Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland

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Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
Sprung
nach vorne!
Modell Deutschland:
Von der Biologie zur Innovation
20 Jahre Deutscher
Biotechnologie-Report

2018
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
Impressum

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recherche von relevanten Unternehmen ermittelt wurden. Die in
diesem Report wiedergegebenen qualitativen und quantitativen
Einschätzungen wurden mit hoher Sorgfalt ermittelt, jedoch über-
nimmt der Herausgeber keine Haftung für die Richtigkeit und
Vollständigkeit der Angaben.

Ernst & Young GmbH
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Theodor-Heuss-Anlage 2, 68165 Mannheim

Dr. Siegfried Bialojan
Executive Director, Life Sciences Center Mannheim
Telefon +49 621 4208 11405
siegfried.bialojan@de.ey.com

April 2018

Layout und Produktion: CPoffice Bietigheim-Bissingen,
Sabine Reissner
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
Die Ko-Autoren
                                                                         Die Cover Story des aktuellen Berichts
                                                                         ist durch das Zutun zweier Autoren
                                                                         entstanden, die bereits 2014 mit
                                                                         „1 % für die Zukunft“ konstruktiv mit

Inhalt
                                                                         EY zusammengearbeitet hatten:

                                                                         Dr. Holger Zinke (Gründer BRAIN
                                                                         und Green Industries, Mitglied im
                                                                         Bioöko­nomierat).
20 Jahre Biotechnologie-Report von EY                               4
                                                                         Dr. Claus Kremoser (Gründer und
1 Perspektive                                                            CEO, Phenex Pharmaceuticals, Autor
20 Jahre EY Biotechnologie-Report                                    8   des ersten EY Biotech-Reports 1998).
Eine Ruckrede                                                       11
Das „Innovation Mindset“                                            14   Aus ihren unterschiedlichen Perspekti-
Das Innovationsökosystem Biotechnologie                             17   ven auf Innovationskulturen und die
Modell Deutschland – Handlungsempfehlungen zusammengefasst          18   Entwicklung des in Deutschland vorherr-
                                                                         schenden „Innovation Mindset“ ent-
2 Kennzahlen Biotech-Standort Deutschland                                stand gemeinsam schließlich der „Blue-
Biotech in Deutschland behält Wachstum bei                          30   print Deutschland: von der Biologie
Neugründungen ohne Dynamik                                          32   zur Innovation“.

3 Finanzierung
Zahlen und Fakten Deutschland                                       40
Zahlen und Fakten Europa                                            45
Zahlen und Fakten USA                                               48

4 Transaktionen
Allianzen und M&A Deutschland                                       52
Allianzen Europa und USA                                            54
M&A Europa und USA                                                  56

Methodik und Definitionen                                           58

Danksagung                                                          59

Weitere Informationen finden Sie unter www.de.ey.com/lifesciences
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
20 Jahre
                        Biotechnologie-
                        Report von EY
                         Im Rückblick erscheint die ursprüngliche Rationale nach wie vor plausibel: EY – damals noch „Schitag Ernst & Young“ –
                         war Mitte der 90er-Jahre mit Alfred Müller als Pionier und Wegbereiter bereits in die Ausarbeitung eines der Gewinner-
                         konzepte des BioRegio-Wettbewerbs eingebunden, des Startschusses für die Etablierung eines Biotech-Sektors in
                         Deutschland. So war es folgerichtig, die weitere Entwicklung zu beobachten und mit Kennzahlen und Trendanalysen die
                         wesentlichen Schritte zu dokumentieren. So wurden auch immer wieder Diskussionen angestoßen über herausragende
                         Ereignisse, dahinterstehende Erfolgsfaktoren oder notwendige Anpassungen von Rahmenbedingungen.

                         Der erste Deutsche Biotechnologie-Report 1998 unter dem Titel „Aufbruchstimmung“ traf bereits zielgenau die
                         Stimmung in der jungen Branche. Aussagekräftige Titel blieben seitdem ein Markenzeichen der Reportserie. Im Verlauf
                         der 20 Jahre gab es Höhen und Tiefen – ein erster Börsen-Boom um die Jahrtausendwende war aus heutiger Sicht
                         deutlich zu früh für die meist noch jungen und unerfahrenen Unternehmen und ihre Investoren. Er steigerte zwar die
                         Euphorie und legte für einige der damaligen Unternehmen tatsächlich den Grundstein für nachhaltigen Erfolg (z. B.
                         Qiagen, MorphoSys, Evotec), andere gibt es heute aber nicht mehr (z. B. Lion Bioscience). Die nachfolgende Periode
                         der Ernüchterung leitete eine Diskussion ein, die bis heute für den Biotech-Sektor in Deutschland prägend ist: Es gibt
                         zwar große Potenziale in der Wissenschaft, aber deutliche Defizite in der Überführung neuer Ideen in kommerziell erfolg-
                         reiche Innovationen und vor allem in der dafür notwendigen Eigenkapitalausstattung.

                         Auch dies kommt durch die Titel der Biotech-Reportserie wie „Neue Chancen“ (2002), „Per Aspera ad Astra“ (2004),
                         „Verhaltene Zuversicht“ (2007) oder „Fallstrick Finanzierung“ (2009) immer wieder zum Ausdruck. Zehn Jahre
                         später kommen erstmals Gedanken auf, die erkennen lassen, dass Erfolgsmodelle in den USA oder Israel nicht einfach
                         auf den Sektor in Deutschland übertragbar sind. Es geht um „Neue Spielregeln“ (2010), Ansätze, die „Maßgeschnei-
                         dert“ (2012) sind, und schließlich um ein „Umdenken“ (2013), das spezifische Stärken besonders heraushebt – z. B.
                         Technologieplattformen und daraus abgeleitete flexiblere Geschäftsmodelle – und diese als Basis für ein „Modell
                         Deutschland“ in Betracht zieht.

                         Ein Meilenstein stellt der Report 2014 dar. „1 % für die Zukunft“ rückt das zentrale Hindernis über all die Jahre in den
                         Mittelpunkt: die unzureichende Mobilisierung von Privatkapital. Dazu bedarf es nicht nur passender politischer Anreiz-
                         systeme. Ein gesellschaftlicher Diskurs über eine neue Innovationskultur ist gefordert: mit einem anderen Bild von
                         ­Unternehmertum, damit eng verbunden mit einer Änderung im Umgang mit Risiko, einem Verständnis für Beteiligungen
                          an Unternehmen und für die Notwendigkeit von Eigenkapital als Innovationstreiber. Schließlich konkretisiert „Spot
                          on Innovation“ (2017) diese Themen weiter und zeigt anhand von Best-Practice-Beispielen, dass diese Forderungen
                          nicht vollkommen illusorisch sind, sondern deren Umsetzung in Einzelfällen durchaus auch in Deutschland möglich ist.

                         Über den thematischen roten Faden von 20 Jahren EY Biotech-Report spannt sich ein weiterer Bogen, eine Koinzidenz
                         auf der Ebene der handelnden Personen: Autor und wesentlicher Treiber des ersten Ernst & Young Biotech-Reports
                         1998 war Dr. Claus Kremoser, zusammen mit Ingo Köhler und dem damaligen Life-Sciences-Team unter Mentorship
                         von Alfred Müller. Mit Claus Kremoser stand nicht nur ein ausgezeichneter intellektueller Kopf am Anfang der
                         ­Geschichte dieser Reports. Er hat im Weiteren mit der Entwicklung seines Biotech-Unternehmens Phenex Pharmaceuti-
                          cals ein Beispiel gegeben für Unternehmertum, damit verbundener Risikoakzeptanz und dem Willen zum Erfolg. Mit

4   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
1998
Dr. Claus Kremoser
                             2018
                             Dr. Siegfried Bialojan

                                                               „Ein Grund zum Feiern!“ oder besser: „Ein Grund zum Feiern?“
                                                               Bei solch einem runden Jubiläum stellt man sich die Fragen:
                                                               Was hat am Anfang Anlass gegeben, diese Reports aufzulegen?
                                                               Welche richtungsweisenden Ereignisse haben den langen
                                                               Zeitverlauf geprägt? Sind wir nach 20 Jahren besser aufgestellt?

seinem Engagement für die Biotech-Branche hat er insgesamt grundlegende Beiträge geliefert für die bereits erwähnte
gesellschaftliche Diskussion. Die Inhalte von „1 % für die Zukunft“ gehen im Wesentlichen auf die Überlegungen von
ihm und dem weiteren Vorzeigeunternehmer, Dr. Holger Zinke, Gründer und ehemaliger CEO der BRAIN AG, zurück. In
der Fortführung des roten Fadens der EY Biotech-Reports haben Claus Kremoser und Holger Zinke erneut auch in
der ­aktuellen Ausgabe die Inhalte durch ihren Input bereichert und mitgestaltet.

Der aktuelle Biotech-Report 2018 vertieft die Diskussion über ein erfolgreiches „Innovationsökosystem Biotechnologie“
in Deutschland weiter. Dabei werden zunächst die kulturellen Voraussetzungen („Innovation Mindset“) sowohl aus
­historischer Perspektive als auch im Vergleich mit anderen Ländern beleuchtet. Allein diese Analyse zeigt, dass einer-
 seits ein gewaltiger „Sprung nach vorne“ notwendig ist, andererseits aber einfaches Kopieren nicht zielführend sein
 kann. Vielmehr resultiert daraus die Forderung, die wesentlichen vier Komponenten dieses Innovation Mindset mit den
 realistisch vorhandenen Möglichkeiten in Deutschland anzugehen: Translation der exzellenten Wissenschaft in kom-
 merzielle Entwicklungen, Stärkung von Unternehmertum, Schaffung von Anreizen für innovative KMU, Aufbau einer
 Eigenkapitalkultur sowie eines funktionierenden Kapitalökosystems. Am Ende steht der Versuch, einen „Blueprint“
 für den Weg „von der Biologie zur Innovation“ – wie es auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht – zu
 entwerfen und eine brancheninterne, aber auch gesellschaftliche Diskussion anzubieten.

Auf globaler Ebene werden wir künftig anstelle von „Beyond Borders“ und „Pulse of the Industry“ relevante Branchen-
informationen auf unserer neuen Internetplattform „Vital Signs“ (www.ey.com/vitalsigns) sowie mit dem neuen Format
„Firepower Report“ bereitstellen.

EY betrachtet auch die rasanten Entwicklungen der Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die Life-Sciences-­
Industrie der Zukunft. Hierzu ist im März 2018 der neue „Progressions 2018“-Report mit dem Titel „Life Sciences 4.0:
Securing value through data-driven platforms“ publiziert worden, der sich vor allem mit der Entwicklung neuer
„Plattform-Geschäftsmodelle“ beschäftigt.

Die gedankliche Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen, unzählige Gespräche mit allen Beteiligten sowie
eine fundierte Kenntnis der Fakten schaffen eine solide Basis für eine Beratungsexpertise, die wir unseren Kunden im
gesamten Life-Sciences-Bereich zur Verfügung stellen.

Mit diesem Vorausblick hoffe ich, dass Ihnen die vorliegende Studie hilfreiche Anregungen liefert, und freue mich auf
den Dialog mit Ihnen.

Dr. Siegfried Bialojan
EY Life Sciences Center Mannheim

Alle Reports stehen unter www.de.ey.com/lifesciences zum Download zur Verfügung.

                                                                                                                                  Vorwort |   5
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
Perspektive

6   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
�
    20 Jahre EY Biotech-
    Report in Deutschland –
    und kein bisschen weiter?
    Die Aufarbeitung der Entwicklung der
    Biotech-Branche in Deutschland über die
    letzten 20 Jahre zeigt eine ernüchternde
    Bilanz im Vergleich zu anderen Nationen.
    Eine grundsätzliche Neuausrichtung in
    anderen Dimensionen ist erforderlich.

    Eine Ruckrede
    Historische Hintergründe erklären eine
    Epochenschwelle im Fortschrittsdenken
    und erfordern einen neuen Appell an
    Politik und Gesellschaft zu einem wirk­
    lichen „Sprung nach vorne“.

    „Innovation Mindset“
    und Innovationsöko­
    system Biotechnologie
    Mindset und Innovationskultur in
    Deutschland erfordern einen eigenständi-
    gen Weg. Die Innovationsgleichung gibt
    die Richtung vor: Innovation = Translatio­
    nale Forschung × Unternehmergeist ×
    Kapital.

    Modell Deutschland –
    Handlungsempfehlun-
    gen zusammengefasst
    Der Blueprint „Innovationsökosystem
    Biotechnologie“ liefert Handlungs­
    empfehlungen für ein effektives Modell
    Deutschland „von der Biologie zur
    Innovation“.

                                  Perspektive |   7
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
20 Jahre EY Biotechnologie-
Report in Deutschland –
und kein bisschen weiter?
Vorschläge für ein „Innovationsökosystem Biotechnologie“ und eine effektive „Biologisierungsagenda“

Kritische Branchendiskussionen                  den Innovationsstandort Deutschland werden        sondern andernorts schon die Regel und in
Nach 20 Jahren Deutscher Biotech-Report         im Koalitionsvertrag nur in einem Satz erwähnt.   Deutschland überfällig. Insofern soll hier nicht
von EY ist ein kritischer Rückblick auf das                                                       „negativer Stimmungsmache“ Raum gegeben
Erreichte angebracht. Wie im Vorwort bereits    Auch andere Appelle verhallen ungehört            werden – es geht um hoch relevante und akute
angesprochen, stand im Mittelpunkt der          Über die letzten beiden Dekaden wurden etliche    Handlungsaufforderungen, um die Zukunft
Berichte stets die kritische Auseinanderset-    Appelle und Anregungen von berufener Seite        nicht zu verpassen.
zung mit relevanten Branchenthemen. Basis       zur Erneuerung der Volkswirtschaft vorgelegt,
waren EY-eigene Detailanalysen von Kenn-        so zum Beispiel von der „Expertenkommis-          Potenziale in Deutschland besser nutzen
zahlen zur Performance der Unternehmen,         sion Forschung und Innovation“ (EFI), die         Die Appelle basieren darauf, dass in Deutsch-
zu Aktivitäten auf dem Transaktionsmarkt        die Benachteiligung von Eigenkapitalfinan­        land historisch ein üppiges Fördersystem
sowie zur Sektorfinanzierung. Dabei war die     zierungen regelmäßig als großes Hindernis         vorangebracht wurde und somit ein riesiges
Plattform der EY Biotech-Reports stets unab-    sah und das Fehlen von Anreizelementen            Forschungspotenzial besteht, aus dem folge-
hängig von Sekundärinteressen.                  beklagte. Auch der Bioökonomierat weist in        richtig auch wirtschaftliches Handeln resultie-
                                                seinen Papieren regelmäßig auf die Defizite       ren müsste. Es gibt zwar herausragende
Appelle finden wenig Gehör                      im Kapitalmarktökosystem hin und fordert          Erfolgsbeispiele, in denen Ideen von einigen
Das Ergebnis der Diskussionen waren oft         zuletzt in seinen Empfehlungen für die aktu-      klugen Köpfen in erfolgreichen Unternehmen
Appelle an Politik und andere (z. B. Investo-   elle Legis­laturperiode, dass der Leitgedanke     aufgegangen sind (z. B. Qiagen, MorphoSys,
ren, strategische Partner), mit klaren Forde-   der Bio­öko­nomie als eine Strategie für nach-    Evotec, Miltenyi), sie bilden aber nur die
rungen im Sinne von „Call to Action“. Bestes    haltige Entwicklung in Zukunft stärker zur        Spitze eines Eisbergs. Für die viertgrößte Volks-
Beispiel dafür ist der Report 2014 mit der      Geltung kommt. Diese Empfehlungen waren           wirtschaft der Welt sind es einfach zu wenige,
bewusst plakativ formulierten Kernbotschaft     bisher allesamt von sehr begrenzter Wirkung.      um einen nachhaltigen Einfluss auf unsere
„1 % für die Zukunft“ – eine zugespitzte Auf-                                                     Zukunftsfähigkeit zu haben. Das im folgenden
forderung zur Mobilisierung von Privatkapital   Zukunftsvisionen überfällig                       noch näher beschriebene Mindset in der
als Antwort auf den über die letzten Dekaden    In der aktuellen Wirtschaftslage, in der die      Forschung, wo viele Ideen entweder erst gar
beklagten Kapitalmangel.                        Kernindustrien boomen und Deutschlands            nicht erkannt werden oder aber gar kein
                                                Rolle als Exportweltmeister unbestritten ist,     Interesse seitens der Forscher an einer kom-
Die Deutlichkeit dieses Appells verfehlte       fällt es in der Tat schwer, an den Eckpunkten     mer­ziellen Nutzung vorliegt, passt zum Bild
zunächst nicht seine beabsichtigte Wirkung –    unserer Kultur und den neuen politischen          des Eisbergs mit vielen wertvollen Ansätzen,
es folgten Diskussionen und vor allem ein       Prämissen – Stabilität durch Erhalten, Sicher-    die noch unter der Wasseroberfläche auf ihre
Wachrütteln der Politik zur Schaffung geeig-    heitsbedürfnis, Ausklammern von Risiken –         Entdeckung warten.
neter Rahmenbedingungen sowie der Gesell-       zu rütteln. Zukunftsvisionen, deren Umset-
schaft zum aktiven Umdenken hinsichtlich        zung per se auf Erneuerung unter bewusster        Vor allem diese Überzeugung von vorhan-
der direkten Beteiligung am Innovationspro-     Akzeptanz von Risiken setzt, sind schwieriger     denem, aber zu wenig genutztem Potenzial
zess. Die Miteinbeziehung der Aussagen in       zu vermitteln. Kritische Appelle werden vor       ­begründet die Rationale für nachhaltiges
die Agenda des „Innovationsgipfels Biotech-     diesem Hintergrund allenfalls als „Klagen auf      Fordern und für weitere Appelle zur Umset-
nologie“ im Herbst 2016 und schließlich         hohem Niveau“ und Miesmacherei wahrge-             zung vorgeschlagener Lösungsansätze. Es
die daraus abgeleitete Anregung einer „Bio-     nommen, die die offensichtliche Erfolgsbilanz      geht dabei nicht nur um einen anzustreben-
logisierungsagenda“ (Kanzleramtsminister        trüben.                                            den Kulturwandel („Mindset Change“) im
Altmaier im Frühjahr 2017) waren ein                                                               Bereich der Forschung. Die Forderung nach
Hoffnungsschimmer.                              Die Zukunft hat aber längst begonnen.              effektiverer Nutzung der Forschungspoten-
                                                Andere Volkswirtschaften beschäftigen sich         ­ziale hat vielmehr auch eine volkswirtschaft­
Indes scheinen nun auf der Agenda der neuen     nicht mehr nur mit der Konkurrenzfähigkeit          liche Begründung: Massive staatliche For-
Bundesregierung die wirtschaftspolitischen      in den bestehenden Industrien, sondern sind         schungsförderung aus Steuermitteln ohne
Kernthemen anders gelagert zu sein. Aussagen    längst dabei, Zukunftsmärkte zu erobern.            entsprechendes, gleichgerichtetes Engage-
zur Biologisierung und deren Bedeutung für      Zukunftsvisionen sind also keine Spinnerei,         ment – wenngleich mit anderen, unterneh-

8   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
„Es darf nicht das Schicksal und das Anspruchsdenken europäischer
                                       Top-Wissenschaft werden, die Innovationsquelle für die Biotech-
                                       und Pharma-Unternehmen in den USA und im Rest der Welt zu werden.“
                                       Dr. Werner Lanthaler, CEO, Evotec AG

                                       In Allianzen und Partnerschaften mit führenden Pharma- und Biotech-Unternehmen und
                                       Universitäten treibt Evotec innovative Ansätze zur Entwicklung neuer pharmazeutischer
                                       Produkte in wichtigen Indikationsgebieten voran. 2017 hat Novo AS, einer der strategischen
                                       Partner, 90 Millionen Euro in einer Kapitalerhöhung in Evotec investiert.

merisch angelegten Instrumenten – zur                       andere Stakeholder waren sie häufig aber                   wenige Kennzahlen im internationalen Ver-
kommerziellen Nutzung der entstehenden                      auch Anlass zum Feiern, als Beginn einer                   gleich über diesen 20-Jahres-Zeitraum ver-
Potenziale ist volkswirtschaftlich sinnlos.                 längerfristigen Erfolgskurve. Für eine wirk­               folgt, wird klar, wo wir stehen: Der konkrete
Dies betrifft sowohl die berechtigte Erwartung              liche volkswirtschaftliche Erneuerung wird                 Vergleich USA/Deutschland bezüglich der
der Steuerzahler, die am Ende für die För­                  es notwendig sein, in völlig anderen Dimen­                wichtigsten Innovationsparameter zeigt klar
dergelder aufkommen, als auch die Verpflich-                sionen zu denken: Nicht prozentuale Steige-                auf, dass im Biotech-Sektor zwischen diesen
tung von Forschern, als Empfänger der Mittel                rungen der Kennzahlen, sondern signifikante                beiden Ländern wirklich Dimensionen liegen.
auch ihrer volkswirtschaftlichen Verantwor-                 Vervielfachung ist der Anspruch, um den es                 Dies wäre aufgrund des späteren Starts
tung nachzukommen.                                          gehen muss.                                                in Deutschland für das Vergleichsjahr 1998
                                                                                                                       noch zu verstehen, jedoch kann von einem
In neuer Größenordnung denken                               Ist dies völlig aus der Luft gegriffen? Wieder             wirklichen Aufholen in den letzten 20 Jahren
In 20 Jahren EY Biotech-Report, in denen                    Spinnerei im Kostüm der Zukunftsvision?                    keine Rede sein. Die eklatante Asymmetrie
die Entwicklung der Branche immer im                        Keineswegs!                                                (Faktor 30 bis 50) ist heute immer noch
Mittelpunkt stand, wurden Wachstumszahlen                                                                              unverändert. Schlimmer noch: Gerade in den
im einstelligen Prozentbereich unsererseits                 Die Branchenzahlen werden von EY welt-                     für den Innovationsprozess kritischsten
meist mit kritischer Distanz bezüglich der                  weit erfasst und lassen auch vergleichende                 Parametern – VC und F&E – hat sie sich sogar
Nachhaltigkeit des Effekts kommentiert. Für                 Betrach­tungen zu: Wenn man nur einige                     noch signifikant vergrößert.

Vergleich USA-Deutschland: Innovationsökosystem Biotechnologie (1998 und 2016) und Bruttoinlandsprodukt (2000 und 2017)

Umsatz                             F&E                                 VC                                 Market Cap                        BIP
Mio. US$/€                         Mio. US$/€                          Mio. US$/€                         Mio. US$/€                        Bio. US$/€

160.000                            42.000                              12.500                             900.000                           20,0

                                                                       10.000                                                               17,5
120.000                            32.000                                                                 700.000

                                                                       7.500                                                                15,0
                                                                                                                                                     2,0x             5,3x
80.000                             22.000                                                                 500.000
                                              5,8x              35x               8,9x            49x               5,1x              50x
          6,7x             31x                                         5.000                                                                12,5

40.000                             12.000                                                                 300.000
                                                                       2.500                                                                10,0

5.000                              2.000                               500                                100.000
                                                                                                                                            7,5
4.000                              1.200                               250                                15.000
                                                     32x                              12x                                                                  5,2x
3.000                              900
                                                                       200                                               53x
                 43x                                                                   1,9x                                                 5,0
                                                     5,3x                                                 10.000
                                                                       150
                                                                                                                          5,4x
2.000            9,5x              600                                                                                                                       1,9x
                                                                       100
                                                                                                          5.000                             2,5
1.000                              300
                                                                       50

0            1998        2016      0             1998        2016      0            1998       2016       0           1998          2016    0            2000       2017

         USA (Publics)           Deutschland (Publics und Privates)                                     Quelle: EY Biotech-Reports 1998 und 2016, Capital IQ, EY, Destatis

                                                                                                                                                          Perspektive |    9
Sprung nach vorne! Modell Deutschland: Von der Biologie zur Innovation 20 Jahre Deutscher Biotechnologie-Report 2018 - BIO Deutschland
20 Jahre EY Biotech-Report in Deutschland – und kein bisschen weiter?

                                „Wir können natürlich nicht auf Dauer nur vom Export von Fahrzeugen und
                                Maschinen leben. Höhere Investitionen in F&E und in Wachstumsunternehmen,
                                gerade auch in der Biotechnologie, müssen Top-Priorität haben. Die Initiative
                                ‚1 % für die Zukunft‘ sollte kurzfristig vorangebracht und dann in mehreren
                                Etappen weiter aufgestockt werden.“
                                Prof. Dr. Alexander Gerybadze, Leiter der Forschungsstelle Internationales Management
                                und Innovation, Universität Hohenheim

                                Professor Gerybadze beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen zur Wettbewerbsfähigkeit
                                auf internationalen Märkten der Hochtechnologie. Zugleich beschäftigt ihn die Frage, wie
                                die Forschungs- und Innovationspolitik auf Bundes- und Länderebene Anreize und Rahmen-
                                bedingungen schaffen kann, um den Standort Deutschland nachhaltig zu stärken.

Ausgaben für F&E – die direkteste Messgröße          geringer und entsprechen eher den Größen-                 Der aktuelle Biotech-Report will eine Vision
für Innovationsleistung – stechen hierbei            unterschieden der Volkswirtschaften. Das                  für den Biotech-Standort Deutschland ent­
besonders auffällig hervor. In den vergange-         Wachstum ist ebenfalls im 20-Jahre-Zeitraum               wickeln: eine Blaupause, wie in Zukunft Ideen
nen 20 Jahren wurden im Biotech-Sektor in            geringer. Auch aus dieser Perspektive muss                in Innovationen münden, zu Wachstumsun-
den USA insgesamt 436 Milliarden US-Dollar           also der erneute Appell viel deutlicher aus-              ternehmen werden und einen volkswirtschaft­-
investiert (im Mittel ca. 20 Mrd. US$ pro            fallen.                                                   lichen Beitrag liefern. Eine Blaupause somit
Jahr). Dem entspricht der Output an Unter-                                                                     auch für eine deutsche Biologisierungsagenda.
nehmen und an Produkten am Markt (Umsatz:            Erhalten bedeutet Rückschritt – Vision
1,2 Billionen US$). Binnen 20 Jahren ist             für die Zukunft                                           Modell für Deutschland
dort eine neue „Apotheke der Welt“ entstan-          Treffender als John F. Kennedy kann man                   Viele Diskussionen in der Vergangenheit
den. Im Vergleich mit anderen Branchen               diesen Zusammenhang nicht auf den Punkt                   haben immer wieder die USA, aber auch Israel
stellen diese US-Zahlen sogar fest etablierte        bringen:                                                  oder Kanada als Vorbilder herangezogen.
Industriezweige in den Schatten. Wenn z. B.                                                                    Die tiefer gehende Analyse, die wir in diesem
die Chemie-Industrie in Deutschland pro Jahr                                                                   Report mit Blick auf die historische Entwick-
etwa fünf Milliarden Euro für F&E aufwendet,         „Veränderung ist das Gesetz des Lebens.                   lung von Innovationskulturen vornehmen, zeigt
so kann man hier allenfalls von „defensiver“         Diejenigen, die nur auf die Vergangenheit                 indes, dass es wenig erfolgversprechend ist,
F&E-Strategie reden. Aktive Innovation und           oder die Gegenwart blicken, werden die                    diese Vorbilder eins zu eins zu kopieren. Viel-
Zukunftsgestaltung erfordern andere Dimen-           Zukunft verpassen.“                                       mehr muss ein spezifisches „Modell Deutsch-
sionen. Für die Biotechnologie in Deutsch-           John F. Kennedy                                           land“ erarbeitet werden, das den allgemein
land beträgt der F&E-Aufwand der letzten                                                                       gültigen Voraussetzungen für erfolgreiche
20 Jahre gerade einmal 16 Milliarden Euro                                                                      Innovation Rechnung trägt, in der Umsetzung
(ca. 830 Mio. € pro Jahr). Wie soll hieraus          Die „Moonshot“-Vision schwor die USA nicht                aber die realistischen Gegebenheiten und
ein Aufholprozess in Gang kommen?                    nur darauf ein, den ersten Menschen auf                   kulturellen Besonderheiten in Deutschland
                                                     den Mond zu bringen, sie hat vielmehr einen               berücksichtigt.
Demgegenüber stellen sich andere Wirt-               enormen Technologieschub ausgelöst und
schaftsparameter (BIP) in diesem 20-Jahre-           die USA an die Spitze der akademischen For-               Beitrag zur Biologisierungsagenda
Vergleich anders dar. Die Unterschiede zwi-          schung und der Technologieunternehmens-                   Gelingt es, aus den Überlegungen im vor­
schen den USA und Deutschland sind hier              gründungen katapultiert.                                  liegenden Report ein spezifisches Modell
                                                                                                               Deutschland für Innovation und Biologisie-
                                                                                                               rung zu formulieren, dann könnten die
                                                                                                               ­Inhalte wichtige Bausteine für die in der poli­
                                                                                                                tischen Diskussion zumindest verbal umris-
                                                                                                                sene Biologisierungsagenda sein. Vor diesem
                                                                                                                Hintergrund richtet sich der Appell vor allem
                                                                                                                an die politischen Stakeholder mit einem kon-
                                                                                                                kreten Angebot: Auf der Basis der hier vor­
                                                                                                                gelegten Zahlen und skizzierten Handlungs-
                                                                                                                optionen sollen konkrete politische Initiativen
                                                                                                                angegangen werden, die dem Anspruch an
                                                                                                                eine effektive Biologisierungsagenda gerecht
                                                                                                                werden.

10   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
Eine Ruckrede
von Holger Zinke

„1 % für die Zukunft“ – Reloaded                   nicht einmal gab und die heute durchweg          Biotech-Sektors sogar die Notwendigkeit
Leitgedanke                                        dreistellige Milliarden-Marktkapitalisierungen   ­einer „Biologisierungsagenda“ in Analogie
Die Autoren kamen im EY-Report 2014 („1 %          aufweisen. Die Biotechnologie muss also           zur „Digitalisierungsagenda“. Leider ist
für die Zukunft“) bei ihrer Analyse der Grün-      heute nicht mehr als junge, unerprobte und        eine solche bis heute nicht absehbar. Hier
dungsdynamik und Finanzierungssituation            durchweg risikobehaftete Start-up-Szene           wollen wir ansetzen.
der deutschen Biotechnologiebranche zu             betrachtet werden, sondern als notwendiger
dem Schluss, dass die Kapitalnahrungskette         Teil der überall stattfindenden Neuordnun-       Zielsetzung
Lücken aufweist und so das Finanzierungs-          gen von Innovations-, Prozess- und Produkt-      Die Autoren möchten im vorliegenden Re-
ökosystem als Ganzes gestört ist. Dies führt       ketten und auch Volkswirtschaften. Heute         port einen Beitrag leisten, die Ursachen für
zu einer generellen Kapitalknappheit, insbe-       finden mehr als 50 Prozent der Pharma-For-       das über Jahre fortgesetzte Nichthandeln
sondere fehlen Private Equity Players im vor-      schungsinvestitionen in den Hubs an der          besser zu verstehen und Vorschläge zu ma-
börslichen Bereich wie auch Investoren im          Ost- und Westküste der USA statt. Die Bio-       chen, wie aus der vorliegenden Datenlage
Börsenumfeld, sodass sich ein dynamisches          technologieindustrie ist in den USA binnen       heraus die Lücken im Ökosystem geschlos-
Innovationsökosystem nicht wirksam ent­            zwei Jahrzehnten zu einer neuen Pharma-          sen werden können. Sie kommen dabei zu
wickeln kann. Viele der Gründungen bleiben         Industrie geworden. Die Übergänge zwischen       dem Schluss, dass es im Wesentlichen kul­tu­
hinter ihren Wertschöpfungsmöglichkeiten           Biotech, Pharma und Chemie sind fließend,        relle und gesellschaftliche Werteprioritäten
zurück, da sie im Finanzierungsökosystem           neue Produkte und Produktzulassungen             sind, die sich in den letzten Jahren und Jahr-
nur ungenügende Ressourcen nutzen können.          werden ganz überwiegend von der Biotech-         zehnten verschoben haben. Dabei machen
                                                   Industrie erarbeitet, Transaktionsvolumina       die Autoren ein geändertes Mindset aus:
Ein Vergleich mit anderen Finanzierungs-           und Bewertungen erreichen typischerweise         Nicht mehr der Fortschritt auf der Basis von
ökosystemen, etwa in den USA, Kanada oder          mehrstellige Milliardenbeträge. Die Transak­     Erfindungen, Technologien, Produkten und
Israel, zeigt, dass sich mit Biotechnologieun-     tionen finden im Wesentlichen an den US-         Investi­tionen wird als wünschenswert und
ternehmen und -produkten erfolgreich große         Kapitalmärkten statt – privat, vorbörslich und   dessen Ermöglichung als einer der Kerne des
und größte Unternehmen, ganze Branchen             an der NASDAQ.                                   politischen Handelns gesehen, sondern das
und Standorte aufbauen lassen und sie erheb-                                                        Bewahren, das Stabilisieren, das inkremen-
lich zur Wirtschaftsleistung, mehr noch zur        Vor diesem Hintergrund hatten die Autoren        telle Optimieren des Vorhandenen. Dieses
Zukunftsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaf-   eine sehr grundsätzliche Forderung formu-        Muster zieht sich durch fast alle Politikfelder
ten beitragen, dies zusätzlich zum gesell-         liert: die Abkehr vom Fördergedanken, hin        und ist nicht beschränkt auf Wirtschafts- und
schaft­lichen, Umwelt- und Gesundheitsnut-         zu mehr privaten Investitionen in die Biotech-   Technologiepolitik. Die Leitlinie des politi-
zen, etwa durch nachhaltige Produktionsver-        nologie und andere Emerging Technologies.        schen Handelns ist gerade nicht die Dynami-
fahren oder neue Therapieoptionen, wofür           Das quantitative Ziel war die Mobilisierung      sierung von Erneuerung mittels Verbesse-
die Biotechnologie steht.                          von einem Prozent des anlagesuchenden            rung der Kapitalverfügbarkeit, sondern eher
                                                   (Privat-)Kapitals. Viele Gespräche mit Minis-    ein „Weiter so!“.
Diese Dynamik und die international sehr           terien bis hin zum Kanzleramt haben indes
starke Biotechnologiebranche sind das              nicht den notwendigen Ruck ergeben. Zwar         Dieser Wandel der politischen Zielbilder hat
­Resultat eines weit fortgeschrittenen Trans-      wurden die zugrunde liegenden Analysen           u. a. auch dazu geführt, dass die viel zitierte
 formationsprozesses in der klassischen            geteilt, die Mechanik der Lenkung von anlage-    Rede von Altbundespräsident Roman Herzog
 Pharma-Industrie, der zu einer neuen Indust-      suchendem Kapital durch (ggf. steuerliche)       vom 26. April 1997 (die berühmte Ruck-
 riestruktur geführt hat. Deutschland war          Incentives wurde verstanden, doch ein gro-       Rede ist nun ebenfalls 20 Jahre alt) praktisch
 noch in den Neunzigerjahren die „Apotheke         ßer Wurf blieb bis heute aus. Zuletzt wurde      folgenlos geblieben ist. Aber es bedarf unbe-
 der Welt“, mit der Hoechst AG als internatio-     sehr detailliert im Innovationsdialog der Bun-   dingt einer klaren Aussage der gewählten
 nal führendem Unternehmen. Heute reihen           deskanzlerin (November 2016) auf den             Spitze des Staates: „Wir wollen das!“, oder
 sich die deutschen Pharma-Firmen überwie-         Handlungsbedarf hingewiesen. Regierungs-         besser: „Wir brauchen das!“. Es bedarf der
 gend hinter Unternehmen wie Amgen, Bio­           seitig anerkannt wurde angesichts der            Weichenstellung und Führung des Landes in
 genidec oder Gilead ein, die es damals noch       branchenübergreifenden Bedeutung des             eine nachhaltige Zukunft.

                                                                                                                                  Perspektive |   11
Eine Ruckrede für Innovation durch Biologisierung in Deutschland

Die (wenigen) Unternehmer und Gründer             kehrbarer Rutsch in eine düstere Zukunft             Interessanterweise ist dieses Mindset aber
werden allein und ohne funktionsfähiges           interpretiert werden).                               nicht international gleich und parallel entwi-
­Kapitalmarktökosystem größte Mühe haben,                                                              ckelt, sondern unterscheidet sich deutlich –
 ihren Teil beizutragen. Die Anleger werden       Unabhängig davon, ob im individuellen oder           insbesondere in den bereits genannten Volks-
 weiter den Empfehlungen ihrer Bankberater        gesellschaftlichen Umfeld die Einschät­              wirtschaften (USA, Israel, Kanada), aber
 und Versicherungsvertreter folgen. Die A
                                        ­ b­-     zungen immer zutreffen: Sie führen im kriti-         auch in Asien. Obwohl es auch dort einiges
sol­venten werden weiter in „gesicherte“          schen, womöglich sogar pessimistischen               zu bewahren gibt, sind es insbesondere die
Beschäftigungsverhältnisse streben. Unter-        Blick regelmäßig zu einer Lähmung, mindes-           Exponenten einer kritischen Gegenbewegung,
nehmer werden Randfiguren bleiben. Es             tens aber zur verminderten Zuversicht, und           die Unternehmensgründungen erwägen oder
bedarf der politischen Prioritätensetzung         schließlich zu einem stagnierenden oder gar          gar durchführen. Und es ergeben sich Kon-
und besonderer Aufmerksamkeit für KMU als         ausbleibenden Willen zu Fortschritt. Allenfalls      takte zu solchen Finanzmarktakteuren mit
die wichtigsten Innovationstreiber.               im Widerstand gegen das Establishment als            ähnlichem Mindset (eben gerade nicht klassi-
                                                  einigendes Prinzip (wie bei NGOs häufig zu           sche Banken, sondern Serial-Entrepreneure,
Epochenschwelle                                   beobachten) oder im Festhalten an Tradition          VC- und Private-Equity-„Glücksritter“). Daraus
Was ist der Grund für die geringe Neigung,        oder Besitzständen (wie etwa bei Gewerk-             erwachsen dann große und größte Unter­
sich positiv mit Veränderung und Zukunft aus-     schaften festzustellen) zeigt sich noch eine         nehmen, häufig innerhalb von 10–20 Jahren.
einanderzusetzen, Veränderung als Chance          Willenskraft. Diese Willenskraft wird ent­           Man findet diese Verhaltensmuster interes-
zu sehen, sich für eine bessere Zukunft zu        sprechend nicht in Bezug auf technischen,            santerweise sowohl in der IT-Industrie („From
engagieren? Historiker und Soziologen spre-       gesellschaftlichen oder wissenschaft­lichen          counterculture to cyberculture“) als auch
chen heute von einer „Epochenschwelle“ und        Fortschritt genutzt, sondern wirkt gerade in         in der eigentlich technologisch erst jetzt mit
machen diese Veränderung im Denken in den         die andere Richtung. Ob Fortschritt außer-           IT-Analogien (Digitalisierung und Biologisie-
frühen Siebzigerjahren fest: In diesen Jahren     halb politischer Papiere und Reden tatsäch-          rung) verbundenen Branche der Biotechno-
wurde das individuelle und gesellschaftliche      lich noch gesellschaftlicher Konsens oder            logie. Das Antriebsmuster in IT und Biotech-
Fortschrittsversprechen, das seit der Zeit der    individueller Wert ist, gälte es derzeit zu befor-   nologie ist in anderen Volkswirtschaften
Aufklärung – mithin 200 Jahre lang – die          schen. Womöglich ist mit der Epochen-                identisch und hat sich aber offenbar völlig
geistige Grundlage des europäischen Wirt-         schwelle ein signifikanter kultureller Wandel        anders entwickelt als etwa in Deutschland.
schaftssystems war, aufgebrochen, kritisch        eingetreten, der die Nutzung auch noch
diskutiert oder gar negiert. Gerade Intellektu-   so naheliegender (etwa industrieller) Poten­         Die Leser von „Grenzen des Wachstums“
elle haben sich sehr kritisch mit dem Wirt-       ziale verunmöglicht.                                 gründen Parteien oder kritische NGOs, sind
schaftssystem auseinandergesetzt und den                                                               häufig als Lehrer, Professoren oder Beamte
Wachstumsbegriff („Grenzen des Wachs-             Dies steht nun in starkem Kontrast zur Ambi-         an Schulen, Universitäten und Behörden zu
tums“) faktisch diskreditiert. Dies hat heute     tion eines Unternehmers, insbesondere dann,          finden, aber sie gründen keine Unterneh-
dazu geführt, dass eher die Ordnung und die       wenn er sich wie der typische Biotechnolo-           men. Eine Unternehmensgründung wird
Adjustierung des Bestehenden als politische       giegründer und -unternehmer in einer Schum-          gerade nicht als Bestandteil einer Strategie
Aufgabe wahrgenommen wird als die Ermög-          peter‘schen Tradition befindet. Niemandem            zur Verbesserung der Welt erwogen. Eher im
lichung oder gar Schaffung von Neuem.             ist im Grundsatz zur Gründung eines Biotech-         Gegenteil, denn bei einer Unternehmens-
                                                  nologieunternehmens zu raten, es sei denn,           gründung werden Geschäfte mit der Industrie
Die Aufkündigung des Fortschritts- und Ver-       er will über Jahre und Jahrzehnte in persönli-       gemacht, man folgt Geschäftsplänen und
besserungsversprechens wirkt sich sowohl im       cher Unsicherheit und auch mit finanziell            nähert sich dem Kapital(-markt). Derlei ist
individuellen Umfeld (viele Familien haben        unklarem Ausgang der Reise hart gegen die            höchst verdächtig und bedarf der gesell-
subjektiv Zukunftsangst, obwohl womöglich         Widerstände im Ökosystem arbeiten – für              schaftlichen Aufmerksamkeit und Kontrolle.
objektiv eine Verschlechterung des Status         eine Sache, die gesellschaftlich eher als rand-      Die Präsentationen von US-amerikanischen
oder auch der Chancen nicht eingetreten ist)      ständig, wenn nicht störend („Biologisierung         Technologieunternehmen, die Aspekte der
als auch im gesellschaftlichen Umfeld aus         der Chemie-Industrie“) oder gar gefährlich           Gesundheit, der Heilung und der Neuordnung
(wo beispielsweise Umweltfragen als unum-         („Freisetzung“) gesehen wird.                        von Kommunikations- oder Mobilitätskon­-

12   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
„Deutschland hat exzellente Chancen in der Bioökonomie, wenn die Innovations-
                                finanzierung funktioniert. Nicht kleckern, klotzen! Mobilisierung privaten Kapitals
                                von Versicherungen, Pensionskassen, Unternehmen, privaten Anlegern durch
                                Abschaffung steuerlicher/regulatorischer Hemmnisse für direkte und indirekte
                                Investitionen in High-Biotech-Unternehmen.“
                                Roland Oetker, Geschäftsführender Gesellschafter, ROI Verwaltungsgesellschaft mbH

                                Roland Oetker ist seit den 1980er-Jahren als Kapitalgeber in der Biotech-Branche aktiv. Der
                                erfahrene Investor gilt als Vordenker und sitzt in zahlreichen Aufsichtsräten. Die von ihm
                                gegründete und geführte ROI Verwaltungsgesellschaft ist größter Anteilseigner des Hamburger
                                Unternehmens Evotec.

zepten ganz selbstverständlich mit einem             überspringen. Die Biotechnologie – und mehr              system und damit auch im Innovationsöko-
gewissen missionarischen Sendungsbewusst-            noch eine viel breiter aufgestellte Bioökono-            system zu schließen. Im Februar 2016 fand
sein enthalten, stoßen hier mindestens auf           mie auf der Basis natürlicher Ressourcen                 der Börsengang der BRAIN AG statt. Er blieb
Skepsis, wenn nicht auf tiefes Befremden.            und Prozesse – ist sehr geeignet, einen sol-             2016 der einzige Biotech-Börsengang im
                                                     chen neuen „Spirit“ herzustellen, denn (und              Prime Standard der Frankfurter Börse, dem
Ein neuer Ruck ist essenziell                        das ist das Gegenteil einer pessimistischen              Kern der Deutschland AG. Es hätten 100
Diese Unterschiede im individuellen wie im           Auffassung):                                             sein müssen, auch im folgenden Berichtsjahr
gesellschaftlichen Mindset sollen im Folgen-                                                                  2017 und künftig jedes Jahr. Dass derlei
den noch näher untersucht und in grundsätz-          • Deutsche Technologien und Entwicklungen                Zahlen nicht utopisch sind, zeigen andere
liche Überlegungen zur Verbesserung der                 sind als Assets weltweit gefragt.                     Volkswirtschaften. Allein in den zwei Jahren
­Finanzierungsdynamik eingebettet werden.            • Es finden Börsengänge statt. Diese                     nach dem US JOBS Act waren es 286 Bör-
 Denn Erneuerung ist schlicht zur Sicherstel-          ent­wickeln sich erfreulich (auch an der               sengänge. Deshalb ist der Ruf nach einem
 lung der Zukunftsfähigkeit einer Volkswirt-           Deutschen Börse).                                      Prozent des anlagesuchenden Kapitals auch
 schaft und auch Gesellschaft notwendig. Und         • Viele disruptive Technologien kamen                    nicht vermessen, auch nicht der nach vier
 diese Überlegung führt auch dazu, dass die            und kommen aus deutschen Universitäten                 Prozent: Es ist für den Anleger, für die Volks-
 Autoren ihre Anregung, mindestens „1 % des            und Forschungseinrichtungen.                           wirtschaft und auch für die Gesellschaft gut
 anlagesuchenden Kapitals“ für diese Zukunfts-       • Es finden weiter Neugründungen und                     angelegtes Kapital. Der Export der Assets
 sicherung (und eben nicht „Versicherung“)             ­Expansionsfinanzierungen statt.                       (und auch des anlagesuchenden Kapitals)
 zu allokieren, mit Nachdruck erneut äußern.                                                                  nutzt dem Standort und der Gesellschaft
 Die ursprünglich geforderte Messzahl ist ver-       Verzehnfachung statt zehn Prozent                        nichts.
 mutlich zu niedrig. Je länger auf einen Ruck        Mit diesen positiven, aber in jedem einzelnen
 verzichtet wird, desto heftiger muss er aus-        Spiegelstrich eben zu seltenen, zu kleinen
 fallen. Man kann trefflich darüber streiten, ob     Erfolgsbeispielen ist die Grundlage nach wie             „Zur Aktivierung des deutschen Kapitalmark-
 ein oder vier oder besser 20 Prozent des            vor gegeben. Mit einer angemessenen Len-                 tes für Start-ups und wachsende Unterneh-
 anlagesuchenden Kapitals in die Zukunfts­           kung der (privaten) Kapitalströme kann eine              men in der Bioökonomie sind die Rahmenbe-
 sicherung investiert werden sollten. Allein         signifikante Dynamisierung erreicht werden.              dingungen im internationalen Vergleich zu
 der Streit darüber kann hilfreich sein, denn        Die Autoren schlagen nicht eine Erhöhung der             verbessern und entsprechende (steuerliche)
 er bringt Bewegung in ein erstarrtes gesell-        Dynamik um zehn Prozent vor, sondern sie                 Anreize zu setzen.“
 schaftliches System, das sich durch die Erfolge     setzen als Zielgröße mindestens eine Verzehn-            Thesenpapier des Bioökonomierates,
 einer vor mehr als hundert Jahren geform-           fachung, die in spätestens drei Jahren erreicht          Januar 2018
 ten, nunmehr oligopolistischen Industrie in         werden soll. Das Handeln sollte nicht durch
 einer Sicherheit wähnt, die trügerisch ist und,     den Gedanken einer Förderung kleinerer und
 so die Einschätzung der Autoren, in fünf bis        unreifer Entwicklungen bestimmt sein. Der
 zehn Jahren nicht mehr in dieser Form beste-        Leitgedanke sollte der einer Erneuerung der
 hen wird.                                           Industriestruktur mit dem Ziel der Zukunfts-
                                                     fähigkeit und damit des Erhalts und des Aus-
Dies soll nicht als pessimistisch-alarmistischer     baus des gesellschaftlichen Wohlstands sein.
Warnruf missverstanden werden. Es ist an
der Zeit, kritisch mit dem eigenen und gesell-       Dies ist der notwendige Ruck zurück in die
schaftlichen Mindset umzugehen. Der Willens-         Zukunft nach Jahrzehnten der Stagnation,
funke muss aus der Mitte der Gesellschaft,           der mit einem gewissen Willen auch erreicht
formuliert von Stiftungen, Verbänden, Par­           werden kann, wie die auch in diesem Report
lamentariern, aber vor allem auch von den            wieder beschriebenen positiven Einzelfälle
Unternehmern als wichtigem Teil der Gesell-          zeigen. Aber es bedarf dieses politischen
schaft, auf die Regierungshandelnden                 Willens, um die Lücken im Kapitalmarktöko-

                                                                                                                                            Perspektive |   13
Das „Innovation Mindset“
von Claus Kremoser

Gründerzeit und Wohlstandsversprechen             Dieses Wohlstandsversprechen wurde Jahr          • Selbstbestimmung: niemandem anderen
Die Innovationskraft einer Volkswirtschaft ist    für Jahr durch teilweise zweistellige BIP-           dienen zu müssen
nicht nur durch ihre technische Innova­           Wachstumsraten eingelöst. Die Menschen           • Gleichberechtigung: zwischen Mann und
tionsfähigkeit und ihre Infrastruktur wie z. B.   erkannten, dass das System funktioniert.             Frau, zwischen Alt und Jung, zwischen Lei-
Universitäten, Forschungsinstitute, Groß­         Der Zukunftswechsel – jetzt hart arbeiten,           tungsfunktion und Ausführenden
unternehmen, Labors, Transport- und Kommu­        damit es einem in Zukunft besser geht –          •   Mitgestaltung: das Gefühl, selbst an neuen,
nikationswege bedingt. Sie ist vor allem eine     wurde erfolgreich eingelöst.                         relevanten Dingen beteiligt zu sein
Reflexion des Willens zur Innovation. Es stellt                                                    •   Nachhaltigkeit: durch neue Technologien
sich also die Frage: Was motiviert Forscher       Sättigung und neue Ideale                            ressourcen- und umweltschonender zu
und Erfinder, ihre Ideen auch in neue Produkte    Mit Erreichen des ersten Sättigungsgrades            wirtschaften
umzusetzen bzw. wie motivieren wir diese          und dem gleichzeitigen Heranwachsen einer        •   Integration: von Menschen mit Behinderung,
Treiber des Innovationsprozesses? Es kommt        in Frieden und Demokratie aufgewachsenen             von Menschen mit Migrationshintergrund,
also auf das Mindset der (möglichen) Inno-        jungen Generation verschoben sich die gesell-        von Älteren, also soziale Integration
vatoren an. Es erscheint ratsam, zwischen der     schaftlichen Ideale. Nach der vor allem poli­    •   Sinnhaftigkeit: das Bedürfnis, die eigenen
individuellen Motivationslage und dem gesell-     tischen Aufarbeitung der Vergangenheit und           Lebensressourcen für einen sinnvollen
schaftlichen Mindset zu unterscheiden, wobei      der Durchsetzung demokratischerer Struk­             Zweck einzusetzen, was die oben genann-
Letzteres sicherlich den Rahmen für Ersteres      turen in Universitäten, öffentlichen Leitungs-       ten Punkte quasi als Leitmotiv überschreibt
absteckt.                                         funktionen und später auch in der Industrie
                                                  und Wirtschaft entstand nun vor allem der        Innovationskultur
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die deut-        Wunsch nach einer harmonischen Versöh-           Diese Erkenntnis erscheint vielleicht trivial,
sche und weitestgehend auch die anderen           nung zwischen verbesserter Lebensqualität        doch sei hier angemerkt, dass in dieser
westeuropäischen Volkswirtschaften vom Wie-       und einer intakten Umwelt, ausgehend von         ­gesellschaftlich bedingten Gemütslage – dem
deraufbau geprägt. Europa lag in Trümmern,        der 68er-Bewegung über die Botschaft des          Mindset – ein wesentlicher Unterschied zwi-
das Wohlstandsniveau war niedrig und so bot       „Club of Rome“ bis hin zur Parteigründung         schen den USA und Mitteleuropa liegt. Sicher­
sich viel Luft nach oben für eine lang anhal-     der Grünen, mit der sich die Umweltschutz-        lich ist es nicht einfach so, dass es in Europa
tende Wachstumsphase. Diese wäre vermut-          bewegung auf breiter gesellschaftlicher Front     nur die unbedarften Idealisten und in Amerika
lich nicht so erfolgreich ausgefallen, wenn in    durchsetzte.                                      die Turbokapitalisten gibt. Diese zu einfache
den Köpfen der Menschen nicht ein bestimm-                                                          Unterscheidung würde verkennen, dass zum
tes Leitbild vorgeherrscht hätte, d­ amals ver-   Heute gilt das Aufstiegs- und Wohlstandsver-      einen der Hang zum Geld auch in Europa
mutlich das eines weitgehenden Wohlstands-        sprechen der Fünfziger- und Sechzigerjahre        noch ein sehr starker individueller Motivations-
versprechens:                                     nicht mehr. Wohin denn aufsteigen? Wir sind       faktor ist und zum anderen die Motivations-
                                                  doch schon ganz oben in der Welt. Warum           lage auch in den USA nicht nur geldgetrieben
                                                  noch mehr von allem? Es passen doch jetzt         ist, wie das Beispiel von einigen Orphan-­
„Wenn du fleißig bist und viele Überstunden       schon nicht mehr Autos auf die Straßen und        Disease-Biotech-Firmen zeigt, die z. B. von
machst, wirst du mehr Lohn erhalten und der       Handys, Waschmaschinen und sonstige Elek-         Millionären finanziert werden, die von einer
Gabentisch an Weihnachten wird von Jahr           trogeräte in unsere Häuser.                       Krankheit betroffene Familienangehörige
zu Jahr üppiger ausfallen. Du wirst jedes Jahr                                                      haben.
mehr Urlaub haben und immer weiter ent-           Statt dieses „Immer mehr“ herrscht nun
fernte Urlaubsziele ansteuern können. Deine       das Bedürfnis nach „Immer komfortabler“.         Dennoch sind die Unterschiede zwischen
Kinder werden es besser haben.“                   Im Gegensatz zu ihren Eltern lassen sich die     beiden Seiten des Atlantiks hinsichtlich des
                                                  20– bis 45-jährigen Deutschen und anderen        Mindsets und der Motivationsfaktoren deut-
                                                  Europäer nicht mehr einfach durch mehr           lich zu erkennen: Hierzulande steht man
                                                  Geld und Konsum zu Hochleistungen anspor-        ­begüterten Mitbürgern eher kritisch gegen-
                                                  nen. Andere Faktoren spielen eine entschei-       über, dort ist es in den entsprechenden
                                                  dende Rolle, z. B.:                               Kreisen ein Muss, beim Small Talk über den

14   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
„Es liegt viel, aber nicht alles, an fehlendem Kapital. Unsere Wissenschafts­
                                organisationen trainieren falsche Mentalitäten mit dem Zugang zu großen
                                Fördertöpfen. Wir sind aber abhängig davon, dass nach Wandlung von Geld in
                                Wissen das Wissen auch wieder in Geld gewandelt wird. Das gelingt nur in
                                einer Führungsposition bei Qualität und Alleinstellung.“
                                Karsten Henco, Serial Entrepreneur (Qiagen, Evotec, Neurimmune, HS LifeSciences u. a.)

                                Karsten Henco ist seit mehr als 30 Jahren als Serial Entrepreneur mit zahlreichen unter­
                                nehmerischen Erfolgsgeschichten in der Biotech-Branche aktiv. Er hat 24 Unternehmen
                                mitgegründet und sich u. a. bei Qiagen, Evotec und Neurimmune stark eingebracht. Mit HS
                                LifeSciences ist Karsten Henco heute als Investor und Berater für Biotech-Unternehmen aktiv.

eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu sprechen.         menbedingungen wie gute Ausbildung und                   schrieben worden. Wie setze ich dieses
Das treibt eine individuelle Motivationslage         stimulierende Umgebung beeinflussen. Mut                 allgemeine Streben in die so wichtige indivi-
an. Wenn ich als dauerhaft angestellter For-         und Risikobereitschaft sind nicht angeboren;             duelle Triebkraft um, die mich motiviert,
scher oder Manager eines deutschen Groß-             sie lassen sich durch die richtigen Vorbilder            Durchhänger und Durststrecken zu überwin-
unternehmens mehr Bewunderer beim abend-             ­erlernen. Risikobereitschaft und Unternehmer­           den und bis zum Ziel durchzuhalten?
lichen Austausch finde und ein Baudarlehen           tum gehen Hand in Hand, sind aber nicht
viel eher solchen Personen gewährt wird als          synonym. Unternehmerinnen und Unterneh-                  Zusammenfassend lässt sich festhalten: Uns
etwa einem selbstständigen Unternehmer               mer müssen auch Personen motivieren und                  fehlt ein neues gesellschaftliches Narrativ,
mit wackeliger Bonität, dann werden dadurch          führen, kommunizieren können, Fleiß und den              eine motivationsliefernde und gleichzeitig
Anreize gesetzt, den stabilen, berechenba-           unbedingten Willen zum Erfolg haben. All                 kulturprägende Vision:
ren Weg zu gehen, trotz des möglicherweise           diese Eigenschaften werden nur bedingt an
vorhandenen Bedürfnisses nach Selbstbe-              der Schule oder im Bildungssystem vermit-                • wie wir in Deutschland und Europa in den
stimmung.                                            telt, sondern primär durch Vorbilder. Es sind               nächsten 10, 20, 30 Jahren leben wollen
                                                     die Prägungen durch Fernsehen, Bücher, Zeit-             • welche Elemente, welche Bausteine sowohl
Die Innovationsgleichung                             schriften, Internetblogs und vor allem durch               technologisch-ökonomischer als auch
Nach dieser Betrachtung der Motivationslage          Erzählungen von Freunden und Bekannten,                    gesellschaftlich-soziologischer Natur dafür
als Basis für den individuellen Teil der Inno­       die in uns nachahmenswerte Vorbilder ent-                  wichtig sind
vationskraft sollten wir die anderen Faktoren        stehen lassen. Das mag von Bühnenhelden                  • welche Leitbilder wir daraus ableiten, auch
erwähnen, die für den Innovationsprozess             über bewunderte Extrembergsteiger oder Fuß-                in Form von konkreten Vorbildern
essenziell sind. Die Innovationsgleichung            baller bis hin zu den hier erwünschten Vor­              • und in der Konsequenz, wie wir junge Men-
(s. u.) gibt hierfür den Weg vor.                    bildern in Form von erfolgreichen Unterneh-                schen dazu motivieren, auf das Erreichen
                                                     merinnen und Unternehmern reichen, nur:                    dieser Zielbilder tatkräftig und hoch moti-
Innovation entsteht, wenn aus neuen Ideen            Gerade die Letzteren, also prominente Unter-               viert hinzuarbeiten
(z. B. aus der akademischen Forschung)               nehmerpersönlichkeiten als Vorbilder für die
zielgerichtet durch motivierte Unternehmer           Jugend, gibt es in Deutschland nur wenige.               Wie sehen die ersten konkreten Schritte hin
mit Risikobereitschaft, Unternehmergeist             Welche Namen fallen uns ein? Siemens, Bosch,             zu einer besseren zukünftigen Gesellschaft
und -fähigkeiten, unterlegt mit ausreichend          Benz? Hier ist uns Amerika mal wieder vor-               aus? Klingt das zu abstrakt? Hier beispiel-
(Risiko-/Beteiligungs-)Kapital, neue Werte           aus. Die Ikonisierung von Menschen wie Steve             haft einige Möglichkeiten, wie diese Punkte
in Form von Produkten, Technologien oder             Jobs, Mark Zuckerberg, Bill Gates, Elon Musk             umgesetzt aussehen können:
Dienstleistungen am Markt etabliert wer-             oder Sheryl Sandberg kann nur dort so
den. Mit der Kapitalverfügbarkeit haben wir          gelingen.                                                Wie wollen wir leben?
uns bereits im EY Biotech-Report 2014 zum                                                                     • nachhaltig, mit wenig CO2-Emissionen,
Thema „1 % für die Zukunft“ intensiv beschäf-        Gesellschaftliches Innovationsnarrativ                     viel erneuerbaren Energien, unter weniger
tigt. Das Thema wird nachfolgend zum kon-            Wenn wir aber motivierte Unternehmerinnen                  Öl- und Gasverbrauch, mit erneuerbaren
kreten Entwurf eines Plans für eine biotech-         und Unternehmer benötigen, um Innovationen                 Rohstoffen, ohne Chlorchemie
nologieaffine Gesellschaft aufgegriffen und          anzustoßen und umzusetzen, dann müssen                   • friedlich
weiter erörtert. Die Kreativität, die neue Ideen     wir uns über Leitbilder Gedanken machen. Die             • mit gesunder Ernährung
hervorbringt, lässt sich nur durch die Rah-          gesellschaftliche Gemütslage ist bereits be-             • gleichberechtigt und integrativ

     Innovation
                                      =                    Forschung/Idee
                                                                                     ×              Unternehmertum
                                                                                                                               ×         Kapital

                                                                                                                                           Perspektive |   15
Das „Innovation Mindset“

Welche Elemente können dabei eine                  sein/ihr Wissen auch kommunizieren kön-           allen Möglichkeiten des gesellschaftlichen
Rolle spielen?                                     nen. Das wird verlangt und hinzu kommt            Diskurses, die in den letzten fünfzig Jahren
Technisch:                                         noch die lebenslange Lernfähigkeit. Diese         vom Beginn der 68er-Kulturrevolution bis
• Elektromobilität und Vernetzung                  hohen Anforderungen können nur durch              jetzt aufgezeigt wurden, auf die neuen Leit-
• erneuerbare Energien                             einen hohen Grad an Selbstbestimmung und          bilder hinzuarbeiten.
• breiter Einsatz der Biotechnologie für           durch geeignete Motivationsideale wie auch
  nachhaltige Produkte und ressourcen­             nachhaltige und nicht verbrennende oder           Wie sehen die ersten konkreten Schritte
  schonende Herstellungsprozesse                   sich abnutzende Lebens- und Berufsformen          der Umsetzung aus?
• breite digitale Vernetzung wichtiger Pro-        erfüllt werden.                                   Weitreichende, visionäre Zukunftsentwürfe
  zesse in Produktion, Verkehr, Vermark-                                                             scheitern meistens daran, dass kein konkre-
  tung, Distribution, Logistik und                 Dennoch geht es nicht darum, ein Utopia           ter Weg hin zu ihrer Umsetzung aufgezeigt
  Haustechnik                                      im Sinne einer klassen- und geldlosen Gesell-     werden kann. Somit bleiben sie meist nur das
                                                   schaft zu propagieren. Die Zugkraft des Gel-      Gedankengut einer kleinen Schicht elitärer
Gesellschaftlich:                                  des, auch als individueller Motivations­faktor,   Vordenker, das aber die Breite der Gesellschaft
• Integration von Menschen unterschied­            kann nicht geleugnet werden, es darf nur          zumeist nicht erreicht. Den Zukunftsentwurf,
  licher Zugehörigkeiten bezüglich                 nicht der alles entscheidende Faktor sein. Eine   der uns vorschwebt und den wir hier in gro-
  Geschlecht, Herkunft, sozialem Status,           klassenlose Gesellschaft kann auch kein Auf-      ben Umrissen entwerfen, darf dieses Schick-
  Ausbildungs- und Bildungsstand                   steigerversprechen mehr bieten. Es geht vor       sal nicht ereilen. Eine Publikation wie diese
• Integration/Vernetzung von technischer           allem darum, sinnvolle und dem Gesellschafts-     kann keine neuen Gesellschaftsentwürfe vor-
  Ausbildung und kultureller Bildung, von          entwurf dienende Aufstiegstreppen zu finden.      schlagen. Es stellt sich die Frage, ob eine
  Theorie und Praxis, von öffentlich-recht­                                                          kleine Gruppe von Menschen allein heute
  lichen Institutionen und privaten Einrich-       Somit wird es ganz entscheidend sein, nicht       überhaupt noch einen Gesellschaftsentwurf
  tungen                                           nur Traumlösungen für den besser verdienen-       abliefern kann. Dazu ist die Meinungs- und
                                                   den Teil der Gesellschaft zu entwerfen, son-      damit auch die Vorstellungsvielfalt zu hoch,
Welche Leitbilder könnten dabei entstehen?         dern alle Bildungs- und Einkommensschich-         die technischen und soziologischen Aspekte
Die Grenzen zwischen abhängiger Beschäfti-         ten unbedingt in das neu zu entwerfende           sind zu komplex und das Objekt des Entwurfs –
gung und selbstständigem Unternehmertum            Gesellschaftsbild mit einzubauen. Nur wenn        die Gesellschaft – zu dynamisch wandelbar.
verschwimmen. Mitarbeiter sollten direkt am        die zukünftige Gesellschaft ein Narrativ für
Unternehmen und am Unternehmenserfolg              alle bietet, hat sie eine Chance, auch verwirk-   Deshalb beschränken wir uns auf den Bereich,
beteiligt werden. Das Ziel wäre es, Mitarbeiter    licht zu werden.                                  in dem Erfahrungen und Einsichten vorliegen
zu Mit-Unternehmern werden zu lassen.                                                                und der zwar einerseits momentan – zumin-
Die Gesellschaft sollte diejenigen würdigen,       Wie motivieren wir die Jugend?                    dest in Deutschland – volkswirtschaftlich noch
die bei der Erreichung der langfristigen Ziele     Den oben genannten Leitbildern folgend            eine verhältnismäßig geringe Bedeutung hat,
Großes leisten. Würdigung heißt in diesem          sollte die Schul-, Berufs- und Universitäts-      aber andererseits viele der möglichen Lösun-
Zusammenhang auch eine Neujustierung der           ausbildung stetig umstrukturiert werden.          gen vorhält, die für den Aufbau der neuen
finanziellen Incentivierung wie auch der gesell-   Neben diesem offiziellen und damit politisch      Gesellschaft der Zukunft wichtig sein werden:
schaftlichen Wertschätzung von Innovatoren         beeinflussbaren Teil der Bildung und Aus­         die Biotechnologie.
und innovativen Unternehmen im Gegensatz           bildung spielen inoffizielle Motivations- und
zu reinen „Systemerhaltern“.                       Vorbildkanäle eine entscheidende Rolle.           Im nächsten Abschnitt werden wir Vorschläge
                                                   Eine Demokratie kann nicht die Inhalte von        unterbreiten, wie eine Biologisierung aus­
Der (Mit-)Unternehmer der Zukunft soll gut         Fernsehserien, Internetblogs, Zeitungsarti-       sehen und wie sie erreicht werden könnte.
(nicht zwangsweise hochakademisch) aus-            keln oder ähnlichen Inhalten durch die Politik    Am Beispiel einer solchen Biotech-„Elemen­
gebildet sein, über detailliertes Fachwissen       vorgeben. Somit gilt es, eine breite gesell-      tarzelle“ wollen wir illustrieren, wie die hier
verfügen, aber ebenso integrativ und ver-          schaftliche Debatte anzustoßen, welche            geschilderten Faktoren produktiv zusammen-
netzt mit anderen Disziplinen denken und           Gesellschaft wir wollen, und anschließend mit     laufen könnten.

16   | Deutscher Biotechnologie-Report 2018
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