Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? - Eine Betrachtung der Pharmaindustrie - Universität Hamburg
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Laurin Appel und Max Grunert, Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie Seminar Wirtschaftsinformatik, Hamburg Research Center for Information Systems, 2021 Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie Laurin Appel1, Max Grunert2 Abstract: Diese Arbeit behandelt die Fragestellung, ob IT-basierte Anwendungen dazu beitragen können, Nachhaltigkeit im Sinne der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung in der Pharmaindustrie zu fördern. Zunächst wird vorgestellt, welche Nachhaltigkeitsziele durch die Pharmaindustrie beeinflusst werden können. Mithilfe eine Literaturanalyse und einem Experteninterview werden anschließend IT-basierte Anwendungen in der Pharmaindustrie vorgestellt und darauffolgend untersucht, inwiefern diese die Nachhaltigkeit beeinflussen können. Diese Anwendungen werden aktuell in der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln eingesetzt. Konkret werden KI-basierte Proteinstrukturvorhersage, in-silico- ADMET-Forschung, die elektronische Patientenakte, medizinische Studien auf Basis von Gesundheitsdatenbanken und Ongoing Process Verification in der Produktion von Arzneimitteln vorgestellt. Schlussfolgernd aus den gewonnenen Erkenntnissen wird eine Gesamtbewertung der Erreichbarkeit von Nachhaltigkeit durch Digitalisierung und IT-basierten Anwendungen gezogen, sowie die allgemeine Problematik der Nachhaltigkeit in der Pharmaindustrie beleuchtet. Keywords: Pharmaindustrie, IT-basierte Anwendungen, Nachhaltigkeit 1 Universität Hamburg, B.Sc. Wirtschaftsingenieurwesen, laurin.appel@gmail.com 2 Universität Hamburg, B.Sc. Wirtschaftsingenieurwesen, grunertmax34@gmail.com
2 Laurin Appel, Max Grunert Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ................................................................................................................... 3 1.1 Nachhaltigkeitsziele und die Pharmaindustrie ........................................................ 4 1.2 Aktuelle Vorgehensweise und die daraus resultierende Problematik in der Arzneimittelentwicklung ............................................................................................... 5 1.3 Zielsetzung der Arbeit ............................................................................................ 6 1.4 Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit .................................................... 6 2 Definition von Fachbegriffen ..................................................................................... 7 3 Methodik .................................................................................................................... 8 3.1 IT-basierte Anwendungen in der präklinischen Arzneimittelforschung ................. 8 3.2 Digitale Patientenakte ........................................................................................... 11 3.3 Digitale Anwendungen in medizinischen Studien ................................................ 13 3.4 Experteninterview................................................................................................. 14 4 Ergebnisdiskussion .................................................................................................. 18 4.1 Effektivität von IT-basierten Anwendungsszenarien in der Pharmaindustrie ...... 18 4.2 Der Konflikt zwischen der Pharmaindustrie und Nachhaltigkeitszielen .............. 20 5 Schlussfolgerungen .................................................................................................. 23 5.1 Zusammenfassung ................................................................................................ 23 5.2 Kritische Würdigung und Limitationen der Arbeit ............................................... 23 5.3 Ausblick und Zukunftsperspektiven ..................................................................... 24 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 25
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 3 1 Einleitung Um die Förderung des nachhaltigen Friedens und Wohlstands der Erdbevölkerung sowie den Schutz unseres Planeten zu gewährleisten, wurden die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (englisch: „Sustainable Development Goals“, kurz „SDGs“) von den Vereinten Nationen entwickelt und am 1. Januar 2016 in Kraft gesetzt (Vereinte Nationen, 2021). Eine nachhaltige Entwicklung auf ökonomischer, ökologischer und sozialer Basis auf globaler Ebene ist allerdings nur zu erreichen, wenn neben Regierungen und politischen Entscheidungsträgern auch Konzerne und private Unternehmen Ihre Wertschöpfungsketten anpassen (Vereinte Nationen, 2021). In Folge der Covid-19-Pandemie ist die Branche der Pharmaindustrie in den letzten Monaten vermehrt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. Insbesondere im Hinblick auf die Impfstoffentwicklung, -produktion und -verteilung spielen internationale Pharmakonzerne wie Pfizer, Johnson&Johnson und AstraZeneca eine entscheidende Rolle (Koritala et al., 2021). Und obwohl die Branche durch die besonders schnelle Impfstoffentwicklung erheblich dazu beigetragen hat, womöglich noch schlimmere Folgen der Pandemie zu verhindern, ist die öffentliche Meinung gegenüber der Pharmaindustrie nicht sehr positiv – das war sie noch nie (Jones, Saad, 2019). Oft wird der Branche vorgeworfen, dass Profite vor öffentlichem Nutzen priorisiert werden, oder dass die Nachhaltigkeit der Produktion vernachlässigt wird – was wiederum im Konflikt mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung steht. Es wird erwartet, dass der globale Pharmamarkt von 1228,45 Milliarden US-Dollar in 2020 auf bis zu 1700,97 Milliarden US-Dollar in 2025 wachsen wird (The Business Research Company, 2021). Mit einer sich daraus ergebenen prognostizierten jährlichen Wachstumsrate von 6,73% zählt die Pharmaindustrie zu den am schnellsten wachsenden Branchen der Welt (Hole et al., 2021). Mit einer so großen Position im Weltmarkt geht auch die Verantwortung miteinher, die Branche Nachhaltig zu gestalten. Im Zuge dieser Arbeit soll erörtert werden, inwiefern die Pharmaindustrie im Einklang mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung arbeitet, wie durch IT-basierte Anwendungen in der Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln aktuell die Erreichung der Ziele gefördert wird, und welche Technologien in bestimmten Anwendungsbereichen dazu beitragen können, die Branche nachhaltiger zu gestalten.
4 Laurin Appel, Max Grunert 1.1 Nachhaltigkeitsziele und die Pharmaindustrie Die wichtigsten Ziele für nachhaltige Entwicklung aus Sicht der Weltöffentlichkeit sind solche, bei welchen sich „Bemerkenswerter Konsens zwischen Bürgern aus allen Regionen dieser Welt“ ergibt (IISD, 2021). Zu diesen besonders priorisierten Zielen zählt auch SDG3, welches „Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergeben fördern“ soll und somit als einziges direkt die Gesundheit der Weltbevölkerung adressiert (Vereinte Nationen, 2021). Im Kernfokus des Ziels stehen folgende Punkte: • Beendigung der weltweiten Epidemien von HIV/AIDS, Tuberkulose, Malaria und anderen übertragbaren Krankheiten • Senkung der vorzeitigen Sterblichkeit durch Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf- Erkrankungen und weiteren nicht-übertragbaren Krankheiten um ein Drittel • Verringerung der Kinder- und Müttersterblichkeit • Förderung des Zugangs zu sicheren, effektiven, wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln und Impfstoffen für alle (Addo-Atuah et al., 2020) Zudem adressieren noch weitere SDGs die globale Gesundheit, wenn auch nur indirekt: • SDG9 fordert Innovation, Infrastruktur und technologischen Fortschritt, was unter anderem auf die Arzneimittelentwicklung bezogen werden kann • SDG10 setzt sich für weniger Ungleichheiten ein, was wiederum auch die faire Verteilung von Medikamenten und Finanzierungsmitteln für diese betrifft • SDG12 fordert nachhaltige Produktion – entsprechend auch von Arzneimitteln • SDG17 behandelt die Tatsache, dass die Erreichung sämtlicher Ziele nur durch internationale Partnerschaft und Kooperation erreicht werden kann (Addo-Atuah et al., 2020; Vereinte Nationen, 2021) Die Pharmaindustrie hat im Vergleich zu allen anderen Branchen des privaten Sektors den größten Einfluss auf die Erreichung von SDG3, sowie auf die indirekt durch die anderen genannten Ziele adressierten Aspekte der globalen Gesundheitsversorgung (van der Waal et al., 2021). Zum aktuellen Zeitpunkt existieren allerdings noch viele Bereiche der Pharmaindustrie, in welchen eine Effizienzsteigerung zur schnelleren Erreichung der Ziele möglich erscheint.
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 5 1.2 Aktuelle Vorgehensweise und die daraus resultierende Problematik in der Arzneimittelentwicklung Um die Problematik und das Verbesserungspotential in Bezug auf die Nachhaltigkeit und Effizienz der Medikamentenentwicklung zu erfassen, ist es sinnvoll, die Prozesse vom medizinischen Bedarf bis zur finalen Zulassung eines neuen Medikamentes zu verstehen. Jedes neue Medikament durchläuft einen genau vorgeschrieben gesetzlichen Prozess, der von der ersten Idee bis zum finalen Produkt durchschnittlich 13 Jahre dauert (Fraunhofer, 2021). Vor einem neuen Medikament steht zunächst der Bedarf. Sei es aufgrund einer neuen, noch unbehandelten Krankheit oder da neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung auf eine mögliche Anwendung hoffen lassen. Dabei ist es „Erstaunlich, dass es überhaupt Medikamente gibt!“ (vfa., 2021), denn die Anforderungen an einen neuen Wirkstoff sind enorm hoch. Diese Anforderungen reichen von der Suche nach dem richtigen Target im Körper bis über die Anreicherung oder den Abbau des Produkts hin zur Wirtschaftlichkeit der Herstellung. Wenn ein passendes Molekül entdeckt wurde, geht es zunächst um die Sicherheit und Wirksamkeit an Zellkulturen, Bakterien oder auch Tiermodellen. Wenn ein positives Ergebnis aus diesem ersten Test erzielt wurde, ist die präklinische Phase abgeschlossen und die klinische Phase kann beginnen. Bis hier schaffen es durchschnittlich nur etwa 8,6 von über 10.000 ursprünglichen erforschten Molekülen, was nicht einmal 0,01% entspricht (Novartis, 2021). Die klinische Phase lässt in drei Studienphasen gliedern: • Phase 1: Erste Studie an wenigen gesunden Menschen. Dabei wird hauptsächlich die Dosis sowie die Verträglichkeit des Medikamentes untersucht. • Phase 2: Studie an wenigen Erkrankten. Ziel ist es, die Wirksamkeit auch im Vergleich zu einer Placebo Gruppe zu erforschen und die Dosierung anzupassen. • Phase 3: Studie an vielen Erkrankten. Ärzte Testen die Wirksamkeit an großen Gruppen von meist über tausend Erkrankten in verschiedenen Ländern, um seltenere Nebenwirkungen erkennbar zu machen. Wenn alle drei Phasen der klinischen Studien positiv verlaufen sind, sind meist schon über 11 Jahre vergangen und über eine halbe Milliarde Euro an Investitionen geflossen (vfa., 2021). Die Zulassung ist die nächste Herausforderung auf dem Weg zum fertigen Medikament. Hierfür überprüfen Fachleute die Ergebnisse aus den Studien. Zuständige Behörden wie die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) oder die FDA (Food & Drug Administration) bewerten die Forschung und entscheiden nach strikten Vorgaben über die letztendliche Zulassung. Wenn eine Zulassung erteilt wurde und das Medikament an Patienten verabreicht werden darf, geht es in die Phase 4 Studie, in welcher mögliche Wechselwirkungen und eventuelle andere Anwendungszwecke erforscht werden.
6 Laurin Appel, Max Grunert Ein finales Medikament kostet so im Schnitt mehr als eine Milliarde Euro und benötigt, wie erwähnt, meist über 10 Jahre an Entwicklungszeit. Den Großteil der Kosten und des Zeitaufwandes sind auf die Studien zurückzuführen, aber auch die Grundlagenforschung ist ein enorm zeitintensiver Prozess, der oft ins Leere führt und viel Verbesserungspotential bietet (vfa., 2021; Frauenhofer, 2021). 1.3 Zielsetzung der Arbeit Ziel dieser Arbeit ist es, eine Aussage über die Effektivität von IT-basierten Anwendungsszenarien in der Pharmaindustrie zu treffen und zu ergründen, inwiefern diese zur Erfüllung der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung beitragen. Zudem soll das Zukunftspotential von IT-basierten Technologien in der Pharmaindustrie anhand von aktuell genutzten Anwendungen und theoretischen Anwendungsszenarien erörtert werden. Schlussendlich soll untersucht werden, ob Digitalisierung einen Verbesserungsbeitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann und welche Möglichkeiten Pharmaunternehmen haben, um die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu unterstützen. 1.4 Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit Um über die in der Zielsetzung aufgefassten Themen eine Aussage treffen zu können, wird im folgenden Kapitel eine Literaturanalyse durchgeführt. Zunächst werden aktuell genutzte IT-basierte Technologien in der Pharmaindustrie vorgestellt und auf Ihren Nutzen für das entsprechende Unternehmen oder die Branche allgemein untersucht. Um fachlich hochqualitative Quellen zu finden, wurden die Literaturdatenbanken „Science Direct“, „Google Scholar“, „Springer Link“ und „Scopus“ sowie Archive der Fachzeitschriften „MIS Quarterly“ und „Drug Discovery Today“ durchsucht. In diesen wurde gezielt nach folgenden Stichwörtern und Kombinationen Dieser gesucht: „Pharma“, „Digital“, „IT“, „Digitalization“, „AI“, „Big Data“, „Neural Network“, „Clinical Trials“, „Health Records“, „Drug Discovery“, „Drug Prediction“, „ADMET“, „Sustainability“ und weitere. Insgesamt wurden 74 Primärquellen gefunden, welche anhand des Titels interessant wirkten. Von diesen wurden 47 ausgeschlossen, da diese basierend auf der Zusammenfassung (Abstract) keine für unsere Arbeit relevanten Informationen beinhalteten. Schlussendlich wurden 27 Quellen gelesen, von welchen 16 in unserer Arbeit zitiert wurden. Zudem wurde die Suchmaschine „Google“ verwendet, um weitere interessante Quellen, wie z.B. Websites von Pharmaunternehmen oder Podcasts, zu finden. Zusätzlich wurde ein Experteninterview durchgeführt, in welchem weitere IT-basierte Anwendungen in der Pharmaindustrie vorgestellt werden. Der Kontakt wurde durch eine Bekanntschaft hergestellt, die Fragen wurden im Voraus schriftlich formuliert und auch auf schriftlichem Wege vom Befragten beantwortet. Anschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse nochmals zusammengefasst und auf Grundlage Dieser diskutiert, welchen Nutzen IT-basierte Anwendungen in der Pharmaindustrie für den Anwender bzw. das Unternehmen haben. Anschließend werden die Erkenntnisse unter
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 7 dem Aspekt der Nachhaltigkeit beleuchtet, um herauszufinden, wie groß der Einfluss IT- basierter Anwendungsszenarien in der Pharmaindustrie auf die globale Entwicklung aktuell ist und in Zukunft sein könnte. 2 Definition von Fachbegriffen Um die Verständlichkeit der folgenden Kapitel zu unterstützen und auch Lesern, welche sich nicht tiefgründig mit der Thematik befasst haben, ein gutes Sachverständnis zu ermöglichen, werden in Tabelle 1 alle verwendeten Fachbegriffe erläutert. Tab. 1: Definitionen alles verwendeten Fachbegriffe Fachbegriff Definition Pharmakokinetische Beschreiben die Gesamtheit aller Prozesse, denen ein Eigenschaften Arzneimittel im Körper unterliegt Pharmakologische Beschreiben die allgemeine Wechselwirkung zwischen Eigenschaften Stoffen und Lebewesen In-vitro Im Reagenzglas (im Rahmen von wissenschaftlichen Versuchen) durchgeführt In-vivo Am lebenden Objekt (im Rahmen von wissenschaftlichen Versuchen) durchgeführt Generika Auch „Nachahmerpräparat“; Arzneimittel, dessen im Wirkstoff mit einem bereits früher zugelassenen Arzneimittel übereinstimmt Net-Zero Klimaneutralität
8 Laurin Appel, Max Grunert 3 Methodik 3.1 IT-basierte Anwendungen in der präklinischen Arzneimittelforschung Wie bereits erwähnt, ist die Herausforderung, in der präklinischen Phase der Medikamentenentwicklung ein Molekül zu finden, welches als effektiver und sicherer Wirkstoffkandidat ausgewählt wird, sehr groß. Um zu verstehen, wieso mit weniger als 0,01% nur ein sehr kleiner Bruchteil der erforschten Moleküle diese Phase überstehen (vfa., 2021; Fraunhofer, 2021) und wie IT-basierte Anwendungen dabei helfen können, diesen Prozess effektiver zu gestalten, muss zunächst der Ablauf der präklinischen Phase erläutert werden. Lead Lead Target Discovery Hit Identification Identification Optimization Abb. 1: Phasen der präklinischen Arzneimittelforschung (Vijayan et al., 2021) • Target Discovery: Auf der Basis von Grundlagenforschung und medizinischem Bedarf werden Ziel- Entitäten definiert, welche bestimmte Krankheiten oder Symptome behandeln sollen. Diese Targets können beispielsweise Proteine, Gene oder RNA sein (Fraunhofer, 2021; Vijayan et al., 2021). • Hit Identification: Diese Phase beschreibt das Finden von chemischen Verbindungen, die in einem Screening die gewünschte Aktivität aufweisen, welche bei nachfolgenden Tests bestätigt wird (Hughes et al., 2021). • Lead Identification: Vielversprechende Verbindungen werden nun zu Präparaten verbunden, welche ausreichend wirksame pharmakokinetische Eigenschaften aufweisen, um diese in In-Vitro- und In-Vivo-Modellen zu untersuchen (Hughes et al., 2021) • Lead Optimization: Ziel dieser Phase ist es, die günstigen Eigenschaften der Präparate zu erhalten und gleichzeitig Schwächen und unerwünschte Nebenwirkungen zu beseitigen (Hughes et al., 2021). Diese ist die teuerste und zeitaufwendigste Phase der präklinischen Arzneimittelforschung (Vijayan et al., 2021).
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 9 KI-basierte Strukturvorhersage Um Rückschlüsse über die Effektivität einer möglichen Hit-Verbindung zu ziehen, spielt die strukturelle Untersuchung der chemischen Verbindung eine große Rolle. Hierzu werden dreidimensional generierte Strukturen atomarer Auflösung verwendet, um Resistenzmechanismen, die Wirkungsweise und die Bindungskraft der Proteine, Gene oder RNA zu untersuchen. Diese Strukturen werden herkömmlicherweise auf Basis von experimentellen Modellen erstellt (Vijayan et al., 2021). Ein alternativer Ansatz für die Erzeugung dieser Strukturen ist die Verwendung von KI- basierten Strukturvorhersagemethoden. AlphaFold2, entwickelt von DeepMind Technologies mit Hauptsitz in London, ist ein auf neuralen Netzwerken basierendes Programm zur Vorhersage von Proteinstrukturen (Jumper et al., 2021). Das Programm verwendet Informationen aus einer Protein-Datenbank mit über 170000 bekannten Proteinstrukturen, um die Abstände zwischen Aminosäurepaaren sowie den Torsionswinkeln der chemischen Verbindungen, welche diese Aminosäurepaare in einem Protein verbinden, zu bestimmen (Vijayan et al., 2021). Hierbei werden neuartige neuronale Netzwerkarchitekturen und Trainingsverfahren einbezogen, welche auf den evolutionären, physikalischen und geometrischen Eigenschaften der Proteine basieren. AlphaFold2 prognostiziert die 3D-Koordinaten sämtlicher Atome eines angefragten Proteins, indem es die primäre Aminosäurefrequenz als Eingabe verwendet. Hierbei werden die vorhergesagten Positionen iterativ nach Ihrer Güte – der „Konfidenz“ der Position – bewertet und anschließend gegebenenfalls recycelt und angepasst (Jumper et al., 2021). Das Ergebnis ist ein 3D-Modell, in welchem die finale Güte der Strukturabschnitte auf Grundlage Ihres Konfidenzniveaus farblich abgestuft gekennzeichnet sind. Abb. 2: Proteinstrukturvorhersage des Proteins Colicin-10 durch AlphaFold2 (AlphaFold2, 2021)
10 Laurin Appel, Max Grunert AlphaFold2 wurde im Zuge von CASP14, einem von der University of California veranstaltetem Proteinstrukturvorhersage-Wettbewerb, bekannt, wo das Programm einen außerordentlichen Erfolg feierte. CASP verwendete einen „Global Distance Test“ (GDT), welcher die Ähnlichkeit zwischen den vorhergesagten Proteinstrukturen zu den im Nachhinein experimentell erstellten Strukturen beurteilte. Mit einem Ergebnis von 92,4 GDT im Vergleich zu einer durchschnittlichen Punktzahl herkömmlicher Methoden von 90 GDT bewies AlphaFold2 ein beeindruckendes Maß an Genauigkeit, welches das Potential der Technologie bestätigt (Vijayan et al., 2021). Der schnelle Fortschritt der Strukturvorhersage-Methoden lässt darauf hoffen, dass Programme wie AlphaFold2 in Zukunft dazu beitragen werden, die Arzneimittelentwicklung durch Unterstützung in der Phase der Hit-Identification effizienter zu gestalten, indem Forschungszeiten verkürzt und strukturelle Genauigkeiten verbessert werden (Pearce, Zhang, 2021). In-silico-ADMET-Forschung Um medizinische Präperate zu erschaffen, wessen pharmakologische Eigenschaften den klinischen Anforderungen entsprechen, werden vielversprechende chemische Verbindungen sehr genau anhand ihres Beschaffenheits-Spektrums untersucht. Klassischerweise wird dies in Form von in-vitro- und in-vivo-ADMET-Experimenten durchgeführt, welche die Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung, Ausscheidung und Toxizität des Präparates im Körper untersuchen (ThermoFisher Scientific, 2020). Abb. 3: ADMET-Schema Problematisch an der herkömmlichen Vorgehensweise ist, dass in-vitro- und in-vivo- Experimente sehr teuer, arbeitsaufwendig und zeitaufwendig sind und deshalb nicht den hohen Anforderungen der Lead Optimization gerecht werden (Cheng et al., 2013). Die laufend wachsenden Anforderungen der Pharmaindustrie haben dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren in-silico-ADMET-Modellierung eine immer größer werdende Rolle in der präklinischen Arzneimittelforschung einnimmt. Diese soll Projektteams in den Phasen der Lead Identification und -Optimization bei der Entwicklung von Präperaten
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 11 mit optimalen ADMET-Eigenschaften unterstützen und die experimentellen Ressourcen auf die pharmakologisch günstigsten Verbindungen konzentrieren. Als Folge kann die Gesamtzahl der chemischen Verbindungen, die synthetisiert und untersucht werden müssen, verringert, sowie der Fokus der Experimente auf die vielversprechendsten Verbindungen gelenkt werden (Vijayan et al., 2021). Ein Anwendungsbeispiel findet sich innerhalb der Bayer AG mit Hauptsitz in Leverkusen. Hier wurde im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte eine in-silico-ADMET-Datenbank aufgebaut, welche für alle Wissenschaftler des Unternehmens zugänglich ist. In dieser werden die enthaltenen Verbindungen anhand der Güte ihrer ADMET-Modellierung bewertet, sodass vielversprechende chemische Verbindungen aus der Phase der Hit Identification in Form von Clustern geordnet und priorisiert werden können, um Entscheidungen in der Phase der Lead Identification Daten-gestützt zu vereinfachen. Es konnte bereits in zahlreichen Fällen die Forschungspriorisierung auf einige wenige chemische Verbindungen zu konzentriert werden, welche laut den Berechnungen der Datenbank die gesuchten ADMET-Eigenschaften hatten, um ein einsatzfähiges medizinisches Präperat zu erzeugen. Sehr wichtig ist hierbei auch die Verständlichkeit und schnelle Interpretierbarkeit der Ergebnisse. Bayer verwendet hierzu eine eigens entwickelte Datenverwaltungs-Software, welche umfangreiche Anwendungen für Datenabruf, sowie die Dateneinspeisung und -visualisierung bietet. Dies ist besonders wichtig, um die Akzeptanz von in-silico-Anwendungen in Forschungsprojekten von Wissenschaftlern aus verschiedenen Bereichen zu fördern. Durch konstante Aktualisierung der Daten und regelmäßige Qualitätsbewertung der Modelle hat diese Entwicklung einen sehr positiven Effekt auf die Projekte der Arzneimittelentwicklung der Bayer AG (Göller et al., 2020). Anhand dieser Beispiele ist zu erkennen, dass IT-basierte Anwendungsszenarien durchaus effektiv in der präklinischen Arzneimittelforschung eingesetzt werden können. Dies ist allerdings nur eines der vielen Anwendungsgebiete, in welchen die Digitalisierung der Pharmaindustrie eine große Rolle spielt. 3.2 Digitale Patientenakte Die digitale Patientenakte ist ein weiterer wichtiger Baustein auf dem Weg zu einem digitalen Gesundheitssystem und kann in den verschiedensten Bereichen der Medikamentenentwicklung und -testung helfen (Thiel et al., 2021). Zusammengefasst ist die elektronische Patientenakte (ePA) eine Art Datenbank, in der diverse Informationen, welche die Gesundheit eines Menschen betreffen, zentral gespeichert werden. Diese Daten können vielfältigsten Ursprung haben. Konkret geht es um Medikationen, bekannte Krankheiten, vorgenommene oder geplante Untersuchungen, Behandlungen, Tests, DNA-Analysen aber auch bekannte Krankheiten von Verwandten, eventuelle Gendefekte oder Fitnessdaten aus Smartwatches oder Handys (Bundesgesundheitsministerium, 2021; Thiel et al., 2018).
12 Laurin Appel, Max Grunert Die Vorteile und Möglichkeiten einer ePA erstrecken sich über ein breites Feld. In der Therapie wird sich erhofft, dass Bürokratie entfällt und das Gesundheitssystem einfacher wird. Die gesammelten Daten sollen die Diagnostik erleichtern und Doppeluntersuchungen vermeiden, mögliche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten besser erkennbar machen und dem Arzt einen guten Überblick über die gesundheitliche Historie des Patienten geben und so die Diagnostik erleichtern (Thiel et al., 2018). Die Verwendung einer digitalen Gesundheitsdatensammlung geht aber weit über den rein medizinischen Nutzen hinaus. Diese Daten bergen ein enormes Potential, die Forschung an neuen Medikamenten nicht nur zu erleichtern, sondern auch ganz neue Möglichkeiten für die präklinische und klinische Phase zu bieten. Durch Datenanalyse, KI und Big-Data-Methoden wird sich ein effizienteres Studiendesign, sowie die Möglichkeit durch Daten neue Medikationen und Anwendungsmöglichkeiten zu finden, erhofft (Bauer-Mehren, 2020). Die Digitalisierung von Gesundheitsdaten ist aktuell einer der wichtigsten Ansätze, um das Gesundheitssystem nachhaltiger zu gestalten (Thiel et al., 2021). Der Fortschritt und die Akzeptanz von digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen variiert stark in verschiedenen Ländern. Datenschutzrichtlinien und politische Anstrengungen sind oft der Grund für Erfolg oder Misserfolg. Der Digital-Health-Index beschreibt den Fortschritt des digitalen Gesundheitssystems der untersuchten Länder in Bezug auf verschiedenste Variablen, wie beispielsweise politischer Wille, Investitionen und bereits existierende Anwendungen, wie ePA´s oder E-Rezepte, in einem Score von 1 bis 100 Punkten. Abb. 4: Länderreihenfolge nach dem Digital-Health-Index
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 13 Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland zu den Schlusslichtern der digitalen Gesundheitssysteme zählt. Grund dafür ist der fehlende politische Wille und somit die fehlende übergeordnete Strategie, welche Anreize für Entwicklung schafft und eine Richtung vorgibt. Der weltweite Vergleich zeigt aber, dass digitale Anwendungen schon breit eingesetzt werden und somit die Nachhaltigkeit und die Effizienz der Gesundheitssysteme verbessern (Thiel et al., 2018). Für die Forschung der Pharmaindustrie sind diese Daten genauso wichtig wie für das Gesundheitssystem selbst. Dabei liegen die größten Probleme neben fehlenden Daten vor allem im Datenschutz, welcher in Deutschland sehr streng ausgelegt ist. International fokussiert sich die Forschung mit ePA-Daten daher auf Länder mit weniger starken Regulierungen (Bauer-Mehren, 2020). Auf das Potenzial und die Anwendung dieser Daten wird nochmals genauer im folgenden Abschnitt eingegangen. 3.3 Digitale Anwendungen in medizinischen Studien Studien sind ein essenzieller Bestandteil der Medikamentenentwicklung. Der langwierige und sehr teure Prozess, die richtigen Teilnehmer zu finden und die Studie durchzuführen, trägt erheblich zur langen Entwicklungszeit und den hohen Entwicklungskosten eines neuen Medikamentes bei (Fraunhofer, 2021). Die Daten aus digitalen Gesundheitsdatenbanken können diesen Aufwand erheblich minimieren (Anna Bauer- Mehren, 2020). Ein besonderes Problem für Pharmaunternehmen sind die Phase 4-Studien, in welchen ein bereits zugelassenes Medikament noch weiter auf sehr seltene Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten untersucht wird. Diese Studien laufen oft über deutlich längere Zeiten als Studien der Phase 1 bis 3 und benötigen ebenfalls sehr viele Teilnehmer. Die Umsetzung ist deswegen besonders schwer. Hier helfen systematische Analysen von bereits bestehenden Gesundheitsdaten. Mit der Big-Data- Methode „Data-Mining“ werden so Medikation, Untersuchung und Wirkung zusammengeführt und untersucht (Garbe, 2015). Im Vergleich zur früheren Methode, in welcher alle benötigten Daten neu erhoben werden mussten, ist diese nun nicht nur deutlich effektiver und günstiger, sondern bietet auch eine bessere Risikoeinschätzung (Kramer, 2017). Grundlage für eine solche Analyse sind bereits bestehende, hochwertige Daten aus Datenbanken. In Deutschland ist eine zentralisierte Gesundheitsdatenspeicherung zu Forschungszwecken aufgrund von Datenschutz nicht zulässig. In den USA gibt es bereits das Pilotprojekt „Mini-Sentinel“, bei dem 178 Mio. ePA´s aus 18 Bundestaaten zentral gesammelt und harmonisiert wurden. Dieses Projekt hilft bereits heute und könnte als Vorbild für Europa und Deutschland dienen (Garbe, 2015). Die Anwendungsbeispiele solcher Datensammlungen gehen noch deutlich weiter. So können durch KI gesteuerte „Matching-Prozesse“ digitale Zwillinge von Studienteilnehmern gefunden und als Kontrollgruppe verwendet werden. Diese virtuelle Kontrollgruppe ersetzt so in Teilen die Gruppe an Studienteilnehmern, die ein Placebo
14 Laurin Appel, Max Grunert oder die Standardtherapie erhalten hätten. Dies ist bei Studien für Krebsmedikamente besonders interessant, da jeder Krebs anders ist (Bauer-Mehren, 2020). Mit dieser Thematik befasst sich das Unternehmen Flatiron, welches US-Gesundheitsdaten auswertet und standardisiert. Mit diesen Daten können Wissenschaftler klinische Studien zu verschiedensten Krebstherapien auswerten und in Ihre Studien einfließen lassen. Dies bietet riesiges Potenzial, Studien effizienter und kostengünstiger zu gestalten (Flatiron, 2021). 3.4 Experteninterview Um weitere IT-basierte Anwendungsfälle vorstellen zu können, welche aktuell in der Pharmaindustrie eingesetzt werden, wurde ein Interview mit Herrn Christian Bader und Herrn Michael Kohler von der Hermes Arzneimittel GmbH durchgeführt. Herr Kohler ist Leiter des Applikationsservices Supply Chain Management und betreut den Prozess der Ongoing Process Verification, welchen er vorgestellt hat. Die Hermes Arzneimittel GmbH ist ein mittelständisches Pharmaunternehmen mit Hauptsitz in Großhesselohe bei München, sowie weiteren Standorten in Deutschland und Österreich. Hermes Arzneimittel ist nach eigenen Angaben in Deutschland einer der führenden Anbieter von hochwertigen Präperaten für Selbstmedikation, welche unter anderem Muskeln, Gelenke, Knochen, sowie Immunstärkung und Infekte der oberen Atemwege adressieren. Bekannte Eigenmarken sind beispielsweise Biolectra, doc, Aspecton und algovir (Hermes Arzneimittel, 2021). Im Folgenden werden sowohl die Fragen unsererseits als auch die Antworten von Herrn Kohler sinngemäß zitiert. Änderungen sind ausschließlich durch Kürzungen oder Förderung der Verständlichkeit begründet, es werden keine Informationen verändert oder anders der Wahrheit wiedergegeben. Sehr geehrter Herr Kohler, Inwiefern spielen IT-basierte Anwendungen, beispielsweise Überwachungs- und Optimierungssoftware, künstliche Intelligenz, neurale Netzwerke und „Big Data“- Anwendungen in der Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln bei der Hermes Arzneimittel GmbH eine Rolle? „Die Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln bei der Hermes Arzneimittel GmbH ist ohne IT-basierte Anwendungen in der heutigen Zeit nicht mehr denkbar. Dabei umfasst die Entwicklung nicht nur die wissenschaftlichen Kenntnisse der aktiven Substanzen, also der Wirkstoffe, sondern auch Kenntnisse über unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen), welche u.a. in umfangreichen Datenbanken in IT-Systemen erfasst und abgefragt werden können. Neben der Aufstellung der Zutaten müssen auch die sehr komplexen Rezepturen entwickelt werden, um Patientensicherheit und nachhaltige Herstellung auf Basis der im Betrieb verfügbaren Technologien und Ressourcen unter Beachtung der Lieferkettengesetze sowie der strengen behördlichen Vorgaben
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 15 (Arzneimittelgesetz) und regulatorischen Vorgaben (EU-Leitfaden der guten Herstellungspraxis GMP Annex 15 u.a.) zu gewährleisten. Die Leistungsparameter der Herstellungsprozesse von Arzneimitteln bei der Hermes Arzneimittel GmbH werden über die gesamte Prozesskette kontinuierlich gesammelt, betrachtet und ausgewertet. Somit kann bei negativen Trends unmittelbar im Prozess gegengesteuert werden (Real Time Approach). Dies geht mit extensiven in-, at- und online Kontrollen der kritischen Prozessparameter und Qualitätsattributen einher.“ Bitte stellen Sie diese Anwendungen im Sinne ihrer Bezeichnung, des Implementierungszeitpunktes, der Funktionsweise und Verwendung, des Grundes für die Einführung und des Nutzens für das Unternehmen (z.B. Produktivitätssteigerung, Ausschussverminderung, Umsatzsteigerung), gerne mit konkreten Zahlen belegt, vor. „Beispielhaft ist das Verfahren der Ongoing Process Verification (kurz OPV). Gemeinsam mit dem Product Qualitiy Review (kurz PQR) passt dieses IT-basierte Verfahren sehr gut zu modernen Lebenszykluskonzepten. Die Hermes Arzneimittel GmbH hat die OPV im Jahr 2016 in den Werken in Deutschland und Österreich implementiert. In diesem Verfahren werden die Rohdaten aus den folgenden IT-Quellsystemen verarbeitet: • Prozessleitsystem AzO-Controls - Für die automatisierte Einwaage und Granulierung der Vorstufen • Multitester-Systeme qdoc, PH21 & Freeweigh - Für In-Process-Kontrollen, wie z.B. Tablettenhärte, Abmessungen, Auflösezeit und Masse • Labor Information Management System LAB+ - Entscheid der Chargenfreisetzung durch qualifizierte Personen - Erstellung der Chargenzertifikate (Analyse und Compliance) - Stabilitätsanalysen • Manufacturing Execution Systems GAMED, FASTEC, PAS-X Tracelink - Serialisierung von Arzneimitteln gemäß der Fälschungs- Schutzrichtlinie - Effizienz-Analyse der Produktionslinien • ERP-System Infor M3 - Auftragserfüllung der Wertschöpfungskette - Überwachung von Bulkstandzeiten, Chargenverwaltung und Rückverfolgung (Lot-Trace) Die für die OPV relevanten Maschinendaten, Betriebsdaten, Prozessparameter und Messwerte werden mittels Risikoanalysen identifiziert. Besonders hinsichtlich der Qualitätskriterien für sichere Arzneimittel (Patientensicherheit) und Produktqualität werden dabei ca. 200 Prozessparameter analysiert.
16 Laurin Appel, Max Grunert Die Rohdaten aus den o.a. Quellsystemen werden während der Herstellungsprozesse kontinuierlich gesammelt und von unserer Enterprise Service Bus (Talend ESB) an den Hadoop Service, unserer BigData-Lösung, in unveränderter Form übermittelt. Zur Darstellung und Bewertung der Daten werden Regelkarten im Frontend in Form von Stat- Graphics erstellt. Abbildung 5 zeigt das Verfahren in einer zusammenfassenden Übersicht. Abb. 5: OPV-Schema der Hermes Arneimittel GmbH Wir stellen jährlich über 8000 Arzneimittel-Fertigwaren-Chargen her, mit einer durchschnittlichen Chargengröße von ca. 30.000 Stück. Die interne Wertschöpfungskette umfasst im Regelfall 3 Vorstufen (bei einigen Produkten sogar 4 Fertigungsstufen). Durch unser OPV können wir sehr kurzfristig Abweichungen im Herstellungsprozess, z.B. durch Verletzung der Grenzwerte in den Regelkarten, erkennen und unmittelbar korrigierend in den laufenden Herstellungsprozess eingreifen.“ Nachhaltigkeit im Sinne der Ziele für nachhaltige Entwicklung der vereinten Nationen umfasst neben direkten klima- und umweltschützenden Maßnahmen auch die Förderung des Zugangs zu sicheren, effektiven, wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln und Impfstoffen sowie Innovation und technologischen Fortschritt und nachhaltige (auch effektive) Produktion. Welchen Stellenwert hatte die Nachhaltigkeit der Hermes Arzneimittel GmbH im Sinne dieser Definition bei der Implementierung der genannten Anwendungen?
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 17 „Strategisch wird in das Auswahlverfahren von IT-Systemen (Infrastruktur als auch Softwareauswahl) eine Net-Zero-Betrachtung mit aufgenommen. Ein entsprechendes Konzept ist in Ausarbeitung.“ Vielen Dank für das aufschlussreiche Interview. Anhand des Interviews wird nochmals bestätigt, dass IT-basierte Anwendungen heutzutage unerlässlich für eine effektive Produktion in der Pharmaindustrie sind. Besonders im Bereich der Prozessüberwachung finden sich sehr viele Anwendungen, welche zur Optimierung des Entwicklungs- und Produktionsprozesses beitragen. Allerdings ist auch erkennbar, dass die Nachhaltigkeit zwar beachtet wird (im Falle von Hermes Arzneimittel in Form einer Klimaneutralitäts-Betrachtung), jedoch unterliegt diese nicht der obersten Priorität.
18 Laurin Appel, Max Grunert 4 Ergebnisdiskussion 4.1 Effektivität von IT-basierten Anwendungsszenarien in der Pharmaindustrie Von präklinischen Szenarien über klinische Studien bis hin zur Prozessüberwachung in der Produktion, IT-basierte Anwendungen haben in der Pharmaindustrie einen sehr hohen Stellenwert und sind in vielen Bereichen unerlässlich geworden. Denn alle bisher vorgestellten Anwendungen haben eines gemeinsam: Sie tragen entweder dazu bei, Arbeitsschritte auf verschiedenste Wege effizienter zu gestalten oder sie erschaffen neue Möglichkeiten für Forschung und Innovation. Eine digital vernetzte Wertschöpfungskette hat viele Vorteile in Bezug auf Überwachbarkeit, Effektivität, Eingreifbarkeit und Qualitätsmanagement, was für Pharmaunternehmen beliebiger Größe interessant ist. Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese Anwendungen zur Nachhaltigkeit beitragen, bzw. selbst nachhaltig sind. Um diese Frage beantworten zu können, werden in Tab. 2 nochmals alle vorgestellten IT-basierten Anwendungen zusammengefasst und zu jeder Anwendung beschrieben, welchen direkten Nutzen diese für den Anwender bzw. das Unternehmen hat. Tab. 2: Zusammenfassung der IT-basierten Anwendungen IT-basierte Anwendung Nutzen für den Anwender bzw. das Pharmaunternehmen KI-basierte Verkürzte Forschungszeiten; Qualitätsverbesserung Strukturvorhersage In-silico-ADMET- Ressourcen-effizienterer Fokus auf vielversprechende Forschung Experimente; Bessere Verständlichkeit und Interpretierbarkeit der Ergebnisse Digitale Patientenakte Zentrale Gesundheitsdatenspeicherung; Bessere Diagnosemöglichkeiten IT-basierte Anwendungen Kostengünstigeres und effizienteres Studiendesign; in klinischen Studien Vorhersage von Krankheiten Ongoing Process Kurzfristige Erkennung von Abweichungen im Verification Herstellungsprozess von Arzneimitteln; Ermöglichung unmittelbarer Korrektur laufender Prozesse; Verbesserte Effizienz- und Stabilitätsüberwachung; Qualitätsüberwachung; Visualisierung
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 19 In der präklinischen Arzneimittelentwicklung ermöglichen IT-basierte Anwendungen in den meisten Fällen eine effizientere Forschung, indem Arbeitsschritte ressourcenschonender gestaltet werden können. Dies bezieht sich auf Arbeitskraft, Zeit und finanzielle Aspekte. Zudem wird dazu beigetragen, Endprodukte mit einer höheren Qualität zu gewährleisten, beispielsweise Medikamente mit erhöhter Wirksamkeit und weniger unerwünschten Nebenwirkungen. In Falle der klinischen Arzneimittelentwicklung leiten große Datensammlungen komplett neue Möglichkeiten in der Therapie so wie in der Forschung ein. Die Möglichkeit, mit Big-Data-Methoden das Risiko von neuen Medikamenten einzuschätzen oder ganze Kontrollgruppen zu simulieren, bietet ungeahnte Aussichten für zukünftige Studien. In der Arzneimittelfertigung werden IT-basierte Anwendungen dazu eingesetzt, um den Fertigungsprozess zu überwachen und zu optimieren, sowie um in den laufenden Prozess einzugreifen, falls Abweichungen festgestellt werden. Zudem werden laufend Risiko- und Qualitätsanalysen durchgeführt, um ein den Anforderungen entsprechendes Endprodukt zu gewährleisten. Hier ist es nicht nur so, dass IT-basierte Anwendungen den Prozess verbessern, viel mehr ist der Prozess ohne IT-basierte Anwendungen schon nicht mehr denkbar. Aus unserer Recherche ergibt sich, dass Nachhaltigkeit durch IT-basierte Anwendungen in der Pharmaindustrie im Sinne der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung indirekt durch effektivere Forschung und Produktion erreicht wird. Zudem ergeben sich durch neue Verfahren bisher unbekannte Forschungsmöglichkeiten, welche großes Potential mit sich bringen und somit SDG9 fördern (Innovation und technologischer Fortschritt). Dies führt wiederum dazu, dass Arzneimittel schneller, ressourcenschonender und kostengünstiger entwickelt und hergestellt werden können, was direkt zur Erfüllung von SDG12 (nachhaltige Produktion) beiträgt. Hieraus ergibt sich einerseits die Möglichkeit, dass bereits entwickelte Arzneimittel erschwinglicher und in größeren Mengen bereitgestellt werden können. Andererseits können Medikamente, dessen Entwicklung vorher entweder aufgrund von zu hohen Entwicklungskosten oder einem zu kleinen und somit nicht rentablen Abnehmerkreis keinen Profit generiert hätte, zu geringeren Preisen erschlossen werden. All dies trägt dazu bei, Arzneimittel für die Weltbevölkerung besser zugänglich zu machen und fördert somit die Erfüllung von SDG3 (globale Gesundheit) als auch gegebenenfalls SDG10 (Weniger Ungleichheiten), da durch eine bessere Verfügbarkeit von Medikamenten gegebenenfalls die globale Verteilung dieser fairer verlaufen könnte. Soweit zumindest in der Theorie. Es ergibt sich also folgende Antwort, auf die Frage, ob IT-basierte Anwendungsszenarien zur Nachhaltigkeit der Pharmaindustrie beitragen können: Ja, im Sinne der Definition von Nachhaltigkeit nach den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung können IT-basierte Anwendungen die Nachhaltigkeit fördern. Nur ist dies lediglich ein positiver Nebeneffekt der Entwicklung digitaler Anwendungen in der Pharmaindustrie. Für Pharmaunternehmen geht es in den meisten Fällen darum, Gewinne zu maximieren (Westphal, Alves, 2021), wofür wiederum eine effektive Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln eine
20 Laurin Appel, Max Grunert Voraussetzung ist. Und obwohl der digitale Ausbau sich durchaus positiv auf die globale Nachhaltigkeit auswirkt, liegen die wahren Probleme und Konflikte in Bezug auf die Nachhaltigkeit der Pharmaindustrie an ganz anderer Stelle. 4.2 Der Konflikt zwischen der Pharmaindustrie und Nachhaltigkeitszielen Die Nachhaltigkeit der Pharmaindustrie hängt weniger von den technischen Möglichkeiten und der Effizienz der Entwicklung und Produktion, sondern im Großteil vom generellen Verhalten der Branche ab (Westphal, Alves, 2021). In diesem Abschnitt werden aktuelle Praktiken der Pharmaindustrie behandelt, die kontraproduktiv den Nachhaltigkeitszielen entgegenwirken und so Verbesserungspotential bürgen. 1) Entwicklungsanreize Der aktuell relevanteste Entwicklungsanreiz der Pharmaindustrie für einen neuen Wirkstoff ist, ob dieser profitabel sein wird. Von 2000 bis 2011 waren nur 1,2% der neuzugelassenen Wirkstoffe für sogenannte „vernachlässigte Krankheiten“ wie HIV, Malaria und Tuberkulose bestimmt, obwohl diese rund 11% der Krankheitslast der Welt ausmachen (Westphal, Alves, 2021). „Konventionelle marktbasierte und profitorientierte Mechanismen der Forschung und Entwicklung von Medikamenten vernachlässigen diese Krankheiten, weil die Patient*Innen keinen lukrativen Markt darstellen“ (Westphal, Alves, 2021). Der Großteil der Entwicklungsarbeit fließt in Erkrankungen wie Krebs oder Herzkreislauferkrankungen, da diese den meisten Profit versprechen. Weltweit ist der Trend zu erkennen, dass die Pharmaindustrie die Medikamentenentwicklung für Krankheiten bevorzugt, die in reichen Industrieländern wie den USA oder Europa auftreten, was somit im Konflikt mit der globalen Gesundheit steht. Für diesen Missstand steht exemplarisch der Ansatz der „Global Health Security“, aufgrund dessen das Sicherheitsrisiko, welches von einer Krankheit ausgeht, wichtiger als der Wohlergehen der Erkrankten eingeschätzt wird. Ein Beispiel hierfür ist der Ebola Ausbruch 2015 in Mittelafrika, bei welchem erst mit der Entwicklung eines Impfstoffes angefangen wurde, als die Krankheit anfing, reichere Länder zu bedrohen. Auch die Entwicklung für Alternativen zu Antibiotika werden aufgrund von hohen Kosten und geringen Profitaussichten kaum verfolgt (Westphal, Alves, 2021). „Das Innovationssystem ist fehlgeleitet, weil es sich am größtmöglichen privatwirtschaftlichen Kapitalertrag ausrichtet, anstatt am effizienten Mitteleinsatz für den größtmöglichen medizinischen und damit gesellschaftlichen Nutzen“ (Westphal, Alves, 2021).
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 21 2) Verteilung und Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen Neben oft fehlenden Anreizen, neue Medikamente zu entwickeln, ist ebenfalls die Verteilung und Verfügbarkeit der Medikamente ein Problem. In Entwicklungs- oder Schwellenländern sind, wie bereits erwähnt, die benötigten Medikamente entweder gar nicht entwickelt oder werden nicht verkauft bzw. sind zu teuer für den nationalen Markt (Westphal, Alves, 2021). Die Problematik der überteuerten Medikamente ergibt sich ebenfalls in Industrieländern. Vor allem die USA, aber auch Deutschland oder Kanada sind betroffen. So belasten überteuerte Medikamente und Therapien das Gesundheitssystem in einem solchen Ausmaß, dass für jeden fünften Patienten in den USA die benötigten Medikamente nicht bezahlt werden können (Jones et al., 2016). Der Zugang zu bezahlbaren Generika wird aktiv von der Pharmaindustrie verhindert, dabei spielen Patente und Lobbyarbeit eine entscheidende Rolle. Der Versuch einiger Regierungen, den Markt und die Preise für Medikamente besser zu regulieren, scheitert meist an Gesetzeslücken oder am globalen Einfluss der größten Pharmaunternehmen (Jones et al., 2016). Die Intransparenz der Preisgestaltung der Pharmaindustrie reicht so weit, dass oft arme Länder, die in einer schlechteren Position bei Preisverhandlungen sind, deutlich höhere Preise für das gleiche Medikament zahlen müssen, meist aus Unwissenheit (Westphal, Alves, 2021). Menschen in Entwicklungsländern erfahren jedoch weitaus gravierendere Folgen als nur der hohe Preis eines Medikamentes. So stellte beispielsweise der Pharmakonzern Sanofi die Produktion des Gegengiftes für die zehn gängigsten Schlangengifte ein, da sich die Produktion nicht mehr rentierte. Aufgrund fehlenden Ersatzes sorgte diese Entscheidung in Afrika zu einem akuten Mangel, der viele Leben kostete. Ähnliche Probleme ergeben sich auch bei diversen Impfstoffen. Die Pneumokokken-Impfung schützt vor allem Kinder vor teils tödlichen Lungenentzündungen. Diese Impfung gehört laut der globalen Impfallianz (GAVI) neben 12 anderen Impfungen zu den wichtigsten Impfungen für Kinder. Auch Deutschland ist einer der größten Geldgeber und Entscheidungsträger der GAVI, welche sich zum Ziel gesetzt hat, in Ländern mit niedrigerem Einkommen Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Leider scheitert, wie am Fall der Pneumokokken-Impfung zu sehen ist, auch dieses mit den Nachhaltigkeitszielen perfekt übereinstimmende Vorhaben an der Pharmaindustrie. 1,2 Mrd. US$ zahlte GAVI an Subventionen an Pfizer und GSK um den Impfstoff verfügbar zu machen. Trotz dieser großen Fördersumme haben rund ein Drittel aller Länder weltweit den Impfstoff nicht einführen können. Grund dafür ist der sehr hohe Preis, der von Pfizer und GSK festgelegt wird. Die fehlende Konkurrenz und damit einhergehende Monopole haben den beiden Konzern über 45 Mrd. US$ eingespielt (Westphal, Alves, 2021). Die Frage, die sich stellt, ist, wie eine durch öffentliche Mittel finanzierte Impfung nur dem Profit zweier Unternehmen und nicht dem Allgemeinwohl dienen kann. Diese Dissonanz zwischen Nachhaltigkeit und Profitgier lässt auf einen systematischen Fehler schließen. Die Intransparenz der Preisgestaltung, Monopole, Patente und fehlende Generika sind vermutlich die Antwort auf die ungerechte Verteilung der Arzneimittel.
22 Laurin Appel, Max Grunert 3) Patente, Generika und angemessene Preise Die Preise von Medikamenten sind, wie schon erwähnt, oft der Grund für eine schlechte Verteilung und Zugänglichkeit Dieser. Dahinter steckt ein ganzes Netz an Tricks der Pharmaindustrie, die Preise künstlich in die Höhe zu treiben und mögliche Konkurrenz auszustechen. Aufgrund einiger dieser Praktiken ist das Verhalten der Pharmaindustrie im großen Gegensatz zu den Nachhaltigkeitszielen. Viele neue Medikamente sind durch ein Patent für mindestens 20 Jahre geschützt. Patente schützen zwar das Eigentum der Firma, aber nicht die Menschen, die auf dieses Medikament angewiesen sind. Mit dem nahezu uneingeschränkten Recht über die Preisgestaltung patentierter Medikamente verdient die Pharmaindustrie Milliarden. Die hohen Preise und die fehlende Konkurrenz aufgrund von Patenten werden zwar von einigen Regierungen kritisiert, unternommen wird allerdings wenig (Jones et al., 2016). Die Monopolproblematik ergibt sich allerdings auch weiterhin, wenn das Patent bereits ausgelaufen ist und theoretisch Konkurrenzfirmen günstige Generika vertreiben könnten. Rund 1,5 Trillionen US$ sparten günstige Generika zwischen 2004 und 2013 dem amerikanischen Gesundheitssystem und machten so viele Medikamente einer breiteren Masse zugänglich, jedoch ist das Herauszögern dieser Generika ein großer Teil des Nachhaltigkeitsproblems. Die geläufigste Methode, um ein Medikament trotz ausgelaufenem Patent weiter zum ursprünglichen Preis zu verkaufen, ist die sogenannte „pay-for-delay-Praktik“. Bei dieser Methode beteiligt das Pharmaunternehmen einen möglichen Konkurrenten, der nach Patentablauf ein günstigeres Produkt verkauft hätte, an ihren Gewinnen. So profitieren beide Unternehmen auf die Kosten des Gesundheitssystems, was allein in den USA 3,5 Mrd. US$ im Jahr ausmacht. Das Pharmaunternehmen Cephalon stand für diese Praktik vor Gericht. Sie hatten für 300 Mio. US$ vier Konkurrenten bezahlt, um sechs Jahre länger ihr eigenes Produkt zum alten Preis verkaufen zu können. In dieser Zeit generierte Cephalon 4 Mrd. US$ mit diesem einem Produkt. Das Gericht verhängte allerdings nur eine Strafe von 1,2 Mrd. US$, weshalb sich die Praktik für Cephalon trotzdem gelohnt hat (Jones et al, 2016). Eine weitere Methode ist das „product hopping“. hierbei wird ein leicht abgewandeltes neues Produkt, welches beispielsweise nur noch einmal statt zweimal täglich eingenommen werden muss, auf den Markt gebracht. Auf dieses „neue“ Medikament wird ein neues Patent verwendet, gleichzeitig wird der Preis des Medikamentes erhöht. Bis zum Ablauf des Patentes auf das ursprüngliche Präparat werden die Kunden auf das neue, teurere Medikament umgestellt. Wenn dann schließlich günstigere Generika auf den Markt kommen, wechseln nur etwa 10-20% der Patienten zum deutlich günstigeren Konkurrenzprodukt zurück. Dies kostet allein in den USA das Gesundheitssystem 700 Mio. US$ pro Jahr (Jones et al., 2016). Diese beiden Methoden stehen beispielhaft für eine ganze Reihe an Tricks der Pharmaindustrie, ihre Monopolstellung auszuweiten. Weitere gängige Praktiken sind das Aufkaufen von Konkurrenten, Lobbyarbeit oder das Verhindern von Medikament- Importen (Jones et al., 2016).
Nachhaltigkeit durch Digitalisierung? – Eine Betrachtung der Pharmaindustrie 23 Einige der beschriebenen Probleme sind in den USA oder in Entwicklungsländern deutlich stärker zu spüren als in Europa. Trotzdem wird deutlich, dass eine Industrie, die sich selbst auf die Fahne schreibt, den Menschen helfen zu wollen, oft leider genau das Gegenteil tut. Die oft verwendete Entschuldigung für teure Medikamente und fehlende Entwicklungsarbeit ist, dass der Entwicklungsprozess sehr teuer und langwierig ist. Jedoch kann diese Begründung für willkürliche Preise, ungerechte Verteilung und eine Monopolstellung der Pharmaindustrie nicht standhalten. Um mehr Nachhaltigkeit in die Entwicklung, die Verteilung und den Vertrieb neuer Medikamente zu bringen, bedarf es neben neuen Technologien auch ein Umdenken in der Branche. 5 Schlussfolgerungen 5.1 Zusammenfassung Im Rahmen dieser Arbeit haben wir uns mit der Thematik befasst, inwiefern IT-basierte Anwendungen dazu beitragen können, die Nachhaltigkeit der Pharmaindustrie zu fördern. Anhand einer Vielzahl an Anwendungsbeispielen konnten wir erschließen, dass neue Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, ressourcen- und zeitsparende Produktion sowie neue Möglichkeiten der digitalen Vernetzung von Wertschöpfungsketten durch IT- basierte Anwendungen ermöglicht werden können. Diese Faktoren tragen, direkt und/oder indirekt dazu bei, die Nachhaltigkeit im Sinne der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung zu fördern, konkret werden die Ziele 3 (globale Gesundheit), 9 (Innovation und technologischer Fortschritt), 10 (weniger Ungleichheiten) und 12 (nachhaltige Produktion) unterstützt. Jedoch sind wir trotz der Tatsache, dass IT-basierte Anwendungen ein wichtiger Schritt in Richtung einer nachhaltigen Pharmaindustrie sind, zu dem Schluss gekommen, dass besagte Anwendungen nicht ausreichen, um den wahren Konflikt zwischen der Pharmaindustrie und der Nachhaltigkeit zu überwinden. Lobbyismus, Profitorientierung, ungerechte Verteilung von Arzneimitteln und Patentmissbrauch sind Probleme in der Pharmaindustrie, welche einerseits die Nachhaltigkeitsentwicklung der Branche ganz oder zumindest teilweise verhindern, gleichzeitig aber zu schwerwiegend sind, als dass IT-basierte Anwendungen diese aktuell lösen könnten. 5.2 Kritische Würdigung und Limitationen der Arbeit Im Rahmen unserer Recherchearbeit haben wir versucht, die interessantesten IT-basierten Anwendungsszenarien und alle relevanten Informationen aufzunehmen. Dennoch gibt es noch viele weitere Anwendungsbeispiele, welche wir auf Grund der zeitlichen und umfangbezogenen Vorgaben nicht mit aufgenommen haben. Zudem war die Verknüpfung der drei Themen „Pharmaindustrie“, „Wirtschaftsinformatik“ und „Nachhaltigkeit“ nicht ganz einfach. Wie bereits in Kapitel 4.2 beschrieben, ist das Hauptproblem der Pharmaindustrie nicht die fehlende Digitalisierung, sondern eher das grundsätzliche
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