NACH BILDER - Claudia Merx - Ein künstlerisches Forschungsprojekt zu historischer Weißwäsche
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Claudia Merx NACH 2009 verwendete ich in der Installation „gelebtes Leben – TÜCHER“ erstmals historisches Textilmaterial. Darin verarbeitete ich Mullbinden aus dem Sani- tätsschrank meines Schwiegervaters zu einem schleierartigen Tuch. Seither schenken mir Freundinnen und Kunstinteressierte „Textilien mit Geschichte“: Erb- und Fundstücke, Erinnerungen, die man nicht einfach wegwerfen möchte. Zuerst erhielt ich Kompressionswickel und Verbandsmull, später BILDER Ein künstlerisches Forschungsprojekt zu historischer Weißwäsche Haushaltstextilien wie Betttücher und Servietten, die sogenannte Weißwäsche, aber auch alte Stoffe. Im Vorübergehen entdecken Spaziergängerinnen Wäschestapel beim Blick durch die Fenster in mein Atelier im „Tuchwerk“ in der Aachener Soers und bieten mir weitere Textilien an. Im Laufe der Jahre ist so ein umfangreicher Fundus entstanden. Die Stoff- und Wäschestücke tragen unterschiedliche Spuren von Nutzung und Lagerung. Es sind erste Hinweise, die in meine Arbeit einfließen. Die Informationen der Schenkenden über die Stücke, die sie mir anvertrauen und meine eigene Recherche zur Geschichte der Weißwäsche lassen vor meinem inneren Auge Geschichten entstehen. Sie sind Ausgangspunkt für meinen künstlerischen Denk- und Arbeitsprozess. Es entsteht ein neuer Blick auf die Arbeit der Frauen, die diese Weißwäsche in stundenlanger Arbeit fertigten und pflegten. Ihre Talente und Sehnsüchte werden sichtbar und offenbaren sich.
INHALT 7 Ein künstlerisches Forschungsprojekt Vorwort FORSCHUNGSKONZEPT 11 Konzept 13 Nachbilder 15 Weißwäsche 19 Sammlung KÜNSTLERISCHE DEUTUNGEN UND INTERVENTIONEN 23 Analyse Dokumentation Aneignung 27 Installation Sprengung 29 Objektserie Handtücher 35 Objektserie Franz Knüypkens 45 Objekte Damast 51 Objektpaar Betttuch 56 BIOGRAFIE AUSSTELLUNGEN 58 Impressum
Es ist ein schönes Gefühl, dass die Textilien unserer Ahnen bei Dir so gut Kunstvoll in Rot gestickte Initialen KK zeigen aufgehoben sind! (Pat) auf diesem über 100 Jahre alten Leinenbett- tuch an, wem das Wäschestück gehörte. Pat und Julia fanden bei der Auflösung des Hausstandes ihrer Mutter eine Truhe voller alter Hauswäsche aus den Schränken ihrer Großmutter und Großtante. Einige der Tischdecken, Handtücher (S. 28 ff ) und Servietten (S. 44 ff ) sind mit deren Monogrammen bestickt. Auch die hier zu sehende in Papier eingeschlagene Rolle Nesselstoff, Vorrat für weitere Wäsche, befand sich darunter. Aus diesen inspirierenden Erbstücken durfte ich mir einige Exemplare für meine Arbeit auswählen. Ein wunderbares Geschenk! Ein künstlerisches Forschungsprojekt zu historischer Weißwäsche Vorwort Stapel von alten Textilien sind ein Schatz aus einer anderen Zeit, historische Weißwäsche mit all ihren Gebrauchsspuren kann eine hohe emotionale Bedeutung haben. Die Objekte für dieses künstlerische Forschungsprojekt reichen von Kopf- kissenbezügen aus dem 19. und 20. Jahrhundert über Mulltücher aus dem 1. Weltkrieg bis hin zu häufig gebrauchten Wickeln aus der Nachkriegszeit. Insbesondere die Weißwäsche war früher ein Vermächtnis von Generation zu Generation. Sie wurde von Mutter zu Tochter zu Enkeltochter weitergegeben. In der künstlerischen Auseinandersetzung werden die Wäschestücke unter- sucht und befragt: Wofür sprechen sie? Welche symbolische Bedeutung haben sie über ihren Gebrauchswert hinaus? Was erzählen Flickstellen oder Flecken über ihren Gebrauch? Geheimes und Intimes werden behutsam ans Licht geholt. So entsteht ein künstlerischer Prozess, der Kernfragen des Lebens beleuchtet.
Das Paradies der Damen Émile Zola beschreibt in seinem Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Roman „Das Paradies der Damen“, wie die Verkäuferin Denise staunend die Weißwarenausstellung eines Pariser Kaufhauses entdeckt. „Die Weißwaren zogen vorüber: das Weiß der Baumwolle, Madapolam, ge- köperter Barchent, Piqué, Kattun; das Weiß der duftigen Gewebe, Nainsook, Musselin, Tarlatan; dann folgten die Leinenstoffe, zu riesigen Blöcken aus regelmäßig wechselnden Stücken, die Quadersteinen glichen, aufgebaut, starkes Leinen, feines Leinen, Leinen in allen Breiten, weiß und naturfarben, aus reinem Flachs, auf der Wiese gebleicht; dann fing es wieder von vorn an, Abteilungen für jede Wäscheart folgten einander, Haushaltswäsche, Tischwä- sche, Bedientenwäsche, eine ununterbrochene Lawine von Weiß, Betttücher, Kopfkissenbezüge, unzählige Sorten von Servietten, Tischtüchern, Schürzen und Geschirrtüchern. ... Nachdem sie den Deckenrayon durchschritten hatte, einen mit weißen Bannern beflaggten Saal, kam sie endlich in die Taschentücherabteilung, deren kunstvolle Dekoration die Menge vor Wonne vergehen ließ; da sah man nichts als weiße Säulen, weiße Pyramiden, weiße Schlösser, eine vielgestaltige, ausschließlich aus Taschentüchern errichtete Architektur, Taschentücher aus Linon, aus Cambrai-Batist, irischem Leinen, chinesischer Seide, mit Initialen, mit Federstickerei, Spitzenbesatz, Hohlsäu- men und eingewebten Zierrändern, eine ganze Stadt aus weißen Ziegeln von unendlicher Verschiedenheit, die sich als Fata Morgana von einem bis zur Weißglut erhitzten orientalischen Himmel abhob.“ 16 17 aus: Émile Zola, Das Paradies der Damen, in der Übersetzung von Hilde Westphal, Rütten & Loening, Berlin 1957, S. 530-531, © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG Berlin 1957, 2008 Objektserie Damast Objekt 1, Detail
Einige Objekte überstickte ich mit Netzstrukturen, sie sollen auf die gesell- schaftliche Situation der 20er und 30er Jahre hinweisen. Eine Zeit mit vielen sozialen und moralischen Verwerfungen, in der das wilhelminische Kaiserreich fortlebte und auf neue gesellschaftliche Strömungen traf. Der künstlerische Prozess begann mit dem Abpausen der Spuren aus unter schiedlichen Wäschestücken. Durch Aneignung, neuem Kombinieren, Umformen und Schichten entwickelte ich eine textile Zeichensprache. 36 Objektserie Franz Knüypkens 37 Objekt 2, Detail Objektserie Franz Knüypkens Objekt 1 mit Zeichnungen, rechts
Stopfen, flicken oder umarbeiten: Das scheinbar wertlose Alte bekommt einen neuen, symbolischen, immateriellen Wert. Nicht benutzte Mullkom- Objektpaar Betttuch pressen wirken durch die künstlerische Bearbeitung als wären sie alt und verschlissen. Das alte Laken hingegen erscheint in neuem Glanz - eine Um- kehrung. Die historischen Wäschestücke mit ihren Gebrauchsspuren wecken Respekt vor dem, was einmal war. 50 51 parallelwelten I Detail
Impressum Herausgeberin: Claudia Merx Erschienen im Mai 2021 Texte: Claudia Merx Redaktion: shmedien/Sabine Schleiden-Hecking Fotos: Claudia Merx/VG BildKunst, Bonn, 2021 www.claudiamerx.de Literatur Émile Zola, Das Paradies der Damen, In der Übersetzung von Hilde Westphal, Rütten & Loening, Berlin 1957/© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG Berlin 1957, 2008 Dank und Ausblick Allen, die mir ihre sehr persönlichen, familiären Textilien aus Nachlässen zur 58 Françoise de Bonneville, Weißwäsche, Edles für Tisch und Bett, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 1998 künstlerischen Nutzung überlassen haben, danke ich sehr herzlich - auch für das damit verbundene Vertrauen. In der Zeit der Pandemie widmeten sich viele dem Zuhause, ordneten ihre Gefördert durch das Programm Künstlerstipendium „Auf geht‘s!“ Besitztümer und sortierten aus, was sie nicht brauchen. So kamen im Laufe im Rahmen der NRW-Corona-Hilfen, 2020 des Arbeitsprozesses weitere Textilien in meinen Fundus, darunter fünf histo- rische Leinenhemden, vermutlich aus einem französischen Nonnenkloster, mehr als 100 Jahre alt. Sie sind das künstlerische Ausgangsmaterial für mein zweites NRW-Künstlerstipendium.
NACHBILDER Ein künstlerisches Forschungsprojekt zu historischer Weißwäsche www.claudiamerx.de
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