Neustart für den Föderalismus - Der Chefökonom - 18. Juni 2021 - Handelsblatt
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Der Chefökonom – 18. Juni 2021 Neustart für den Föderalismus Das Kompetenzgerangel in der Pandemie hat für viel Unmut gesorgt. Deshalb sollte die nächste Regierung eine Bund-Länder-Kommission berufen. von Professor Bert Rürup und Axel Schrinner Gelebter Föderalismus bedeutet heute zu oft Kompetenzwirrwarr, diffuse Verantwortlichkeiten, einen Wust an miteinander verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Finanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle sind für alles zuständig, und niemand ist für irgendetwas verantwortlich." Diese Worte stammen von Wolfgang Schäuble - und sie klingen so, als hätte der Bundestagspräsident die administrativen Kapriolen während der Corona-Pandemie bereits im Jahr 2019 geahnt. Das vorerst letzte Trauerspiel im Umgang mit der Pandemie war, dass sich keine Verwaltungsebene für die Kontrolle der Teststationen verantwortlich fühlte und damit Tür und Tor für Betrügereien geöffnet wurden.
Dabei ist der Föderalismus in Deutschland weit älter als die Bundesrepublik. So war bereits im der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts klar, dass ein föderaler Staatsaufbau klare Kompetenzregeln braucht. Im Norddeutschen Bund von 1867 bis 1871 besaß der Bundesrat eine starke Stellung als oberstes Verfassungsorgan. Gesetze mussten von beiden Kammern verabschiedet werden. In der Weimarer Republik war der Einfluss der Länderkammer deutlich geringer. Mit der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten wurde 1934 der Reichsrat aufgelöst; Deutschland wurde zum Zentralstaat. Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten daher die westlichen Siegermächte darauf, dass die Zentralinstanz der neuen Bundesrepublik möglich schwach sein sollte. Die Länder erhielten umfassende Rechte und Zustimmungspflichten im Gesetzgebungsverfahren. Die Aufgaben waren klar zugeordnet; es sollte keine Staatsaufgaben geben, die von Bund und Bundesländern gemeinsam wahrgenommen werden. Bundesrat als Blockadeinstrument Heute, unzählige Grundgesetzänderungen, zwei Föderalismusreformen und eine veritable Pandemie später, ist von solch klaren Strukturen nichts mehr übrig. Seit den 1970er-Jahren stieg die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze rapide an, nicht zuletzt, weil die erste Große Koalition (1966 bis 1969) die "Gemeinschaftsaufgaben" ins Grundgesetz einfügte. Fortan wirkte der Bund bei ursprünglich genuinen Aufgaben der Länder mit, sofern diese für die Gesamtheit der Bürger als bedeutsam erachtet wurden. Zeitgleich entwickelte sich der Bundesrat zu einem politischen Blockadeinstrument. Letztlich war es der Verlust der Bundesratsmehrheit, der sowohl das Ende der Ära Helmut Kohl als auch das Aus für Kanzler Gerhard Schröder einläutete. In der jüngsten Vergangenheit, als im Bund drei Große Koalitionen regierten, wurde der Bundesrat von einer heimlichen Opposition in eine Geldforderungsmaschine umfunktioniert - Geld gegen Machtverzicht, lautete die Devise der Länder. Diese stritten so lange über eine Reform des horizontalen Länderfinanzausgleichs, bis der Bund mit rund zehn Milliarden Euro jährlich den Zwist befrieden konnte. 2020 wurde der Finanzausgleich zwischen den Ländern abgeschafft und durch Zuweisungen des Bundes ersetzt. Bisheriger Höhepunkt der Selbstentmachtung und politischen Verzwergung war der 22. April dieses Jahres, als die Länderkammer die "Bundesnotbremse" ohne formale Abstimmung passieren ließ und damit die Länderkompetenz in der Pandemiebekämpfung aus der Hand gab - aus Angst vor eigenem Versagen und dem Unmut der Wähler. "Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der 2
föderalen Kultur", sagte der amtierende Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU). Dem ist wahrlich nichts hinzuzufügen. Bund schulterte Großteil der Lasten Obwohl die Länder seit 2020 einen höheren Anteil am Gesamtsteueraufkommen erhalten als der Bund, übernahm die Zentralinstanz den Großteil der finanziellen Lasten der Pandemie. So betrug 2020 das Defizit des Bundes laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung 88 Milliarden Euro, während die Länderhaushalte lediglich einen Fehlbetrag von 32 Milliarden Euro verbuchten und die Gemeinden sogar Überschüsse erzielten. Noch offenkundiger wird dieses Missverhältnis, wenn man die Veränderung des Finanzierungssaldos von Bund und Sozialversicherungen einerseits und von Ländern und Gemeinden andererseits betrachtet: So verschlechterte sich die Finanzlage der Zentralinstanz einschließlich Sozialversicherungen von gut 30 Milliarden Euro Überschuss im Jahr 2019 auf reichlich 120 Milliarden Euro Defizit 2020 - also um mehr als 150 Milliarden Euro oder fast fünf Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Dagegen verringerten sich die Haushaltssalden von Ländern und Gemeinden lediglich um knapp 50 Milliarden Euro; gut 20 Milliarden Euro Überschuss 2019 folgte 2020 ein Defizit von knapp 30 Milliarden Euro. Die Kehrseite dieser "Geld-gegen-Einfluss-Politik" ist der schleichende Bedeutungsverlust der Landespolitik und damit der Landespolitiker. Den meisten Bürgern dürfte allenfalls noch der Name ihres Ministerpräsidenten geläufig sein - Minister oder gar die Spitzenpolitiker der Opposition sind weitgehend unbekannt. Selbst bekennende Anhänger des Föderalismus haben Schwierigkeiten, die Mitglieder der Regierung ihres Bundeslands oder alle 16 Landesfürsten zu benennen. Zudem wächst selbst in den Bereichen, in denen die Länder noch Kompetenzen haben, nämlich im Bildungsbereich, das Unverständnis der Bevölkerung über "Flickenteppiche" - nicht erst seit Corona. Wenngleich unterschiedliche Regeln kein Defekt sind, sondern die intendierte Ausformung des Föderalismus, so wünscht sich doch eine große Mehrheit der Bürger bundesweite Standards in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Dies ist in der Sache sehr verständlich. Schließlich hängt mittlerweile die Abiturnote maßgeblich davon ab, in welchem Bundesland Schüler unterrichtet werden, weil Oberstufennoten und Abiturprüfungen je nach Land sehr unterschiedlich zu einer Gesamtnote zusammenfügt werden. Die viel propagierte Chancengleichheit bei der Bewerbung um einen Arbeits- oder Studienplatz ist nicht gewährleistet. 3
Nun hat die Pandemie sehr deutlich gemacht, dass Deutschland offensichtlich zu viele Verwaltungsebenen hat. Bund, Länder, Bezirksregierungen, Landkreise und Gemeinden reden an irgendeiner Stelle zwar mit, scheuen aber gleichzeitig oft, Verantwortung zu übernehmen, und verzögern oder delegieren Entscheidungen. Das mag Gründlichkeit suggerieren, ist aber nicht nur im Krisenfall zu zeitraubend. Die Entscheidungswege eines modernen Staates im 21. Jahrhundert müssen effizienter sein. Effizientere Entscheidungswege nötig Deshalb wäre die nächste Regierung gut beraten, gleich zu Beginn der Legislaturperiode eine Föderalismuskommission zu berufen, die Vorschläge erarbeitet, um die Zuständigkeiten und Institutionen von Bund und Ländern zu entflechten. Ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe braucht offensichtlich niemand, da es - bei oder wegen fehlender Anfrage der Länder - in einer Pandemie nicht tätig werden darf. Außerdem sollte die Kommission einen zeitgemäßen und verfassungsfesten Rahmen für Krisenzeiten entwerfen; die geltenden Notstandsgesetze sind mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Eine solche Föderalismusreform bedarf viel guten Willen. Doch womöglich sind die Zeiten dafür mit dem Ende der Pandemie und dem Start einer ganz neuen Bundesregierung günstig wie lange nicht - viele Signale stehen auf Neubeginn. Wer diesen Kraftakt jedoch scheut, der nimmt gesamtstaatliches Versagen bei der Bewältigung der zentralen Herausforderungen der nächsten Dekaden billigend in Kauf. Ein Weiter-so beim Zuschieben von Verantwortung sollte sich Deutschland angesichts des Klimawandels und des absehbaren Altersschubs nicht leisten. 4
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