.976.de.html?dram:
      article_id=452885) (Stand: 15.01.2021)

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Interview mit Can Candan zum Dokumentarfilm
"Duvarlar – Mauern – Walls"
                                                                                               1.3.2021

Im Videointerview erläutert der türkische Regisseur Can Candan die Hintergründe und den
politisch-historischen Kontext seines Films, in dem er die Sicht türkischstämmiger
Migrantinnen und Migranten auf den Mauerfall und die Jahre nach der Wiedervereinigung
eingefangen hat.

         (http://www.bpb.de/mediathek/319068/interview-mit-can-candan-zu-seinem-dokumentarfilm-duvarlar-mauern-
walls)

Das Interview mit Can Candan entstand im Rahmen des Projektes "Mit offenem Blick | Açık bakışla",
das sich mit migrantischen Perspektiven zur Erinnerungskultur des Mauerfalls und der Wendezeit –
insbesondere in Berlin-Kreuzberg – auseinandergesetzt hat.

                               Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/
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"Wir würden gerne mitfeiern, aber wurden
aufgefordert zu gehen"
Eine Filmbesprechung zu "Bruderland ist abgebrannt" und "Wir
bleiben hier"
Von Duc Ngo Ngoc                                                                                             5.3.2021
 Duc Ngo Ngoc ist Regisseur und Drehbuchautor. Er realisiert sowohl Spiel- als auch Kinodokumentarfilme. Für seinen
 Masterabschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg "Trading Happiness - Trao Đ i H nh Phúc" bekam er 2020 den Publikumspreis
 beim Max Ophüls Festival und wurde in drei Kategorien für den renommierten First Steps Award nominiert.

Die Dokumentarfilme "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt" bilden vietnamesische
Perspektiven auf die deutsche Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre ab. Der Regisseur
Duc Ngo Ngoc nähert sich beiden Filmen auf Grundlage seiner persönlichen Geschichte.

Wenn ich an den Mauerfall denke, habe ich direkt Bilder von friedvoll feiernden Menschen im Kopf.
Aber es waren vor allem die weißen, deutschen Bürger*innen, die sich feierlich in den Armen lagen.
Wie erging es eigentlich den insgesamt 60.000 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen,
die in die DDR gekommen waren um den Arbeitskräftemangel zu kompensieren? Wie haben sie die
Wiedervereinigung und die darauffolgenden Jahre erlebt?

Das vietnamesische Paar Ha und Son hat die Wiedervereinigung zu Hause vor dem Fernseher
verbracht. Gerne hätten sie mit ihren Arbeitskolleg*innen gefeiert, doch aus Angst vor rassistischen
Überfällen sind sie lieber in den eigenen vier Wänden geblieben. Das erzählen sie im Dokumentarfilm
"Wir bleiben hier" von Dirk Otto aus dem Jahr 1990. Diese unsichere Situation von Vietnames*innen
in der Zeit nach dem Mauerfall wird auch im Dokumentarfilm "Bruderland ist abgebrannt" der
Regisseurin Angelika Nguyen aus dem Jahr 1992 deutlich. Ein Vietnamese berichtet darin vom einem
rassistischen Angriff, bei dem die Täter in den vermeintlich sicheren Ort der eigenen Wohnung
eindrangen und seinen Bruder und ihn brutal zusammenschlugen.

Mein Vater gehört zu den wenigen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die nach der Wende in
Deutschland geblieben sind. Die Mehrzahl seiner Kolleg*innen war aufgrund des
Rückführungsabkommens der Bundesregierung nach Vietnam zurückgekehrt. In dieser Zeit bin ich
als fünfjähriger Junge in das nur drei Jahre zuvor wiedervereinte Deutschland gekommen und musste
mich neu sozialisieren. Für mich war es ein aufregender Lebensabschnitt, geprägt von Heimweh und
Neugier zugleich – vordergründig eine heile Welt. Für meine Eltern war es ein belastender
Schwebezustand mit vielen Sorgen und großen Ängsten, die sie mir vorenthalten haben, um mich zu
beschützen.

Die beiden Dokumentarfilme "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt" begleiten das
vietnamesische Leben in Ostberlin während und kurz nach der Wiedervereinigung. Sie werfen also
auch einen Blick auf meine Kindheitserfahrungen und spiegeln diese Zeit sehr eindringlich wider. Ich
möchte diese Filme, die mich nicht nur als Regisseur, sondern auch als Deutsch-Vietnamese zweiter
Generation beschäftigen, einander gegenüberstellen und analysieren. Hierbei arbeite ich zunächst
heraus, wie der Einsatz von Voice-over und Musik die unterschiedliche Haltung der Filmemacher*
innen gegenüber der vietnamesischen Community unterstreicht. Im zweiten Teil des Textes beleuchte
ich dann, auf welche Weise Interviews als dokumentarisches Mittel die Erfahrungen der Protagonist*
innen spürbar machen.

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Eine zeitgenössische Momentaufnahme der Lage ehemaliger Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter aus Vietnam kurz
nach der Wiedervereinigung. Ein Film über rechtliche und soziale Unsicherheit, über das Ankommen und den Abschied
auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. (© 1991 Angelika Nguyen) (http://www.bpb.de/mediathek/317607/bruderland-
ist-abgebrannt)

"Bruderland ist abgebrannt"
Der Film "Bruderland ist abgebrannt" von Angelika Nguyen ist in sechs Episoden aufgeteilt und zeigt
pro Episode unterschiedliche Perspektiven von Vietnames*innen und deutschen Zeitzeug*innen, die
mit der vietnamesischen Diaspora in Ostberlin in Berührung standen. Der Film beginnt mit Eindrücken
vom Flughafen Schönefeld. Wir sehen Anzeigetafeln, Polizeibeamt*innen, beklebte Koffer und viele
Vietnamesen*innen, die sich auf die Rückreise nach Vietnam vorbereiten.

Das filmische Element des Voice-Overs (https://www.kinofenster.de/lehrmaterial/glossar/voice_over/)
wird in den ersten Szenen direkt eingeführt. Die Stimme der Regisseurin Angelika Nguyen gibt
Informationen über die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen: "60.000 leben 1989 in der DDR. [...]
Rund 14.000 sind noch hier. [...] 80 Prozent sind arbeitslos. Eine Geschichte geht zu Ende. Die
Geschichte der gegenseitigen Hilfe zweier Bruderländer." Im Zusammenspiel mit dem kurz darauf
eingeblendeten Titel lässt sich bereits erahnen, dass es kein würdiger Abschied für die ehemaligen
Vertragsarbeiter*innen aus Deutschland ist. Es scheint, als wären die einst solidarischen Bruderstaaten
nur noch ein abgebrannter Trümmerhaufen, der beseitigt werden muss.

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Voice-Over der Regisseurin als kritischer Kommentar
Später im Film sieht man eine weitere Szene auf dem Flughafen Schönefeld. Ein Koffer nach dem
anderen wird am Gepäckband abgewiesen. Die Regisseurin Nguyen kommentiert: "Alle haben mehr
Gepäck als zugelassen. Der Umzug nach jahrelanger Arbeit von einem reichen Weltteil in einen armen
bringt das mit sich was in der Amtssprache 'Übergepäck' heißt." Der kritische Unterton sowie die
Wortwahl der Regisseurin untermalen die absurde Situation am Flughafen und wirken fast
komödiantisch. Dazu trägt auch die Montage der darauffolgenden Sequenz bei: Ein Vertragsarbeiter
rechtfertigt sein Übergepäck im Gespräch mit einem Mitarbeiter der Fluggesellschaft mit dem
geringeren Körpergewicht von Vietnames*innen gegenüber Europäer*innen. Als nächste Szene
montiert Nguyen die Aufnahme eines dickleibigen, weißen Mannes, der ebenfalls mit seinem Gepäck
am Flugschalter wartet. Angelika Nguyen, die selbst Tochter einer deutschen Mutter und eines
vietnamesischen Vaters ist und aufgrund ihres Aussehens Ausgrenzungserfahrungen erlebte,
positioniert sich durch diese Montage auf der Seite der Vietnames*innen.

In einem Interview, das ich vergangenes Jahr mit ihr geführt habe, erzählte sie mir: "Durch meine halb
vietnamesische Herkunft habe ich eine besondere Beziehung zu ihnen. Mir war klar, dass ich einen
Film über vietnamesische Menschen in Ostberlin machen wollte. Die massenhafte Arbeitslosigkeit,
der ungeklärte Aufenthaltsstatus, sowie der steigende Rassismus machten die soziale Lage extrem
prekär für die Vietnames*innen."

Der Einsatz des Voice-Overs als kritischer Kommentar wird auch in einer Szene deutlich, in der es um
die Wohnsituation der Vietnames*innen im Heim geht. Nguyen bezieht erneut klar Haltung und äußert
sich zu den überteuerten Mieten: "Von dem Rest kann kein Mensch leben. Diese Wohnsituation ist
die krasseste Aufforderung von Seiten der Institutionen an die Vietnamesen das Land zu verlassen."
Nguyen kommentiert die Missstände dieser Zweiklassengesellschaft kritisch und direkt. Als Zuschauer*
in spürt man das Mitgefühl der Regisseurin und ihre Verärgerung über die deutsche Gesellschaft und
ihre Institutionen.

So vermittelt das filmische Mittel des Voice-Overs in Bruderland ist abgebrannt nicht nur Zahlen und
Infos, sondern verdeutlicht die Verbundenheit der Regisseurin mit der vietnamesischen Bevölkerung
in Deutschland und unterstreicht ihre Haltung als Filmemacherin.

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Beobachtungen in einer vietnamesischstämmigen Familie nach dem Zusammenbruch der DDR. Auf die Freude über
den politischen Wandel und die Wiedervereinigung folgen Erfahrungen mit wachsendem Rassismus und die Angst,
nach Vietnam abgeschoben zu werden. (© 1990 DEFA, ICESTORM Entertainment GmbH) (http://www.bpb.de/
mediathek/310871/wir-bleiben-hier)

"Wir bleiben hier"
Dirk Otto wählte in seiner Fernsehdokumentation "Wir bleiben hier" einen anderen Ansatz: Er portraitiert
Ha und Son, ein vietnamesisches Ehepaar, das in der DDR studiert und gearbeitet hat. Nach dem
Mauerfall haben sie ihre Tochter aus Vietnam nach Deutschland geholt. Sie geht in Ostberlin in die
Grundschule und lernt Deutsch. Ha ist Dolmetscherin und übersetzt für vietnamesische
Vertragsarbeiter*innen bei Arzt- und Amtsbesuchen. Son arbeitet in der Textilindustrie. Ihre
Arbeitsverträge neigen sich dem Ende zu, und sie werden als Arbeiter*in bald nicht mehr gebraucht.
Trotz der ungewissen Zukunft wollen sie in Deutschland bleiben. "Wir bleiben hier" ist somit nicht nur
der Filmtitel, sondern steht auch für die Einstellung der jungen vietnamesischen Familie, die diese
Aussage hoffnungsvoll wiederholt. Sie nutzen den Film als Bühne, um diese Botschaft zu den
Zuschauer*innen zu tragen. Der Regisseur Dirk Otto gibt ihnen Raum und lässt sie umfassend und
eindringlich zu Wort kommen.

Das Voice-Over in "Wir bleiben hier" taucht im Gegensatz zum Film von Angelika Nguyen nur zu Beginn
auf. Die Worte des Sprechers werden von einer Orchestermusik Richard Wagners begleitet. Die
Tonalität der Musik wirkt dabei fehl am Platz und übertrieben dramatisch. Zugleich sehen wir die
vietnamesische Familie – Vater, Mutter, Tochter – die inszeniert über einen leeren Platz läuft. Die
männliche Stimme des Voice-Overs untermalt die Bilder wie folgt: "Vietnamesen in Deutschland.
Geflohen vor Hunger und politischer Verfolgung, in den Westen oder im Osten über ein
Regierungsabkommen als Gastarbeiter in ein Land geholt, das es nicht mehr gibt. So wie Ha und Son,
die mit ihrer Tochter in Ostberlin wohnen. Wir haben sie in den Tagen um die deutsche Vereinigung
und auf ihrem ersten Ausflug nach Hamburg begleitet."

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Herablassende Distanz und empathische Nähe zugleich
Die Wortwahl des Kommentars in Verbindung mit der zugespitzten Musik erinnert an eine
Tierdokumentation, die die vermeintlich "seltenen und politisch verfolgten" Vietnames*innen zeigt, die
sich im Osten und Westen Deutschlands angesiedelt haben. Somit suggeriert das Voice-Over direkt
zu Beginn der Dokumentation einen sehr herablassenden Blick auf die Familie. Das Resultat ist die
Herstellung einer Distanz zwischen Zuschauer*in und Protagonist*innen. Wir schauen mit westlichem,
weißem Blick auf die vietnamesischen Protagonist*innen und aufgrund des Voice-Overs erscheint es
direkt unmöglich ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Der Einsatz des Titels mit Abschluss des Voice-Overs verfestigt diese Wahrnehmung. Auf einer perfekt
gerahmten Kameraeinstellung der Familie erscheint in blutroter Schrift der Filmtitel "Wir bleiben hier".
Wieder steigt die Orchestermusik bedrohlich an und zeichnet in Verbindung mit der Farbwahl des Titels
ein Gefühl von Gefahr, das man als Zuschauer*in auf die vietnamesische Familie im Bild beziehen
kann. Somit schafft der Regisseur ein klares Bild der "Anderen", das keine Nähe sondern Distanz
aufzeigt. Diese Anfangssequenz des DEFA-Films spiegelt den deutschen Blick auf die damaligen
Vertragsarbeiter*innen sehr treffend wider. Unter dem Deckmantel der Solidarität kommt ein
strukturierter und mehr oder weniger subtiler Rassismus zum Vorschein.

Der Filmeinstieg erzeugte bei mir eine abwehrende Haltung, die mich beim Sichten des Films weiter
begleitete. Klammert man allerdings das anfängliche Voice-Over und den wiederholten Einsatz der
dramatischen Musik aus, so gelingt es doch eine Verbindung zu den Protagonist*innen aufzubauen.
Im Kontrast zum Einstieg des Films wird den Protagonist*innen im weiteren Verlauf der Dokumentation
in einem Interview Raum gegeben, ihre Wünsche und Ängste zu äußern. Die Montage lässt die
Interviewfragen bewusst außen vor, sodass man als Zuschauer*in gänzlich bei den Worten und
Gedanken der Protagonist*innen verweilen kann. Diese Montagetechnik erzeugt ein Gefühl des
Beisammenseins – man könnte denken, dass man gemeinsam mit den Protagonist*innen am Tisch
sitzt.

Auch die subtile Anwesenheit der Tochter, die selbst nie Interviewfragen beantwortet, schafft eine
familiäre Atmosphäre, die mich sehr an meine eigene Kindheit erinnert hat. Das junge Mädchen steht
symbolisch für die Hoffnung und Zukunft der Familie. Durch sie gelingt es mir Empathie für das
Elternpaar zu empfinden und ich erkenne mich in ihrer Welt und Situation wieder. Während sie ihren
Kaugummi kaut oder Frühlingsrollen brät, lauscht sie den Worten ihrer Eltern aufmerksam. Man spürt,
dass sie die Sorgen und Ängste ihrer Familie wahrnimmt. Trotzdem vermitteln die Eltern ihr ein sicheres
Gefühl von Geborgenheit. Die Tatsache, dass der Film "Wir bleiben hier" diese kindliche Gefühlswelt
anhand eines Familienporträts für Außenstehende spürbar macht, empfinde ich als wertvoll. Im
Gegensatz zu "Bruderland ist abgebrannt" gelingt es Dirk Otto damit auch, den Blick sowohl auf die
Vertragsarbeiter*innen als auch auf die zweite Generation von Deutsch-Vietnames*innen zu lenken.

Kurzporträts vs. Familienporträt
Die episodische Erzählweise von Angelika Nguyen steht im Kontrast zum Porträt Dirk Ottos. Aufgrund
der gewählten Form können die Protagonist*innen in "Bruderland ist abgebrannt" nur vergleichsweise
kurz zu Wort kommen. Sie erscheinen und verschwinden. Gleichzeitig repräsentieren die
unterschiedlichen Protagonist*innen einen guten Querschnitt der damaligen Lage und Situation der
Vietnamesen*innen in Ostberlin. So begegnen wir dem Vertragsarbeiter, der davon erzählt, wie er im
Wohnheim von vier maskierten Jugendlichen überfallen und körperlich verletzt wurde. Die Tatsache,
dass dieser Fall nicht strafrechtlich verfolgt wurde, ist ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß Rassismus
von staatlichen Behörden und Institutionen hingenommen wurde.

Die geschilderte Szene erinnert auch an einen Moment in Dirk Ottos Film, in dem der Familienvater
Son einen ähnlichen rassistischen Überfall im Hinterhof seines Wohnhauses beschreibt. Allerdings
gelingt es Nguyen im Gegensatz zu Otto durch die Mehrzahl an Protagonist*innen, das Thema
Rassismus aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen. Dies wird beispielsweise deutlich, als

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sie ein deutsch-vietnamesisches Paar dazu befragt, welche Unterschiede sie zwischen ihrem Leben
und dem Leben der im Wohnheim untergebrachten Vertragsarbeiter*innen sehen. Der junge,
vietnamesische Vater antwortet daraufhin, dass seine Familie weniger Miete zahlen müsse als seine
Kollegen*innen im Wohnheim. Die Partnerschaft mit einer deutschen Frau gebe ihm zudem mehr
Freiheiten. Doch vor nächtlichen, gewaltsamen Übergriffen hätten er und seine Frau trotzdem Angst.
Rassismus begegne auch ihnen im Alltag, beispielsweise wenn alte deutsche Männer ihnen "Die
Ausländer nehmen uns unsere Frauen weg!" hinterherriefen. Durch gezielte Interviewfragen, die im
Schnitt des Films hörbar bleiben, lässt Angelika Nguyen ihre Protagonist*innen Ungerechtigkeiten
aussprechen und erkennen.

Auch Ha und Son im Dokumentarfilm "Wir bleiben hier" sprechen offen von ihrer Angst vor rassistischen
Angriffen. Am Abend der Wiedervereinigung fällt ein Satz, den ich in ähnlicher Form auch von meinem
Vater nur zu gut kenne: "Wir freuen uns auch sehr mit dem deutschen Volk, aber [...] wir haben auch
Angst dabei. Die Ausländerfeindlichkeit ist sehr zugespitzt." Die Familie verfolgt den historischen Abend
vor dem Fernseher, und die gezielte Montage von Bildern, die den Blick aus dem Fenster auf Berlin
festhalten, lässt die Kluft zwischen der Freude und der Angst und Ausgrenzung spürbar werden. Obwohl
das Ehepaar Deutsch spricht, in der DDR studiert hat und jahrelang in Berlin gearbeitet hat, gehören
sie nicht zum vereinigten Deutschland. Sie verweilen aus Angst vor Rassismus zu Hause und können
ihre Freude nicht mit Kolleg*innen teilen.

Fassade der Solidarität
Angelika Nguyens Film Bruderland ist abgebrannt hält auch diese Kolleg*innen vor der Kamera fest.
Die Deutschen, die zu Wort kommen, vertreten meist Institutionen und Vereine und repräsentieren
somit deren Haltung gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Beispielsweise begegnen wir einer
Mitarbeiterin der ARWOGE Wohnungsbaugesellschaft, die die miserable Wohnungssituation der
Vietnames*innen auf die Betriebe und die Politik schiebt. Sie verweist die Schuld auf andere, unterstützt
aber durch ihre Arbeit selbst das System, das rassistisch und diskriminierend handelt. Ähnlich wie sie
verstecken sich auch drei deutsche Mitarbeiter*innen eines Betriebes am Flughafen gekonnt hinter
ihrer beruflichen Rolle. Bei der Auszahlung der Prämie für die "freiwillige" Ausreise der vietnamesischen
Vertragsarbeiter*innen fängt die situative Kameraführung die Interaktion grandios ein: der eine bewacht
den Geldkoffer, die andere protokolliert und noch ein weiterer sitzt lässig da und zählt das Geld. Die
Deutschen begrüßen ihre vietnamesischen Kolleg*innen beim Vornamen, fertigen sie dann aber
förmlich ab: "Trang, mach‘s gut!", sind die letzten Worte, die eine der Vertragsarbeiterinnen
hinterhergerufen bekommt. Ein trauriger Abschied, der von einer merkwürdigen zwischenmenschlichen
Beziehung zeugt und deutlich macht, dass die so beteuerte Solidarität der DDR mit dem
vietnamesischen Volk nur eine Fassade war, um billige, effiziente Arbeitskräfte einzustellen und
schlussendlich wieder loszuwerden. Und so endet der Film, wo er auch angefangen hat: am Flughafen
Schönefeld. Eine schöne dramaturgische Klammer, die die episodischen Erzählungen abschließt.

Dirk Otto und Angelika Nguyen haben mit den Filmen "Wir bleiben hier" und "Bruderland ist abgebrannt"
zwei wertvolle historische Dokumente der deutschen als auch der vietnamesischen Geschichte
geschaffen. Angelika Nguyen positioniert sich klar auf der Seite der vietnamesischen Vertragsarbeiter*
innen und nutzt das Voice-Over, diese Haltung zu verdeutlichen. Konträr zu dieser Position verhält
sich die Eröffnungsszene von "Wir bleiben hier". Durch die Platzierung des Voice-Overs und die
dramatische Orchestermusik wird die vietnamesische Familie bedrohlich inszeniert. Jedoch gelingt es
beiden Filmen durch den Austausch mit den jeweiligen Protagonist*innen ein vielschichtiges Bild der
Situation von Vertragsarbeiter*innen und ihren Kindern in der Wendezeit zu schaffen. Besonders die
Erfahrungen mit Rassismus im alltäglichen Leben und die damit zusammenhängenden Ängste der
Vietnames*innen treten durch die gekonnte Interviewführung der Regisseur*innen in den Vordergrund.

Angelika Nguyen erzählte im Interview mit mir, dass zum Zeitpunkt des Drehs kein deutscher
Fernsehsender an ihrem Filmprojekt Interesse zeigte. Sie sagte: "Die Deutschen hatten damals ihre
eigenen Sorgen. Was sollten sie mit migrantischen Geschichten?" Sowohl ihr als auch mir fällt auf,

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dass das Interesse für die deutsch-vietnamesischen Realitäten in Deutschland in den letzten Jahren
zunimmt. Zu Recht bekommen diese beiden wichtigen Dokumentarfilme momentan wieder
Aufmerksamkeit. Doch obwohl das dreißigjährige Jubiläum der deutschen Einheit ein guter Anlass ist,
um diese Filme zu besprechen, sollte Solidarität gegenüber Minderheiten auch ohne Jubiläum in der
Gesellschaft vorhanden sein. Ich bin heute, mehr als dreißig Jahre später, stolzer Sohn eines
vietnamesischen Vertragsarbeiters, besitze einen deutschen Pass und obwohl ich es liebe mit meinen
Mitmenschen zu feiern, werde auch ich immer wieder aufgefordert zu gehen.

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Historische Hintergründe
                                                                                       1.3.2021

Die Nachkriegszeit wurde in beiden deutschen Staaten durch Zuwanderung oder die Anwerbung von
Arbeitskräften mitgeprägt. Die Migrations- und Integrationspolitiken und die Debatten rund um die
Themen Asyl und Einwanderung gestalteten sich in der DDR und in der Bundesrepublik jedoch sehr
unterschiedlich. Das Kapitel gibt einen Einblick in historische Hintergründe.

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Historische Entwicklung der Migration nach und aus
Deutschland
Von Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer                                                                                  20.9.2017
 Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der
 Universität Osnabrück.
 E-Mail: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de

 Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung
 und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
 E-Mail: joltmer@uni-osnabrueck.de

Deutschland hat in seiner Geschichte umfangreiche Zu- und Abwanderungsbewegungen erlebt.
Ein Blick auf Wanderungen seit dem 17. Jahrhundert zeigt, dass die Migrationsgeschichte des
Landes nicht erst mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er
Jahren begann.

Ein undatiertes, privates Foto aus den siebziger Jahren zeigt eine türkische Gastarbeiterfamilie vor ihrem Auto. (©
picture-alliance/dpa)

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Wanderungsbewegungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert
Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte in einigen deutschen Gebieten zu starken Zerstörungen
und einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Die jeweiligen Landesherren warben daher
erwerbsfähige und steuerzahlende Personen aus anderen, z.T. übervölkerten Regionen an, die sich
in den kriegszerstörten Gebieten niederlassen sollten ("Peuplierungspolitik"). Diese wurden so zu
zentralen mitteleuropäischen Zuwanderungsregionen. Auch Glaubensflüchtlinge aus anderen Teilen
Europas zog es ins frühneuzeitliche Deutschland. Die umfangreichste sowie wirtschaftlich, kulturell
und politisch bedeutendste Zuwanderergruppe waren die Hugenotten. Nach dem Widerruf des 1598
verkündeten Edikts von Nantes (1685) wanderten 30.000-40.000 von ihnen in deutsche Territorien
vorwiegend nördlich des Mains ein (v.a. nach Brandenburg-Preußen, Hessen-Kassel, in die welfischen
Herzogtümer und in die Hansestädte).[1]

Nach diesen Einwanderungsbewegungen, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts anhielten, dominierte
bis in die 1830er Jahre die kontinentale Abwanderung nach Ost- und Südosteuropa, bis zum späten
19. Jahrhundert dann die transatlantische Abwanderung, vornehmlich in die USA. Von den 1680er
Jahren bis 1800 wanderten rund 740.000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum nach Ost-,
Ostmittel- und Südeuropa. Zwischen 1816 und 1914 zogen dann rund 5,5 Millionen deutsche
Abwanderer[2] in die Vereinigten Staaten. Dort stellte die in Deutschland geborene Bevölkerung
1820-1860 mit rund 30 Prozent nach den Iren die zweitstärkste, 1861-1890 sogar die stärkste
Einwanderergruppe. Die erhebliche Ausweitung wirtschaftlicher Chancen aufgrund von
Hochindustrialisierung und Agrarmodernisierung in Deutschland sowie die Wirtschaftskrise in den USA
führten Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zu einem deutlichen Rückgang der transatlantischen
Migrationsbewegungen.

Flucht und Zwangsarbeit in und zwischen den Kriegen
Mit und nach dem Ersten Weltkrieg begann das "Jahrhundert der Flüchtlinge". Die Weimarer Republik
wurde zum Ziel Hunderttausender von Flüchtlingen, die vor den Folgen der russischen
Oktoberrevolution 1917, dem anschließenden Bürgerkrieg und der Durchsetzung des Sowjetsystems
auswichen. Hinzu traten Zehntausende von osteuropäischen Juden, die vor Pogromen und
antisemitischen Strömungen in vielen Teilen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas Schutz suchten. Mit
der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Deutschland erneut – wie bereits vor dem Ersten
Weltkrieg – zu einem asylfeindlichen Staat. Außerdem vertrieben die neuen Machthaber rund eine
halbe Million Menschen. Das betraf politische Gegner des Regimes, solche, die das Regime dafür
hielt und vor allem all jene, die aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu
geächteten Fremden in Deutschland erniedrigt und zunehmend verfolgt wurden. Dazu zählten vor
allem Juden, von denen wohl 280.000 bis 330.000 zwischen 1933 und 1940 das Reich verließen. Etwa
195.000 deutsche Juden, die nicht (mehr) fliehen konnten, wurden bis Kriegsende ermordet, nur rund
15.000 bis 20.000 überlebten die Lager oder versteckt im Reichsgebiet. Aufnahme für die Fliehenden
gewährten weltweit mehr als 80 Staaten, nicht selten – und im Laufe der 1930er Jahre zunehmend –
widerwillig und zögerlich, weil die Schutzsuchenden aus Deutschland vor dem Hintergrund der
Weltwirtschaftskrise als Belastung für Ökonomie und Sozialsysteme galten.

In den beiden Weltkriegen (1914-1918 (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/
ersterweltkrieg/) und 1939-1945 (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-zweite-
weltkrieg/)) führte der Arbeitskräftebedarf (v.a. in der Rüstungsindustrie) zu einem starken Zuzug von
Arbeitskräften aus anderen Staaten. Dieser erfolgte jedoch in der Regel nicht freiwillig: Zwangsarbeit
prägte die Ausländerbeschäftigung in Kriegszeiten. Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
schließlich waren von Vertreibung und Fluchtbewegungen dominiert. Rund 14 Millionen
"Reichsdeutsche" und "Volksdeutsche" (Angehörige deutscher Minderheiten ohne deutsche
Staatsangehörigkeit) flohen aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa in Richtung Westen. In der
Bundesrepublik Deutschland erleichterte die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre
fundamental die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Gleichzeitig
bildeten sie ein qualifiziertes und hochmobiles Arbeitskräftepotenzial, das den wirtschaftlichen

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Wiederaufstieg mittrug.

"Gastarbeiteranwerbung", Anwerbestopp und Familiennachzug
In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die noch junge Bundesrepublik Deutschland einen
Wirtschaftsboom, der mit einer enormen Expansion des Arbeitsmarktes einherging. Da das inländische
Arbeitskräftepotenzial nicht ausreichte, um die Nachfrage zu decken, schloss die Bundesrepublik 1955
mit Italien und 1960 mit Griechenland und Spanien erste Vereinbarungen zur Anwerbung von
Arbeitskräften aus diesen Ländern ab. Es folgten entsprechende Abkommen (http://www.bpb.de/
geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/) mit der Türkei (1961), Marokko (1963),
Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Die Arbeitsmigrantinnen und
Arbeitsmigranten übernahmen in der Regel un- und angelernte Tätigkeiten in der industriellen
Produktion mit hoher körperlicher Beanspruchung, gesundheitlicher Belastung und Lohnbedingungen,
die viele Einheimische nicht (mehr) akzeptieren wollten. Die Anwerbung der sogenannten
"Gastarbeiter" wurde im Zuge der Öl(preis)krise und steigender Arbeitslosigkeit 1973 beendet.
Hintergrund dieser Entscheidung war aber auch die zunehmende Niederlassung der ausländischen
Arbeitnehmer im selbsterklärten "Nichteinwanderungsland" Deutschland.

Vom Ende der 1950er Jahre bis zum "Anwerbestopp" (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-
geschichte/anwerbeabkommen/43270/anwerbestopp-1973) 1973 kamen rund 14 Millionen
ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen etwa 11 Millionen nur temporär im Land
verblieben und wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Die anderen blieben und zogen ihre
Familien nach. So kam es, dass die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen zwar nach dem Ende der
Anwerbezeit sank – von 2,6 Millionen 1973 auf 1,6 Millionen 1989 – die ausländische Wohnbevölkerung
aber im selben Zeitraum von 3,97 Millionen auf 4,9 Millionen wuchs.

Und in der DDR?

Auch in der DDR gab es einen Arbeitskräftemangel, der vor allem auf die massive Abwanderung in
den Westen zurückzuführen war: Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 waren mindestens 2,7 Millionen
Menschen in die Bundesrepublik gegangen, während der Umfang der Bewegung aus Westdeutschland
in die DDR nur bei rund 500.000 in diesem Zeitraum lag. Die durch die Abwanderung vor allem junger
und gut qualifizierter Menschen entstandene Lücke sollte zumindest teilweise durch ausländische
Arbeitskräfte geschlossen werden. Dazu schloss die Regierung Abkommen mit sozialistischen
"Bruderländern". 1968 trafen die ersten der sogenannten Vertragsarbeiter aus Ungarn ein. Es folgten
Arbeitskräfte aus Algerien, Angola, Polen, Mosambik und Kuba. Die größte Gruppe stammte aus
Vietnam. Sie durften nur für eine befristete Zeit in der DDR bleiben. Da private Kontakte zu
Einheimischen unerwünscht waren, lebten sie isoliert in Wohnheimen. Nähere Kontakte zu DDR-
Bürgern waren genehmigungs- und berichtspflichtig. Zur Wende hielten sich rund 94.000
Vertragsarbeiter in der DDR auf, darunter 60.000 Vietnamesen. Nach der Vereinigung der beiden
deutschen Staaten 1990 verließen viele von ihnen das Land – in der Regel, weil ihnen wegen des
Auslaufens der Aufenthaltsgenehmigungen keine Alternative blieb.*

* Weitere Informationen zum Migrationsgeschehen in der DDR unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/
migration/dossier-migration/56368/migrationspolitik-in-der-ddr?p=all (http://www.bpb.de/gesellschaft/
migration/dossier-migration/56368/migrationspolitik-in-der-ddr?p=all) (Zugriff: 24.8.2017).

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Zuwanderung im vereinigten Deutschland: Asylmigration und
Aussiedlerzuwanderung in den 1980er und 1990er Jahren
Mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs", dem Wandel der politischen Systeme in den ehemaligen
Staaten des "Ostblocks" und dem Ende der DDR 1989/90 veränderten sich die Migrationsmuster in
Europa. In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa
deutlich an. Sie überschritt 1988 die Marke von 100.000, kletterte im Jahr der europäischen
Revolutionen 1989 auf etwa 120.000, erreichte im vereinigten Deutschland 1990 rund 190.000 und
1992 schließlich fast 440.000 (siehe "Flucht und Asyl").

Neben der Zuwanderung von Asylbewerbern stieg Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre
besonders die Zahl der Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland stark an. Die Bezeichnung
"Aussiedler" stammt aus den frühen 1950er Jahren. Nach dem Ende von Flucht und Vertreibung (http://
www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/207251/flucht-und-vertreibung) in der Folge des Zweiten
Weltkriegs lebten 1950 nach Behördenangaben noch rund vier Millionen Deutsche in Ost-, Ostmittel-
und Südosteuropa. Ihnen sicherte das Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Aufnahme als deutsche
Staatsangehörige zu. Von 1950-1975 passierten insgesamt rund 800.000, von 1976-1987 weitere
etwa 616.000 Aussiedler die westdeutschen Grenzdurchgangslager, bis mit der Öffnung des "Eisernen
Vorhangs" deren Massenzuwanderung begann: Von 1987 an gingen die Zahlen vor dem Hintergrund
von "Glasnost" und "Perestrojka" (http://www.bpb.de/izpb/192793/perestrojka-und-glasnost) in der
UdSSR rasch nach oben, in den folgenden anderthalb Jahrzehnten kamen mehr als drei Millionen
Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt wanderten damit im Zeitraum 1950-2016
rund 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler zu.

Dieser Text ist Teil des Migrationsprofils Deutschland (http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/
laenderprofile/208594/deutschland).

                     Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
                     de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
                     Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-
nd/3.0/de/ Autoren: Vera Hanewinkel, Jochen Oltmer für bpb.de

Fußnoten

1.    Hierzu und zum Folgenden siehe Oltmer, Jochen (2016): Migration im 19. und 20. Jahrhundert.
      3. Aufl. München.
2.    Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Migrationsprofil Deutschland häufig auf die
      gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Die Angaben
      beziehen sich jedoch ausdrücklich auf Angehörige beider Geschlechter.

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Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im
geteilten Deutschland
Von Patrice G. Poutrus                                                                                          5.3.2021
 Dr. Patrice G. Poutrus ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der
 Universität Erfurt im Projekt "Diktaturerfahrung und Transformation - Partizipative Erinnerungsforschung" und seit 2016 Mitglied im
 DFG-Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung".

Fragen der Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingspolitik wurden im Lauf der 1980er Jahre in
beiden deutschen Staaten einer Neubestimmung unterzogen. Dabei war die DDR-
Migrationspolitik geprägt von Homogenitätsvorstellungen der kommunistischen Staatspartei,
aber auch von einer Zuspitzung der Versorgungskrise. In der Bundesrepublik wandelte sich
die Debatte um das Asylrecht zu einer zentralen innenpolitischen Auseinandersetzung.

Türkischstämmige Migrantenfamilien lebten laut Patrice Poutrus in der Bundesrepublik schon in den späten 1970er
Jahren in einem gesellschaftlichen Paradox – in einer Einwanderungssituation in einem Nicht-Einwanderungsland.
(© picture-alliance/dpa)

Für so gut wie alle nationalstaatlich organisierten Länder stellte und stellt der gesellschaftliche Wandel,
der mit transnationaler Migration einhergeht, eine zentrale Herausforderung dar. Flucht wie
Einwanderung zwingen Nationalstaaten dazu, Kategorien und Kriterien für Zugehörigkeit und
Nichtzugehörigkeit sowie eine Vielzahl von Regulierungsmechanismen zu entwickeln, die sowohl auf
Einwanderer wie Einheimische und deren Handlungsoptionen einwirken. Die Bedeutung des sozialen
Phänomens und politischen Themas Migration erschöpft sich aber nicht mit einem scheinbaren
Abschluss der Nationsbildungsprozesse[1], sondern zieht sich – und, so will es scheinen, in immer

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stärker werdendem Maße – bis in die Gegenwart hinein: Erwähnt sei, für beide deutsche Staaten und
das vereinigte Deutschland, der schwierige Übergang von der seit 1871 postulierten und im Sinne des
Abstammungsprinzips lange Zeit vorherrschende Vorstellung einer ethnisch homogenen deutschen
Nation hin zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland.

Dieser Prozess hat nicht nur vielfältige Einflüsse auf politische Diskussions- und
Entscheidungsprozesse gehabt, sondern einen stetigen und bei weitem noch nicht beendeten Prozess
der Neubestimmung dessen provoziert, was als Gesellschaft, als Gesellschaftsziel, mithin als sozialer
Inhalt moderner Staaten verstanden werden soll.[2]

Harmonisierende Bilder und alltägliches Misstrauen: Arbeitsmigranten
in der DDR
Auf bemerkenswerte Weise offenbarte sich diese Problemstellung für die DDR und die alte
Bundesrepublik gerade auch im letzten Jahrzehnt vor dem Ende der deutschen Teilung im Jahr 1990.
Und obwohl bis in die jüngste Gegenwart Ostdeutschland viel eindeutiger als Ausreise- und nicht als
Einwanderungsgesellschaft charakterisiert werden kann, stand der SED-Staat gerade in den letzten
Jahren seiner Existenz auch vor diesen gesellschaftlichen Herausforderungen: Arbeitsmigrant:innen
aus Vietnam, Mosambik, Angola, Kuba und Polen bildeten die größte Gruppe von in der DDR lebenden
Ausländern – sieht man einmal ab von den sowjetischen Truppen.[3] Im Jahr 1989 registrierte der
SED-Staat rund 95.000 ausländische Beschäftigte. Die Gruppe der sogenannten Vertragsarbeiter lag
damit auch weit vor den wenigen politischen Emigrant:innen[4] und der deutlich größeren Gruppe
ausländischer Studierender.[5]

In den Massenmedien des SED-Staates galt der Aufenthalt der "ausländischen Werktätigen" im
Arbeiter-und-Bauern-Staat als "Arbeitskräftekooperation" im Rahmen der "sozialistischen
ökonomischen Integration": Durch "Arbeitskräftekooperation" sollte das unterschiedliche
Entwicklungsniveau zwischen den sozialistischen Staaten ausgeglichen werden. Der Aufenthalt in der
DDR sollte insbesondere die vietnamesischen "Werktätigen" auf die "künftige Arbeit beim Aufbau des
Sozialismus" vorbereiten und galt entsprechend als staatlicher Auftrag, dem die "Entsandten" ihre
persönlichen Interessen unterzuordnen hatten.[6] In der Presse wurde ein ausnahmslos
harmonisierendes Bild vom Leben und Arbeiten von Vertragsarbeiter:innen in der ostdeutschen
Gesellschaft gezeichnet. Hilfsbereitschaft, Solidarität und harmonisches Lernen und Arbeiten mit und
vor allem von Seiten der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen wurden hervorgehoben. Aber das
alltägliche Zusammenleben in der Mangel- und Misstrauensgesellschaft der DDR kam schlicht nicht
vor. Widersprüche und Konflikte wurden – wenn überhaupt – nur als Anpassungsprobleme der
Arbeitsmigrant:innen an den Alltag in der "fortschrittlichen" Industrieproduktion dargelegt. Implizit
erschienen die Vertragsarbeiter:innen entweder als Bestätigung des kommunistischen Ideals vom
Revolutionär in der Welt oder sie galten als behütete Schützlinge und folgsame Schüler des Sozialismus
in der DDR.[7]

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