ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg

 
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ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E
                                                                                                 Wolfgang Hegewald

                               ODER DIE KUNST
                              DER WAHLHEIMAT
                                                       Seine Entscheidung, die DDR zu
                                                 verlassen, bezeichnet der Schriftsteller
                                                            Wolfgang Hegewald als das
                                                     Fundament seiner Existenz. Porträt
                                                     eines Lebens voller Freiheitsdrang,
                                                Grenzüberschreitungen und Sprachlust

                                                                                       TEXT: ULRICH THIELE
                                                                                     FOTOS: JAKOB BÖRNER

     NACH HAMBURG!
     NACH HAMBURG!

                                                    Der Stadtpark kann als Synonym für den Autor gesehen werden:
                     FOTOS:

                                ein gehegter, ins Urbane überführter Wald, ein Hegewald eben. Zudem ist er für ihn
                                          fußläufig erreichbar – ein Glücksfall für den passionierten Spaziergänger

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ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E                                                                                                   K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E
Wolfgang Hegewald                                                                                                                                           Wolfgang Hegewald

     A
                m 24. September 1983, einem Samstag,             „JAZZ, DIE SEHNSUCHT SICH
                reist Wolfgang Hegewald mit einem
                One-Way-Ticket von Leipzig nach Ham-          AUSZULÖSCHEN, ENTGRENZTER
                burg. Dass es eine Abreise auf Nimmer-         LEBENSRAUSCH, DIE SPRACHE
     wiedersehen sein könnte, nimmt er in Kauf, die-
     ser Preis steht in keinem Verhältnis zu seinem                    DER EINGEWEIDE, DER
     Freiheitsbegehren. Er ist nun 31 Jahre alt, nicht             INTELLEKT DER SCHENKEL“
     mehr ganz jung, noch nicht alt, seine Lebenszeit
     ist befristet und so will er nicht dahinleben.
          Beige ist die alles dominierende Farbe im
     Zug. Wie alle Interzonenzüge wird auch dieser
     vor allem von Rentnern – sie genießen in der
     DDR Reisefreiheit – genutzt. Scheu streifen ihre
     Blicke den Mann, der nicht ins Raster passt, der      von einem „Erkenntnisschock“ getroffen, wie er
     offenbar nicht vorhat, zurückzukehren. Hegewald       sagt, weil Arendt in der ihr eigenen Luzidität ei-
     hat keinen Pfennig Geld bei sich, weder Ost, noch     nen politisch-philosophischen Freiheitsbegriff
     West, dafür einen ranzigen Zettel, der ihm die        auf den Punkt bringt, der schon lange vor der
     Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR         Lektüre in seinen Gedanken und Texten präfor-
     attestiert – der bewilligte Ausreiseantrag, für ihn   muliert ist. So wie in dieser Passage, in der
     ein nicht mit Geld aufzuwiegendes Wertpapier.         Arendt festhält: „Von allen spezifischen Freihei-
          Ausreiseantrag, das klingt so harmlos. Nach      ten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn
     freiwilliger Emigration, die einem freundlicher-      wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungs-
     weise gewährt wird. Der Wahnsinn, der dahinter-       freiheit nicht nur die historisch älteste, sondern
     steckt, die Schikanen, der Kräfteverschleiß, wenn     auch die elementarste; das Aufbrechen-Können,
     man der Willkür der Machthaber ausgesetzt ist –       wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde
     all das verschleiert dieses Wort. Oder die Unge-      des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung
     wissheit nach der Antragstellung: Wird man ihn,       der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbe-
     wie so viele, ins Gefängnis stecken, um im Rah-       dingung der Versklavung war.“
     men des Tauschmodells mit der Bundesrepublik
     die Ablösesumme in die Höhe zu treiben? Ir-           SEHNSUCHT NACH GEGENWELTEN
     gendeinen Vorwand würden sie schon finden,            Wer eine Ahnung davon bekommen will, welche
     „Staatshetze“ zum Beispiel. Oder werden sie ihn       Einschränkungen junge Menschen in der DDR
     zehn Jahre lang warten und versauern lassen, ehe      dazu antrieb, das Wagnis Ausreiseantrag einzu-
     mal eine Antwort kommt?                               gehen, der möge Hegewalds erstes Buch lesen. Es
          Fast 40 Jahre nach seiner Übersiedlung, im       heißt „Das Gegenteil der Fotografie“, ist 1984 bei
     März 2021, sitzt Wolfgang Hegewald in seiner          S. Fischer erschienen und das einzige seiner pu­
     Wohnung in Barmbek-Süd und konstatiert: „Die          blizierten Bücher, das er noch in der DDR ge-
     Entscheidung, mich mit dem Monstrum Aus­              schrieben hat. Es lässt sich als Stimmungsbild
     reiseantrag herumzuschlagen und ins Offene zu         einer politischen Resignation lesen: Für die Pro­
     gehen, ist die Freiheitstatsache meines Lebens        tagonisten Anja und Friedrich sollte es ein schö-
     schlechthin. Sie ist bis heute ein Fundament mei-     ner Urlaub werden. An einem späten Augusttag
     ner Existenz und meines Schreibens, weil sie mit      Ende der 1970er-Jahre zieht es die beiden gen
     der elementaren Erkenntnis verbunden ist, dass        Süden, vielleicht, weil ihre „Träume vorschnellten
     billige Freiheit nichts wert ist.“                    in südliche Üppigkeit“. Nahe einer südböhmi-
          Es ist ein schöner Zufall, dass ausgerechnet     schen Talsperre, nicht weit von Bayern und Öster-
     seine Wahlheimat Hamburg ebenjene Stadt ist,          reich entfernt, sind sie zu nahe an die Grenze ge-
     in der Hannah Arendt am 28. September 1959            raten, der Verdacht der sogenannten „Republik-             Wahlheimat statt
                                                                                                                  Herkunftskitsch: Die
     anlässlich des Lessing-Preises ihre berühmte          flucht“ steht im Raum. Nun sitzen sie getrennt
                                                                                                                 Fixierung auf Verwur-
     Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zei-        voneinander in Untersuchungshaft und werden          zelung sieht Hegewald
     ten“ gehalten hat. Als Hegewald 1983 die Grenze       verhört. Während ihrer Haft fabulieren sie, resü-       als „biographischen
                                                                                                                    Holzweg und einen
     in den Westen überquert, kennt er die Rede noch       mieren ihre bisherigen Enttäuschungen und um-        groben Irrtum über die
     nicht, er wird sie erst 25 Jahre später lesen und     kreisen ihre Wünsche nach einer Wirklichkeit u                eigene Natur“

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                                                                                                                                                                                 Texte auf autobiografische Hinweise zu veren-               Hegewald ist Teil einer Gruppe von jungen
                                                                                                                                                                                 gen. Jene Zuspitzung hat einen langen Anlauf,          Autoren, die sich gegenseitig ihre Texte vorlesen.
                                                                                                                                                                                 sie beginnt in Hegewalds Grundschulzeit.               Eines Tages haben sie einen öffentlichen Auftritt
                                                                                                                                                                                                                                        in der Dresdner Jugendbibliothek. Lesungen,
                                                                                                                                                                                 KINDHEIT                                               muss man dazu sagen, haben einen sensationell
                                                                                                                                                                                 Als die Mauer errichtet und er in eine Diktatur        subversiven Rang in der DDR. An diesem Abend
                                                                                                                                                                                 eingekesselt wird, ist er neun Jahre alt. Wolfgang     liest Hegewald einen Text, in dem Monteure im
                                                                                                                                                                                 Hegewald wird am 26. März 1952 in Dres-                Keller eines Hauses Rohre austauschen. An genau
                                                                                                                                                                                 den-Klotzsche geboren. Seine frühe Kindheit ist        dieser Stelle stehen mehrere Männer auf. Hier
                                                                                                                                                                                 noch ungetrübt. Landschaftlich idyllisch einge-        finde gerade eine Konterrevolution statt, sagen sie.
                                                                                                                                                                                 bettet, wächst er am Stadtrand an den Ausläufen        Die Spitzfindigkeit der Zensur sieht in den Roh-
                                                                                                                                                                                 der Dresdner Heide auf. Die Familie wohnt im           ren ein Synonym für Leitungen, ergo den Text als
                                                                                                                                                                                 oberen Geschoss eines Zweifamilienhauses mit           Parabel über den Austausch der politischen Füh-
                                                                                                                                                                                 Garten, der ein Urelement seiner Kindheit ist.         rung. Tumultartige Szenen, die Lesung wird u
                                                                                                                                                                                 Die Schulzeit ist bedrückend. Den Einschnitt be-
                                                                                                                                                                                 kommt er abrupt zu spüren, als die Gleichschal-
                                                                                                                                                                                 tung beginnt.
                                                                                                                                                                                      Ein Glück, dass es Literatur gibt. Als er elf
                                                                                                                                                                                 Jahre alt ist, diagnostiziert ein Arzt fälschlicher-
                                                                                                                                                                                 weise einen Herzfehler. Ein Jahr muss er wegen
                                                                                                                                                                                                                                                 Vor der Abreise am
                                                                                                                                                                                 der Fehldiagnose im Bett liegen. Er nutzt die Zeit               Leipziger Bahnhof.
                                                                                                                                                                                 zur Lektüre, aus ihm wird ein hingerissener Le-                Nach seiner Ankunft
                                                                                                                                                                                                                                                 in Hamburg kommt
                                                                                                                                                                                 ser. Die Märchen der Brüder Grimm und die                      er zunächst bei einer
                                                                                                                                                                                 Abenteuergeschichten von Karl May – in der                    Bekannten in Winsen/
                                                                                                                                                                                 DDR verbotene Schmuggelware – haben es ihm                            Luhe unter. Als
     Als Hegewald ein Kind ist, wird ihm fälschlicherweise ein Herzfehler diagnostiziert. Das Organ wird im Laufe seines Lebens immer wieder eine                                                                                              Sozialhilfeempfänger
     wichtige Rolle einnehmen. Sein Roman „Herz in Sicht“ ist autobiografisch inspiriert von einer Operation am offenen Herzen. Dem Roman stellt                                 angetan, sie sind Gegenwelten zum stickigen                   verrichtet er dort eine
     er ein Zitat von Hannah Arendt voran: „Das Herz ist ein komisches Organ; erst wenn es gebrochen wird, schlägt es seinen eigenen Ton; wenn es                                Alltag. Die ersten Maßstäbe zum Autorensein                        Zeit lang gemein-
     nicht bricht, versteinert ist. Der Stein, der einem vom Herzen fällt, ist fast immer der, in welchen sich das Herz fast verwandelt hätte.“                                                                                                 nützige Arbeit – eine
                                                                                                                                                                                 werden gesetzt, diffus und noch ungeordnet regt
                                                                                                                                                                                                                                                   erdende Tätigkeit,
                                                                                                                                                                                 sich der Wunsch, Schriftsteller zu sein in ihm.                     findet Hegewald
                                                                                                                                                                                      Umso schmerzhafter ist es für ihn, dass sei-
                                                                                                                                                                                 ne liebsten Texte im Deutschunterricht „mit dem
                                                                                                                                                                                 schartigen Besteck des sozialistischen Realismus
                                                                                                                                                                                 malträtiert“ werden, so Hegewald rückblickend.
                                  jenseits von grauer Provinzialität. Spiel, Sommer,                       Strenge, Jazz, heilige Zärtlichkeit und unbefleckte                   So will er nicht behandelt wissen, was er liebt. Er
                                  Farbenpracht, Transzendenz und Lebenslust wer-                           Abtreibung, der Charme einer Bahnhofstoilette,                        entscheidet, literarischer Autodidakt zu bleiben
                                  den evoziert, oder eher: die Sehnsucht danach.                           die Entfernung von geilem Bürgergrinsen, (…)                          und nicht Literatur zu studieren.
                                  Eine Stelle, an der Anja den Jazz als Gegenwelt                          Jazz, das Hinüberweisende, da hinüber.“
                                  zum DDR-Muff zelebriert, beschreibt diese Sehn-                               Ihre Sehnsucht nach anderen Wirklichkei-                         STUDIUM
                                  sucht und gleichzeitig die ganze Tragik ihrer Un-                        ten, in der Sprache, in der Musik, im Alkohol,                        Was also tun? Ein Brotberuf ist, gerade in der
                                  terdrückung mit poetisch-präziser Wucht in ei-                           wird vom Wirklichkeitsdiebstahl der Diktatur                          DDR, das beste Mittel, um sich künstlerischen
                                  nem furiosen Benennungsrausch voller Ambi-                               sowie von Friedrichs und Anjas eigener Ohn-                           Freiraum zu schaffen. Hegewald, schon immer
                                  guitäts- und Nuancensensibilität:                                        macht erstickt. Am nächsten Tag werden sie aus                        naturwissenschaftlich interessiert, studiert ein
                                       „Jazz, da berührten sich endlich Spiel und                          der Haft entlassen, doch eine Entlassung in die                       damals noch neues Fach, Informationsverarbei-
                                  Existenz, da verließ meine Biographie ihre fatale                        Freiheit ist es nicht. Als Erkenntnis bleibt, dass                    tung, an der TU Dresden. In dieser vierjährigen
                                  Richtung, Jazz, die Rückkehr zur rauchgeschwän-                          geistige Freiheit ohne mobile Freiheit wertlos ist.                   Studienzeit verkehrt er bereits in literarischen
                                  gerten Höhle und die Zukunft des Jagdzaubers,                            Arendt dixit.                                                         Kreisen, auf der Suche nach so etwas wie Öffent-
                                  animalische Gier und der Ekel vorm feucht sau-                                „Morgen werden wir wieder zu Hause sein;                         lichkeit entdeckt er zudem die Kirchenräume als
                                  genden Leben zugleich, Jazz, die Sehnsucht sich                          das ist beinah unvorstellbar, denn so vergehen die                    Refugium. In der Evangelischen Studentenge-
                                  auszulöschen, entgrenzter Lebensrausch, die                              Jahre“, lautet das Fazit ihres Urlaubs. Wer will,                     meinde öffnet sich ihm ein Raum demokrati-
                                  Sprache der Eingeweide, der Intellekt der Schen-                         kann etwas von Hegewalds Freiheitsbegehren                            scher Mitbestimmungsmöglichkeiten und aus-                                                                       Heitere Tage: Silves-
                                                                                                                                                                 FOTOS: PRIVAT

                                  kel, (…) die trunkene Zeugung, sentimentales                             darin wiedererkennen, das ihn auch als Ergebnis                       differenzierter pluralistischer Interessen – und er                                                              ter 1987 in der Villa
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Massimo in Rom mit
                                  Kunststück, wahre Lüge, Wahnsinn, der sich                               einer biografischen Zuspitzung zur Ausreise                           entdeckt die Bibel als poetische, also genuin am-                                                                Ulrike Greve. 1988
                                  selbst formuliert, Exorzismus von puritanischer                          drängt – wenngleich man sich hüten sollte, seine                      bivalente Lebens- und Freiheitslektüre für sich.                                                                 heiratet das Paar

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ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E
                                                                                                                                                                                                                                       Wolfgang Hegewald

                                                                                                                  übermütige Ausflüge in die Konkrete Poesie;             folglich seine Texte keinem Westverlag anbietet.
                                                                                                                  Nachdenken über Mythos, Märchen und Mathe-              Im Café Corso, wo er seine Honorare ausgibt,
        DIE KIRCHLICHE HOCH-                                                                                      matik als spezifische Erkenntnisregionen, die           breitet sich bei Jazz und Literatur, Promiskuität
     SCHULE IN LEIPZIG IST EINE                                                                                   Fühmann seit jeher interessierten.“
                                                                                                                        Fühmann ist nicht nur ein bemerkenswerter
                                                                                                                                                                          und Suff ein Lebensgefühl aus, das in einem
                                                                                                                                                                          Slogan Ausdruck findet: „Resignation ist noch zu
        „INSEL IM ROTEN MEER“                                                                                     Schriftsteller, er ist auch ein enthusiastischer För-   viel Engagement“, lautet er. „Wir fristeten unser
                                                                                                                  derer junger Schriftstellerinnen und Schriftstel-       Dasein hoch- und übermütig in einem Verhäng-
                                                                                                                  ler. In einem Land ohne Öffentlichkeit für Texte,       nis, für das wir uns ganz und gar nicht verant-
                                                                                                                  in dem jeder Bereich des privaten Lebens über-          wortlich wähnten, hineingeboren eben“, erinnert
                                                                                                                  wacht wird, legt Fühmann Fürsprache bei Verla-          sich Hegewald.
                                                                                                                  gen ein und interveniert bei der Zensurbehörde,              Hannah Arendt spricht in ihrer Lessing-Re-
                                                                                                                  die sich nicht Zensurbehörde nennt. Zwischen            de von den Parias, den Insassen von Diktaturen,
                                                                                                                  Fühmann und Hegewald beginnt eine fruchtbare            die anstatt im Licht der Aufklärung in beheizten
                                                                                                                  Korrespondenz, eine wertschätzende Verbin-              Wärmest uben zusammenr ücken und ihre
     unterbrochen, das Publikum nach Hause ge-                                                                    dung. Fühmann liest Hegewalds Texte, kritisch           schreckliche Weltlosigkeit durch Ohnmachts­
     schickt. Einige Wochen später kommen zwei Her-                                                               und handwerklich auf sie einwirkend – und er            fantasien kompensieren: „Die Menschlichkeit
     ren zu Hegewald nach Hause, er lebt noch bei sei-                                                            setzt sich für den jungen Schriftsteller auf Ver-       der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde
     nen Eltern, und fordern ihn auf, den Text schrift-                                                           lagssuche ein.                                          der Befreiung noch niemals auch nur um eine
     lich zu widerrufen. Hegewald widerruft nicht, wo-                                                                  Ab September 1977, Hegewald studiert also         Minute überlebt. Das heißt nicht, dass sie nichts
     mit er durchkommt, allerdings wird ihm nach Ab-                                                              Theologie in Leipzig, scheint erstmals seine            sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar;
     schluss seines Diploms wegen seines Engage-                                                                  Hoffnung auf eine Schriftstellerexistenz konkre-        aber es heißt, dass sie politisch schlechterdings
     ments ein Promotionsverbot auferlegt.                                                                        tere Formen anzunehmen. Was der VEB Hin-                irrelevant ist.“
          Es folgen drei Pflichtjahre in einem stink­                                                             storff Verlag mit ihm treibt, ist indes nur ein zyni-        Arendt beschreibt ebenjenes Ohnmachtsge-
     langweiligen Industriejob im VEB Kraftwerksan-                                                               sches Spiel mit dem Prinzip Hoffnung. Über              fühl, an dem auch Anja und Friedrich aus „Das
     lagenbau Radebeul. „Kasernierte Arbeitslosig-                                                                Jahre hält der Verlag ihn hin, setzt Verträge für       Gegenteil der Fotografie“ leiden. Ihr Rückzug in
     keit“, sagt Hegewald heute dazu, vier Diplom­                                                                die Rechte an Büchern auf, die nie erscheinen,          die private Intimitätsblase ist das Gegenteil von
     ingenieure sitzen in einem Barackenzimmer und                                                                zahlt ihm Honorare für fiktive Buchauflagen aus.        Arendts politischem Freundschaftsbegriff, der
     haben oft monatelang nichts zu tun als Fachzeit-                                                                                                                     Freundschaft als öffentliches Ereignis begreift,
     schriften zu lesen. Eine frustrierende Lebenspha-                                                            AUSSICHTSLOSIGKEIT UND AUSREISE                         als existenziell-politische Konstruktion, als ge-
     se, aber immerhin, nachts schreibt er.                                                                       Jahre, in denen ein Vergeblichkeitsgefühl wächst,       meinsames Gespräch über die Welt – und die
          Das Promotionsverbot ist einer von mehre-                                                               auch, weil Hegewald sich stur an sein Diktum            Welt als Gegenstand, der diese Freundschaft be-
     ren Brüchen in Hegewalds Biografie. Nachdem                                                                  hält, nur dort zu publizieren, wo er auch lebt und      lebt und ihr einen Ort gibt.                     u
     er die Pflichtjahre abgesessen hat, muss er zuse-      gärtner, er ist kein Student, aber weil seine Ver-
     hen, wie es für ihn weitergeht. Ein zweites staatli-   bindung zur Dresdner Studentengemeinde nicht
     ches Studium wird ihm nicht gestattet. Aber es         abgerissen ist, erhält er eine Einladung zu einem
     gibt noch die kirchlichen Räume, sie waren ihm,        Wochenende im Erzgebirge. Dort begegnet er am
     der nicht besonders religiös erzogen wurde, bis-       19. März erstmals dem Schriftsteller Franz Füh-
     her eine Zuflucht, und ohnehin, die Geisteswis-        mann, der für die Studenten liest. Fühmanns           SEINE WERKE Eine Auswahl
     senschaften fehlen ihm noch. Bis zum Semester-         Texte begeistern Hegewald nachhaltig: „Was ich
     beginn überbrückt er noch ein halbes Jahr als          bislang von Fühmann gelesen hatte, entzückte
     Friedhofsgärtner in Dresden, dann beginnt er           mich und den Schriftsteller, der ich werden woll-
     sein Studium der Theologie an einer kirchlichen        te. Mich begeisterte der Erscheinungsreichtum
     Hochschule in Leipzig. Was für eine Insel der          dieser Prosa: statt syntaktischer Einfalt und plot-
     unabhängigen Gelehrsamkeit! Endlich mal etwas          gesteuerter Linearität ein präzise überbordendes
     anderes als Marx und Lenin: Wittgenstein, Kier-        Spiel mit Perioden und Kadenzen, die kontrollier-
     kegaard, was für eine geistige Durchlüftung!           te Lust an der Abschweifung und die in Sprache
     Nach zehn Semestern auf dieser „Insel im roten         modellierten Hologramme, die Verschränkung
     Meer“ schließt Hegewald sein Studium mit einer         von Prägnanz und Virtuosität“, schreibt Hege-
     Arbeit über „Poesie und Predigt“ ab.                   wald in einem Erinnerungsessay. An Fühmann
                                                            entzündet sich seine „Liebe für hybride Formen.       „Fälle und Fallen“,          „Lexikon des Lebens“,       „Herz in Sicht“,            „Die eigene Geschichte“,   „Fegefeuernachmittag“,
                                                                                                                  Wallstein,                   Matthes & Seitz,            Matthes & Seitz,            Matthes & Seitz,           Matthes & Seitz,
     FÜHMANN, DER FÖRDERER                                  Wahrnehmungsminiaturen und Mikroessays;               79 Seiten, 16 Euro           367 Seiten, 28 Euro         285 Seiten, 19,90 Euro      176 Seiten, 14,80 Euro     256 Seiten, 19,80 Euro
     In diese Zeit fällt eine prägende Begegnung. Im        Denkbilder, Maximen und Reflexionen; poetolo-
     März 1977, Hegewald arbeitet noch als Friedhofs-       gische und geschichtsphilosophische Exkurse;

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ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E
Wolfgang Hegewald

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                                                                                                                                                                 gehst sonst hier kaputt“, sagt er.
                                                                                                                                                                      Auch Franz Fühmann, sein Förderer, der an
                                                                                                                                                                 seinem Versuch, der Poesie in der DDR einen
                                                                                                                                                                 Raum zu schaffen, immer mehr verzweifelt, zeigt
                                                                                                                                                                 bei allem Bedauern Verständnis. Ein Schriftsteller
                                                                                                                                                                 trage allein die Verantwortung für sein Werk, nie-
                                                                                                                                                                 mand sonst, sagt Fühmann ihm. Und niemand
                                                                                                                                                                 sonst, so der Schriftsteller weiter, habe das Recht,
                                                                                                                                                                 ihm Vorschriften zu machen, wie er dieser Verant-
                                                                                                                                                                 wortung nachkomme. Wenige Wochen vor seiner
                                                                                                                                                                 Abreise besucht Hegewald den an Krebs Erkrank-
                                                                                                                                                                 ten, der schwer gezeichnet in der Berliner Charité
                                                                                                                                                                 liegt, und verabschiedet sich. Es ist ein Abschied
                                                                                                                                                                 für immer, Fühmann stirbt im Juli 1984.

                                                                                                                                                                 PUBLIKATIONEN IN DER BUNDESREPUBLIK
                                                                                                                                                                 Im Westen hat er einen guten Start: 1984 gewinnt
                                                                                                                                                                 er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Kla-
                                                                                                                                                                 genfurt den Preis der Kärntner Industrie. Im sel-
                                                                                                                                                                 ben Jahr veröffentlicht S. Fischer sein Debüt. Ein
                                                                                                                                                                 Jahr später folgt schon „Hoffmann, Ich und Teile
                                                                                                                                                                 der näheren Umgebung“, 1987 sein Roman „Ja-
                                                                                                                                                                 kob Oberlin oder Die Kunst der Heimat“. Insge-
                                                                                                                                                                 samt 14 Bücher hat er bis heute publiziert.
                                                                                                                                                                      Sie alle durchzieht eine übersprudelnde
                                                                                                                                                                 Sprachlust. Das 2017 bei Matthes & Seitz erschie-
     Im Jahr 2000 ruft Hegewald den Italo-Svevo-Preis ins Leben. Die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung honoriert                                             nene „Lexikon des Lebens“, sein vielleicht wich-
     „literarische Spielarten des ästhetischen Eigensinns“. Hegewald: „Ein Preis, der methodisch die blinden Flecken der
                                                                                                                                                                 tigstes Werk, ist so etwas wie die Summe seines
     Betriebswahrnehmung nach Erst­klassigem durchmustert. Der Italo-Svevo-Preis denkt an den Leser von morgen,
     indem er ein literarisches Werk ehrt und fördert, dessen Rang sich bereits abzeichnet, dem es jedoch vorerst am                                             Schreibens – und, nebenbei bemerkt, sein phy-                                                                    Oben: Hegewalds
     breiten Zuspruch der Zeit mangelt. Er ist ein Solitär.“                                                                                                                                                                                                                     Ausgabe von Franz
                                                                                                                                                                 sisch mit Abstand schönstes Buch. Zwei weitere                                                                Fühmanns „Zweiund-
                                                                                                                                                                 Künstler haben daran mitgewirkt: Die Bilderzäh-                                                             zwanzig Tage oder Die
                                                                                                                                                                 lerin Anke Feuchtenberger hat 27 Kohlezeich-                                                                    Hälfte des Lebens“,
                                                                                                                                                                                                                                                                             die dieser ihm bei ihrer
                                                                                                                                                                 nungen beigesteuert, der Typograf Jovica Veljović                                                          ersten Begegnung sig-
                                       Es reicht. Im Jahr 1982 ist Hegewald 30 Jahre                       sen. Seine Bücher darf er mitnehmen, wenn-            hat das Buch mit der eigens erfundenen Schrift             Außerdem: Komik im existenziellen Sinne.         niert. Unten: Im Herbst
                                                                                                                                                                                                                                                                            2021 erscheinen Hege-
                                  alt. Höchste Zeit, die Verantwortungslosigkeit hin-                      gleich unter aberwitzigen Bedingungen. Er muss        Agmena bibliophil gestaltet. Wie so oft, greift        Seine 2020 bei Wallstein unter dem Titel „Fälle
                                                                                                                                                                                                                                                                             walds Aufzeichnungen
                                  ter sich zu lassen. Zumal ein Ende dieser Zustände                       eine Bücherliste vorlegen, die belegt, dass er kei-   Hegewald darin autobiografische Versatzstücke          und Fallen“ veröffentlichten Capriccios sind Sze-       aus dem Jahr 2020
                                  nicht absehbar ist, keiner kann sich vorstellen,                         ne „den Frieden störenden Schriften“ hat.             auf, verwandelt sie in einem Spiel, das immer          nen, in denen, so Hegewald, „Elemente des Alltäg-       – wohlgemerkt: kein
                                                                                                                                                                                                                                                                             Corona-Tagebuch – im
                                  dass die Mauer fällt. Im Juni 1982 bringt er seinen                           Ein Teil seiner Freunde lehnt seine Entschei-    auch Identitätskritik wider den grassierenden          lichen, Burlesken, Grotesken, Skurrilen und           Wallstein Verlag. Titel:
                                  Ausreiseantrag in Leipzig-Reudnitz zur Post.                             dung, das Land zu verlassen, ab. Sie träumen          Authentizitätskitsch ist, fügt, wahrnehmungs-          Phantastischen sich zu Tableaus verquicken, in         „Tagessätze / Roman
                                       Die Schikanen folgen unweigerlich: Über                             noch immer von der besseren DDR. Hegewald             süchtig und weltneugierig, wie er ist, Alltagsbe-      denen sich auf ästhetische Weise ein Aufklärungs-              eines Jahres“

                                  Nacht zieht, behördlich lizensiert, ein Ex-Knacki                        lässt ihr „Wir bleiben hier!“ nicht gelten, jenes     obachtungen und essayistische Exkurse ein. Pro-        interesse zu erkennen gibt. Aufklärungsinteresse
                                  als Mitbewohner in die Zweizimmer-Mansarden-                             Kollektivierungsgebot, das sich anmaßt, „in mei-      grammatisch für Hegewalds Lexikon steht ein            auch an dem, was kategorisch unaufklärbar ist“.
                                  bude in einem abrissreifen Haus ein und pisst in                         ne persönliche Lebensentscheidung hineinzure-         Bonmot von Jean Cocteau, laut dem „auch ein                In „Eine kleine Feuermusik“ aus dem Jahr
                                  den Emailleabfluss in der Küche, die einzige                             den und mich zum entbehrlichen Hobelspan des          gelungener literarischer Text nichts ist als ein in    1994 erzählt Hegewald von einem Brandstifter,
                                  Wasserstelle. Da bietet ein Freund, der Jazz­                            Fortschritts zu deklarieren“.                         Unordnung gebrachtes Alphabet“. Und die                an dessen uneindeutiger Motivlage das Gericht
                                  posaunist Frieder W. Bergner, Hegewald Asyl in                                Andere reagieren mit Verständnis. Ein Vo-        Grammatik ist, wie Hegewald in dem 2020 bei            verzweifelt. Heinz Ludwig Arnold sieht darin in
                                  seiner Wohnung an. Insgesamt geht das „Mons­                             tum seines engen Vertrauten Jürgen Israel, eines      Wallstein herausgekommenem Sammelband                  einem Nachwort eine „Werbung für das Rätsel
                                  trum Ausreiseantrag“ für Hegewald aber glimpf-                           Germanisten, nach einer anderthalbjährigen Ge-        „Literarische Werkstattgedanken“ schreibt, ein         Mensch“ und fasst Hegewalds Programmatik
                                  lich aus. Kein Gefängnis, kein zehn Jahre andau-                         fängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung            „Kosmos kombinatorischer Unendlichkeit, (…)            folgendermaßen zusammen: „In einer nach ein-
                                  erndes diffuses Warten. Rund 15 Monate nach                              faktisch mit Berufsverbot belegt, wird Hegewald       eine elementare Schöpfungstatsache, ein Satzge-        deutigem Sinn gierenden Welt widerstehen He-
                                  seiner Antragstellung erhält er einen Brief, er                          nie vergessen: „Ich werde einen meiner besten         nerator, der zu zaubern beginnt, wenn er in die        gewalds ,Helden‘ solcher gewünschten Ein-Deu-
                                  solle die DDR innerhalb von vier Wochen verlas-                          Freunde verlieren und vermissen. Aber für dich        richtigen Hände fällt“.                                tigkeit, indem sie sich deren Allanspruchs u

50                                                                                                                                                                                                                                                                                                 51
ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E                                                                                                                                                                                                   K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E
Wolfgang Hegewald                                                                                                                                                                                                                                              Wolfgang Hegewald

                                                                               suchtsort stilisiert hat, wird seine Wahlheimat.
                                                                               Und was für schöne Zufälle und wie viel Genug-
                                                                               tuung die Hansestadt birgt: Hier lernt er 1986
                                                                               seine Frau, die Theologin und angehende Pasto-
                                                                               rin Ulrike Greve, kennen. Die Stadt Hamburg er-
                                                                               möglicht ihm 1987 ein einjähriges Stipendium in
     LITERATUR IST FÜR                                                         der Villa Massimo in Rom, wo seine Erzählung
     HEGEWALD IN SPRACHE                                                       „Verabredung in Rom“ entsteht. „Die Stadt, das
                                                                               Licht, die Farben, die Märkte – sie haben mir end-
     MODELLIERTE                                                               gültig das ostzonale Grau aus den Augen gewa-
     MENSCHENERFAHRUNG                                                         schen. Eine existentielle Reinigung“, sagt Hege-
                                                                               wald. 1989 nominiert ihn die Literaturredaktion
                                                                               der Zeit als Fellow für den German Marshall
                                                                               Fund. Im Rahmen einer vierwöchigen Rundreise
                                                                               ist er zu Besuch in der Literaturredaktion der New
                                                                               York Times, im Haus von William Faulkner in
                                                                               Oxford, Mississippi und in der Kongressbiblio-
                                                                               thek in Washington, D.C.
                                                                                    Last, but not least: 22 Jahre nach dem Promo-
                           konsequent wie eines unsittlichen Antrags er-       tionsverbot in der DDR, beruft die Fachhoch-
                           wehren. Statt dessen errichten sie ihre eigene      schule Hamburg (später Hochschule für Ange-
                           Wirklichkeit, leben nach selbstgesetzten Regeln,    wandte Wissenschaften) Hegewald im Herbst
                           die einer so auf Eindeutigkeit fixierten Außen-     1996 auf eine Professur in einem Fach, das er nie
                           welt unverständlich bleiben müssen. (…) Den         studiert hat. Er wird für 22 Jahre, bis zu seiner
                           sinnlos gewordenen Sinn in Frage zu stellen,        Emeritierung im Jahr 2018, Professor für Poetik,
                           statt ihn zu fixieren (…) und somit einen alten,    Rhetorik und Creative Writing am Department
                           verschollenen Sinn mit literarischen Zauberwor-     Design. Ein Wahlpflichtfach, das künftigen Illus-
                           ten wieder in die Erinnerung und vielleicht sogar   tratoren, Comiczeichnern, Fotografen, Typogra-
                           ins Leben zu rufen – so lautet das Programm von     fen, Graphic-Novel-Erzählern, Werbetextern und
                           Wolfgang Hegewald.“                                 Game-Entwicklern hilft, „methodische Erfahrun-
                                Literatur ist für Hegewald in Sprache model-   gen beim eigenen Erzählen zu sammeln, die
                           lierte Menschenerfahrung, und die ist nie ein-      Hellhörigkeit in allen Belangen des Wortlauts zu                                                                                                                             Ein Zwischenstadium,
                                                                                                                                                                                                                                                            in dem die Landschaft
                           deutig. Im „Lexikon des Lebens“ heißt es einmal:    verfeinern, mit Weltliteratur in Berührung zu                                                                                                                                  verschwimmt: genau
                           „Poesie teilt nicht umstandslos etwas mit, Poesie   kommen und Poesie als einen eigenständigen                                                                                                                                      das richtige Wetter
                           informiert nicht, Poesie gibt uns existentiell zu   Erkenntnismodus zu entdecken“, wie Hegewald                                                                                                                                 für Hegewald, der sich
                                                                                                                                                                                                                                                             stets Eindeutigkeiten
                           denken, denn wir hängen bis ins Mark der Seele      seine Aufgabe als „Schriftsteller im öffentlichen                                                                                                                                       verweigert
                           am mehrdeutigen Wort.“                              Dienst“ beschreibt.                                  zog und Erfüllung fand. Es wäre ein unehrliches       dio Theater und Literatur“ an der Universität Tü-
                                Den Wert der Irritationen, im besten Sinne,         Bereits vor seiner Tätigkeit an der HAW etab-   Ende in Zeiten, in denen das Offene, dessen vehe-     bingen soll zum kommenden Wintersemester
                           die Hegewald mit seinen Grotesken bisweilen         liert Hegewald an der Uni Tübingen von 1993 bis      menter Verfechter Hegewald ist, zunehmend be-         auslaufen.
                           auslöst, sieht er darin, dass die Leser „für die    1996 das „Studio Literatur und Theater“, einen       droht erscheint: „Stürmische Zeiten. Weltweite            Eine elementare Erkenntnis aus Hegewalds
                           Dauer ihrer Lektüre einmal das Gängelband ihrer     Modellversuch, der Studenten aus allen Fakultä-      Latenz eines Populismus, der die Demokratien zu       Leben und Werk findet heute unter umgekehrten
                           Sprachkonventionalität lockern und beginnen zu      ten eine Sprache der Kritik vermittelt, eine Spra-   verfinstern beginnt. Schichtenunabhängige Asozi-      Vorzeichen ihre Geltung: dass mobile Freiheit
                           staunen. Wir sind alle von Kindheit an sprach-      che der nuancierten Unterscheidungskunst. He-        alität. Authentizitätsfuror bei zunehmend totalitä-   ohne geistige Freiheit, die nicht zuletzt im
                           dressiert und auf Bedeutung und Sinn getrimmt       gewald begreift Sprache als Schöpfungs- und          rer Konsenskonditionierung. Verschwörungstheo-        sprachlichen Nuancenreichtum liegt, wertlos ist.
                           und wenig darin geübt, den schönen Eigensinn        „Hochpräzisionsinstrument“, Schreiben als            rien, die sich aufklärerisch gerieren. Fake News
                           von Worten und Sätzen zu entdecken.“                „Kulturtechnik im Dienste eines Existentials“.       und notorische Denunziation des Komplexen.“
                                                                               Ein Schreiben, das nichts mit Genieästhetik zu            Weltverwahrlosung, davon ist Hegewald
                           WAHLHEIMAT HAMBURG                                  tun hat, sondern das erlernt werden kann wie in      überzeugt, beginnt mit der Sprachverwahrlo-
                                                                                                                                                                                                             ULRICH THIELE
                           Zurück zu Hegewalds Biografie, genauer: nach        einer Werkstatt, weshalb er gerne von seiner         sung. Werkstätten der Wörtlichkeit, die der Ver-
                                                                                                                                                                                                             ist Redakteur und Literaturressortleiter
                           Hamburg. Es gibt ein paar Umwege, über Win-         „Werkstatt der Wörtlichkeit“ spricht, die auch ein   finsterung mit Aufklärungslicht begegnen, fallen                         beim Szene Hamburg Stadtmagazin und
                           sen/Luhe, Bremerhaven und Tübingen unter an-        Ort der Aufklärung und der Herzensbildung ist.       der seit einigen Jahrzehnten voranschreitenden                           Projektleiter von Hamburg History Live.
                                                                                                                                                                                                             Er ist jetzt so alt wie Hegewald bei seiner
                           derem, doch Hamburg, die Stadt, in die er immer          Man könnte dieses Porträt mit einem wohli-      Radikalökonomisierung zum Opfer. Unter die-                              Ausreise. Zuletzt überquerte er die Gren-
                           wollte, die er schon in Leipzig zu seinem Sehn-     gen Gefühl beenden, von einem, der ins Offene        sen Umständen eine Hiobsbotschaft: Das „Stu-                             ze zwischen Niendorf und Norderstedt

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