Neustart für den Föderalismus - Der Chefökonom - 18. Juni 2021 - Handelsblatt

Die Seite wird erstellt Nathaniel Hahn
 
WEITER LESEN
Neustart für den Föderalismus - Der Chefökonom - 18. Juni 2021 - Handelsblatt
Der Chefökonom – 18. Juni 2021

Neustart für den Föderalismus
Das Kompetenzgerangel in der Pandemie hat für viel Unmut gesorgt. Deshalb sollte
die nächste Regierung eine Bund-Länder-Kommission berufen.
von Professor Bert Rürup und Axel Schrinner

Gelebter Föderalismus bedeutet heute zu oft Kompetenzwirrwarr, diffuse Verantwortlichkeiten,
einen Wust an miteinander verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale
Finanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle sind für alles zuständig, und
niemand ist für irgendetwas verantwortlich." Diese Worte stammen von Wolfgang Schäuble - und
sie klingen so, als hätte der Bundestagspräsident die administrativen Kapriolen während der
Corona-Pandemie bereits im Jahr 2019 geahnt.

Das vorerst letzte Trauerspiel im Umgang mit der Pandemie war, dass sich keine Verwaltungsebene
für die Kontrolle der Teststationen verantwortlich fühlte und damit Tür und Tor für Betrügereien
geöffnet wurden.
Neustart für den Föderalismus - Der Chefökonom - 18. Juni 2021 - Handelsblatt
Dabei ist der Föderalismus in Deutschland weit älter als die Bundesrepublik. So war bereits im der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts klar, dass ein föderaler Staatsaufbau klare Kompetenzregeln
braucht. Im Norddeutschen Bund von 1867 bis 1871 besaß der Bundesrat eine starke Stellung als
oberstes Verfassungsorgan. Gesetze mussten von beiden Kammern verabschiedet werden.

In der Weimarer Republik war der Einfluss der Länderkammer deutlich geringer. Mit der
Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten wurde 1934 der Reichsrat aufgelöst; Deutschland
wurde zum Zentralstaat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten daher die westlichen Siegermächte darauf, dass die
Zentralinstanz der neuen Bundesrepublik möglich schwach sein sollte. Die Länder erhielten
umfassende Rechte und Zustimmungspflichten im Gesetzgebungsverfahren. Die Aufgaben waren
klar zugeordnet; es sollte keine Staatsaufgaben geben, die von Bund und Bundesländern gemeinsam
wahrgenommen werden.

Bundesrat als Blockadeinstrument

Heute, unzählige Grundgesetzänderungen, zwei Föderalismusreformen und eine veritable Pandemie
später, ist von solch klaren Strukturen nichts mehr übrig. Seit den 1970er-Jahren stieg die Anzahl
der zustimmungspflichtigen Gesetze rapide an, nicht zuletzt, weil die erste Große Koalition (1966
bis 1969) die "Gemeinschaftsaufgaben" ins Grundgesetz einfügte. Fortan wirkte der Bund bei
ursprünglich genuinen Aufgaben der Länder mit, sofern diese für die Gesamtheit der Bürger als
bedeutsam erachtet wurden.

Zeitgleich entwickelte sich der Bundesrat zu einem politischen Blockadeinstrument. Letztlich war
es der Verlust der Bundesratsmehrheit, der sowohl das Ende der Ära Helmut Kohl als auch das Aus
für Kanzler Gerhard Schröder einläutete.

In der jüngsten Vergangenheit, als im Bund drei Große Koalitionen regierten, wurde der Bundesrat
von einer heimlichen Opposition in eine Geldforderungsmaschine umfunktioniert - Geld gegen
Machtverzicht, lautete die Devise der Länder. Diese stritten so lange über eine Reform des
horizontalen Länderfinanzausgleichs, bis der Bund mit rund zehn Milliarden Euro jährlich den
Zwist befrieden konnte. 2020 wurde der Finanzausgleich zwischen den Ländern abgeschafft und
durch Zuweisungen des Bundes ersetzt.

Bisheriger Höhepunkt der Selbstentmachtung und politischen Verzwergung war der 22. April dieses
Jahres, als die Länderkammer die "Bundesnotbremse" ohne formale Abstimmung passieren ließ und
damit die Länderkompetenz in der Pandemiebekämpfung aus der Hand gab - aus Angst vor
eigenem Versagen und dem Unmut der Wähler. "Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der

2
Neustart für den Föderalismus - Der Chefökonom - 18. Juni 2021 - Handelsblatt
föderalen Kultur", sagte der amtierende Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU). Dem ist
wahrlich nichts hinzuzufügen.

Bund schulterte Großteil der Lasten

Obwohl die Länder seit 2020 einen höheren Anteil am Gesamtsteueraufkommen erhalten als der
Bund, übernahm die Zentralinstanz den Großteil der finanziellen Lasten der Pandemie. So betrug
2020 das Defizit des Bundes laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung 88 Milliarden Euro,
während die Länderhaushalte lediglich einen Fehlbetrag von 32 Milliarden Euro verbuchten und die
Gemeinden sogar Überschüsse erzielten.

Noch offenkundiger wird dieses Missverhältnis, wenn man die Veränderung des
Finanzierungssaldos von Bund und Sozialversicherungen einerseits und von Ländern und
Gemeinden andererseits betrachtet: So verschlechterte sich die Finanzlage der Zentralinstanz
einschließlich Sozialversicherungen von gut 30 Milliarden Euro Überschuss im Jahr 2019 auf
reichlich 120 Milliarden Euro Defizit 2020 - also um mehr als 150 Milliarden Euro oder fast fünf
Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt.

Dagegen verringerten sich die Haushaltssalden von Ländern und Gemeinden lediglich um knapp 50
Milliarden Euro; gut 20 Milliarden Euro Überschuss 2019 folgte 2020 ein Defizit von knapp 30
Milliarden Euro.

Die Kehrseite dieser "Geld-gegen-Einfluss-Politik" ist der schleichende Bedeutungsverlust der
Landespolitik und damit der Landespolitiker. Den meisten Bürgern dürfte allenfalls noch der Name
ihres Ministerpräsidenten geläufig sein - Minister oder gar die Spitzenpolitiker der Opposition sind
weitgehend unbekannt. Selbst bekennende Anhänger des Föderalismus haben Schwierigkeiten, die
Mitglieder der Regierung ihres Bundeslands oder alle 16 Landesfürsten zu benennen.

Zudem wächst selbst in den Bereichen, in denen die Länder noch Kompetenzen haben, nämlich im
Bildungsbereich, das Unverständnis der Bevölkerung über "Flickenteppiche" - nicht erst seit
Corona. Wenngleich unterschiedliche Regeln kein Defekt sind, sondern die intendierte Ausformung
des Föderalismus, so wünscht sich doch eine große Mehrheit der Bürger bundesweite Standards in
Kindergärten, Schulen und Universitäten.

Dies ist in der Sache sehr verständlich. Schließlich hängt mittlerweile die Abiturnote maßgeblich
davon ab, in welchem Bundesland Schüler unterrichtet werden, weil Oberstufennoten und
Abiturprüfungen je nach Land sehr unterschiedlich zu einer Gesamtnote zusammenfügt werden. Die
viel propagierte Chancengleichheit bei der Bewerbung um einen Arbeits- oder Studienplatz ist nicht
gewährleistet.

3
Nun hat die Pandemie sehr deutlich gemacht, dass Deutschland offensichtlich zu viele
Verwaltungsebenen hat. Bund, Länder, Bezirksregierungen, Landkreise und Gemeinden reden an
irgendeiner Stelle zwar mit, scheuen aber gleichzeitig oft, Verantwortung zu übernehmen, und
verzögern oder delegieren Entscheidungen. Das mag Gründlichkeit suggerieren, ist aber nicht nur
im Krisenfall zu zeitraubend. Die Entscheidungswege eines modernen Staates im 21. Jahrhundert
müssen effizienter sein.

Effizientere Entscheidungswege nötig

Deshalb wäre die nächste Regierung gut beraten, gleich zu Beginn der Legislaturperiode eine
Föderalismuskommission zu berufen, die Vorschläge erarbeitet, um die Zuständigkeiten und
Institutionen von Bund und Ländern zu entflechten. Ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe braucht offensichtlich niemand, da es - bei oder wegen fehlender Anfrage der
Länder - in einer Pandemie nicht tätig werden darf. Außerdem sollte die Kommission einen
zeitgemäßen und verfassungsfesten Rahmen für Krisenzeiten entwerfen; die geltenden
Notstandsgesetze sind mehr als ein halbes Jahrhundert alt.

Eine solche Föderalismusreform bedarf viel guten Willen. Doch womöglich sind die Zeiten dafür
mit dem Ende der Pandemie und dem Start einer ganz neuen Bundesregierung günstig wie lange
nicht - viele Signale stehen auf Neubeginn.

Wer diesen Kraftakt jedoch scheut, der nimmt gesamtstaatliches Versagen bei der Bewältigung der
zentralen Herausforderungen der nächsten Dekaden billigend in Kauf. Ein Weiter-so beim
Zuschieben von Verantwortung sollte sich Deutschland angesichts des Klimawandels und des
absehbaren Altersschubs nicht leisten.

4
Sie können auch lesen