Nach dem Sturz der Regierung Österreich: ArbeiterInnenmacht

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Nach dem Sturz der Regierung
Kurz     in     Österreich:
Klassenkämpferische
Perspektive!
Michael Märzen, Neue Internationale 2019, Juni 2019

Nach dem
Ibiza-Skandal am 17. Mai ging es sehr schnell – FPÖ-Chef
Heinz-Christian
Strache ist zurückgetreten, die schwarz-blaue Regierung
zerbrochen, der Bundeskanzler
Sebastian Kurz gestürzt. Ein Grund zur Freude, keine Frage,
aber schon mit den
Neuwahlen im September droht die Fortsetzung der
konservativ-rechtspopulistischen             Allianz.   Die
sozialdemokratische Opposition
steckt selbst in der Krise und scheint unfähig, die
Regierungskrise für eine
fortschrittliche Offensive zu nutzen. Was also tun?

Ein Rückblick

Das Ibiza-Video
um Vizekanzler H. C. Strache und FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus
wird als einer
der größten Skandale in die Geschichte der österreichischen
Republik eingehen.
Dort sieht man die beiden, wie sie mit einer angeblichen
Oligarchen-Nichte
korrupte Deals aushandeln. Am brisantesten scheint, wie hier
die verdeckte
Einflussnahme von GroßkapitalistInnen auf die FPÖ beschrieben
wird: in Form von
Großspenden an gemeinnützige Tarnvereine. Mit einer solchen
Indiskretion kann
eine Regierung der herrschenden bürgerlichen Klasse
selbstverständlich nicht
leben. Strache und Gudenus mussten abtreten. Der folgende
Machtkampf um das
FPÖ-geführte Innenministerium kostete nicht nur dem
Innenminister Herbert Kickl
den Kopf, sondern schließlich dem Bundeskanzler selbst, dem
die FPÖ gemeinsam
mit der SPÖ und der Liste Jetzt das Misstrauen aussprach.

Das Video

Am Freitag, den
17.5., veröffentlichten Süddeutsche Zeitung und Spiegel
Videoausschnitte, in
denen der FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Strache sowie der
Klubobmann Gudenus
gegenüber einer vermeintlichen russischen Investorin Einblicke
in die korrupten
Pläne und Spendenkonstruktionen ihrer Partei geben. Konkret
steht der Vorschlag
im Raum, die Frau solle die größte Tageszeitung Österreichs,
die
Kronen-Zeitung, übernehmen, unangenehme JournalistInnen
entlassen und
Wahlkampfhilfe für die FPÖ leisten. Außerdem solle sie über
Tarnvereine Geld an
die Partei spenden, wie das angeblich auch einige
österreichische
KapitalistInnen tun würden. Strache spricht von Beträgen in
der Höhe von
500.000 bis 2 Millionen Euro. Im Gegenzug würde die angebliche
Nichte eines
Oligarchen lukrative Staatsaufträge im Straßenbau erhalten,
die im Moment an
die STRABAG (an der ein Unterstützer der liberalen NEOS, Hans
Peter
Haselsteiner, beteiligt ist) gehen. Auch eine Privatisierung
der
österreichischen Wasserversorgung, gegen die sich die FPÖ
offiziell ausspricht,
wird angeboten.

Zusammengefasst
lassen Strache und Gudenus in dem Ausschnitt die Maske der
„sozialen
Heimatpartei“   fallen   und    sprechen   Klartext   über   ihr
wirtschaftsfreundliches und
klientelpolitisches Programm.

Eine vorsichtige
Bilanz

Eine
tatsächliche Bilanz der Ereignisse ist zum gegenwärtigen
Zeitpunkt, wo sich
Enthüllungen und parlamentarische Manöver halbtäglich ändern,
nur begrenzt
sinnvoll. Einige Aspekte der letzten Tage sind aber von
entscheidender
Bedeutung.

Am
offensichtlichsten ist das politische Problem für die FPÖ,
deren Führungsspitze
zeigt, wie sie Politik für KapitalistInnen auf Kosten der
lohnabhängigen
Bevölkerung macht. Dazu kommen abstoßende Details wie die
geplante
Gleichschaltung der Medienlandschaft und die staatliche
Auftragsvergabe an
politische UnterstützerInnen.

Schwerwiegend
ist sicher, dass Strache ausplaudert, welche KapitalistInnen
den rechten Umbau
der Republik zahlungskräftig unterstützt haben. Mit Heidi
Goess-Horten, René
Benko und dem Glücksspielkonzern Novomatic nennt er hier
SpenderInnen, die eher
als ÖVP-nahe gelten. Diese Indiskretion wird ihn als Person
für wichtige Teile
der herrschenden Klasse untragbar machen (zumindest für einige
Zeit).

Die Reaktion von
Kurz ließ auf sich warten, wohl weil er die Koalition gerne
fortgeführt hätte.
Schließlich kündigten sich Kurz und Kickl die Koalition
gegenseitig und
schrittweise auf. Der Bundeskanzler forderte den Abzug des
FPÖ-Ministers
Herbert Kickl vom Innenministerium, worauf die FPÖ mit ihrem
geschlossen
Rückzug aus der Koalition antwortete. Die ÖVP versucht jetzt,
in die
Wahlkampfoffensive zu gehen, und hebt das „gelungene Projekt“
Schwarz-Blau
hervor. Eine Neuauflage der Koalition, die die restlichen
geplanten Reformen
(Steuersenkungen      für    Reiche,    Zerschlagung      des
Sozialversicherungssystems,
Angriffe auf die ArbeiterInnenkammer) zu Ende führt, ist also
alles andere als
ausgeschlossen.

Regierungssturz und SPÖ-Debakel

Die Frage des
Misstrauensvotums hat die Sozialdemokratie selbst in eine
(kleine) politische
Krise geworfen und sogar links davon Verwirrung gestiftet. Die
SPÖ war und ist
hin und her gerissen zwischen einer Fundamentalopposition zu
Kurz‘ „neuer
Volkspartei“         und      einer        staatstragenden,
sozialpartnerschaftlichen Politik. Aus
der Logik der Fundamentalopposition musste sie den
Bundeskanzler stürzen, aus
der staatstragenden Logik müsste sie ihn stützen. Letztlich
scheint es der
drohende Gesichtsverlust vor der eigenen Parteibasis gewesen
zu sein, der sie
zum Misstrauensantrag bewegte. Doch selbst noch im
Misstrauensantrag hat sie
ihre staatstragende Haltung nicht aufgegeben und ihr
Misstrauen damit
begründet, dass die ÖVP die restlichen Parlamentsparteien in
die Bestellung der
Übergangsregierung nicht genügend einbezogen habe, somit keine
stabilen
Verhältnisse geschaffen hätte.

Daher solle es
eine neue „ExpertInnenregierung“ geben. Diese Argumentation
war selbst für
viele sozialdemokratische WählerInnen nicht nachvollziehbar,
wenngleich hier
eine gewisse opportunistische Angst mitschwang. Natürlich
konnte und sollte die
SPÖ die ÖVP-Übergangsregierung nicht unterstützen. Nicht aber
weil sie nicht
sozialpartnerschaftlich genug agierte, sondern weil sie die
Behüterin der schon
umgesetzten schwarz-blauen    Verschlechterungen    ist.   Diese
Verschlechterungen –
12-Stundentag, Kürzung der Mindestsicherung, Angriff auf die
Sozialversicherung, diverse rassistische Maßnahmen – müssten
jetzt mit der
Krise des schwarz-blauen     Projekts   wieder   zurückgenommen
werden. Der richtige
Weg dafür wäre eine klare klassenkämpferische Offensive unter
Mobilisierung der
ArbeiterInnenklasse. Eine solche Strategie ist aber
unvereinbar mit einer
sozialpartnerschaftlichen       Orientierung     bzw.   einer
Zusammenarbeit von
Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit offen bürgerlichen
Parteien – Stichwort
Rot-Grün-NEOS. Das gilt ebenso für die „ExpertInnenregierung“,
die hinter einer
vorgeblichen unpolitischen Fassade den politischen Status quo
zementiert.
Das Versagen
links der SPÖ

Die sich
überstürzenden und politisch neuen Ereignisse haben offenbar
auch die Kräfte
links der Sozialdemokratie überfordert. Unter dem Motto
„Neuwahlen sind gut,
weil es besser werden könnte“ orientiert sich die KPÖ voll auf
eine linke
Opposition im Parlament. Dass sie diese Opposition nicht
einfach so stellen
wird (siehe EU-Wahlen) und dass die verzweifelte Hoffnung
darauf kein Hebel
ist, um jetzt etwas zu ändern, zeigt ihre Perspektivlosigkeit.

Das andere
Extrem beschwört den Aufbau von unmittelbarem oder
langfristigem Widerstand auf
der Straße und einer neuen revolutionären Kraft (RKOB, RSO,
…). Wenngleich
abstrakt richtig, fehlen hier konkrete Forderungen des
„Widerstands“ (gegen
was?) und konkrete Ansätze zum Aufbau einer revolutionären
Partei. Die
Perspektive wird zur inhaltslosen Formel. Die „Sozialistische
Linkspartei“ gibt
mit der Rücknahme der Verschlechterungen und darüber
hinausgehenden Forderungen
wie Arbeitszeitverkürzung und Mindestsicherung eine
Perspektive für eine
Bewegung, sie lehnt es aber ab, entsprechende Forderungen an
die
Sozialdemokratie zu stellen, denn von der dürfe man sich gar
nichts mehr
erwarten. Damit wird ein wichtiger Ansatz ignoriert, über den
wir die lähmende
Dominanz der SPÖ über die ArbeiterInnenbewegung in Österreich
brechen könnten.
Auch    wird     keine   klare    Opposition      zu   einer
„ExpertInnenregierung“ formuliert.
Der „Funke“ schweigt dazu gänzlich und die SLP streut die
Illusion, dass so
eine Regierung angreifbarer wäre für die Rücknahme von
Verschlechterungen.

Ein Ansatz zur
Offensive

Trotz all dieser
Schwächen wollen wir eine Forderung der SLP aufgreifen,
nämlich die nach einer
Konferenz noch im Juni       für   eine   Kampagne,   die   mit
Offensivforderungen in einem
Aktionstag vor den Wahlen münden soll. Das würde die Klärung
einer
klassenkämpferischen Perspektive ermöglichen, insbesondere die
Frage einer
„linken Kandidatur“ (die uns gegenwärtig unrealistisch
erscheint). Viel
wichtiger wäre dabei, verschiedene soziale Bewegungen
(Donnnerstagsdemos,
Fridays for Future, Gleicher Lohn für gleiche Arbeit), Kräfte
der radikaleren
Linken und linke SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen
in einer
Einheitsfront gegen Schwarz-Blau zu vereinigen.
Wir schlagen
daher allen AktivistInnen vor, eine Einheitsfront um die
folgenden Forderungen
zu bilden, die insbesondere auch an die Sozialdemokratie
gerichtet werden
müssen:

     Offenlegung aller politischen Spenden, um das Ausmaß der
     Klientelpolitik in der kapitalistischen Politik zu
     untersuchen. Ebenso Offenlegung der Geschäftsbücher der
     Konzerne und Banken für VertreterInnen der
     ArbeiterInnenbewegung.
     Rücknahme aller schwarz-blauen unsozialen und
     rassistischen Verschlechterungen – 12-Stunden-Tag,
     Sozialhilfe, Zerschlagung der Kassen, Abschieberegime,
     etc. -, gestützt auf Mobilisierungen auf der Straße und
     gewerkschaftlichen Kampf bis hin zum Generalstreik.
     Statt Steuergeschenken für die Reichen, Vermögenssteuern
     und    Enteignung    zur    Finanzierung          einer
     „sozialstaatlichen“ Offensive.
     Schluss mit der sozialpartnerschaftlichen Anbiederung,
     nein     zu     jeglicher      Unterstützung       der
     „ExpertInnenregierung! Deren Bildung muss durch den
     Aufbau einer klassenkämpferische Opposition und
     Mobilisierungen in den Betrieben und auf der Straße
     beantwortet werden.

Kommunal- und Europawahlen in
Sachsen: Eine letzte Warnung
REVOLUTION Sachsen, Neue Internationale 238, Juni 2019

Am 26. Mai waren auch in
Sachsen rund 3,3 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, nicht
nur für das
EU-Parlament, sondern auch für die Kommunalwahlen ihre Stimmen
abzugeben. Im vorläufigen
Endergebnis wird unmissverständlich deutlich, wovor wir schon
lange warnen: Es
gibt einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Rechtsruck!
Dieser äußert sich
nicht nur im Wahlsieg der RechtspopulistInnen in Ländern wie
Frankreich,
Großbritannien und Italien, sondern schlägt sich auch im
Ergebnis der „Alternative
für Deutschland“ (AfD) nieder und tritt am heftigsten in
Sachsen zum Vorschein:
Die AfD ist in fast allen Landkreisen, in Chemnitz und fast
auch in Dresden als
stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen. Lediglich im
Vogtland und in
Zwickau schaffte es die CDU, den ersten Platz zu verteidigen.
In Leipzig
konnten die Grünen die meisten Stimmen holen. In allen anderen
Städten und
Gemeinden erhielt die AfD die meisten Stimmen und ließ die CDU
erstmals hinter
sich.

Nach dem derzeitigen
Stand kommt die AfD bei der EU-Wahl insgesamt auf 25,3 % der
Stimmen in
Sachsen und konnte somit ihr Ergebnis im Vergleich zu 2014
(10,1 %) mehr
als verdoppeln. Die CDU hingegen hat seit der letzten
Europawahl 11,5 %
einbüßen müssen und kam damit gerade mal auf 23 %. Dahinter
landete DIE
LINKE mit 11,7 % (-6,6 %). Die Grünen kamen auf 8,6 % und die
FDP konnte 4,7 % der Stimmen erreichen. Die SPD wurde
ebenfalls abgestraft
und hat mit aktuell 8,6 % fast die Hälfte ihrer WählerInnen
verloren (2014:
15,6 %). Die Satirepartei „Die Partei“ schaffte es auch in
Sachsen, vor
allem von der Schwäche der Linken zu profitieren, und erzielte
hier
bemerkenswerte 2,9 %.

Falls die AfD es schafft,
ihr derzeitiges Ergebnis zur Landtagswahl im September zu
verteidigen, oder
schlimmstenfalls    sogar   noch   zulegt,   lässt   sich   eine
Regierungsbildung durch CDU
und AfD nicht ausschließen. Um dies zu verhindern, müsste die
CDU gemeinsam mit
den Grünen, der SPD und FDP eine Koalition eingehen, die
jedoch knapp um die
Regierungsmehrheit bangen müsste. Unter Umständen würde
notfalls DIE LINKE für
die    nötige     Mehrheit    sorgen   oder    sogar   eine
Regierungsbeteiligung anbieten, um
sozusagen eine „Demokratische Allianz“ gegen die AfD zu
bilden. Eine solche Koalition
würde zweifellos dem Image der AfD als einziger Anti-
Establishment-Partei in
die Hände spielen und SPD und DIE LINKE durch den Ausverkauf
der eigenen
sozialen Basis schaden. Ob die CDU sich überhaupt darauf
einlassen würde, ist
allerdings ebenfalls fraglich. Es wäre auch denkbar, dass die
CDU ihren
derzeitigen Kurs ändert und sich doch auf Gespräche mit der
AfD einlässt,
welche zusammen eine stabilere Mehrheit im Landtag stellen
könnten als die
erstgenannte Regierungsoption. Die Folgen einer CDU-AfD
Koalition in Sachsen
wären schwerwiegend, gerade für uns Jugendliche und Menschen
mit
Migrationshintergrund. Es ist nicht nur so, dass dann eine
rechtspopulistische,
rassistische Partei mit in der Regierung säße und als stärkste
Kraft womöglich sogar
den Ministerpräsidenten    stellen   würde.   Die   AfD   leugnet
außerdem offen den
Klimawandel, ist gerade in Sachsen eng mit faschistischen
Strukturen und
militanten Neonazis vernetzt. Zudem gilt als Sachsen als einer
ihrer rechtesten
Landesverbände. Neben einer Verschärfung der asylfeindlichen
Politik und einer
zunehmend rassistisch aufgeheizten Stimmung können wir uns im
Falle einer
CDU-AfD Koalition nach den Landtagswahlen auch auf
Sozialkürzungen, den
weiteren Ausbau des Polizei- und Überwachungsstaates, die
zunehmende
Einschränkung von Grundrechten und Kriminalisierung von Linken
und der Fridays-for-Future-Bewegung
einstellen. Mit dem am 1. Januar 2020 in Kraft tretenden neuen
Polizeigesetz
hätte eine solche Regierung auf alle Fälle ein großes
Repertoire an Unterdrückungswerkzeugen
zur Hand. Es ist nicht übertrieben, davor zu warnen, dass
gerade die
klimafeindliche und zu Teilen ultrarechte sächsische AfD
insbesondere
antirassistische AktivistInnen, streikende SchülerInnen und
linke Gruppen mit
harter Repression überziehen würde.

Daher ist es jetzt um so
wichtiger, Widerstand gegen die AfD zu organisieren und eine
antirassistische
und soziale Bewegung gegen den Rechtsruck aufzubauen. Hierbei
könnte die
aktuelle Fridays-for-Future-Bewegung einen wichtigen Beitrag
leisten, indem sie
auch offen gegen Rassismus und die AfD Stellung bezieht. Denn
Umweltschutz
bedeutet Kampf dem Rechtsruck! Deshalb organisieren wir zum
28. Juni einen
antirassistischen Schul- und Unistreik. Unter dem Motto
#FridayAgainstRacism
rufen wir vor allem die SchülerInnen, die sonst freitags gegen
den Klimawandel
auf die Straße    gehen,   aber   auch   die   Studierenden   und
Auszubildenden dazu auf,
an diesem Tag ein deutliches Signal gegen Rassismus,
Neoliberalismus, Sexismus
und eine klimafeindliche Politik zu setzen. Wenn wir, statt im
Unterricht oder
in den Hörsälen zu sitzen, vor der Landtagswahl unsere eigenen
Positionen auf
die Straße tragen, können wir uns als Jugendliche Gehör
verschaffen und ein
deutliches Zeichen gegen den Rechtsruck setzen. Hierzu müssen
wir uns weiter
organisieren und vernetzen! Deshalb schreibt uns an, kommt zu
unseren Treffen,
beteiligt euch an den Vorbereitungen, gründet an euren
Schulen, in den
Betrieben und an den Unis Streikkomitees und lasst uns
unmissverständlich klarmachen,
was wir Jugendlichen für eine Zukunft haben wollen: nämlich
eine lebenswerte
ohne Rassismus, Abschiebungen und Sozialabbau. Eine Zukunft,
in der
NS-Rhetorik, der Klimawandel und ein autoritärer Polizei- und
Überwachungsstaat
der Vergangenheit angehören. Also eine Zukunft ohne
Rechtspopulismus, eine
Zukunft ohne die AfD!

Get organized

     19. Juni, 17.00 Uhr, Dresden im Zentralwerk, Riesaer
     Str. 32, Seminarraum (1. Stock links): Diskussion
     „Umweltzerstörung & Rassismus“/ Streikvorbereitung
     28.   Juni,    12.00   Uhr,    am  Goldenen    Reiter:
     #FridayAgainstRacism – Schulstreik

Nach dem Ibiza-Video: Krise
der Regierung, Aufgaben der
Linken in Österreich
Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1055, 23. Mai 2019
Mit der Veröffentlichung des „Ibiza-Videos“ eine Woche vor
der EU-Wahl ist Österreich in die möglicherweise tiefste
Regierungskrise der
Zweiten Republik gestürzt. Ein nachhaltiges Ende der ÖVP-FPÖ-
Koalition bedeutet
das aber noch nicht, vor allem weil eine durchdachte Strategie
des linken
Widerstands fehlt. RevolutionärInnen und Linke müssen es jetzt
schaffen, den
berechtigten Unmut über die Korruption von Strache und Gudenus
mit einer Kritik
am gesamten korrupten kapitalistischen System und mit einem
Kampf gegen alle
schwarz-blauen Verschlechterungen zu verbinden.

In erster Linie ist in diesem Skandal die Korruption der FPÖ
offensichtlich geworden, ihre klare Parteinahme für die
reichsten KapitalistInnen,
von der die Linke seit Jahren schreibt und spricht. Aber auch
der korrupte
Charakter des ganzen politischen und wirtschaftlichen Systems
ist hier
aufgeblitzt. Steuersenkungen für Spendengelder, für mediale
Unterstützung, arbeiterInnenfeindliche
Reformen, Skandale um Bauaufträge, Inserataffären und so
weiter – all das
betrifft nicht nur die FPÖ, sondern alle bürgerlichen
Parteien. Darin zeigt
sich, dass nicht jede Stimme in der kapitalistischen
Demokratie gleich viel
wert ist. Diese Erkenntnis kann der Ansatzpunkt sein, um für
eine
sozialistische Alternative zu kämpfen. Bis dahin ist es aber
ein weiter Weg,
den die GegnerInnen der schwarz-blauen Machenschaften nur
durch scharfe Analyse
und klassenkämpferische Strategie finden können.

Das Video

Am Freitag, den 17.5. veröffentlichten Süddeutsche Zeitung
und Spiegel Videoausschnitte, in denen der FPÖ-Parteiobmann
und Vizekanzler
Strache sowie der Klubobmann       Gudenus   gegenüber     einer
vermeintlichen russischen
Investorin Einblicke in         die   korrupten    Pläne     und
Spendenkonstruktionen ihrer
Partei geben. Konkret steht der Vorschlag im Raum, die Frau
solle die größte
Tageszeitung Österreichs, die Kronen-Zeitung, übernehmen,
unangenehme
JournalistInnen entlassen und Wahlkampfhilfe für die FPÖ
leisten. Außerdem
solle sie über Tarnvereine Geld an die Partei spenden, wie das
angeblich auch
einige österreichische KapitalistInnen tun würden. Strache
spricht von Beträgen
in der Höhe von 500.000 bis 2 Millionen Euro. Im Gegenzug
würde die angebliche
Nichte eines Oligarchen lukrative Staatsaufträge im Straßenbau
erhalten, die im
Moment an die STRABAG (an der ein Unterstützer der liberalen
NEOS, Hans Peter
Haselsteiner beteiligt ist) gehen. Auch eine Privatisierung
der
österreichischen Wasserversorgung, gegen die sich die FPÖ
offiziell ausspricht,
wird angeboten.
Zusammengefasst lassen Strache und Gudenus in dem Ausschnitt
die Maske der „sozialen Heimatpartei“ fallen und sprechen
Klartext über ihr
wirtschaftsfreundliches und klientelpolitisches Programm.

Eine vorsichtige Bilanz

Eine tatsächliche Bilanz der Ereignisse ist zum
gegenwärtigen Zeitpunkt, wo sich Enthüllungen             und
parlamentarische Manöver
halbtäglich ändern, nur begrenzt sinnvoll. Einige Aspekte der
letzten Tage sind
aber von entscheidender Bedeutung.

Am offensichtlichsten ist das politische Problem für die
FPÖ, deren Führungsspitze zeigt, wie sie Politik für
KapitalistInnen auf Kosten
der lohnabhängigen Bevölkerung macht. Dazu kommen abstoßende
Details wie die
geplante Gleichschaltung der Medienlandschaft und die
staatliche
Auftragsvergabe an politische UnterstützerInnen.

Schwerwiegend ist sicher, dass Strache ausplaudert, welche
KapitalistInnen den rechten Umbau der Republik zahlungskräftig
unterstützt
haben. Mit Heidi Goess-Horten, René Benko und dem
Glücksspielkonzern Novomatic
nennt er hier SpenderInnen, die eher als ÖVP-nahe gelten.
Diese Indiskretion
wird ihn als Person für wichtige Teile der herrschenden Klasse
untragbar machen
(zumindest für einige Zeit).

Die Reaktion von Kurz ließ auf sich warten, wohl weil er die
Koalition gerne fortgeführt hätte. Schließlich kündigten sich
Kurz und Kickl
die Koalition gegenseitig und schrittweise auf. Der
Bundeskanzler forderte den
Abzug des FPÖ-Ministers Herbert Kickl vom Innenministerium,
worauf die FPÖ mit
ihrem geschlossen Rückzug aus der Koalition antwortete. Die
ÖVP versucht jetzt,
in die Wahlkampfoffensive zu gehen, und hebt das „gelungene
Projekt“ Schwarz-Blau
hervor. Eine Neuauflage der Koalition, die die restlichen
geplanten Reformen
(Steuersenkungen      für      Reiche,   Zerschlagung    des
Sozialversicherungssystems,
Angriffe auf die ArbeiterInnenkammer) zu Ende führt, ist also
alles andere als
ausgeschlossen.

Mit dieser Inszenierung versucht Kurz, von den Parallelen
des Ibiza-Videos zu seiner eigenen Politik abzulenken. Bisher
hat sich ein
ÖVP-Unterstützer (René Benko) und keine FPÖ-nahe Oligarchin
bei der Kronenzeitung
eingekauft. Großspenden aus Industrie, Hotellerie und
Baubranche gingen an die
Volkspartei, und die politischen Gefälligkeiten (60-Stunden-
Woche,
12-Stunden-Tag, niedrigere Strafen für Sozialdumping) wurden
von Kurz als seine
Errungenschaften verkauft.
Weder die NEOS, die bei diesen politischen Verbrechen ohne
Not mit der Regierung mitgestimmt hat, noch die SPÖ scheinen
dem Gedanken
abgeneigt, die Steigbügelhalterin für die nächste Regierung zu
spielen. Beide
Parteien rufen zur Stabilität (also der Stabilisierung von
Kurz) auf, während
sie sich gleichzeitig einen Misstrauensantrag offen halten.
Dieser würde zum
Abtritt des Bundeskanzlers und zu einer Regierungsneubildung
führen.

Die zögerliche Haltung der SPÖ zeigt ihr politisches
KompromisslerInnentum.       Statt   sich   der   politischen
Auseinandersetzung mit der
ÖVP-Regierung zu stellen,      wird   die   Debatte   künstlich
entpolitisiert. Statt die
brutale Durchsetzung österreichischer Kapitalinteressen gegen
die ArbeiterInnen
und gegen Geflüchtete anzugreifen, stellt die SPÖ-Vorsitzende
Rendi-Wagner eine
technokratische     „ExpertInnenregierung“      in    Aussicht.
Gleichzeitig weigert sich
die SPÖ-Spitze, sich offen für einen Misstrauensantrag gegen
Kurz
auszusprechen. Damit will sie sich „staatstragend“ die Option
offen halten,
nach den Wahlen als Juniorpartnerin in eine Koalition mit der
ÖVP zu gehen!

Jede Duldung einer ÖVP-Regierung und insbesondere die
undemokratische      Scharade     einer    technokratischen
ExpertInnenregierung muss klar
zurückgewiesen werden. Die SPÖ muss den schwarz-blauen Kanzler
mit einem Misstrauensvotum
zu Fall bringen!

Perspektive Neuwahlen

Für die Euphorie nach dem Rückzug Straches bleibt kein
nachhaltiger Anlass. Die rechte Mehrheit in Österreich ist
nicht gebrochen, vor
allem ein Absturz der ÖVP noch lange nicht erreicht, und
willige SteigbügelhalterInnen
für eine Kanzlerschaft von Kurz finden sich anscheinend in
drei Parteien (FPÖ,
SPÖ und NEOS). Eine große Koalition wird die bestehenden
Verschlechterungen
nicht zurücknehmen, sondern unter dem Vorwand der Abschwächung
der schlimmsten
Maßnahmen sogar vertiefen.

Die politische Krise ist auch eine der bestehenden
parlamentarischen Kräfteverhältnisse. Zu den strategischen
Aufgaben gehört es
jetzt auch, die richtige Antwort in Bezug auf die Neuwahlen zu
geben. Denn
diese werden von vielen WählerInnen als zentral für die Lösung
des
gegenwärtigen Chaos angesehen. Eine erfolgreiche Kandidatur
links der SPÖ ist
hier unwahrscheinlich. Entsprechende Kräfte sind wenig
verankert und könnten
allerhöchstens mit schwammigen links-sozialdemokratischen
Konzepten (siehe KPÖ
PLUS) einen PR-Erfolg im Wahlkampf erzielen.
Unabhängig davon besteht die zentrale Aufgabe der Kräfte
links der SPÖ darin, die Spaltung in der Sozialdemokratie
zwischen der
kuschenden Führung und den zunehmend unzufriedenen
Basismitgliedern
voranzutreiben. Konkrete klassenkämpferische Forderungen in
den Wahlkampf der
Sozialdemokratie zu tragen und den Konflikt dort zuzuspitzen,
woran sich noch
immer die meisten fortschrittlichen österreichischen
ArbeiterInnen orientieren,
wird entscheidend für den Weg zu einer revolutionären
Verankerung sein.

Aufgaben   der           außerparlamentarischen
Opposition

Die Regierungskrise ist weder vom linken Widerstand auf der
Straße noch von parlamentarischer Opposition oder
parteipolitischer
Aufdeckungsarbeit herbeigeführt worden. Das ist aus zwei
Gründen wichtig für
die aktuelle Situation. Erstens ist nicht gegeben, dass der
berechtigte Unmut
in Unterstützung für die Oppositionsparteien oder Ablehnung
der schwarz-blauen
Politik umschlägt. Zweitens hat sich auch nicht die Stärke der
Linken über
Nacht verbessert. Die gegenwärtige Krise in eine Offensive
gegen die
politischen Verschlechterungen der letzten Jahre zu
verwandeln, wird sehr
schwierig, aber möglich sein.
Ein zentrales Problem hier ist der Wahlkampfmodus, in dem
die SPÖ angesichts der EU-Parlamentswahlen bereits steckt.
Selbst angesichts
himmelschreiender Widersprüche wirkt der Ruf nach Einigkeit im
Wahlkampf
traditionell als verlässliches Beruhigungsmittel auf linke und
widerständige
Teile der SPÖ. Eine politische Wende kann nur gelingen, wenn
sich eine starke
Bewegung „Klassenkampf statt SozialpartnerInnenschaft“ auf die
Fahnen schreibt.
Gleichzeitig       müssen      AntikapitalistInnen         und
außerparlamentarische Linke es
schaffen, ein Bündnis mit den fortschrittlichen und
kämpferischen Teilen in
Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf die Beine zu stellen.
Einen zahnlosen
Wahlkampf und die Rolle als Erfüllungsgehilfin wollen sich
auch viele rote
AktivistInnen nicht antun lassen.

Das gemeinsame Anpacken von DonnerstagsdemonstrantInnen von
SozialdemokratInnen und außerparlamentarischen Linken bei der
Kundgebung am
Ballhausplatz ist ein positiver Ansatz in diese Richtung.

Klassenkämpferische Strategie

Wir schlagen daher allen AktivistInnen, die gegen
schwarz-blau und große Koalition von links ankämpfen wollen,
vor, eine
Einheitsfront um die folgenden Forderungen zu bilden, die
insbesondere an die
Sozialdemokratie gerichtet werden müssen:

     Offenlegung aller politischen Spenden, um das Ausmaß der
     Klientelpolitik in der kapitalistischen Politik zu
     untersuchen. Ebenso Offenlegung der Geschäftsbücher der
     Konzerne und Banken für VertreterInnen der
     ArbeiterInnenbewegung.

     Rücknahme aller schwarz-blauen unsozialen und
     rassistischen Verschlechterungen – 12-Stunden-Tag,
     Sozialhilfe, Zerschlagung der Kassen, Abschieberegime,
     etc. – gestützt auf Mobilisierungen auf der Straße und
     gewerkschaftlichen Kampf, bis hin zum Generalstreik.
     Statt Steuergeschenke für die Reichen, Vermögenssteuern
     und    Enteignung      zur     Finanzierung      einer
     „sozialstaatlichen“ Offensive.

     Nieder mit der ÖVP-geführten Übergangsregierung! Die SPÖ
     darf die schwarz-blaue Politik nicht weiter tolerieren.
     Kritische Unterstützung für eine sozialdemokratische
     Minderheitsregierung, die sich die Rücknahme der
     arbeiterInnenfeindlichen und rassistischen Gesetze zur
     Aufgabe macht und der ArbeiterInnenbewegung die
     Untersuchung der korrupten Machenschaften ermöglicht.

     Schluss mit der sozialpartnerschaftlichen Anbiederung,
     nein zu jeglicher Regierung der Sozialdemokratie
     gemeinsam mit FPÖ oder ÖVP! Eine Neuauflage von Schwarz-
     Blau muss durch eine klassenkämpferische Opposition
     beantwortet werden.
Die Europawahlen                            und       die
Krise der EU
Martin Suchanek, Neue Internationale 237, Mai 2019

Zwei Jahrzehnte
nach der Tagung ihrer Staats- und RegierungschefInnen in
Lissabon im März 2000
ist die Europäische Union zum „schwächsten Glied“ unter den
Großmächten in der
imperialistischen Weltordnung geworden. Tatsächlich wäre
Unordnung ein besserer
Begriff für eine Welt rivalisierender Mächte mit deren
Handels- und anderen
Kriegen sowie ihrer Weigerung, etwas Ernstes gegen
Klimakatastrophe und globale
Konflikte zu tun. Und innerhalb der Union sind offene Kämpfe
um die Art und
Zukunft der Vereinigung ausgebrochen (Brexit).

Euro-Einführung

Mit der
Einführung des Euro um die Jahrhundertwende und dem Lissabon-
Vertrag im Jahr
2009 sollte der größte Wirtschaftsraum der Welt zu einem
gemeinsamen europäischen
Kapitalblock werden. Das würde nichts Geringeres bedeuten als
die politische
und militärische Vereinigung des Kontinents unter deutscher
und französischer
Herrschaft. Seine führenden PolitikerInnen erklärten, wenn
auch vorsichtig,
dass sie zu den USA aufschließen und ihre Rolle weltweit in
Frage stellen
wollten.

Seit der großen
Krise sind EU und Euro-Zone trotz Austeritätspolitik, trotz
Versuchen der
wirtschaftlichen Vereinheitlichung weiter hinter den USA und
China
zurückgeblieben.

Das 21.
Jahrhundert hat die tiefen Widersprüche, die das „europäische
Projekt“ von
Anfang an prägten, an die Oberfläche befördert. Millionen von
ArbeiterInnen,
Bauern/BäuerInnen und sogar große Teile der „Mittelschicht“
wurden von der
Politik der Europäischen Kommission, der EZB, der Staats- und
RegierungschefInnen und der SchlüsselministerInnen der
europäischen Großmächte
enttäuscht.

Um die
Jahrhundertwende galt die neoliberale Politik als untrennbarer
Bestandteil
dieser vermeintlichen neuen Weltordnung. Die Europäische Union
erlebte eine
Hinwendung zu dem, was bisher als „angelsächsisches“ Modell
galt, den „Reformen
des freien Marktes“. Für Millionen wurden die alten
Versprechungen eines
„sozialeren Europas“, „wohlhabender“, „demokratischer“ und
„humanitärer“ als dreiste Lügen offenbart.

Seit der Agenda
von Lissabon

Die
Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren Schwerpunkten Sparsamkeit,
„Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit markierte auch
eine Ablehnung von
„Sozialstaat“ und   Keynesianismus   durch   die   europäischen
Bourgeoisien. Die
konservativen   Parteien   sowie     Labour-Parteien       und
Sozialdemokratie passten sich
dem Neoliberalismus an. Ohne Blairs „Dritten Weg“ oder
Schröders „Neue Mitte“
wäre die Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich
gewesen oder
zumindest auf viel mehr Widerstand gestoßen.

Die führenden
Mächte und die EU-Kommission haben nicht nur die Lissabon-
Agenda durchgesetzt,
sondern zielten auch auf eine neoliberale Verfassung der
Europäischen Union ab.
Diese wurde jedoch in Volksabstimmungen in Frankreich und den
Niederlanden
abgelehnt.
Die Antwort der
europäischen Regierungen und Institutionen war jedoch
lehrreich. Dem massiven
Widerstand und der Ablehnung der Verfassung wurde durch ihre
Einführung als
„Vertrag“ gegen den Willen des Volkes begegnet.

Dies machte Millionen
das „demokratische“ Defizit der EU ebenso deutlich wie
„soziale“, ökologische
und viele andere Mängel, die hinter diesem Manko an
europäischer Demokratie
stehen. Es unterstrich, dass die herrschenden Klassen den
europäischen
Kontinent nicht auf demokratische,      geschweige   denn   auf
„soziale“ Weise vereinen
können und werden, stattdessen den „Willen des Volkes“ völlig
ignorieren.

Das Gleiche gilt
umso mehr für      die   Bereiche   Finanzen,   Außenpolitik,
Interventionen und Kriege.
Die europäischen Regierungen haben „ihre“ Bevölkerung nie
gefragt, ob sie
Syrien oder Libyen bombardieren oder den Irak besetzen, ob sie
in Mali oder
anderen afrikanischen Staaten intervenieren oder ob sie sich
in der Ukraine
einmischen sollen. Sie haben auch nicht „ihre“ Völker
konsultiert, ob sie neue
europäische Militärverträge abschließen, die Osterweiterung
der NATO
unterstützen und Truppeneinsätze an den Grenzen Russlands
durchführen und einen
neuen Kalten Krieg beginnen sollen.
Das letzte
Jahrzehnt hat jedoch gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten und
Herausforderungen
die EU konfrontiert ist.

Globale
Konkurrenz

Wirtschaftlich
fiel sie weit hinter die USA und China zurück. Nach der großen
Rezession haben
Deutschland und andere wettbewerbsfähigere Länder die Kosten
der Krise auf die
schwächeren europäischen Volkswirtschaften abgewälzt. Die
Institutionen der
Eurozone haben im Namen der Haushaltsdisziplin weite Teile
Südeuropas mutwillig
verarmt. Sie haben Griechenland und anderen Staaten brutale
Sparpolitik
auferlegt und damit noch anfälliger für die Verheerungen einer
neuen globalen
Rezession gemacht. Aber Deutschland und Frankreich zahlten
dafür einen hohen
Preis – die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone nahmen
stark zu.

Militärisch und
geopolitisch bleibt die EU im Vergleich zu den USA, Russland
oder China ein
Zwerg. Die Versuche der europäischen Mächte, dies zu
überwinden, sind alle
halbherzig und spiegeln oft eher ihre inneren Spannungen als
eine klare Politik
wider. Während die EU versuchte, eine Schlüsselrolle bei dem
Regimewechsel in
der Ukraine zu spielen, konnte sie nicht verhindern, dass die
USA sie in einen
neuen Kalten Krieg manövrierten und damit die Pläne
Deutschlands für engere
Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und darüber hinaus zu China
zunichtemachten.
Putin begann, unangenehme EU-Regierungen wie Ungarn und
rechtsextreme
populistische Bewegungen auf dem ganzen Kontinent zu
unterstützen. Gleichzeitig
hat die aggressive „America First“-Politik der Trump-
Administration nicht nur
die Spannungen zwischen der EU und den USA in Bezug auf
Handels-, Militär- und
internationale Politik verschärft, sondern auch innerhalb der
EU und sogar
innerhalb der herrschenden Klassen der Großmächte.

Die EU wird so
auch zu einem potenziellen       Schlachtfeld,   auf   dem   ihre
RivalInnen um politischen
und militärischen Einfluss kämpfen. Italien unter seiner
rechtspopulistischen
Regierung hat gegen Macron in die inneren Angelegenheiten
Frankreichs
eingegriffen und ein Abkommen mit China geschlossen, dessen
Projekt der „neuen
Seidenstraße“ von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf
abgelehnt wird.

Die so genannte
Flüchtlingskrise   hat   die   Spannungen   weiter   verschärft.
Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit sind zu einem echten Mittel geworden, um
Massen von
desillusionierten kleinbürgerlichen Schichten oder sogar
rückständigen Teilen
der Arbeiterklasse zu sammeln, die verarmt wurden oder es
befürchten. Der
Aufstieg des Nationalismus und der Anti-EU-Sektionen der
Bourgeoisie und der
Kleinbourgeoisie spiegelt die wachsenden Spannungen und
inneren Widersprüche
wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer
noch eine
Föderation von Nationalstaaten mit ihren konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder,
dass dies zur   Entstehung   von   rechtspopulistischen       und
rassistischen, gegen die EU
gerichteten Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat,
die versuchen, sich
als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten Union zu
präsentieren, die im    Begriff    ist   zu   scheitern.   Sobald
kleinbürgerliche Kräfte
in die Szene eintreten, kann und wird diese Krise irrationale
Formen annehmen –
die extremsten wahrscheinlich in Großbritannien -, wo das
ganze Land mit
einem Brexit festsitzt, den die
Mehrheit der Bevölkerung und der beiden Hauptklassen
eigentlich nicht will.
Schicksalswahl?

Vor diesem
Hintergrund erscheint die Europawahl vom 23.-26. Mai als eine
weitere
Schicksalswahl. Dabei wird die Zukunft der EU sicherlich nicht
dort entschieden
– schließlich befinden sich die Machtzentralen der Union nicht
im
Europaparlament und selbst nicht in der EU-Kommission, sondern
in Berlin und
Paris.

Aber diese
Zentralen schwächeln – nicht zuletzt aufgrund der inneren
Widersprüche in ihren
Ländern,    aufgrund   einer      fehlenden     gemeinsamen
„Europastrategie“, was eine
Verschärfung der Konflikte, Gegensätze, ja ein Zerfallen der
EU und selbst der
Euro-Zone entlang nationaler Interessen wahrscheinlich macht.
Die europäischen
Bourgeoisien können offenkundig Europa nicht einigen, selbst
wenn die
Wirtschaft, der Austausch zwischen den Menschen längst über
die Nationalstaaten
hinausdrängen.

Auch wenn es im
eigentlichen Sinn keine europäischen Parteien gibt, so
zeichnet sich doch eine
klare Polarisierung bei den Wahlen ab und eine deutliche
Verschiebung nach
rechts.

Die europäischen
rechts-populistischen Parteien werden mit Sicherheit einen
deutlich größeren
Block darstellen. Dabei zeichnet sich eine Umgruppierung bzw.
Vereinigung der
Rechten um „Europa der Nationen und Freiheit“ (ENF) mit
„Europa der Freiheit
und der direkten Demokratie“ (EFFD) und „Europäischen
Konservativen und
Reformern“ (EKR) ab, was einer Verbindung von französischem
„Rassemblement
National“ (RN), italienischer Lega, der FPÖ, der AfD, der
dänischen Volkspartei
und der „Wahren Finnen“ gleichkäme.

ENF umwirbt
außerdem die    ungarische    Fidesz,   die   noch   noch   der
„Europäischen Volkspartei“
(EVP) angehört, und die polnische PiS. Die Stärkung der ENF
als
Gravitionszentrum des Rechtspopulismus wird außerdem durch den
wahrscheinlichen
Austritt Britanniens aus der EU verstärkt, da die beiden
konkurrierenden
rechten Fraktionen (EFFD, EKR) mit den UKIP und Tories ihre
mandatsstärksten
Parteien verlieren würden.

Gegen die
Rechten treten gleich drei Fraktionen/Parteienbündnisse der
„bürgerlichen
Mitte“ an.
Die größte
Fraktion des EU-Parlaments dürfte wieder die EVP werden. Ihr
Erfolg gilt als
ziemlich sicher – zugleich wird sie jedoch Stimmen und Mandate
verlieren.
Wahlprognosen vom April gehen davon aus, dass sie künftig 176
Mandate erhalten
würde (bisher 217), bei einer Wahl in Britannien sogar nur
165.

Aber die
vereinigten rechten und rechtspopulistischen Parteien werden
insgesamt etwa
gleich stark wie die EVP, bei einer Wahl in Britannien
womöglich sogar stärker.

Neben der
Volkspartei treten mit     der   „Allianz   der   Liberalen   und
Demokraten für Europa“
(ALDE), der neben FPD und „Freien Wählern“ auch Macrons „La
République en
Marche“ angehört, und den „Die Grünen/Europäische Freie
Allianz“ (DG/EFA) zwei
weitere Fraktionen der bürgerlichen „Mitte“ an. Beide gerieren
sich
pro-europäisch und reden einem „demokratisch“ bemäntelten
imperialistischen
Europa das Wort, einmal in seiner offen neo-liberalen
Variante, das andere Mal
mit einem „Green New Deal“.

So werden die
Europawahlen vordergründig zu einem Kampf zwischen „pro-
europäischen“ und
nationalistischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien,
zwischen Pest
und Cholera.

Die
ArbeiterInnenbewegung?

Das liegt jedoch
auch daran, dass die Parteien der ArbeiterInnenbewegung und
der Linken selbst
wenig mehr als Anhängsel dieser beiden Lager bilden.

Die Europäische
Sozialdemokratie tourt weiter mit ihren Versprechungen von
einem „sozialen
Europa“. Nur glauben immer weniger daran. Sie führt ihren
Wahlkampf erst gar
nicht mit dem Ziel, die Politik der EU zu bestimmen, sondern
als
Koalitionspartnerin der „pro-europäischen“ offen bürgerlichen
Parteien zu
fungieren. Auch wenn niemand eine „Große Koalition“ in Europa
wollen sollte, so
steht die Sozialdemokratie dafür schon mal in den
Startlöchern. Dass sie dabei
für jede Schweinerei zu haben ist, dass ihre „sozialen“
Versprechungen auf
europäischer Ebene noch wertloser als im nationalen Maßstab
sind, hat sie
hinlänglich bei der Erpressung Griechenlands bewiesen.

Doch auch die
europäischen „Linksparteien“ vermögen keine Alternative zu
präsentieren. Im
Gegenteil. Während sich die europäische Sozialdemokratie fest
dem
„pro-europäischen“ Flügel der Bourgeoisie anschließt, hadern
sie bezüglich
ihrer Europastrategie. Ein Teil versucht es mit der Neuauflage
eines
„europäischen Reformprogramms“, das eine reformistische
Reformstrategie für die
EU vertritt. Da sich dafür keine Bündnispartnerin (offen
bürgerlich oder Labour
bzw. Sozialdemokratie) anbietet, kann sich dieser Flügel noch
vergleichsweise
„internationalistisch“ und kämpferisch geben und stellt sich
zumindest in
Worten der Wende zum Nationalismus in vielen Ländern entgegen.

Der andere
Flügel der europäischen Linken setzt hingegen auf eine
Hinwendung zu nationaler
Politik, auf den Austritt aus der EU, eine Abkehr von
„Klassenfixierung“ hin zu
einer linkspopulistischen Politik. Hierfür stehen Kräfte wie
„La France
insoumise“ oder „Aufstehen“ in Deutschland, die selbst – bei
aller berechtigter
Kritik an den utopischen Seiten des „pro-europäischen“
Reformismus – auf
nationale Anpassung setzen und die reformistischen
bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
durch linke „Volksparteien“, also klassenübergreifende
Organisationen, ersetzen
wollen.
Diese
grundlegende Kritik bedeutet jedoch nicht, dass wir den Wahlen
zur EU einfach
den Rücken kehren dürfen. Ein Wahlsieg der Rechten, eine
Stärkung der
verschiedenen offen bürgerlichen Fraktionen wird auch das
Kräfteverhältnis
ungünstiger gestalten. Wo reformistische Parteien eine
bedeutende Verankerung
in der Klasse haben und Illusionen der Lohnabhängigen auf sich
ziehen, sollten
sie daher kritisch unterstützt werden (wie z. B. Labour in
Britannien), ohne
die Kritik an ihrem Programm und ihrer reformistischen, d. h.
letztlich
bürgerlichen Ausrichtung zu verschweigen. In Deutschland rufen
wir zu einer
kritischen Unterstützung der Linkspartei auf – trotz ihres
reformistischen
Programms und ihrer Illusionen in eine Reformierbarkeit nicht
nur der EU,
sondern auch des Kapitalismus. Unseren Aufruf verbinden wir
mit der Forderung
an die Linkspartei, sich aktiv am           Widerstand    und
Mobilisierungen gegen die laufenden
und kommenden Angriffe zu beteiligen und die Organisierung
einer europaweiten
Aktionskonferenz des Widerstandes aktiv zu unterstützen, die
an die besten
Seiten der europäischen Sozialforen anknüpft.

Alternative

Dabei gibt es
trotz des Aufstiegs der extremen Rechten keinen Mangel an
Kämpfen. Die
existenzielle Krise in der EU, der Ansturm auf die
demokratischen Rechte in den
Mitgliedsstaaten, hat ArbeiterInnen, Jugendliche und
unterdrückte Minderheiten
immer wieder zu Hunderttausenden, ja Millionen auf die Straße
getrieben. Die
nächste      Rezession    und    die    Verschärfung      der
interimperialistischen Rivalität
sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht
werden dies noch
verstärken.

Dies ist keine
Zeit, in der der Kapitalismus große Reformen zulassen kann,
außer beim Ausbruch
großer Klassenkämpfe, die zu eine revolutionären Zuspitzung
führen könnten. Die
derzeitigen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen
Parteien – rechten
wie linken – sowie der „linken“ PopulistInnen haben zweifellos
ihre
Unfähigkeit bewiesen, dieser Herausforderung zu begegnen. Es
bedarf vielmehr
einer europaweiten revolutionären Alternative, neuer
revolutionärer Parteien,
die in einer Internationalen vereint sind. Natürlich kann ein
solcher Prozess
nicht ohne das Bestreben stattfinden, die antikapitalistischen
und
internationalistischen     AktivistInnen    der   bestehenden
reformistischen Parteien
zu gewinnen. Eine solche Partei braucht jedoch Einheit im
Handeln und damit ein
Aktionsprogramm, das diese Kämpfe mit dem Kampf für die
Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa verbindet.

Genau diese
grundlegende Alternative zur imperialistischen Vereinigung wie
zur
nationalistischen       Abschottung     fehlt    jedoch    der
ArbeiterInnenklasse wie auch der
“radikalen” Linken. Ohne ein solches Programm, ohne eine
solche Perspektive
erweist sie sich regelmäßig als unfähig zur Lösung aller
großen Probleme des
Kontinents, verurteilt sich selbst zu Ohnmacht oder
Nachtrabpolitik hinter
einen Flügeln der herrschenden Klasse.

Die Losung der
„Vereinigten Sozialistischen    Staaten   von   Europa“,   eines
Europas auf der Basis
demokratischer Planung und von ArbeiterInnenregierung, stellt
daher in der
aktuellen Krise keine „abstrakte“ oder ferne Zukunftsvision
dar, sondern die
einzige realistische Alternative zu        Nationalismus    und
Imperialismus – mag sie
auch noch so schwer zu erkämpfen sein.
Ukraine        nach      den
Präsidentschaftswahlen: Land
vor dem Abgrund
Paul Neumann, Neue Internationale 237, Mai 2019

Präsident Poroschenko hat
auch die Stichwahl am 22. April 2019 haushoch verloren. Es
erging ihm wie allen
„HoffnungsträgerInnen“       des   Westens   vor   ihm   seit   der
Unabhängigkeit 1991. Mit
fast 74 % der Stimmen siegte Wolodymyr Selenskyj, der
„Comedian“, der in einer
TV-Serie den wackeren Präsidenten im Kampf gegen die um sich
greifende
Korruption im Lande spielt. Das Wahlergebnis spiegelt vor
allem die
Enttäuschung aller Schichten der ukrainischen Gesellschaft
über die
wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung im Land
wider.

Poroschenkos Niedergang

Die Wahl Poroschenkos 2014
war die Folge des Putsches vom 22. Februar 2014 unter Führung
der ultrarechten
Maidan-Bewegung, gestützt von den USA und der EU, gegen den
damaligen
Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch. Dieser hatte sich
geweigert, ein bereits
ausgehandeltes Kooperationsabkommen mit der EU zu
unterschreiben. Getragen
wurde die anschließende Wahl Poroschenkos von der
nationalistischen Euphorie
der Maidan-Bewegung, die eine rosige Perspektive für die
Ukraine im Bündnis mit
den USA und der EU versprach.

Davon sind heute nur die
versteinerte Spaltung des Landes und ein perspektivloser Krieg
im Osten der
Ukraine übrig geblieben. Poroschenko war nicht in der Lage,
auch nur eines der
Probleme zu lösen, die durch die nationalistische Maidan-
Bewegung und den
umfassenden Zugriff des Westens auf das Land erst geschaffen
oder verschärft
wurden. Weder konnte er die Spaltung des Landes überwinden
noch eine neue
ökonomische Perspektive für      die   Ukraine   schaffen.   Im
Gegenteil, das Land sitzt
heute fest im Würgegriff der Staatsverschuldung von westlichen
Staaten und IWF,
die der Ukraine den Stellvertreterkrieg gegen Russland auf
Kredit finanzieren
und als GläubigerInnen die Bedingungen diktieren.

Ökonomischer Niedergang

Die Illusionen in den
Westen, der wirtschaftliche Prosperität und eine „anständige“
Demokratie
versprach, sind ersatzlos geplatzt. Das BIP von 2017 (112,5
Mrd. USD) liegt
deutlich unter dem von 2014 (133,5 Mrd. USD). Trotz der
Umstellung
industrieller Normen weg vom russischen zum europäischen
System sind
Investitionen weitgehend ausgeblieben, während ökonomische
Verbindungen zum
russischen Markt politisch zerstört wurden, mit einer
Ausnahme: Die Einnahmen
durch die russischen Öl- und Gas-Pipelines durch die Ukraine
nach Westeuropa
bilden nach wie vor den größten Posten im Staatshaushalt. Aber
auch diese
werden mit der Fertigstellung der neuen Pipeline „Nord Stream
2“ weitgehend wegbrechen.

Westliche InvestorInnen und
BankerInnen haben das Land zwar nach dem Maidan besucht und
auf lohnende
Investitionen begutachtet,       sind     aber    meist    wieder
unverrichteter Dinge
abgefahren, weil lohnende     Geschäfte   in     einem   günstigen
Investitionsklima kaum
gefunden wurden. Mit Ausnahme der fruchtbaren „schwarzen
Böden“ in der Ukraine,
die schon auf der Liste der Kriegsziele des Deutschen
Kaiserreiches standen,
die sich US- und EU-Agrarkonzerne nun ganz „friedlich“ mit der
Macht ihrer
Kapitale „angeeignet“ haben, wurde wenig Profitables gefunden.
Diese „schwarzen
Böden“ ernähren heute nicht mehr die Menschen in der Ukraine,
sondern
produzieren für den Weltmarkt. Ökonomisch betrachtet, hat es
die Ukraine nicht
einmal in den Status einer verlängerten Werkbank der deutschen
Exportindustrie
geschafft, wie Polen oder Ungarn. Auch die mit der
Westausrichtung versprochene
EU-Mitgliedschaft rückte in weite Ferne.

Wofür steht Selenskyj?

Wolodymyr Selenskyj
repräsentiert trotz seines überwältigenden Wahlergebnisses von
74 % vor
allem sich selbst. Er hat bisher
kein Programm vorgelegt, mit dem er den ausgemachten Übeln der
ukrainischen
Gesellschaft zu Leibe rücken will. Und auch kein/e WählerIn
hat ein solches
Programm im Wahlkampf von ihm eingefordert. Die Illusionen der
Menschen sind
auf Selenskyj projiziert worden – sei es als Akt der
Resignation oder der
Abrechnung mit Poroschenko. Selenskyjs größter Pluspunkt ist,
dass er nicht zur
alten korrupten Polit-Elite der Ukraine gehört. Auf der
letzten großen
Wahlveranstaltung am 19. April im Kiewer Olympiastadion, im
Duell mit
Poroschenko, hat er lediglich von sich gegeben, dass er die
Westbindung
beabsichtigt aufrechtzuerhalten, kriminelle OligarchInnen
hinter Gittern und
die korrupte Oberstaatsanwaltschaft sowie die Führungen von
Polizei und Militär
auswechseln will. Weiter will er mit Putin über die Beendigung
des Krieges im
Osten und die Krim sprechen und über alle großen Fragen
beabsichtigt er,
Volksabstimmungen durchzuführen. Das scheint sein ganzes
Programm zu sein.

Tatsächlich verfügt er
nicht einmal über eine politische Basis in der Rada, dem
ukrainischen
Parlament, weil seine Partei „Sluga Naroda“ (Diener des
Volkes) erst vor einem
Jahr gegründet wurde. Auch hier fragt es sich, auf welcher
politischen und
sozialen Basis hat sich diese konstituiert? Welche
Klasseninteressen drückt sie
aus? Wird sie nicht in der ersten ernsthaften politischen
Auseinandersetzung
genauso schnell zerbrechen, wie sie sich gegen Poroschenko
gefunden hat? Selbst
wenn Selenskyj die nationalen Wahlen vom Herbst 2019 vorziehen
und er mit einer
Mehrheit seiner Abgeordneten in der Rada sitzen sollte, was
sogar möglich
erscheint, sind seine parlamentarischen Möglichkeiten sehr
begrenzt – wie die
seines Vorgängers Poroschenko. Er bleibt ein Gefangener des
ukrainischen
Politsystems und der Abhängigkeit von den imperialistischen
Mächten. Den
„OligarchInnen-Kapitalismus“ wird er kaum mit 2/3-Mehrheit und
Volksabstimmung
beseitigen können.

Selenskyj präsentierte sich
als wackerer bürgerlicher Demokrat, mit ein bisschen Mut zu
lästern über „die
da oben“, aber ohne Vorstellung von einer besseren Welt und
die Mittel, diese
zu erreichen. Sein Kniefall bei der ukrainischen Nationalhymne
in Kiewer
Olympiastation lässt eher vermuten, dass sein Herz auch für
die nationale Sache
schlägt. Als Medienunternehmer und Filmproduzent gehört er
zudem auch zur
nationalen Elite und ist eng mit dem Oligarchen Kolomojskyj
verbunden, dem unter Poroschenko die Kontrolle des Öl-
und Gaskonzerns Ukrnafta entzogen wurde. Er blieb jedoch
Eigentümer eines
Medienimperiums, darunter auch des Kanals „1plus1“, das
Selenskyjs „Diener des
Volkes“, namensgebende Show für dessen Partei, ausstrahlte.

Der Hauptvorwurf gegen
Poroschenko wie schon gegen seine Vorgänger lautet, er habe
die Korruption
nicht in den Griff bekommen oder, noch schlimmer, sie nicht
ernsthaft bekämpfen
wollen oder sei ihr selbst verfallen. Alle vorstellbaren
Facetten der
Korruption beherrschen seit Jahren die Diskussion in und über
die Ukraine.
Während US-Präsident Trump das Land eher als ein Nebenthema
behandelt, hat sein
Vorgänger Obama es über seinen Vize Biden sehr intensiv
betreuen lassen und in
dutzenden Vorsprachen bei Poroschenko ein konsequenteres
Durchgreifen gegen
Korruption und besonders die Unabhängigkeit der Justiz
eingefordert –
allerdings ohne nachhaltiges Resultat. Das wirft die Frage
nach den sozialen
Ursachen der Korruption auf.
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