Musikstunde "Good Morning, Your Majesty" - Queen Victoria zum 200. Geburtstag (3)

Die Seite wird erstellt Nepomuk Langer
 
WEITER LESEN
Musikstunde

„Good Morning, Your Majesty“ -
Queen Victoria zum 200. Geburtstag (3)

Von Antonie von Schönfeld

Sendung:    27.03.2019
Redaktion: Dr. Ulla Zierau
Produktion: 2019
SWR2 Musikstunde mit Antonie von Schönfeld
25. März – 29. März 2019
„Good Morning, Your Majesty“ - Queen Victoria zum 200. Geburtstag (3)
Königliches Glück (3)

Signet
...mit AvS
- und auch heute lade ich Sie wieder nach Großbritannien ein, in dieser turbulenten
Woche, die eigentlich auf das historische Brexit-Datum zusteuern sollte.
Drehen wir also der aktuellen politischen Situation für eine knappe Stunde den
Rücken und tauchen wieder ein ins 19. Jahrhundert an die Seite von Queen Victoria
und bald auch Prinz Albert. Anlass ist der 200. Geburtstag von Queen Victoria am
24. Mai - heute Folge 3: „Königliches Glück“! Schön, dass Sie dabei sind!
Titelmusik
Felix Mendelssohn ist begeistert von ihr, der Premierminister Lord Melbourne
angetan von ihrem wachen Geist, ein ganzes Volk jubelt ihr am Krönungstag zu und
bald wird sich ein deutscher Prinz in sie verlieben: Nach ihrer streng geregelten
Kindheit erlebt Queen Victoria als junge Frau geradezu ein Frühlingserwachen.
Mit 18 wird sie Königin und das bedeutet: sehr viel Arbeit. Für Victoria aber ist es wie
eine Befreiung. Bis sie 18 ist wird ihr Leben von ihrer Mutter und deren Verwalter
John Conroy bestimmt. Dieser machtgierige Sir arbeitet langfristig auf ein Ziel hin:
Wenn Victoria Königin ist will er als ihr Privatsekretär selbst die politischen Fäden in
der Hand halten. - Doch daraus wird nichts: Die Prinzessin lässt sich nicht so leicht
lenken wie ihre Mutter. Victoria hat ihren eigenen Willen und durchschaut früh, dass
Conroy nichts Gutes im Schilde führt und ihre Mutter ihm dabei auch noch
sekundiert!

Als Königin steckt Victoria jetzt zwar in einem ganz anderen Korsett, doch innerhalb
des neuen Regelwerks kann sie entscheiden und bestimmen – und gewissenhaft
und pflichtbewusst war sie schon immer: Also trifft sie die Minister und verfasst
Episteln, zeichnet Dokumente und arbeitet sich jeden Tag durch eine umfangreiche
Korrespondenz. Daneben nimmt sie sich auch Zeit für den Spaziergang mit ihrem
Hund im Park von Windsor Castle, für die neue Sonate von Haydn, einen schnellen
Ausritt und das aktuelle Buch von Charles Dickens - und für Oper und Tanz und
Musik im Allgemeinen sowieso:
Musik 1             Arthur Sullivan                     2´45
                    „Mistletoe Dance“
                    aus: „Victoria and Merrie England“ Ballad Suite
                    BBC Concert Orchestra
                    Ltg. Owain Arvel Hughes
                    cpo 999 172, LC 8492
M0014444 007

“Mistletoe Dance“ von Arthor Sullivan, gespielt vom BBC Concert Orchestra unter der
Leitung von Owain Arvel Hughes.

Auf die Frage, wie sich diese junge Frau in ihrem Amt wohl behaupten wird, gibt
Baron Stockmar, der spätere politische Berater von Victoria und Albert, eine
philosophische Antwort:
      „Es ist ein ungeheures Experiment, dass im 19. Jahrhundert eine
      achtzehnjährige Königin dieses Land regiert. Und doch will ich nicht wagen zu
      sagen, dass es bös ausgehen wird, denn das Unerwartete geschieht, das
      Berechnete und zu Berechnende geschieht nicht...“
soweit Baron Stockmar.

Unermüdlich arbeitet sich Victoria durch ihren politischen Alltag. Ihren Satz: „Ich
werde darüber nachdenken“ nehmen die Minister bald ernst, denn dann folgt am
nächsten Tag eine Anordnung oder zumindest eine Diskussion, Victoria nimmt ihre
Aufgabe ernst, weit ernster, als es sich die Politiker im britischen Unterhaus je haben
träumen lassen.

Ihr Onkel Leopold aber, der Bruder ihrer Mutter und König von Belgien, ist nicht so
zufrieden: Während Victorias Kindheit war Leopold von Sachsen-Coburg eine Art
Vaterfigur für das Mädchen, er war ihr Kummerkasten und Seelentröster. Für die
ältere Prinzessin wird er auch immer mehr Ratgeber. Jetzt aber schließt sie ihn von
der Politik aus und weigert sich, mit ihm über dieses Thema zu korrespondieren.

- Von Victoria aus ist das klug, denn wenn sie sich mit dem König von Belgien
austauscht über innen- oder gar außenpolitische Themen, dann kann ganz leicht der

                                                                                      3
Vorwurf des Landesverrats im Raum hängen und nach der ersten Begeisterung für
die junge Königin wird eh schon hier und da Kritik an ihr laut.

An einem Thema aber haben die Lords und Peers und Minister und auch der Onkel
alle gemeinsam ein Interesse: Die junge Dame sollte sich bald verheiraten...

Musik 2             Felix Mendelssohn       Bartholdy               3´20
                    „Auf Flügeln des Gesanges“
                    Barbara Bonney, Sopran
                    Geoffrey Parsons, Klavier
                    Teldec 0630-12340-2, LC 6019
M0337359 001

„Auf Flügeln des Gesangs“ von Felix Mendelssohn, interpretiert, herrlich
unprätentiös, von Barbara Bonney, aber bei ihr ist jeder Ton im musikalischen Bogen
genau platziert – das ist hohe Liedkunst. Geoffery Parsons hat sie begleitet.

In einer Männer-dominierten Gesellschaft wie der Politik im 19. Jahrhundert ist eine
Königin so etwas wie ein Paradiesvogel. Die Briten haben diese Situation zwar schon
ein paar Mal in ihrer Geschichte erlebt, darunter mit Queen Elizabeth I., eine sehr
durchsetzungsfähige Königin war - doch das ist lange her.

In England gilt damals allgemein, dass eine hochadlige Frau nur drei Mal in ihrem
Leben öffentlich in Erscheinung tritt. Da heißt es salopp: „Hatch, match and
despatch“, bei der Geburt, bei der Hochzeit und der Beerdigung. Das ist bei einer
Königin natürlich anders, doch die männliche Gesellschaft weiß auch eine Queen
lieber an der Seite eines Mannes. Oder andersherum, den Mann an der Seite der
Queen: Eine Frau – und dazu eine so willensstarke und emotionale wie Victoria –
kann sonst unkalkulierbar werden.
Und gleich kommt das nächste Problem: Bei der Queen of England ist natürlich von
größter Bedeutung, wer dieser Mann ist: Im Fall von Victoria (so schreibt ihre
Biographin Karina Urbach) gab es zahlreiche „Heiratslobbyisten“:
Die Mutter will, dass es jemand aus dem Haus Sachsen-Coburg werde. Sie hofft auf
einen Verbündeten, damit sie die eigensinnige Tochter unter Kontrolle halten kann.

                                                                                       4
Die Partei der „Tories“ hofft, dass ein kluger Ehemann die Königin von ihrer
Begeisterung für den Premierminister Lord Melbourne abbringt, denn der ist ein
„Whig“. Lord Melbourne wiederum hofft, dass Victoria überhaupt heiratet und Kinder
kriegt, denn ohne Nachkommen hätte der reaktionäre Herzog von Cumberland bei
ihrem Tod Anspruch auf den englischen Thron. - So geht es gerade weiter.

Und Victoria? Hat Angst vor der Ehe. Sie kennt in ihrer eigenen Familie kein einziges
glückliches Paar und die leidige Sache mit dem Kinderkriegen – das ist ihr bewusst –
ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch gefährlich. - Da geht sie doch
lieber in eine ihrer geliebten Opern und erlebt die romantische Liebe auf der Bühne:

Musik 3              Gioacchino Rossino                    1´33
                     „Zitti, zitti, piano, piano“
                     aus: „Il Barbiere di Sevilla“ Akt II,
                     Rosina: Cecilia Bartoli
                     Almaviva: William Matteuzzi
                     Figaro: Leo Nucci
                     Orchester des Theaters Bologna /Ltg. Giuseppe Patanè
                     DECCA 425 520-2

„Zitti, zitti, piano, piano“ - das war die Gesangsstunde aus dem 2. Akt von Gioacchino
Rossinis „Barbier von Sevilla“ mit Cecilia Bartoli als Rosina, William Matteuzzi als
Almaviva und Leo Nucci als Figaro. Das Orchester des Theaters Bologna wurde
geleitet von Giuseppe Patanè.

In den Briefen an ihren Onkel Leopold schwärmt Victoria geradezu von ihren Opern:
      „Oh, mein geliebter, Onkel, könntest Du mit uns hier sein, wie herrlich das
      wäre! Wie gerne würde ich mit Dir all unsere Lieblingsstücke singen aus ‚La
      Gazza‘, ‚Otello‘, ‚Il Barbiere‘ etc., etc.“,

so heißt es in einem Brief an Leopold von Januar 1837. Das ‚mit uns hier sein‘
bezieht sich auf ihren Gesangslehrer Giulio Lablache als Dritten im Bunde. Kurz
vorher erzählt sie im Brief von ihrem Unterricht bei ihm und ‚dass sie jetzt regelmäßig
am Abend singe, denn sie finde es besser, jeden Tag zu üben, das halte die Stimme
‚manageable‘, wendig und geschmeidig‘.

                                                                                       5
Ich lese gern in Victorias Briefen und Tagebuchauszügen: Wenn man tief in den
biographischen und historischen Texten über die Königin und ihre Zeit steckt, dann
fegen ihre eigenen Äußerungen wie ein frischer Wind dazwischen und wirbeln alles
erst einmal wieder auf. Vor allem dem Tagebuch kann Victoria alles anvertrauen, hier
kann sie rückhaltlos aufschreiben, was ihr durch den Kopf geht und was sie bewegt.
Nach ihrem Tod verbrennt ihre Tochter Beatrice zwar große Teile, andere redigiert
sie, doch der frische Wind bleibt und zeigt uns hinter der historischen Figur den
Menschen, sie, Victoria, zeigt sich hier: impulsiv, manchmal trotzig, einfühlsam,
verzweifelt (vor allem nach dem Tod von Albert), klug, neugierig, sie lacht gerne, hat
Humor und kann sich rückhaltlos begeistern, beispielsweise für die Oper – und hier
sind Bellinis „I Puritani“ eine ganze Zeit lang ihr favourite:

Musik 4              Vincenzo Bellini                       4´10
                     „Son vergin vezzosa“
                     aus: „I Puritani“
                     Joan Sutherland, Elvira
                     Margreta Elkins, Enrichetta di Francia
                     Pierre Duval, Lord Arturo Talbo
                     Ezio Flagello, Sir Giorgio Valton
                     Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino
                     Ltg. Richard Bonynge
                     Decca 470 026-2, LC 0171

Das war die Arie der Elvira „Son vergin vezzosa“ aus Bellinis „I Puritani“ mit der
großen Lady im Koloraturfach Joan Sutherland. Sie sang mit einem
Solistenensemble und dem „Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino“, die Leitung
hatte Richard Bonynge.

Mai 1836, ein Brief von Victoria an ihren Onkel Leopold:
       „Am Freitag haben wir sie mit in die Oper genommen,
       um die Puritani zu sehen – und da sie genau so verrückt auf Musik sind wie
       ich, waren sie einfach überwältigt, sie hatten keinen der Sänger vorher schon
       einmal gehört!“

                                                                                       6
Die da in ‚mit in die Oper genommen‘ werden, das sind Ernst und Albert, Brüder und
die Prinzen von Sachsen-Coburg. - Vermutlich hat auch an jenem Freitagabend die
Sopranistin Giulia Grisi gesungen im Royal Opera House, die Grisi ist der Star am
Bühnenhimmel. Und sie ist Victorias Lieblingssängerin: diese klare Stimme, dieses
Ausdrucksvermögen und dazu sieht sie noch so gut aus!

Von schönen Menschen lässt sich Victoria zeitlebens leicht bezaubern, ja, regelrecht
betören. Als sie die Sängerin einmal im Park sieht, beim Reiten, notiert Victoria, dass
die Grisi zwar blass aussähe außerhalb des Theaters, doch nicht im Sinne von
kränklich, im Gegenteil, sie habe ‚einen leicht rosafarbenen Teint und sehe sehr
hübsch und sanft aus.‘

In den 1830er Jahre bedeutet ‚Opernabend‘ nicht unbedingt, dass eine ganze Oper
gegeben wird, häufig werden gemischte Programme aufgeführt: Da kann der Abend
mit einem Teil einer Oper beginnen, es folgen vielleicht ein paar Solo-Arien und
schließlich noch Szenen aus einem oder verschiedenen Balletts. Dargeboten wird
das Ganze von der Crème de la Créme der Künstler. Auch Victorias Lehrer Luigi
Lablache steht häufig mit auf der Bühne und bis zu ihrem frühen Tod im selben Jahr
1836 auch die berühmte Mezzosopranistin Malibran. Die Malibran komponiert auch,
vor allem Lieder. Einen ganz besonderen Erfolg hatte sie mit ihrer Chansonette
„Rataplan“. Dieses Wort ist reine Lautmalerei und steht im Italienischen und
Französischen den Trommelwirbel des Tambours dar.
Cecilia Bartoli hat ihren Spaß daran!

Musik 5             Maria Malibran                        2´25
                    „Rataplan“
                    Cecilia Bartoli, Mezzosopran
                    Benjamin Forster, Trommel
                    Orchestra La Scintilla / Ltg. Adam Fischer
                    Decca 4759077, LC
M0083112 010

In der SWR2-Musikstunde war das Cecilia Bartoli, virtuos mit „Rataplan“, dem Lied
eines Tambours, der am Ende seiner Laufbahn neben seiner Trommel beerdigt
werden möchte. Begleitet hat sie das Orchestra di Scintilla. Komponiert hat diese

                                                                                      7
Chansonette die berühmteste Mezzosopranistin ihrer Zeit: Maria Malibran. 1836 ist
sie mit nur 28 Jahren wenige Monate nach einem schweren Reitunfall im Hyde Park
gestorben. Ihre Fan-Gemeinde war untröstlich. Queen Victoria findet die Stimme der
Malibran herausragend, doch an ihre Lieblingssängerin Giulia Grisi kommt sie nicht
heran:
             „Ihre tiefen Töne sind herrlich, aber ihre hohen Töne etwas breiig und
             nicht sauber. Ich ziehe Grisi bei weitem vor.“
Wenn Victoria einen gelungenen Abend in der Oper erlebt, dann schreibt sie in ihr
Tagebuch: „I was very much amused!“ Wenn es ihr besonders gut gefallen hat, dann
steigert sie das zu: „I was very very much amused!“ und danach hilft dann nur noch
dickes Unterstreichen...

Neben ihren Tagebüchern führt Victoria übrigens noch eine weitere Art von „Journal“:
In das schreibt sie jedoch nicht hinein, sondern sie malt, zeichnet und aquarelliert.
Victorias Sketchbooks sind anschaulich im Wortsinn und mich haben sie überrascht:
„Drawing“, „Zeichnen“ gehört zum damaligen Erziehungskanon höherer Töchter,
doch Victoria hat wirklich Talent, es gibt es wunderbare Aquarelle von ihr.
Wir können Victoria von ihren frühen, noch etwas unbeholfenen Kinderzeichnungen
durch ihre Ballett-Phase folgen, hier verehrt sie vor allem sie die Primaballerina
Marie Taglioni. Dann führen uns die Bilder weiter und zeigen Victorias Vorliebe für
die Oper. Gleichzeitig werden ihre Zeichnungen immer sicherer, immer reifer.

Neben den „Souvenirs de l’Opéra“ gefallen mir auch ihre kleinen Skizzen: die
Reitszene, die Nurse mit dem Kind an der Hand, eine Bewegung im Tanz, eine
Geste, der Hund auf dem Schoß von Lord Melbourne. Und dann schleichen sich die
Bilder von jungen Männern herein, hier ein Lord und da ein Dandy, faszinierend die
Skizze des düsteren Duke of Brunswick und dann ... kommt Albert, dieser Prinz aus
Franken, der ebenfalls viel Sinn für die schönen Künste hat und auch selber
komponiert - „Ständchen“:

Musik 6             Prinz Albert von Sachsen-Coburg           2´55
                    „Ständchen“
                    Ian Partridge, Tenor
                    Jennifer Partridge, Klavier
                    Decca 4802092, LC 6646
                                                                                        8
„Ständchen“ – Ian Partridge sang dieses Lied von Albert, Prinz von Sachsen-Coburg,
am Klavier hat ihn Jennifer Partridge begleitet.

Die Aufnahme stammt aus den 60er Jahren, damals hat das Purcell Consort etliche
Lieder von Prinz Albert aufgenommen. Die meisten hat der Prinz vermutlich als
junger Mann geschrieben, vor seiner Heirat mit Queen Victoria. Als 14-Jähriger hat
Albert in seinem Wochenplan vier Stunden für „Musikstudien“ eingeplant, zusätzlich
zum Klavierüben. Viele der vertonten Texte stammen von seinem Bruder Ernst. Die
meisten Lieder sind in Aufbau und harmonischer Struktur konventionell, doch Prinz
Albert schreibt gefällig und seine Melodien sind eingängig.
Er selbst singt Bass, was im Duett mit dem hellem Sopran Victorias vermutlich eine
etwas eigenwillige Mischung ergeben hat. Hier singen Susan Longfield und
Christopher Keyte „Liebe hat uns nun vereint“:

Musik 7             Prinz Albert von Sachsen-Coburg           5´32 
                    „Liebe hat uns nun vereint“
                    Susan Longfield, Sopran
                    Christopher Keyte, Bass
                    Jennifer Partridge, Klavier
                    Decca 4802092, LC 6646

„...durch das Leben bis zum Tod“ - Susan Longfield und Christopher Keyte mit dem
Lied „Liebe hat uns nun vereint“ von Albert, dem Prinzen von Sachsen-Coburg.
Prinz Albert lässt in der letzten Solopassage die beiden Stimmen sich aufeinander zu
bewegen, dann wieder voneinander entfernen und weiter umeinander winden, bis
das Lied mit den kräftigen Akkorden im Klavier endet. Das ist ein bisschen wie im
wirklichen Leben: Als Victoria ihre beiden Cousins kennenlernt und sie ihre
gemeinsame Begeisterung für Musik und für die Oper entdecken, sind sie alle 16, 17.
Wenn sich Victoria zu dieser Zeit schon für einen der beiden Brüder mehr
interessiert, dann eher für Ernst, den älteren von beiden. Ernst hat eine gewandte Art
und ist ausgesprochen charmant. Beim Tanzen macht er eine gute Figur und es wird
berichtet, dass die lebhafte Cousine mit ihm durch den Ballsaal fegt, während Albert
müde auf dem Sofa döst...

                                                                                       9
Drei Jahre später sind aus den Teenagern junge Erwachsene geworden und jetzt
schreibt Victoria in ihr Tagebuch:
„Als ich Albert erblickte, war ich überwältigt. Er sieht ungemein gut aus!“
Jetzt fegt sie mit ihm durch den Tanzsaal und wenn sich die ältere Gesellschaft
zurückzieht zu Drink und Plausch, dann drehen die Jüngeren erst richtig auf und
kommen außer Atem bei der „Queen’s Jigg“:

Musik 8             John Playfords Dancing Master             3´52 
                    „The Queen’s Jigg“
                    David Douglas, Violin
                    Paul O’Dette, Cister
                    Andrew Lawrence-King, Gitarre
                    HCX 3957186, LC 7045

„The Queen’s Jigg“ aus einer der Sammlungen von Mr. Playford’s Dancing Master,
gespielt von David Douglas, Geige, Paul O’Dette, Cister und Andrew Lawrence-King,
Gitarre.

Als sich Victoria und Albert zum zweiten Mal begegnen ist ziemlich schnell alles klar:
Albert ist der ruhigere, vielleicht auch feinsinnigere der beiden Coburger Brüder,
doch jetzt ist er in Victorias Augen ganz im Sinne von Jane Austen ein „dashing Mr.
Darcy“.
Ihrem Tagebuch vertraut sie an, er habe „wunderschöne Augen, eine vortreffliche
Nase und einen solch hübschen Mund mit dezentem Schnauzbart“, dazu eine
„prächtige Figur, breite Schultern und eine schlanke Taille“ (für sie zeitlebens ein
Thema).

Kein Zweifel, Victoria hat sich verliebt! Auf den zweiten Blick. Albert wiederum weiß
schon vor diesem Besuch in Windsor Castle, dass eine Verbindung zwischen ihnen
beiden möglich ist und von manchem gewünscht wird. Sie mögen gegensätzliche
Charaktere haben, doch sie haben an ähnlichen Dingen Interesse: an Literatur und
Malerei, später auch der Photographie und vor allem an der Musik, häufig sitzen sie
am Klavier und spielen vierhändig:

                                                                                       10
Musik 9             Wolfgang Amadeus Mozart           1´22
                    „Larghetto“ Es-Dur für 2 Klaviere
                    (Fragmentergänzung von Franz Beyer 1991)
                    Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen, Klavier
                    Sony 88765400772, LC

Das Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen mit dem kleinen Larghetto Es-Dur von
Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Beyer hat das Fragment ergänzt.

Victoria und Albert teilen viele ihrer Interessen und sie sind beide pflichtbewusst und
nehmen ihre Aufgaben ernst. Vielleicht trägt auch die ähnliche Struktur ihrer
Herkunftsfamilien dazu bei, dass sie sich gut verstehen: Victoria ist ohne Vater
aufgewachsen, Albert von früher Kindheit an ohne Mutter, Victoria war lange dem
‚Kensington System‘ ausgesetzt, mit ihrer kontrollierenden Mutter und dem
ambitionierten Conroy, Albert seinem Vater, der ein ausschweifendes Leben geführt
hat und kein zuverlässiger Vater war. Heute nennen wir das ‚dysfunktionale
Familien‘. Beide haben das Bedürfnis nach einem geordneten Familienleben, hier
kommt der Begriff ‚tugendhaft‘ ins Spiel, später wird daraus ‚viktorianisch‘.

Wenige Tage nach seiner Ankunft in diesem Oktober 1839 macht Victoria ihrem
Albert einen Heiratsantrag – die Queen dem Prinzen, andersherum ist es nicht
statthaft. Albert nimmt an, die Heiratslobbyisten sind ihren Job für dieses Mal los und
Victorias Ängste vor dem Leben einer verheirateten Frau sind mit einem mal wie
weggeblasen.Im Moment will sie nur jubeln und kann ihr Glück, dass sie „von einem
solchen Engel geliebt werde“ nicht fassen. Sie mag es in die Welt hinauSrufen –
„Sing it and chaunt it!“Etwas verhaltener macht er mit.

Musik 10            Robert Lucas Pearsall          0´55
                    „Sing we and chaunt it“ (1840)
                    The Choir of Royal Holloway
                    Ltg. Rupert Gough
                    CDA68140, LC 7533

„Sing we and chaunt it“ – von dem englischen Madrigalisten Robert Lucas Pearsall.
Gesungen hat dieses achtstimmige a cappella-Stück der Chor des Londoner „Royal

                                                                                     11
Holloway“ College, und der muss sich keineswegs verstecken hinter den vielen guten
Ensembles der Universitätsstädte Cambridge und Oxford!

Madrigale sind im Chormusikland-England immer populär geblieben. Ihre Blüte
hatten sie zur Zeit Elizabeths I., doch auch in der Romantik wird diese Tradition
fortgesetzt. „Sing we and chaunt it“ ist ein Tribut an Thomas Morleys Version dieses
Stücks.
Robert Pearsall, der übrigens u.a. in Karlsruhe Musik studiert hat, gründet 1837
zusammen mit Gleichgesinnten die ‚Bristol Madrigal Society‘. Die meisten seiner
über 300 Kompositionen sind bisher nicht veröffentlicht – ein Fundus für a cappella-
Chöre! Damals werden sie in den Victoria-Rooms in Bristol aufgeführt und immerhin
einige seiner Stücke sind inzwischen aufgenommen worden.
Pearsall erweitert die strengen elisabethanischen Kompositionsregeln in Form und
harmonischer Struktur und lässt manches Madrigal in ganz großem Klang aufblühen,
-das ist stimmlich ausgesprochen reizvoll. Dazu kommt sein Witz, wenn er
zweideutige Texte der alten Vorlagen ausdeutet - Pearsall legt gerne den Finger auf
den Zwiespalt seiner Zeit, den Zwiespalt der viktorianischen Zeit zwischen
Moralismus und Frivolität.
„Lay a Garland“ gehört zu seinen bekanntesten Madrigalen. Pearsall vertont hier
einen Text aus dem Theaterstück „The Maid’s Tragedy“, ebenfalls aus der
elisabethanischen Zeit und das ist in seiner Kühnheit und Wirkung ganz groß: Noch
einmal ‘The Choir of Royal Holloway’, wieder doppelchörig, unter Rupert Gough:

Musik 11            Robert Lucas Pearsall              3´10
                    „Lay a Garland“ (1840)
                    The Choir of Royal Holloway
                    Ltg. Rupert Gough
                    CDA68140, LC 7533

Der Chor des „Royal Holloway“ College mit dem Madrigal „Lay a Garland” von
Robert Pearsall.
Pearsall schreibt es 1840, in dem Jahr, in dem in London die große Hochzeit
stattfindet: Victoria and Albert. - Im Oktober haben sich die beiden erst verlobt, im
Februar findet schon die Hochzeit statt - geradezu erstaunlich, wenn man daran
denkt, wie Victoria den Gedanken an Heirat und Ehe vorher vehement abgelehnt hat.
                                                                                        12
Es ist eben Liebe. Und es wird zwanzig Jahre lang Liebe bleiben, sogar erotische
Liebe, freimütig schreibt Victoria in ihr Tagebuch, die Hochzeitnacht sei „eine höchst
befriedigende und verwirrende Nacht“ gewesen. Dass sie gleich in dieser ersten
Nacht schwanger werden muss steht auf einem anderen Blatt.
Und dann beginnt auch schon der Alltag: Victoria und Albert werden sich
auseinandersetzen, ihren Modus finden, voneinander lernen. Sie ist ihm häufig etwas
zu extrovertiert, er ihr zu introvertiert - sie haben eine starke gemeinsame Basis, sie
fechten es aus.

Morgen geht es in der SWR2-Musikstunde um die zwanzig gemeinsamen Jahre
dieses Paares, geht es um Lieben, Leben und Regieren. Für heute lassen wir die
beiden noch ein paar Runden Wiener Walzer tanzen zu Johann Strauss‘ „Huldigung
der Königin Victoria von Großbritannien“ – und dass es wirklich Musik für die
englische Königin ist, daran gibt es keinen Zweifel!
- Damit verabschiede ich mich und übergebe an das London Symphony Orchestra.
Mein Name ist AvS – „Have a nice day!“

Musik 12            Johann Strauss                      7´59
                    Huldigung der Königin Victoria von Großbritannien
                    The London Symphony Orchestra
                    Ltg. John Georgiadis
                    CHAN 8739, LC 7038
M0562543 001
AUF ZEIT!

                                                                                      13
Sie können auch lesen