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Juli / August 2018 Vom Mitgliedstaat zum Drittstaat? Brexit – mögliche Folgen für die Sozialversicherung
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Liebe Leserinnen und Leser, spätestens mit dem Brexit hat sich deutlich offenbart: Die Europäische Union (EU) befindet sich in einem Umbruch. Sie hat bei vielen EU-Bür- gerinnen u nd Bürgern an Akzeptanz verloren. Blickt man zurück auf die Gründerzeit der EU, zeigt sich: Genauso wie heute konnten schon damals nicht alle von der Vision und den Vorteilen eines friedlichen, geeinten und wirtschaftlich erfolgreichen Europas überzeugt werden. Dies hatte auch Paul Henri Spaak, der als „europäischer Visionär mit Überzeugungskraft“ bezeichnet wurde, am 11. Dezember 1951 in Paris zutreffend formuliert: „… zwar sind Einige nur schwer von der Notwendigkeit unserer Aktivitäten zu überzeugen, doch für viele von uns ist das, was wir hier tun, von drin- gender Wichtigkeit …“ 1 Rückblickend betrachtet hat das Vereinigte Königreich in den letzten Jahren als Mitglied im europäischen Staatenverbund die Vorteile und Visionen der EU aktiv mitgestaltet. Jetzt gilt es, bis Ende März 2019 die bislang beste henden Verbindungen zu der EU zu lösen und die künftigen Beziehungen neu zu definieren. Doch wie wirkt sich der Austritt auf die Sozialversicherung aus? Die Zeit des freien Waren- und Personenverkehrs im Verhältnis zum Vereinigten Königreich dürfte vorbei sein oder zumindest eingeschränkt werden. Es stellt sich somit die Frage, ob britische Rentner auch nach dem Brexit weiterhin in Deutschland Altersrenten aus dem Vereinigten Königreich beziehen können. Wie steht es künftig um den bislang gewährten Zugang zu notwendigen medizinischen Behandlungen für deutsche Bürgerinnen und Bürger im Vereinigten Königreich? Wie verhält es sich mit europäischen Zertifizierungen oder Zulassungen wie z. B. von Medizinprodukten, Arznei- mitteln oder persönlichen Schutzausrüstungen, die bislang vom Vereinigten Königreich uneingeschränkt anerkannt wurden? Die Antworten auf zahlreiche Fragen hängen davon ab, welche Beziehungen die EU und das Vereinigte Königreich für die Zeit nach dem Brexit anstre- ben. Feststehen dürfte aber heute schon, dass die Trennung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU insgesamt mehr Bürokratie und Kosten für alle bedeutet, auch für die mobilen Bürgerinnen und Bürger. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre! Ihre Ilka Wölfle 1 https://europa.eu/european-union/about-eu/history/founding-fathers_de 2
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Briten ade, scheiden tut weh – ein Abschied vom freien Personen- und Warenverkehr? Nach 44 Jahren Mitgliedschaft wird das Vereinigte König- dem Austritt angelegt sind und in denen das Vereinigte reich Ende März 2019 die EU verlassen. Dies war der Königreich noch Mitglied der EU ist. Außerdem soll es für Wunsch einer knappen Mehrheit der britischen Bürge- die Zeit nach der Unterzeichnung des Austrittsabkommens rinnen und Bürger, die sich 2016 an dem Referendum bis zum 31. Dezember 2020 eine Übergangszeit geben, in beteiligt haben. der besondere Regelungen gelten sollen. Darauf hatten sich Michel Barnier, Chefunterhändler für die EU-27, und Den Preis, den beide Seiten dafür zahlen müssen, ver- der seinerzeitige Brexit-Unterhändler des Vereinigten handelt die EU-Kommission für die 27 Mitgliedstaaten mit Königreichs, David Davis, geeinigt. Eine Übergangsphase dem Vereinigten Königreich. Ein Prozess, der sich von den wird es damit nur geben, wenn sich die Parteien auf ein gängigen Verfahren in der EU unterscheidet. Während die Austrittsabkommen einigen, es soll ein Gesamtpaket EU-Kommission sich üblicherweise um die Möglichkeiten geschnürt werden. der Vertiefung der wirtschaftlichen und sozialen Integration verschiedener Staaten Europas bemüht, geht es in den Verhandlungen zum Brexit um die Auflösung von Beste- hendem. Mit der Erklärung vom 29.03.2017 Nur wenige Tage nach dem 60. Geburtstag der EU hat die begann das Austrittsverfahren britische Premierministerin, Theresa May, den Europä- ischen Rat formell über die Absicht des Vereinigten König- reichs, aus der EU auszutreten, informiert. Damit wurde das in Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) vorgesehene Verfahren für den Austritt von Mit- gliedstaaten eingeleitet. Die mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Vorschrift sieht vor, dass „jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann, aus der Union auszutreten“. Es handelt sich dabei also nicht um einen Antrag, sondern um eine einseitige Erklärung. Mit der Austrittserklärung begann eine Verhandlungsfrist von zwei Jahren, in denen die Einzelheiten des Austritts geregelt werden sollen. Konkret geht es hier um die Behandlung von Sachverhalten, die bereits in der Zeit vor 3
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Stimmen aus Europa zu den Austrittsverhandlungen „Wir werden die Arbeit fortsetzen, wobei wir im Blick behalten, dass alle Punkte Bestandteil desselben Abkommens sind und deshalb zusammen beschlossen werden sollten. Ich möchte noch hinzufügen, dass Rechtssicherheit zu allen Punkten, einschließlich der Übergangsphase, die Bestandteil dieses Abkommens ist, erst mit der Ratifizierung des Austrittsabkommens auf beiden Seiten Michel Barnier zustande kommt. Nichts ist vereinbart, bis nicht alles vereinbart ist.“ ist seit 2016 Beauftragter der EU-Kommission für die Aus- trittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich MdEP Elmar Brok (DE, EVP) Donald Tusk ist ein deutscher Politiker und Mitglied Präsident des des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates Brexit-Lenkungsausschusses „Die EU-27 hat zur Kenntnis genommen, „Das Ausscheiden des Vereinigten was bisher erreicht worden ist. Königreichs (VK) aus der EU im Allerdings liegt noch ein gutes Stück März 2019 bringt sowohl für die EU Arbeit vor uns, und die schwierigsten als auch für das VK große, vor allem Aufgaben sind nach wie vor nicht ökonomische Herausforderungen mit gelöst. Wenn wir bis Oktober zu sich. Selbstverständlich ist es für die einer Vereinbarung kommen wollen, EU einfacher, den Verlust zu verkraften, brauchen wir schnelle Fortschritte. stehen doch weiterhin 27 EU-Staaten Dies ist der letzte Aufruf, die Karten zusammen, als für das VK, das in auf den Tisch zu legen.“ Zukunft auch für die EU zum Drittland wird und somit automatisch aus allen EU-Vorteilen und dem Binnenmarkt Präsident Donald Tusk zu den Tagungen des herausfällt. Gewinner wird es durch Europäischen Rates vom 28./29. Juni 2018 den Brexit keine geben, jedoch wird das VK durchaus härter getroffen als die EU. Wir können nur versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten.“ 4
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 EUV sind Was bedeutet der Austritt für die gesetzliche sowohl formal- als auch materiellrechtlich eine „Premiere“ Sozialversicherung? und politisches Neuland für die EU, da sie üblicherweise mit beitrittswilligen Partnern verhandelt. In der Vergangen- Der Austritt des Vereinigten Königreichs hat verschiedene heit hatte lediglich Grönland nach einer Volksabstimmung Facetten und wirft für die Sozialversicherung, insbeson- die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verlas- dere mit Blick auf die absehbare Einschränkung des freien sen. Die Verhandlungen zogen sich seinerzeit über sieben Personen- und Warenverkehrs, viele rechtliche und prak- Jahre und wurden schließlich durch die Verordnung (EWG) tische Fragen auf. Auch die Dienstleistungsfreiheit könnte Nr. 1661/85 geregelt. betroffen sein – so zum Beispiel mit Auswirkungen auf die Patientenfreiheit. Das Austrittsabkommen wird von den Mitgliedstaaten im Rat diskutiert. Auch das EU-Parlament hat eine zentrale Der Status quo bis zum Brexit am 29. März 2019 Rolle bei den Verhandlungen, da ein entsprechendes Austrittsabkommen nicht nur vom Rat, sondern auch vom Bis zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU Plenum des EU-Parlaments gebilligt werden muss (Artikel ist die Rechtslage eindeutig: Das Vereinigte Königreich 50 Absatz 2 EUV). Zur Vorbereitung der entsprechenden bleibt vollwertiges Mitglied der EU mit allen Rechten und Positionen wurde unter dem Vorsitz von Guy Verhofstadt Pflichten. Versicherte, Unternehmen und Institutionen (BE, ALDE) die Lenkungsgruppe „Brexit“ ins Leben können sich deswegen weiterhin auf die Rechte und Pflich- gerufen, die sich im Laufe des Verfahrens zu den entspre- ten aus den Verordnungen über die Koordinierung der chenden Vorschlägen regelmäßig äußert.2 Systeme der sozialen Sicherheit berufen. So können sich zum Beispiel GKV-Versicherte aus Deutsch 2 So zum Beispiel zuletzt zum Weißbuch Großbritanniens über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union. land bei vorübergehendem Aufenthalt im Vereinigten Königreich, etwa im Urlaub, mit ihrer europäischen Kranken http://www.epgencms.europarl.europa.eu/cmsdata/upload/94472a94-0ce9-4bf8- versicherungskarte (EHIC) behandeln lassen. Hat jemand b596-6815625a240a/12072018_Draft_Statement_of_the_Brexit_Steering_Group.pdf beispielsweise in Deutschland, Frankreich und dem Bis zum Austritt bleibt das Vereinigte Der Austritt Königreich vollwertiges Mitglied der EU wirft für die Sozialversicherung mit Blick auf die absehbare Einschränkung des freien Personen- und Warenverkehrs Fragen auf. 5
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Im Februar 2018 Vereinigten Königreich sozialversi- cherungspflichtig gearbeitet, werden Eine Einschränkung hat die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung mit veröffentlichte die nach wie vor die gesammelten Zeiten Blick auf den Wegfall oder die Ände- aller drei Länder nebeneinander rung der Rechtsgrundlagen ab dem EU-Kommission berücksichtigt – sowohl für den Ren- 29. März 2019 vorgenommen: Bei der tenanspruch als auch für die Renten- Beurteilung von Sozialversicherungs- den Entwurf eines berechnung. Werden etwa Beschäf- verhältnissen begrenzen sie das noch Austrittsabkommens tigte vorübergehend in das Vereinigte Königreich entsendet und erleiden dort geltende anzuwendende Recht auf das anberaumte Austrittsdatum3. Hierzu zwischen dem einen Arbeitsunfall, erhalten sie aus- gehören zum Beispiel in Deutschland hilfsweise Leistungen aus dem System versicherte Personen, die für einen Vereinigten des Vereinigten Königreichs, die der Zeitraum von maximal 24 Kalender dortige Träger mit dem deutschen monaten in das Vereinigte Königreich Königreich und Unfallversicherungsträger abrechnet. entsendet werden. Der erforderliche der EU. Wird umgekehrt ein Beschäftigter vom Vereinigten Königreich nach Nachweis, dass für sie weiterhin die deutschen Rechtsvorschriften über Deutschland entsendet, erhält er im soziale Sicherheit gelten (Beschei Fall eines Arbeitsunfalls nach wie vor nigung A1), wird nur bis zum 29. März aushilfsweise Leistungen nach den 2019 ausgestellt. Die Bescheinigung Regelungen des deutschen Unfallver- gilt für alle Zweige der gesetzlichen sicherungssystems, das neben der Sozialversicherung. Andere Mitglied- medizinischen Versorgung Leistungen staaten wie Frankreich verfahren der beruflichen und sozialen Rehabili- ebenso. Damit soll für alle Beteiligten tation einschließt. Rechtsklarheit geschaffen werden. 3h ttps://www.deutsche-rentenversicherung.de/ Allgemein/de/Inhalt/0_Home/meldungen/ 2017_03_29_brexit_grossbritannien.html?cmst Unproblematischer Arztbesuch dank europäischer Gesundheitskarte 6
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Stand der Verhandlungen – Die Regeln der Arbeitnehmerfreizügigkeit Austrittsabkommen mit sollen noch bis Ende 2020 gelten Übergangszeit? Durch die Austrittserklärung Großbri- tanniens steht die EU vor immensen Aufgaben. Bis Ende März 2019 sollen die bislang bestehenden Verbin- dungen des Vereinigten Königreichs zu der EU gelöst und die künftigen Beziehungen neu definiert und aus gearbeitet sein. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg: Am 28. Februar 2018 hat die EU-Kommission den Entwurf eines Austrittsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU veröffentlicht. Danach soll sich bis zum Ende der Übergangszeit in der GKV-Versicherte können sich Umsetzung der EU-Regularien nichts ändern, vielmehr soll der Status quo bei vorübergehendem bis zum 31. Dezember 2020 verlängert werden. Damit würden die Bürgerinnen Aufenthalt im Vereinigten und Bürger der EU und des Vereinig Königreich, etwa im Urlaub, ten Königreichs die bislang aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgelei- mit ihrer europäischen teten Rechte behalten. Bis auf wenige „praktische“ Änderungen, wie z. B. Krankenversicherungskarte eine als formaler Schritt erforderliche Registrierung, soll sich hier also nichts (EHIC) behandeln lassen. ändern. Auch die Regeln der Verord- nungen zur Koordinierung der sozialen Sicherheit (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009 sollen für diejenigen, die von diesen Regelungen betroffen sind, vorgenommene Befristungen der weitergelten. Dies ist insbesondere mit Bescheinigungen A1 würden damit Blick auf die Zusammenrechnung und längstens bis zum 31. Dezember Auszahlung von Rentenansprüchen 2020 verlängert. Darüber hinaus soll aus der gesetzlichen Rentenversiche- sich das Vereinigte Königreich weiter rung von entscheidender Bedeutung. an alle EU-Regeln halten und auch Gleiches gilt für die medizinische seine finanziellen Beiträge wie bisher Versorgung im europäischen Ausland leisten. Dafür behält das Land den und die Verwendung der europäischen Zugang zum EU-Binnenmarkt und Krankenversicherungskarte (EHIC). bleibt Teil der Zollunion. Produkte sollen möglichst ungehindert zirkulie- Aktuell von der gesetzlichen Ren- ren, sofern sie vorher entsprechend ten- und Krankenversicherung der aktuell geltenden Regeln auf dem 7
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit europäischen oder britischen Markt dieser Zeit hat das Vereinigte König- zugelassen wurden. Die Regeln zur reich aber keine Mitbestimmungs- gegenseitigen Anerkennung von Arz- rechte mehr, muss also neue Vorschrif neimittelzulassungen, zur Arzneimittel- ten der EU umsetzen, die ohne sicherheit und -überwachung würden formelles Zutun der Briten entstehen. damit zumindest bis zum Ende der Übergangszeit weitergelten. Gleiches Ziel der EU-Kommission ist es, sich gilt, wenn Produkte, die zum Beispiel mit dem Vereinigten Königreich bis für die Sicherheit und Gesundheit der Oktober 2018 zu einigen, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anschließende Ratifizierung des Aus- wichtig sind, europäischen Normen, trittsabkommens durch den Rat und Zertifizierungsverfahren oder Konformi- das EU-Parlament sowie des b ritischen tätsverfahren entsprechen. Parlaments bis zum 29. März 2019 erfolgen kann. Einer Ratifizierung Auf diese Weise erhofft man sich, die in den anderen Mitgliedstaaten bedarf Wirkungen des Brexits auf die Bürger es nicht. und Wirtschaft abzufedern. Während Rechtslage nach dem Austritt – Vereinigtes Königreich als Produkte sollen möglichst Drittstaat? ungehindert zirkulieren, Bislang steht nur das Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs am sofern sie nach den 29. März 2019 fest. Bis zum Abschluss geltenden Regeln auf dem des Austrittsabkommens ist die Rechtslage für die Zeit danach in europäischen oder vielen Punkten noch offen. Unklar ist derzeit auch noch, welcher Art die britischen Markt zugelassen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich danach wurden. bzw. nach Ablauf einer möglichen Übergangsphase sein werden. Sollte es zu einer Übergangsphase kommen, soll während dieses Zeit- Die Regeln zu Arzneimittelzulassungen würden raums geklärt werden, wie die bis zum Ende der Übergangszeit weitergelten langfristige Partnerschaft zwischen beiden Seiten aussehen kann. Es wird aber schon jetzt – parallel zu den Gesprächen über die Austrittsverein- barungen – über die künftigen Bezie- hungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich diskutiert. Die sozialversicherungsrechtliche Beurtei- lung von Sachverhalten hängt insoweit ganz entscheidend davon ab, welchen Status das Vereinigte Königreich nach dem EU-Austritt haben wird. 8
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Ein „harter“ Austritt – Wieder In der Sozialversicherung könnte auf eine enge Partnerschaft zwischen der belebung alter Sozialversicherungs das noch bestehende, derzeit aber EU und dem Vereinigten Königreich abkommen nur für die „Isle of Man“ geltende bila- ausgesprochen. Damit betont die EU, terale Sozialversicherungsabkommen dass sie nach dem Ausstieg weiterhin Sollten sich die EU und das Verei- aus dem Jahr 1960 zurückgegriffen an einer vertieften Zusammenarbeit mit nigte Königreich nicht auf ein Aus- werden, das aber hinsichtlich der dem Vereinigten Königreich interessiert trittsabkommen einigen können, käme seit 1960 in den nationalen Rechts- ist, das Vereinigte Königreich könne es zu einem unkontrollierten Austritt, systemen eingetretenen Änderungen aber nicht die gleichen Rechte haben einem Austritt ohne Abkommen („har- geprüft werden müsste. wie die anderen EU-Mitgliedstaaten. ter Brexit“). Damit wäre das Verei- nigte Königreich nach dem 29. März Der bevorzugte Weg – eine enge Eine besonders tiefe und enge Part- 2019 kein EU-Mitglied mehr und – Partnerschaft nerschaft, die über ein herkömmliches abhängig von der Geltung bestehen- Freihandelsabkommen hinausgehen der Sozialversicherungsabkommen Der Europäische Rat hat sich in sei- soll, wünschen sich auch die Briten. – entweder ein Vertragsstaat oder nen politischen Leitlinien zu den Allerdings sollen einige Bereiche wie vertragsloses Ausland („Drittstaat“). Verhandlungen am 23. März 2018 für zum Beispiel die Arbeitnehmerfreizü- Bereits heute ist die EU durch Vereinbarungen mit Drittstaaten verbunden – allerdings unterschiedlich eng. Keine Optionen für Großbritannien Verbleibende Optionen für Großbritannien – – – – – Norwegen, Island Die Schweiz Die Ukraine Die Türkei Um überhaupt mit Keine und Liechtenstein gehört der hat ein „Assoziati- hat mit der einem Abkommen Vereinbarung halten sich als europäischen onsabkommen” mit Europäischen aus den Verhand- Mitglieder der Freihandels- der Europäischen Union seit lungen herauszuge- europäischen zone an. Union. 1996 eine hen, bliebe Groß- Wirtschaftszone an Zollunion. britannien demnach die Entscheidungen nichts anderes des europäischen übrig, als ein Frei- Gerichtshofs und handelsabkommen die Handelsbe- zu unterzeichnen. stimmungen des So haben es auch Staatenbunds. Südkorea und Kanada gemacht. Quelle: https://www.huffingtonpost.de/entry/brexit-deal-chart_de_5a3a448be4b025f99e136692 9
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit gigkeit beschränkt werden. ⁴ Solches mit dem Vereinigten Königreich werden. Entsprechende Vereinba- „Rosinenpicken“ möchte die EU nicht herbeizuführen hätte den Vorteil, rungen sollten berücksichtigen, dass akzeptieren. Die vier Grundfreiheiten dass keine bilateralen Abkommen das aktuell bestehende Schutzniveau der EU seien unteilbar. Das bedeutet, zwischen dem Vereinigten König- erhalten bleiben muss. eine selektive Beteiligung am Binnen- reich und den EU-Mitgliedstaaten markt lediglich in einzelnen Sektoren, abgeschlossen werden müssten. Der Auch für den Arbeits- und Gesund- z. B. am freien Warenverkehr, aber Abschluss solcher Abkommen würde heitsschutz würde sich eine enge nicht am freien Personenverkehr, ist viel Zeit beanspruchen und insbe- Partnerschaft positiv auswirken. So nicht möglich. sondere für die Sozialversicherung orientieren sich Präventionsmaß- Beratungsaufwand mit sich bringen. nahmen der gesetzlichen Unfall- Nach Ansicht des Europäischen versicherung an den europäischen Rates soll eine künftige Partnerschaft Antworten müssen auch für den Han- Arbeitsschutzregelungen. Wenn das vor allem umfassende Regelungen del von Arzneimitteln, Medizinpro Vereinigte Königreich aus der EU über die Personenfreizügigkeit ent- dukten oder Produkten, die für die austritt, ist es nicht mehr an diese halten einschließlich der damit ver- Sicherheit und Gesundheit der Arbeit- gemeinsamen Arbeitsschutzregelun bundenen Bereiche wie zum Bei- nehmerinnen und Arbeitnehmer wich- gen gebunden, es sei denn, es wer- spiel der Koordinierung der sozialen tig sind, gefunden werden. Gleiches den auch auf diesem Feld besondere Sicherheit. gilt für die gegenseitige Anerkennung Vereinbarungen etwa im Rahmen von Arzneimittelzulassungen. Fehlt eines Freihandels- oder Partner- Einheitliche Regelungen zur Koor- es an entsprechenden Regelungen, schaftsabkommens getroffen. Sollte dinierung der Systeme der sozialen kann die Zulassung oder das Inver- es nicht zu einer Einigung kommen, Sicherheit auf europäischer Ebene kehrbringen von Produkten erschwert könnte ein unterschiedliches Arbeits- schutzniveau die Folge sein, dies wiederum mit Auswirkungen auf ent- sandte Beschäftigte. Entsprechende Hinweise hatte die gesetzliche Sozial- Die vier Grundfreiheiten der versicherung bereits im Rahmen von Europäischen Union Diskussionen zu weiteren Freihan- delsabkommen gegeben. Freier Eine weitere Option wäre, dass das Personenverkehr Vereinigte Königreich nach dem Freier Vorbild der drei EFTA-Staaten Warenverkehr Norwegen, Island und Liechtenstein dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitritt. Dann würden alle vier Grundfreiheiten gelten, auch die EU- Verordnungen zur Koordinierung der sozialen Sicherheit würden Anwen- dung finden. 4 Siehe hierzu das Weißbuch Großbritanniens über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union https://assets.publishing. Freier service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/ Dienstleistungsverkehr attachment_data/file/724982/The_future_relation- Freier ship_between_the_United_Kingdom_and_the_Euro- Kapitalverkehr pean_Union_WEB_VERSION.pdf 10
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit Herausforderungen für die Die Austrittsverhandlungen – eine „Premiere“ Sozialversicherungsträger und politisches Neuland für die EU Für die gesetzliche Renten-, Unfall- und Krankenversicherung wäre die beste Option für die Zukunft eine unveränderte Weitergeltung des EU- Rechts auf unbestimmte Zeit. Unab- hängig davon, welche Lösung am Ende zustande kommt, wäre es wich- tig, sich so nahe wie möglich an dem bisherigen EU-Recht zu orientieren. Viele Fragen können deswegen erst im Zeitverlauf auf der Grundlage noch zu erarbeitender vertraglicher Regelungen beantwortet werden. Wie werden z. B. Renten mit deutschen und britischen und ggf. weiteren Zeiten eines europäischen Mitglied- Für die gesetzliche staats Bestand haben? In welcher Weise werden bereits zurückgelegte Renten-, Unfall und britische Versicherungszeiten künf- tig berücksichtigt? In welcher Weise Krankenversicherung wäre werden Ansprüche und Anwartschaf- ten gewahrt bleiben? Wie werden die beste Option für die Expositionen bei Berufskrankheiten Zukunft eine unveränderte oder Arbeitsunfällen in der Unfallver- sicherung im jeweils anderen Staat Weitergeltung des EU-Rechts berücksichtigt werden? auf unbestimmte Zeit. Andererseits bestehen umfassende Erfahrungen im Umgang mit Sach- verhalten aus den Beziehungen zu Nicht-EU-Staaten, die dann auf das Verhältnis zum Nicht-EU-Staat zum Vereinigten Königreich danach Großbritannien angewendet werden betrifft. Nach der Devise „Nichts können. Für die Einschätzung der ist vereinbart, bis alles vereinbart künftig entstehenden Prozesse und ist“ kann sich im Laufe der Verhand- Strukturen kann man sich somit lungen noch viel ändern. Festhalten an bestehenden Vereinbarungen mit kann man derzeit nur: Bis zum Brexit- anderen Drittstaaten orientieren. Stichtag, dem 29. März 2019, ändert sich für die Sozialversicherungen Der aktuelle Verfahrensstand und die praktisch nichts. voraussichtlichen Folgen des Brexits sind von Unsicherheit geprägt, was Ob eine Übergangsphase vom den Ablauf des Brexits überhaupt und 30. März 2019 bis zum 31. Dezember die Ausgestaltung der Beziehungen 2020 mit der angestrebten weitgehen- 11
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli / August 2018 Brexit den Verlängerung des Status quo kommt, ist unsicher, weil Kontakt die Übergangsphase mit dem Austrittsabkommen insge- samt verbunden ist. Sollte es jedoch dazu kommen, werden Deutsche Sozialversicherung die großen Veränderungen erst im Jahr 2021 eintreten. Europavertretung Ohne weitere Regelung wäre das Vereinigte Königreich, ab- hängig von der Geltung bestehender Sozialversicherungs- Rue d’Arlon 50 abkommen, entweder ein Vertragsstaat oder vertragsloses B-1000 Brüssel Ausland („Drittstaat“). Die Beziehungen können durch Fon: +32 (2) 282 05 50 bilaterale oder multilaterale Vereinbarungen oder durch Fax: +32 (2) 282 04 79 Regularien von Organisationen, in denen gemeinsame Mit- E-Mail: info@dsv-europa.de gliedschaften bestehen (wie z. B. der Welthandelsorganisa- www.dsv-europa.de tion), geregelt werden. Die Diskussionen über solche künf- tigen Beziehungen wurden bereits aufgenommen, jedoch ist der Abschluss eines Abkommens über die künftigen Beziehungen erst möglich, wenn das Vereinigte Königreich Impressum nicht mehr Mitglied der Europäischen Union ist. Verantwortlich für den Inhalt: Ziel der deutschen Sozialversicherung ist es, den für viele Deutsche Sozialversicherung Versicherte mit Unsicherheit verbundenen Brexitprozess Europavertretung im Auftrag durch aktuelle Informationen und praktische Hinweise zu der Spitzenverbände der begleiten. Deutschen Sozialversicherung Direktorin: Ilka Wölfle, LL.M. Redaktion: Ilka Wölfle, LL.M., Die voraussichtlichen Folgen des Brexit Günter Danner, Ph.D., sind von Unsicherheit geprägt Marina Schmidt, MBA, Stefani Wolfgarten, Dr. Wolfgang Schulz-Weidner, Katja Lippock Produktion: Raufeld Medien GmbH Projektleitung: Nina Koch Graphic Designer: Lotte Rosa Buchholz, Juliana Hesse Bildnachweis: Fotolia (Titel, S. 1, 3, 5, 6, 7, 8, 12), European Union, 2018 / Dario Pignatelli (S. 4), Mauro Bottaro (S. 4), Dominik Butzmann (S. 4) 12
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