MINDESTLOHN, BÜRGERGELD UND CO.: MODERNISIERUNG DES SOZIALSTAATS ODER AUSWEITUNG DER UMVERTEILUNG? - FH Münster
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MINDESTLOHN, BÜRGERGELD UND CO.: MODERNISIERUNG DES SOZIALSTAATS ODER AUSWEITUNG DER UMVERTEILUNG? Aktuelles Wirtschaftsgeschehen - verständlich und kompakt Öffentliche Ringvorlesung am Fachbereich Wirtschaft der FH Münster, der Münster School of Business (MSB) Münster, 23.11.2022 Dr. Kerstin Bruckmeier
THEMEN DES VORTRAGS • Bürgergeld-Reform zum 01.01.2023 • Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 01.10.2022 • Reform der Hinzuverdienstregelungen im Sozialleistungsbezug (Ankündigung im Koalitionsvertrag und Teil der Bürgergeldreform) Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 2
HINTERGRUND: HARTZ-REFORMEN • Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz-Reformen“) umgesetzt zwischen 2003 und 2005: Weitreichende Reformen zur Belebung des Arbeitsmarktes • Ziele: – Mehr Effizienz in der Arbeitsvermittlung – Mehr Aktivierung und Eigenverantwortung – Mehr Arbeitsnachfrage durch mehr Flexibilität • Ausgangslage: – Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zwischen 1992 und 2005 um 10 Prozent oder 3 Mio. – Anstieg der Arbeitslosigkeit von 3,0 Mio. registrierten Arbeitslosen 1992 auf 4,1 Mio. im Jahr 2002 Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 3
WIRKUNG DER HARTZ-REFORMEN AUF DEM ARBEITSMARKT: ABBAU DER ARBEITSLOSIGKEIT Trendwende am Arbeitsmarkt • Rückgang der Arbeitslosenquote zwischen 2005 und 2019 von 11,7% auf 5% • Ein Drittel bis zur Hälfte des Rückgangs der Arbeitslosigkeit erklärt sich durch die Hartz-Reformen (Merkl 2022) • Beschleunigter Übergang aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung aufgrund geringerer Lohnersatzleistungen, erhöhte Anforderungen an Arbeitslose und Reformen im Vermittlungsprozess (Klinger et al. 2013) • Schaffung zusätzlicher Stellen im Quelle: Klinger et al. (2013), Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Niedriglohnbereich Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 4
WIRKUNG DER HARTZ-REFORMEN AUF DEM ARBEITSMARKT: SCHATTENSEITEN Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnbereich • Inkaufnahme zunehmender Lohnungleichheit • Anstieg der Lohnungleichheit bereits vor den Hartz-Reformen (Dustmann et al. 2009) • Beitrag der Hartz Reformen zu zunehmender/ hoher Niedriglohnbeschäftigung • Akzeptanz geringerer Löhne (Jaenichen und Rothe 2014) • Geringe Beschäftigungsstabilität der aus der Grundsicherung aufgenommenen Beschäftigungsverhältnisse (Bruckmeier und Hohmeyer 2018) • Hoher Anteil an Beschäftigungsverhältnissen mit kurzer Dauer • Hohe Bedeutung der Leiharbeit Beschäftigte im Hauptbeschäftigungsverhältnis. Quelle: Grabka und Goebler (2020), S. 20, Sozio-oekonomisches Panel. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 5
REFORMDISKUSSIONEN • Niedriglohnbeschäftigung/Working Poor – Ausweitung niedrig entlohnter Beschäftigung – „Aufstocker“: Erwerbstätige in der Grundsicherung – Mindestlohn – Unterstützung von Erwerbstätigen mit Transferleistungen (Grundsicherung, Wohngeld, Kinderzuschlag): Arbeitsanreize • Beschäftigungsstabilität – Nachhaltige Integrationen • Langzeitarbeitslosigkeit – Zugang in Beschäftigung – Betreuung • Höhe des Existenzminimums – Berechnungsmodell Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 6
BÜRGERGELD-REFORM
AUSGEWÄHLTE INHALTE • Bezugsvoraussetzungen und Leistungshöhe – Regelsatz – Zweijährige Karenzzeit bei Eintritt in den Leistungsbezug mit großzügigerer Vermögensprüfung und Übernahme der Kosten der Unterkunft • Arbeitsmarktintegration und Arbeitsförderung – Abschaffung des Vermittlungsvorrangs • Beratungsprozess – Einführung eines Kooperationsplans – Vertrauenszeit in den ersten 6 Monaten Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 8
ANPASSUNG DER FORTSCHREIBUNG DES REGELBEDARFS • Regelsätze: Pauschalierte Beträge, die pro Haushaltsmitglied für die Lebenshaltungskosten gewährt werden • Berechnet anhand der fünf Jahre erhobenen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) • Zwischen den Erhebungsjahren Fortschreibung anhand eines Mischindexes aus der Preis- und Lohnentwicklung – 70 Prozent Preisentwicklung bestimmter Güter, 30 Prozent Nettolohnentwicklung – Basisfortschreibung (bisher): Veränderung in dem Zwölfmonatszeitraum, der mit dem 1. Juli des Vorvorjahres beginnt und mit dem 30. Juni des Vorjahres endet, gegenüber dem davorliegenden Zwölfmonatszeitraum ergibt. – Ergänzende Fortschreibung (neu): Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen im zweiten Quartal des Vorjahres gegenüber dem zweiten Quartal des Vorvorjahres. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 9
ERHÖHUNG DER REGELSÄTZE 2022 2023 Anstieg Regelbedarf Alleinstehende 449 Euro Basisfortschreibung (Mischindex 469 +20 € 07/2021-06/2022 ggü. Vorjahr: (4,4%) 4,54%) Regelbedarfsrelevanter Preisindex 502 +53 € Q2/2022 ggü. Q2/2021 (6,9%) (11,8%) Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 10
ABSICHERUNG VON GRUNDSICHERUNGSBEZIEHENDEN Güterausstattung in ALG-2-Haushalten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Quelle: Beste und Trappmann (2021), Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS). Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 11
BEWERTUNG DER PREISANPASSUNG • Absicherung des Existenzminimums macht Berücksichtigung aktuellerer Daten zur Ermittlung von Preissteigerungen nötig • Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2014: „Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.“ • Keine Änderung des Berechnungsverfahrens (Statistikmodell) Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 12
REGELSATZ UND ARBEITSANGEBOT • Allgemeiner Mindestlohn: Soll einem alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten ein auf die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugeschnittenes pauschaliertes Existenzminimum sichern (Tarifautonomiestärkungsgesetz) • Geringverdienende mit hohen Bedarfen (Kinder, Wohnkosten) werden durch einkommensgeprüfte Leistungen unterstützt: Grundsicherung, Wohngeld, Kinderzuschlag • Hinzuverdienstmöglichkeiten innerhalb des Bezugs dieser Leistungen stellt Erwerbstätige immer besser als Nicht-Erwerbstätige mit gleichen Voraussetzungen • Ausnahme: Leistungen werden nicht in Anspruch genommen • Arbeitsangebotswirkungen von Änderungen im Steuer- und Transfersystem können in Simulationsstudien untersucht werden • Ergebnisse des IAB-Mikrosimulationsmodells – Regelsatzerhöhung reduziert für sich genommen das Arbeitsangebot im Niedrigeinkommensbereich – Aufgrund der Rahmenbedingungen der Regelsatzerhöhung ist kein negativer Effekt der Anhebung 2023 zu erwarten: Preissteigerungen, Mindestlohnerhöhung Ende 2022, zu erwartende Lohnsteigerungen 2023 und Maßnahmen des dritten Entlastungspakets, insbes. Wohngeldreform und Erhöhung des Kinderzuschlags Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 13
KARENZZEIT FÜR VERMÖGEN UND WOHNKOSTEN • Vermögensprüfung (bisher): – Grundfreibetrag: 150 Euro je Lebensjahr (mind. 3.100 Euro, max. 10.500 Euro, 3.100 Euro für minderjährige Kinder) – Ansprüche, die der Altersvorsorge dienen: 750 Euro je Lebensjahr (mind. ca. 10 Tsd. Euro, max. ca. 50 Tsd. Euro). • Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (Miethöhe, Heizkosten, Wohnungsgröße) • Einführung einer Karenzzeit: – In den ersten beiden Jahren des Leistungsbezug keine Vermögensprüfung, wenn das Vermögen nicht erheblich ist. Erheblich: 60 Tsd. Euro für die erste Person, 30 Tsd. für jedes weitere Familienmitglied. – Leistungen für Unterkunft werden in voller Höhe anerkannt. • Knüpft an während der Corona-Krise getroffene Regelung an: – „Die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie haben gezeigt, dass schnelle Hilfen und ein einfacher Zugang zu Sozialleistungen das Vertrauen in den Sozialstaat stärken.“ (Regierungsentwurf). Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 14
KARENZZEIT Zugänge von Selbständigen in der Grundsicherung (Veränderung zum Vorjahresmonat) • Solo-Selbständige: Umfang und 40 Struktur 2018 (Bonin et al. 2020) Tausende 30 • 2,23 Millionen Solo-Selbstständige 20 • Teilzeitquote: 33 Prozent • Median monatliches 10 Nettoeinkommen: 1.177 Euro 0 • Anteil am monatlichen Haushaltsnettoeinkommen: ca. 35 -10 Prozent -20 -30 Zugänge Quellen: Zugänge: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Nichtarbeitslose Arbeitsuchende im SGB II in nicht geförderter Erwerbstätigkeit mit kurzer Meldedauer. Bestand: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Tabellen, Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Monats- und Jahreszahlen) Nürnberg, verschiedene Ausgaben. Eigene Darstellung. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 15
KARENZZEIT: AUSWIRKUNGEN AUF INANSPRUCHNAHME • 9 Prozent der Neuzugänge in die Grundsicherung zwischen 2013 und 2019 (19-40 Tsd. Personen) gaben an, zunächst Vermögen aufgebraucht zu haben (Beste et al. 2021) • Individuelle Vermögenssituation hängt auch stark von der Einkommensposition ab (Grabka und Halbmeier 2019) • Karenzzeitregelung lässt unter sonst gleichen Bedingungen keinen nennenswerten Anstieg der Inanspruchnahme erwarten Quelle: Grabka und Halbmeier (2019), S. 741. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 16
KARENZZEIT: MÖGLICHE VERHALTENSWIRKUNGEN • Mögliche positive Effekte: – Konzentration auf Arbeitsmarktintegration – Ersparnisbildung – Einkommensstabilisierung im Krisenfall • Negative Anreizwirkungen: – Übergang in den Ruhestand: Überbrückung der Zeit bis zum Erreichen der Altersrente – Verlängerte Dauer der Arbeitslosigkeit Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 17
AUSGEWÄHLTE INHALTE • Bezugsvoraussetzungen und Leistungshöhe – Regelsatz – Zweijährige Karenzzeit bei Eintritt in den Leistungsbezug mit großzügigerer Vermögensprüfung und Übernahme der Kosten der Unterkunft • Arbeitsmarktintegration und Arbeitsförderung – Abschaffung des Vermittlungsvorrangs • Beratungsprozess – Einführung eines Kooperationsplans – Vertrauenszeit in den ersten 6 Monaten Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 18
ABSCHAFFUNG DES VERMITTLUNGSVORRANGS • Leistungsgrundsätze nach §3 SGB II: Bisher Fokus auf schnelle Vermittlung in Arbeit – (…) „Vorrangig sollen Maßnahmen eingesetzt werden, die die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen.“ • Änderung durch Bürgergeld-Gesetz: Stärkung der Qualifizierung neben schneller Vermittlung – Keine Vorrangigkeit der Unterstützung einer unmittelbaren Arbeitsaufnahme, wenn andere Leistungen für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration (mind. 6 Monate) erforderlich sind. – Erforderlichkeit liegt insbesondere bei Personen ohne Berufsabschluss vor. • Ziel: Dauerhafte Integration in Arbeit und weitgehende Vermeidung des Leistungsbezugs Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 19
GRUNDSICHERUNG UND BESCHÄFTIGUNGSQUALITÄT Erwerbsfähige Grundsicherungsbeziehende 2020 (in Tsd.) • Arbeitsaufnahmen in der Grundsicherung: 75 ; 1,9% • Etwa 800 Tsd. bis 1 Mio. Nicht erwerbstätig sozialversicherungspflichtige 60 ; 1,6% 369 ; 9,5% Beschäftigungsaufnahmen/Jahr: Vollzeit 323 ; • 45% Beschäftigungsdauern
EFFEKTE VON WEITERBILDUNG • Beschäftigungsverhältnisse mit Anforderungsniveau über einer Helfer- und Anlerntätigkeit stabiler (Bruckmeier und Hohmeyer 2018). • Teilnahme an einer geförderten beruflichen Weiterbildung verbessert langfristig die Beschäftigungschancen von (ehemaligen) Leistungsbeziehenden und führt zu stabileren Erwerbsintegrationen führt (Bernhard 2016). Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 21
AUSGEWÄHLTE INHALTE • Bezugsvoraussetzungen und Leistungshöhe – Regelsatz – Zweijährige Karenzzeit bei Eintritt in den Leistungsbezug mit großzügigerer Vermögensprüfung und Übernahme der Kosten der Unterkunft • Arbeitsmarktintegration und Arbeitsförderung – Abschaffung des Vermittlungsvorrangs • Beratungsprozess – Einführung eines Kooperationsplans – Vertrauenszeit in den ersten 6 Monaten Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 22
KOOPERATIONSPLAN UND VERTRAUENSZEIT • Ersatz der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan • Die Eingliederungsvereinbarung ist ein Vertrag zwischen dem Jobcenter und dem Leistungsbeziehenden. Sie legt die Leistungen des Jobcenters und die zu erbringenden Eigenbemühungen des Leistungsbeziehenden zur Eingliederung in das Arbeitsleben fest. • Die Eingliederungsvereinbarung ist sowohl für das Jobcenter als auch für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person verbindlich. Über die Rechtsfolgen bei Nichteinhaltung von Vertragspflichten ist zu belehren Quelle: https://www.jobcenter- hildesheim.de/eingliederungsvereinbarung.html. (Rechtsfolgenbelehrung). Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 23
KOOPERATIONSPLAN UND VERTRAUENSZEIT • Unterschiede gegenüber Eingliederungsvereinbarung: – Enthält keine Rechtsfolgenbelehrung zur Ankündigung von Leistungsminderungen im Fall von Pflichtverletzungen – Kooperationsplan kann nicht einseitig durch einen Verwaltungsakt festgesetzt werden. Kommt nach Schlichtungsverfahren keine Einigung zustande, kann das Jobcenter Leistungsberechtigte verbindlich zur Mitwirkung verpflichten. • Keine Leistungsminderungen wegen Pflichtverletzungen in den ersten sechs Monaten nach Erstellung des Kooperationsplans (Vertrauenszeit). Ausnahme: Leistungsminderungen ab dem zweiten Meldeversäumnis möglich. • Nach dem Ende der Vertrauenszeit folgt die Kooperationszeit – Mitwirkungsaufforderungen ohne Rechtsfolgenbelehrung – Wird Mitwirkungsaufforderung nicht nachgekommen soll eine schriftliche Aufforderung mit Rechtsfolgenbelehrung ergehen. Ab diesem Zeitpunkt können weitere Pflichtverletzungen zu Leistungsminderungen führen. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 24
ERKENNTNISSE ZU EINGLIEDERUNGSVEREINBARUNGEN Wirkung auf Beschäftigungschancen Beurteilung durch Integrationsfachkräfte Anzahl der Tage in Beschäftigung und Leistungsbezug (Bernhard et al. 2019; Senghaas und innerhalb von 2 Jahren nach der Zuweisung Bernhard 2021) (Interventionsstudie Bernhard et al. 2022) • Transparenz über Rechte und Pflichten • Schaffen Verbindlichkeit • Lang und schwer verständlich • Mitwirkungspflichten und mögliche Leistungsminderungen stehen im Zentrum, negative Auswirkungen auf vertrauensvolle Beratung möglich Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 25
ERKENNTNISSE ZU LEISTUNGSMINDERUNGEN • Zahlreiche Studien untersuchen die Effekte von Leistungsminderungen (vgl. Bauer et al. 2022 und die dort zitierte Literatur) – Leistungsminderung führt zu einer beschleunigten Aufnahme von Beschäftigung – Leistungsminderung kann negative Auswirkungen auf die Qualität der aufgenommenen Beschäftigung haben – Leistungsminderungen können zu einem Kontaktabbruch/Rückzug vom Arbeitsmarkt führen Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 26
ANHEBUNG DES MINDESTLOHNS 2022
ERHÖHUNG DES MINDESTLOHNS AUF 12 EURO Entwicklung des Mindestlohns • Mindestlohnanstieg basierend auf dem Beschluss der Mindestlohnkommission zum Juli 2022 auf 10,45 Euro • Abweichend vom bisherigen Verfahren weitere Erhöhung zum Oktober 2022 auf 12 Euro durch das Mindestlohn- Erhöhungsgesetz • Begründung: Angemessenen Mindestschutz von Arbeitnehmenden zu sichern und stärkere Berücksichtigung von Teilhabeaspekten bei der Mindestlohnhöhe Quelle: Statistisches Bundesamt, Zum Thema Mindestlohn, Download unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Mindestloehne/_inhalt.html (abgerufen am 2.11.2022), eigene Darstellung Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 28
WIRKUNGEN DES MINDESTLOHNS • Mindestlohn hat sowohl Stundenlöhne als auch die Bruttomonatslöhne am unteren Rand der Lohnverteilung erhöht (Mindestlohnkommission 2020) • Erwerbseinkommen von Beschäftigten in der Grundsicherung sind mindestlohnbedingt deutlich gestiegen und haben die Leistungen reduziert (Bruckmeier und Schwarz 2022) • Mehrheit der Evaluationsstudien zur Mindestlohneinführung finden geringe negative Beschäftigungseffekte zwischen 20 Tausend und 260 Tausend Beschäftigte (Knabe et al. 2020) • Risiken der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro – Höhere Eingriffsintensität: Erhöhung des Mindestlohns zum Oktober 2022 auf 12 Euro betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis. Im Jahr 2015 waren nur 11 Prozent betroffen (Börschlein et al. 2022). – Einsetzende Rezession Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 29
REFORM DER HINZUVERDIENSTMÖGLICHKEITEN IM TRANSFERBEZUG
REFORM DER HINZUVERDIENSTMÖGLICHKEITEN IM TRANSFERBEZUG • „Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld (ehemals Arbeitslosengeld II), Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen so aufeinander abstimmt, beziehungsweise wo möglich zusammenfasst, so dass die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden.“ (Koalitionsvertrag) Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 31
GRENZBELASTUNG DES ERWERBSEINKOMMENS Einkommensverlauf Paar mit zwei Kindern 4.000 Haushaltsnettoeinkommen 3.500 3.000 2.500 Nettolohn 2.000 1.500 1.000 Grundsicherung Kinderzuschlag 500 Wohngeld 0 Kindergeld 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 4.000 4.500 5.000 5.500 6.000 Bruttolohn Anmerkungen: Rechtsstand 2019 (inkl. Reform des Kinderzuschlags zum 1.1.2020). Paarhaushalt mit einem Kind unter 6 Jahren und einem zwischen 7 und 11 Jahren. Arbeitslosengeld II inklusive Kosten der Unterkunft in Höhe von ca. 650 Euro. Quelle: IAB-MSM. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 32
REFORMDISKUSSION • Kritik an hoher Grenzbelastung im Transfersystem besteht seit Jahren. Regelungen setzten monetäre Anreize für eine Erwerbstätigkeit im Bereich geringfügiger Beschäftigung – Jahresgutachten 2019/2020 des Sachverständigenrats zur Verbesserung von Aufstiegschancen im Niedriglohnbereich: „Einige Stellschrauben dafür bietet das Steuer- Transfer-System, das bislang durch seine Ausgestaltung eine Reihe von Fehlanreizen setzt, welche die individuellen Anstrengungen zur Einkommenserzielung beeinträchtigen. So könnte etwa eine Neustrukturierung der Transferentzugsraten Arbeitsanreize wecken und Erwerbspotenziale heben.“ Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 33
REFORM DER HINZUVERDIENSTREGELN IM BÜRGERGELD Einkommensverlauf Grundsicherung und Bürgergeld 4.000 3.500 Nettohaushaltseinkommen 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 Bruttolohn (Euro/Monat) Grundsicherung (Single) Bürgergeld (Single) Grundsicherung (Paar, 2 Kinder) Bürgergeld (Paar, 2 Kinder) Quelle: IAB-MSM. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 34
FAZIT
ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT • Viele der geplanten Änderungen und Vorhaben greifen empirische Befunde und Evaluationsergebnisse auf • Antworten auf aktuelle und erwartete Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt? – Altersbedingter Rückgang der Erwerbsbevölkerung, fortschreitende Digitalisierung • Weiterbildung hat zentralen Stellenwert im Hinblick auf Fachkräftemangel und sich verändernde Berufsstrukturen • Aktivierung und Beschäftigungssicherung als weitere Strategie, dem Fachkräftemangel zu begegnen – Bürgergeld bleibt wie Grundsicherung subsidiäres System, das im Haushaltskontext und nicht als Individualleistung gewährt wird und die Integration in den Arbeitsmarkt zum Ziel hat. Es basiert weiterhin auf den Arbeitsmarktorientierung, Mitwirkungspflichten und Sanktionsmöglichkeiten. Bürgergeld wird materiell nicht großzügiger ausfallen. – „Bedingungsärmere“ Mindestsicherung gibt eine Rahmen, die Beschäftigungsqualität zu erhöhen. Umgekehrt besteht das Risiko, dass sich die Arbeitslosigkeitsdauer erhöht. • Höherer Mindestlohn und veränderte Hinzuverdienstmöglichkeiten zielen auf den Abbau von Ungleichheiten, stellen aber auf eine vorsorgende Absicherung ab Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 36
KONTAKT Kerstin.Bruckmeier@iab.de
LITERATUR (1) • Bauer, Frank, Sarah Bernhard, Stefan Bernhard, Jonas Beste, Kerstin Bruckmeier, Martin Dietz, Jan Gellermann, Katrin Hohmeyer, Zein Kasrin, Veronika Knize, Thomas Kruppe, Julia Lang, Torsten Lietzmann, Andreas Mense, Christopher Osiander, Philipp Ramos Lobato, Maximilian Schiele, Monika Senghaas, Ulrich Thomsen, Mark Trappmann, Stefan Tübbicke, Jürgen Wiemers, Markus Wolf, Joachim Wolff & Cordula Zabel (2022): Bürgergeld-Gesetz. Stellungnahme des IAB zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Bürgergeldes. (IAB-Stellungnahme 07/2022), Nürnberg, 41 S. DOI:10.48720/IAB.SN.2207 • Bernhard, Sarah, Gesine Stephan, Arne Uhlendorff & Gerard van den Berg (2022): Verträge zwischen Arbeitslosen und ihrem Jobcenter: Die Wirkung von Eingliederungsvereinbarungen im Rechtskreis SGB II. (IAB-Forschungsbericht 16/2022), Nürnberg, 22 S. DOI:10.48720/IAB.FB.2216 • Bernhard, Sarah & Monika Senghaas (2021), 2021-07-05, 2021-07-07: Eingliederungsvereinbarungen im Jobcenter schaffen Verbindlichkeit, aber die Mitwirkungspflichten dominieren (Serie "Befunde aus der IAB-Grundsicherungsforschung 2017 bis 2020") In: IAB-Forum H. 07.07.2021, o. Sz. • Bernhard, Sarah, Carolin Freier, Philipp Ramos Lobato, Monika Senghaas & Gesine Stephan (2019): Vertragsbeziehungen zwischen Jobcentern und Arbeitslosen Eingliederungsvereinbarungen aus Sicht von Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittlern. IAB-Forschungsbericht 02/2019. • Bernhard, Sarah (2016): Berufliche Weiterbildung von Arbeitslosengeld-II-Empfängern. Langfristige Wirkungsanalysen. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 65, H. 7,S. 153-161. DOI:10.3790/sfo.65.7.153 • Beste, Jonas, Mark Trappmann & Jens Wiederspohn (2021): Vereinfachter Zugang zur Grundsicherung: Wer von einer Schonfrist bei Vermögensanrechnung und Aufwendungen für die Unterkunft profitieren würde. In: IAB-Forum H. 13.12.2021, Nürnberg. • Beste, Jonas & Mark Trappmann (2021), 2021-02-15, 2021-02-17: Die materielle Versorgung von Hartz-IV-Haushalten hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert, deren relative Einkommenssituation nicht In: IAB-Forum H. 17.02.2021, Nürnberg o. Sz. • Bonin, H.; Krause-Pilatus, Annabelle; Rinne, Ulf (2020): Selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland (Aktualisierung 2020). IZA Research Report No. 93, April 2020. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 39
LITERATUR (2) • Börschlein, Erik-Benjamin, Mario Bossler, Nicole Gürtzgen & Christian Teichert (2022b): Mindestlohnerhöhung im Oktober 2022: 12 Euro Mindestlohn betreffen mehr als jeden fünften Job (IAB-Kurzbericht 12/2022), Nürnberg, 8 S. DOI:10.48720/IAB.KB.2212 • Bruckmeier, Kerstin & Stefan Schwarz (2022): Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf den Bezug von Sozialleistungen (IAB- Forschungsbericht 14/2022), Nürnberg, 113 S. DOI:10.48720/IAB.FB.2214 • Bruckmeier, Kerstin & Katrin Hohmeyer (2018): Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern: Nachhaltige Integration bleibt schwierig. (IAB- Kurzbericht 02/2018), Nürnberg, 8 S. • Dustmann, Christian, Johannes Ludsteck & Uta Schönberg (2009): Revisiting the German wage structure. In: The Quarterly Journal of Economics, Jg. 124, H.2, S. 843-881. • Grabka, Markus M. und Konstantin Göbler (2020): Der Niedriglohnsektor in Deutschland. Falle oder Sprungbrett für Beschäftigte? Bertelsmann Stiftung. • Grabka, Markus M.; Halbmeier, C. (2019): Vermögensungleichheit in Deutschland bleibt trotz deutlich steigender Nettovermögen anhaltend hoch. DIW- Wochenbericht 40/2019. • Jaenichen, Ursula & Thomas Rothe (2014), 2014-03-07: Hartz sei Dank? Stabilität und Entlohnung neuer Jobs nach Arbeitslosigkeit. In: WSI- Mitteilungen, Jg. 67, H.3, S. 227-235. DOI:10.5771/0342-300X-2014-3-227. • Klinger, Sabine, Thomas Rothe & Enzo Weber (2013): Makroökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen: Die Vorteile überwiegen. (IAB- Kurzbericht 11/2013), Nürnberg, 8 S. • Knabe, A.; Schöb, R.; Thum, M. (2020): Bilanz nach fünf Jahren: Was hat der gesetzliche Mindestlohn gebracht? Ifo Schnelldienst 4/2020, Vol (73), S. 3-28. • Merkl, C. (2022): Perspektiven zum Bürgergeld. Wirtschaftsdienst 102(2), S. 86-89. • Mindestlohnkommission (2020): Dritter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz. Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung der Umverteilung? // Seite 40
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