ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT - Freie Akademie der Künste Hamburg
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K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT Seine Entscheidung, die DDR zu verlassen, bezeichnet der Schriftsteller Wolfgang Hegewald als das Fundament seiner Existenz. Porträt eines Lebens voller Freiheitsdrang, Grenzüberschreitungen und Sprachlust TEXT: ULRICH THIELE FOTOS: JAKOB BÖRNER NACH HAMBURG! NACH HAMBURG! Der Stadtpark kann als Synonym für den Autor gesehen werden: FOTOS: ein gehegter, ins Urbane überführter Wald, ein Hegewald eben. Zudem ist er für ihn fußläufig erreichbar – ein Glücksfall für den passionierten Spaziergänger 42 43
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald Wolfgang Hegewald A m 24. September 1983, einem Samstag, „JAZZ, DIE SEHNSUCHT SICH reist Wolfgang Hegewald mit einem One-Way-Ticket von Leipzig nach Ham- AUSZULÖSCHEN, ENTGRENZTER burg. Dass es eine Abreise auf Nimmer- LEBENSRAUSCH, DIE SPRACHE wiedersehen sein könnte, nimmt er in Kauf, die- ser Preis steht in keinem Verhältnis zu seinem DER EINGEWEIDE, DER Freiheitsbegehren. Er ist nun 31 Jahre alt, nicht INTELLEKT DER SCHENKEL“ mehr ganz jung, noch nicht alt, seine Lebenszeit ist befristet und so will er nicht dahinleben. Beige ist die alles dominierende Farbe im Zug. Wie alle Interzonenzüge wird auch dieser vor allem von Rentnern – sie genießen in der DDR Reisefreiheit – genutzt. Scheu streifen ihre Blicke den Mann, der nicht ins Raster passt, der von einem „Erkenntnisschock“ getroffen, wie er offenbar nicht vorhat, zurückzukehren. Hegewald sagt, weil Arendt in der ihr eigenen Luzidität ei- hat keinen Pfennig Geld bei sich, weder Ost, noch nen politisch-philosophischen Freiheitsbegriff West, dafür einen ranzigen Zettel, der ihm die auf den Punkt bringt, der schon lange vor der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR Lektüre in seinen Gedanken und Texten präfor- attestiert – der bewilligte Ausreiseantrag, für ihn muliert ist. So wie in dieser Passage, in der ein nicht mit Geld aufzuwiegendes Wertpapier. Arendt festhält: „Von allen spezifischen Freihei- Ausreiseantrag, das klingt so harmlos. Nach ten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn freiwilliger Emigration, die einem freundlicher- wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungs- weise gewährt wird. Der Wahnsinn, der dahinter- freiheit nicht nur die historisch älteste, sondern steckt, die Schikanen, der Kräfteverschleiß, wenn auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, man der Willkür der Machthaber ausgesetzt ist – wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde all das verschleiert dieses Wort. Oder die Unge- des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung wissheit nach der Antragstellung: Wird man ihn, der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbe- wie so viele, ins Gefängnis stecken, um im Rah- dingung der Versklavung war.“ men des Tauschmodells mit der Bundesrepublik die Ablösesumme in die Höhe zu treiben? Ir- SEHNSUCHT NACH GEGENWELTEN gendeinen Vorwand würden sie schon finden, Wer eine Ahnung davon bekommen will, welche „Staatshetze“ zum Beispiel. Oder werden sie ihn Einschränkungen junge Menschen in der DDR zehn Jahre lang warten und versauern lassen, ehe dazu antrieb, das Wagnis Ausreiseantrag einzu- mal eine Antwort kommt? gehen, der möge Hegewalds erstes Buch lesen. Es Fast 40 Jahre nach seiner Übersiedlung, im heißt „Das Gegenteil der Fotografie“, ist 1984 bei März 2021, sitzt Wolfgang Hegewald in seiner S. Fischer erschienen und das einzige seiner pu Wohnung in Barmbek-Süd und konstatiert: „Die blizierten Bücher, das er noch in der DDR ge- Entscheidung, mich mit dem Monstrum Aus schrieben hat. Es lässt sich als Stimmungsbild reiseantrag herumzuschlagen und ins Offene zu einer politischen Resignation lesen: Für die Pro gehen, ist die Freiheitstatsache meines Lebens tagonisten Anja und Friedrich sollte es ein schö- schlechthin. Sie ist bis heute ein Fundament mei- ner Urlaub werden. An einem späten Augusttag ner Existenz und meines Schreibens, weil sie mit Ende der 1970er-Jahre zieht es die beiden gen der elementaren Erkenntnis verbunden ist, dass Süden, vielleicht, weil ihre „Träume vorschnellten billige Freiheit nichts wert ist.“ in südliche Üppigkeit“. Nahe einer südböhmi- Es ist ein schöner Zufall, dass ausgerechnet schen Talsperre, nicht weit von Bayern und Öster- seine Wahlheimat Hamburg ebenjene Stadt ist, reich entfernt, sind sie zu nahe an die Grenze ge- in der Hannah Arendt am 28. September 1959 raten, der Verdacht der sogenannten „Republik- Wahlheimat statt Herkunftskitsch: Die anlässlich des Lessing-Preises ihre berühmte flucht“ steht im Raum. Nun sitzen sie getrennt Fixierung auf Verwur- Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zei- voneinander in Untersuchungshaft und werden zelung sieht Hegewald ten“ gehalten hat. Als Hegewald 1983 die Grenze verhört. Während ihrer Haft fabulieren sie, resü- als „biographischen Holzweg und einen in den Westen überquert, kennt er die Rede noch mieren ihre bisherigen Enttäuschungen und um- groben Irrtum über die nicht, er wird sie erst 25 Jahre später lesen und kreisen ihre Wünsche nach einer Wirklichkeit u eigene Natur“ 44 45
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald Texte auf autobiografische Hinweise zu veren- Hegewald ist Teil einer Gruppe von jungen gen. Jene Zuspitzung hat einen langen Anlauf, Autoren, die sich gegenseitig ihre Texte vorlesen. sie beginnt in Hegewalds Grundschulzeit. Eines Tages haben sie einen öffentlichen Auftritt in der Dresdner Jugendbibliothek. Lesungen, KINDHEIT muss man dazu sagen, haben einen sensationell Als die Mauer errichtet und er in eine Diktatur subversiven Rang in der DDR. An diesem Abend eingekesselt wird, ist er neun Jahre alt. Wolfgang liest Hegewald einen Text, in dem Monteure im Hegewald wird am 26. März 1952 in Dres- Keller eines Hauses Rohre austauschen. An genau den-Klotzsche geboren. Seine frühe Kindheit ist dieser Stelle stehen mehrere Männer auf. Hier noch ungetrübt. Landschaftlich idyllisch einge- finde gerade eine Konterrevolution statt, sagen sie. bettet, wächst er am Stadtrand an den Ausläufen Die Spitzfindigkeit der Zensur sieht in den Roh- der Dresdner Heide auf. Die Familie wohnt im ren ein Synonym für Leitungen, ergo den Text als oberen Geschoss eines Zweifamilienhauses mit Parabel über den Austausch der politischen Füh- Garten, der ein Urelement seiner Kindheit ist. rung. Tumultartige Szenen, die Lesung wird u Die Schulzeit ist bedrückend. Den Einschnitt be- kommt er abrupt zu spüren, als die Gleichschal- tung beginnt. Ein Glück, dass es Literatur gibt. Als er elf Jahre alt ist, diagnostiziert ein Arzt fälschlicher- weise einen Herzfehler. Ein Jahr muss er wegen Vor der Abreise am der Fehldiagnose im Bett liegen. Er nutzt die Zeit Leipziger Bahnhof. zur Lektüre, aus ihm wird ein hingerissener Le- Nach seiner Ankunft in Hamburg kommt ser. Die Märchen der Brüder Grimm und die er zunächst bei einer Abenteuergeschichten von Karl May – in der Bekannten in Winsen/ DDR verbotene Schmuggelware – haben es ihm Luhe unter. Als Als Hegewald ein Kind ist, wird ihm fälschlicherweise ein Herzfehler diagnostiziert. Das Organ wird im Laufe seines Lebens immer wieder eine Sozialhilfeempfänger wichtige Rolle einnehmen. Sein Roman „Herz in Sicht“ ist autobiografisch inspiriert von einer Operation am offenen Herzen. Dem Roman stellt angetan, sie sind Gegenwelten zum stickigen verrichtet er dort eine er ein Zitat von Hannah Arendt voran: „Das Herz ist ein komisches Organ; erst wenn es gebrochen wird, schlägt es seinen eigenen Ton; wenn es Alltag. Die ersten Maßstäbe zum Autorensein Zeit lang gemein- nicht bricht, versteinert ist. Der Stein, der einem vom Herzen fällt, ist fast immer der, in welchen sich das Herz fast verwandelt hätte.“ nützige Arbeit – eine werden gesetzt, diffus und noch ungeordnet regt erdende Tätigkeit, sich der Wunsch, Schriftsteller zu sein in ihm. findet Hegewald Umso schmerzhafter ist es für ihn, dass sei- ne liebsten Texte im Deutschunterricht „mit dem schartigen Besteck des sozialistischen Realismus malträtiert“ werden, so Hegewald rückblickend. jenseits von grauer Provinzialität. Spiel, Sommer, Strenge, Jazz, heilige Zärtlichkeit und unbefleckte So will er nicht behandelt wissen, was er liebt. Er Farbenpracht, Transzendenz und Lebenslust wer- Abtreibung, der Charme einer Bahnhofstoilette, entscheidet, literarischer Autodidakt zu bleiben den evoziert, oder eher: die Sehnsucht danach. die Entfernung von geilem Bürgergrinsen, (…) und nicht Literatur zu studieren. Eine Stelle, an der Anja den Jazz als Gegenwelt Jazz, das Hinüberweisende, da hinüber.“ zum DDR-Muff zelebriert, beschreibt diese Sehn- Ihre Sehnsucht nach anderen Wirklichkei- STUDIUM sucht und gleichzeitig die ganze Tragik ihrer Un- ten, in der Sprache, in der Musik, im Alkohol, Was also tun? Ein Brotberuf ist, gerade in der terdrückung mit poetisch-präziser Wucht in ei- wird vom Wirklichkeitsdiebstahl der Diktatur DDR, das beste Mittel, um sich künstlerischen nem furiosen Benennungsrausch voller Ambi- sowie von Friedrichs und Anjas eigener Ohn- Freiraum zu schaffen. Hegewald, schon immer guitäts- und Nuancensensibilität: macht erstickt. Am nächsten Tag werden sie aus naturwissenschaftlich interessiert, studiert ein „Jazz, da berührten sich endlich Spiel und der Haft entlassen, doch eine Entlassung in die damals noch neues Fach, Informationsverarbei- Existenz, da verließ meine Biographie ihre fatale Freiheit ist es nicht. Als Erkenntnis bleibt, dass tung, an der TU Dresden. In dieser vierjährigen Richtung, Jazz, die Rückkehr zur rauchgeschwän- geistige Freiheit ohne mobile Freiheit wertlos ist. Studienzeit verkehrt er bereits in literarischen gerten Höhle und die Zukunft des Jagdzaubers, Arendt dixit. Kreisen, auf der Suche nach so etwas wie Öffent- animalische Gier und der Ekel vorm feucht sau- „Morgen werden wir wieder zu Hause sein; lichkeit entdeckt er zudem die Kirchenräume als genden Leben zugleich, Jazz, die Sehnsucht sich das ist beinah unvorstellbar, denn so vergehen die Refugium. In der Evangelischen Studentenge- auszulöschen, entgrenzter Lebensrausch, die Jahre“, lautet das Fazit ihres Urlaubs. Wer will, meinde öffnet sich ihm ein Raum demokrati- Sprache der Eingeweide, der Intellekt der Schen- kann etwas von Hegewalds Freiheitsbegehren scher Mitbestimmungsmöglichkeiten und aus- Heitere Tage: Silves- FOTOS: PRIVAT kel, (…) die trunkene Zeugung, sentimentales darin wiedererkennen, das ihn auch als Ergebnis differenzierter pluralistischer Interessen – und er ter 1987 in der Villa Massimo in Rom mit Kunststück, wahre Lüge, Wahnsinn, der sich einer biografischen Zuspitzung zur Ausreise entdeckt die Bibel als poetische, also genuin am- Ulrike Greve. 1988 selbst formuliert, Exorzismus von puritanischer drängt – wenngleich man sich hüten sollte, seine bivalente Lebens- und Freiheitslektüre für sich. heiratet das Paar 46 47
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald übermütige Ausflüge in die Konkrete Poesie; folglich seine Texte keinem Westverlag anbietet. Nachdenken über Mythos, Märchen und Mathe- Im Café Corso, wo er seine Honorare ausgibt, DIE KIRCHLICHE HOCH- matik als spezifische Erkenntnisregionen, die breitet sich bei Jazz und Literatur, Promiskuität SCHULE IN LEIPZIG IST EINE Fühmann seit jeher interessierten.“ Fühmann ist nicht nur ein bemerkenswerter und Suff ein Lebensgefühl aus, das in einem Slogan Ausdruck findet: „Resignation ist noch zu „INSEL IM ROTEN MEER“ Schriftsteller, er ist auch ein enthusiastischer För- viel Engagement“, lautet er. „Wir fristeten unser derer junger Schriftstellerinnen und Schriftstel- Dasein hoch- und übermütig in einem Verhäng- ler. In einem Land ohne Öffentlichkeit für Texte, nis, für das wir uns ganz und gar nicht verant- in dem jeder Bereich des privaten Lebens über- wortlich wähnten, hineingeboren eben“, erinnert wacht wird, legt Fühmann Fürsprache bei Verla- sich Hegewald. gen ein und interveniert bei der Zensurbehörde, Hannah Arendt spricht in ihrer Lessing-Re- die sich nicht Zensurbehörde nennt. Zwischen de von den Parias, den Insassen von Diktaturen, Fühmann und Hegewald beginnt eine fruchtbare die anstatt im Licht der Aufklärung in beheizten Korrespondenz, eine wertschätzende Verbin- Wärmest uben zusammenr ücken und ihre unterbrochen, das Publikum nach Hause ge- dung. Fühmann liest Hegewalds Texte, kritisch schreckliche Weltlosigkeit durch Ohnmachts schickt. Einige Wochen später kommen zwei Her- und handwerklich auf sie einwirkend – und er fantasien kompensieren: „Die Menschlichkeit ren zu Hegewald nach Hause, er lebt noch bei sei- setzt sich für den jungen Schriftsteller auf Ver- der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde nen Eltern, und fordern ihn auf, den Text schrift- lagssuche ein. der Befreiung noch niemals auch nur um eine lich zu widerrufen. Hegewald widerruft nicht, wo- Ab September 1977, Hegewald studiert also Minute überlebt. Das heißt nicht, dass sie nichts mit er durchkommt, allerdings wird ihm nach Ab- Theologie in Leipzig, scheint erstmals seine sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar; schluss seines Diploms wegen seines Engage- Hoffnung auf eine Schriftstellerexistenz konkre- aber es heißt, dass sie politisch schlechterdings ments ein Promotionsverbot auferlegt. tere Formen anzunehmen. Was der VEB Hin- irrelevant ist.“ Es folgen drei Pflichtjahre in einem stink storff Verlag mit ihm treibt, ist indes nur ein zyni- Arendt beschreibt ebenjenes Ohnmachtsge- langweiligen Industriejob im VEB Kraftwerksan- sches Spiel mit dem Prinzip Hoffnung. Über fühl, an dem auch Anja und Friedrich aus „Das lagenbau Radebeul. „Kasernierte Arbeitslosig- Jahre hält der Verlag ihn hin, setzt Verträge für Gegenteil der Fotografie“ leiden. Ihr Rückzug in keit“, sagt Hegewald heute dazu, vier Diplom die Rechte an Büchern auf, die nie erscheinen, die private Intimitätsblase ist das Gegenteil von ingenieure sitzen in einem Barackenzimmer und zahlt ihm Honorare für fiktive Buchauflagen aus. Arendts politischem Freundschaftsbegriff, der haben oft monatelang nichts zu tun als Fachzeit- Freundschaft als öffentliches Ereignis begreift, schriften zu lesen. Eine frustrierende Lebenspha- AUSSICHTSLOSIGKEIT UND AUSREISE als existenziell-politische Konstruktion, als ge- se, aber immerhin, nachts schreibt er. Jahre, in denen ein Vergeblichkeitsgefühl wächst, meinsames Gespräch über die Welt – und die Das Promotionsverbot ist einer von mehre- auch, weil Hegewald sich stur an sein Diktum Welt als Gegenstand, der diese Freundschaft be- ren Brüchen in Hegewalds Biografie. Nachdem hält, nur dort zu publizieren, wo er auch lebt und lebt und ihr einen Ort gibt. u er die Pflichtjahre abgesessen hat, muss er zuse- gärtner, er ist kein Student, aber weil seine Ver- hen, wie es für ihn weitergeht. Ein zweites staatli- bindung zur Dresdner Studentengemeinde nicht ches Studium wird ihm nicht gestattet. Aber es abgerissen ist, erhält er eine Einladung zu einem gibt noch die kirchlichen Räume, sie waren ihm, Wochenende im Erzgebirge. Dort begegnet er am der nicht besonders religiös erzogen wurde, bis- 19. März erstmals dem Schriftsteller Franz Füh- her eine Zuflucht, und ohnehin, die Geisteswis- mann, der für die Studenten liest. Fühmanns SEINE WERKE Eine Auswahl senschaften fehlen ihm noch. Bis zum Semester- Texte begeistern Hegewald nachhaltig: „Was ich beginn überbrückt er noch ein halbes Jahr als bislang von Fühmann gelesen hatte, entzückte Friedhofsgärtner in Dresden, dann beginnt er mich und den Schriftsteller, der ich werden woll- sein Studium der Theologie an einer kirchlichen te. Mich begeisterte der Erscheinungsreichtum Hochschule in Leipzig. Was für eine Insel der dieser Prosa: statt syntaktischer Einfalt und plot- unabhängigen Gelehrsamkeit! Endlich mal etwas gesteuerter Linearität ein präzise überbordendes anderes als Marx und Lenin: Wittgenstein, Kier- Spiel mit Perioden und Kadenzen, die kontrollier- kegaard, was für eine geistige Durchlüftung! te Lust an der Abschweifung und die in Sprache Nach zehn Semestern auf dieser „Insel im roten modellierten Hologramme, die Verschränkung Meer“ schließt Hegewald sein Studium mit einer von Prägnanz und Virtuosität“, schreibt Hege- Arbeit über „Poesie und Predigt“ ab. wald in einem Erinnerungsessay. An Fühmann entzündet sich seine „Liebe für hybride Formen. „Fälle und Fallen“, „Lexikon des Lebens“, „Herz in Sicht“, „Die eigene Geschichte“, „Fegefeuernachmittag“, Wallstein, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, FÜHMANN, DER FÖRDERER Wahrnehmungsminiaturen und Mikroessays; 79 Seiten, 16 Euro 367 Seiten, 28 Euro 285 Seiten, 19,90 Euro 176 Seiten, 14,80 Euro 256 Seiten, 19,80 Euro In diese Zeit fällt eine prägende Begegnung. Im Denkbilder, Maximen und Reflexionen; poetolo- März 1977, Hegewald arbeitet noch als Friedhofs- gische und geschichtsphilosophische Exkurse; 48 49
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald ist die Entscheidung richtig und notwendig; du gehst sonst hier kaputt“, sagt er. Auch Franz Fühmann, sein Förderer, der an seinem Versuch, der Poesie in der DDR einen Raum zu schaffen, immer mehr verzweifelt, zeigt bei allem Bedauern Verständnis. Ein Schriftsteller trage allein die Verantwortung für sein Werk, nie- mand sonst, sagt Fühmann ihm. Und niemand sonst, so der Schriftsteller weiter, habe das Recht, ihm Vorschriften zu machen, wie er dieser Verant- wortung nachkomme. Wenige Wochen vor seiner Abreise besucht Hegewald den an Krebs Erkrank- ten, der schwer gezeichnet in der Berliner Charité liegt, und verabschiedet sich. Es ist ein Abschied für immer, Fühmann stirbt im Juli 1984. PUBLIKATIONEN IN DER BUNDESREPUBLIK Im Westen hat er einen guten Start: 1984 gewinnt er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Kla- genfurt den Preis der Kärntner Industrie. Im sel- ben Jahr veröffentlicht S. Fischer sein Debüt. Ein Jahr später folgt schon „Hoffmann, Ich und Teile der näheren Umgebung“, 1987 sein Roman „Ja- kob Oberlin oder Die Kunst der Heimat“. Insge- samt 14 Bücher hat er bis heute publiziert. Sie alle durchzieht eine übersprudelnde Sprachlust. Das 2017 bei Matthes & Seitz erschie- Im Jahr 2000 ruft Hegewald den Italo-Svevo-Preis ins Leben. Die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung honoriert nene „Lexikon des Lebens“, sein vielleicht wich- „literarische Spielarten des ästhetischen Eigensinns“. Hegewald: „Ein Preis, der methodisch die blinden Flecken der tigstes Werk, ist so etwas wie die Summe seines Betriebswahrnehmung nach Erstklassigem durchmustert. Der Italo-Svevo-Preis denkt an den Leser von morgen, indem er ein literarisches Werk ehrt und fördert, dessen Rang sich bereits abzeichnet, dem es jedoch vorerst am Schreibens – und, nebenbei bemerkt, sein phy- Oben: Hegewalds breiten Zuspruch der Zeit mangelt. Er ist ein Solitär.“ Ausgabe von Franz sisch mit Abstand schönstes Buch. Zwei weitere Fühmanns „Zweiund- Künstler haben daran mitgewirkt: Die Bilderzäh- zwanzig Tage oder Die lerin Anke Feuchtenberger hat 27 Kohlezeich- Hälfte des Lebens“, die dieser ihm bei ihrer nungen beigesteuert, der Typograf Jovica Veljović ersten Begegnung sig- Es reicht. Im Jahr 1982 ist Hegewald 30 Jahre sen. Seine Bücher darf er mitnehmen, wenn- hat das Buch mit der eigens erfundenen Schrift Außerdem: Komik im existenziellen Sinne. niert. Unten: Im Herbst 2021 erscheinen Hege- alt. Höchste Zeit, die Verantwortungslosigkeit hin- gleich unter aberwitzigen Bedingungen. Er muss Agmena bibliophil gestaltet. Wie so oft, greift Seine 2020 bei Wallstein unter dem Titel „Fälle walds Aufzeichnungen ter sich zu lassen. Zumal ein Ende dieser Zustände eine Bücherliste vorlegen, die belegt, dass er kei- Hegewald darin autobiografische Versatzstücke und Fallen“ veröffentlichten Capriccios sind Sze- aus dem Jahr 2020 nicht absehbar ist, keiner kann sich vorstellen, ne „den Frieden störenden Schriften“ hat. auf, verwandelt sie in einem Spiel, das immer nen, in denen, so Hegewald, „Elemente des Alltäg- – wohlgemerkt: kein Corona-Tagebuch – im dass die Mauer fällt. Im Juni 1982 bringt er seinen Ein Teil seiner Freunde lehnt seine Entschei- auch Identitätskritik wider den grassierenden lichen, Burlesken, Grotesken, Skurrilen und Wallstein Verlag. Titel: Ausreiseantrag in Leipzig-Reudnitz zur Post. dung, das Land zu verlassen, ab. Sie träumen Authentizitätskitsch ist, fügt, wahrnehmungs- Phantastischen sich zu Tableaus verquicken, in „Tagessätze / Roman Die Schikanen folgen unweigerlich: Über noch immer von der besseren DDR. Hegewald süchtig und weltneugierig, wie er ist, Alltagsbe- denen sich auf ästhetische Weise ein Aufklärungs- eines Jahres“ Nacht zieht, behördlich lizensiert, ein Ex-Knacki lässt ihr „Wir bleiben hier!“ nicht gelten, jenes obachtungen und essayistische Exkurse ein. Pro- interesse zu erkennen gibt. Aufklärungsinteresse als Mitbewohner in die Zweizimmer-Mansarden- Kollektivierungsgebot, das sich anmaßt, „in mei- grammatisch für Hegewalds Lexikon steht ein auch an dem, was kategorisch unaufklärbar ist“. bude in einem abrissreifen Haus ein und pisst in ne persönliche Lebensentscheidung hineinzure- Bonmot von Jean Cocteau, laut dem „auch ein In „Eine kleine Feuermusik“ aus dem Jahr den Emailleabfluss in der Küche, die einzige den und mich zum entbehrlichen Hobelspan des gelungener literarischer Text nichts ist als ein in 1994 erzählt Hegewald von einem Brandstifter, Wasserstelle. Da bietet ein Freund, der Jazz Fortschritts zu deklarieren“. Unordnung gebrachtes Alphabet“. Und die an dessen uneindeutiger Motivlage das Gericht posaunist Frieder W. Bergner, Hegewald Asyl in Andere reagieren mit Verständnis. Ein Vo- Grammatik ist, wie Hegewald in dem 2020 bei verzweifelt. Heinz Ludwig Arnold sieht darin in seiner Wohnung an. Insgesamt geht das „Mons tum seines engen Vertrauten Jürgen Israel, eines Wallstein herausgekommenem Sammelband einem Nachwort eine „Werbung für das Rätsel trum Ausreiseantrag“ für Hegewald aber glimpf- Germanisten, nach einer anderthalbjährigen Ge- „Literarische Werkstattgedanken“ schreibt, ein Mensch“ und fasst Hegewalds Programmatik lich aus. Kein Gefängnis, kein zehn Jahre andau- fängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung „Kosmos kombinatorischer Unendlichkeit, (…) folgendermaßen zusammen: „In einer nach ein- erndes diffuses Warten. Rund 15 Monate nach faktisch mit Berufsverbot belegt, wird Hegewald eine elementare Schöpfungstatsache, ein Satzge- deutigem Sinn gierenden Welt widerstehen He- seiner Antragstellung erhält er einen Brief, er nie vergessen: „Ich werde einen meiner besten nerator, der zu zaubern beginnt, wenn er in die gewalds ,Helden‘ solcher gewünschten Ein-Deu- solle die DDR innerhalb von vier Wochen verlas- Freunde verlieren und vermissen. Aber für dich richtigen Hände fällt“. tigkeit, indem sie sich deren Allanspruchs u 50 51
K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E K Ü N ST L E R U N D I H R E W E R K E Wolfgang Hegewald Wolfgang Hegewald suchtsort stilisiert hat, wird seine Wahlheimat. Und was für schöne Zufälle und wie viel Genug- tuung die Hansestadt birgt: Hier lernt er 1986 seine Frau, die Theologin und angehende Pasto- rin Ulrike Greve, kennen. Die Stadt Hamburg er- möglicht ihm 1987 ein einjähriges Stipendium in LITERATUR IST FÜR der Villa Massimo in Rom, wo seine Erzählung HEGEWALD IN SPRACHE „Verabredung in Rom“ entsteht. „Die Stadt, das Licht, die Farben, die Märkte – sie haben mir end- MODELLIERTE gültig das ostzonale Grau aus den Augen gewa- MENSCHENERFAHRUNG schen. Eine existentielle Reinigung“, sagt Hege- wald. 1989 nominiert ihn die Literaturredaktion der Zeit als Fellow für den German Marshall Fund. Im Rahmen einer vierwöchigen Rundreise ist er zu Besuch in der Literaturredaktion der New York Times, im Haus von William Faulkner in Oxford, Mississippi und in der Kongressbiblio- thek in Washington, D.C. Last, but not least: 22 Jahre nach dem Promo- konsequent wie eines unsittlichen Antrags er- tionsverbot in der DDR, beruft die Fachhoch- wehren. Statt dessen errichten sie ihre eigene schule Hamburg (später Hochschule für Ange- Wirklichkeit, leben nach selbstgesetzten Regeln, wandte Wissenschaften) Hegewald im Herbst die einer so auf Eindeutigkeit fixierten Außen- 1996 auf eine Professur in einem Fach, das er nie welt unverständlich bleiben müssen. (…) Den studiert hat. Er wird für 22 Jahre, bis zu seiner sinnlos gewordenen Sinn in Frage zu stellen, Emeritierung im Jahr 2018, Professor für Poetik, statt ihn zu fixieren (…) und somit einen alten, Rhetorik und Creative Writing am Department verschollenen Sinn mit literarischen Zauberwor- Design. Ein Wahlpflichtfach, das künftigen Illus- ten wieder in die Erinnerung und vielleicht sogar tratoren, Comiczeichnern, Fotografen, Typogra- ins Leben zu rufen – so lautet das Programm von fen, Graphic-Novel-Erzählern, Werbetextern und Wolfgang Hegewald.“ Game-Entwicklern hilft, „methodische Erfahrun- Literatur ist für Hegewald in Sprache model- gen beim eigenen Erzählen zu sammeln, die lierte Menschenerfahrung, und die ist nie ein- Hellhörigkeit in allen Belangen des Wortlauts zu Ein Zwischenstadium, in dem die Landschaft deutig. Im „Lexikon des Lebens“ heißt es einmal: verfeinern, mit Weltliteratur in Berührung zu verschwimmt: genau „Poesie teilt nicht umstandslos etwas mit, Poesie kommen und Poesie als einen eigenständigen das richtige Wetter informiert nicht, Poesie gibt uns existentiell zu Erkenntnismodus zu entdecken“, wie Hegewald für Hegewald, der sich stets Eindeutigkeiten denken, denn wir hängen bis ins Mark der Seele seine Aufgabe als „Schriftsteller im öffentlichen verweigert am mehrdeutigen Wort.“ Dienst“ beschreibt. zog und Erfüllung fand. Es wäre ein unehrliches dio Theater und Literatur“ an der Universität Tü- Den Wert der Irritationen, im besten Sinne, Bereits vor seiner Tätigkeit an der HAW etab- Ende in Zeiten, in denen das Offene, dessen vehe- bingen soll zum kommenden Wintersemester die Hegewald mit seinen Grotesken bisweilen liert Hegewald an der Uni Tübingen von 1993 bis menter Verfechter Hegewald ist, zunehmend be- auslaufen. auslöst, sieht er darin, dass die Leser „für die 1996 das „Studio Literatur und Theater“, einen droht erscheint: „Stürmische Zeiten. Weltweite Eine elementare Erkenntnis aus Hegewalds Dauer ihrer Lektüre einmal das Gängelband ihrer Modellversuch, der Studenten aus allen Fakultä- Latenz eines Populismus, der die Demokratien zu Leben und Werk findet heute unter umgekehrten Sprachkonventionalität lockern und beginnen zu ten eine Sprache der Kritik vermittelt, eine Spra- verfinstern beginnt. Schichtenunabhängige Asozi- Vorzeichen ihre Geltung: dass mobile Freiheit staunen. Wir sind alle von Kindheit an sprach- che der nuancierten Unterscheidungskunst. He- alität. Authentizitätsfuror bei zunehmend totalitä- ohne geistige Freiheit, die nicht zuletzt im dressiert und auf Bedeutung und Sinn getrimmt gewald begreift Sprache als Schöpfungs- und rer Konsenskonditionierung. Verschwörungstheo- sprachlichen Nuancenreichtum liegt, wertlos ist. und wenig darin geübt, den schönen Eigensinn „Hochpräzisionsinstrument“, Schreiben als rien, die sich aufklärerisch gerieren. Fake News von Worten und Sätzen zu entdecken.“ „Kulturtechnik im Dienste eines Existentials“. und notorische Denunziation des Komplexen.“ Ein Schreiben, das nichts mit Genieästhetik zu Weltverwahrlosung, davon ist Hegewald WAHLHEIMAT HAMBURG tun hat, sondern das erlernt werden kann wie in überzeugt, beginnt mit der Sprachverwahrlo- ULRICH THIELE Zurück zu Hegewalds Biografie, genauer: nach einer Werkstatt, weshalb er gerne von seiner sung. Werkstätten der Wörtlichkeit, die der Ver- ist Redakteur und Literaturressortleiter Hamburg. Es gibt ein paar Umwege, über Win- „Werkstatt der Wörtlichkeit“ spricht, die auch ein finsterung mit Aufklärungslicht begegnen, fallen beim Szene Hamburg Stadtmagazin und sen/Luhe, Bremerhaven und Tübingen unter an- Ort der Aufklärung und der Herzensbildung ist. der seit einigen Jahrzehnten voranschreitenden Projektleiter von Hamburg History Live. Er ist jetzt so alt wie Hegewald bei seiner derem, doch Hamburg, die Stadt, in die er immer Man könnte dieses Porträt mit einem wohli- Radikalökonomisierung zum Opfer. Unter die- Ausreise. Zuletzt überquerte er die Gren- wollte, die er schon in Leipzig zu seinem Sehn- gen Gefühl beenden, von einem, der ins Offene sen Umständen eine Hiobsbotschaft: Das „Stu- ze zwischen Niendorf und Norderstedt 52 53
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