SAALTEXTE - FONDATION BEYELER

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SAALTEXTE

FONDATION BEYELER
SAALTEXTE - FONDATION BEYELER
Der junge PICASSO – Blaue und Rosa Periode               EINFÜHRUNG
3. Februar – 26. Mai 2019
                                                         Mit Pablo Picassos wegweisenden Meisterwerken
                                                         der Blauen und der Rosa Periode, die sein Schaffen
                                                         zwischen 1901 und 1906 bestimmen, wird die Kunst
                                                         des 20. Jahrhunderts eingeleitet und zugleich zu
                                                         einem Höhepunkt geführt. Tatsächlich zählen Picassos
                                                         Werke dieser Jahre zu den subtilsten der Moderne und
                                                         heute zu den kostbarsten Kunstschätzen überhaupt.
                                                         Die Ausstellung Der junge PICASSO – Blaue und
                                                         Rosa Periode spürt der beispiellosen künstlerischen
                                                         Entwicklung nach, die sich im Schaffen Picassos
                                                         innerhalb von nur sechs Jahren vollzieht. In dieser Zeit
                                                         entfaltet der aufstrebende Künstler seinen eigenen
                                                         Stil und avanciert so zu »Picasso«.
                                                         Den Auftakt bilden jene farbenprächtigen Werke, die
                                                         Anfang 1901 zunächst in Madrid und danach während
Cover: Pablo Picasso
Acrobate et jeune arlequin, 1905 (Detail)                Picassos zweitem Aufenthalt in Paris entstehen. In
Akrobat und junger Harlekin
Gouache auf Karton, 105 x 76 cm
                                                         Erinnerung an den tragischen Selbstmord seines
Privatsammlung                                           Freundes Carles Casagemas reduziert Picasso im Herbst
© 2019 Succession Picasso / ProLitteris, Zurich
                                                         1901 seine Farbpalette zusehends auf Blautöne und
                                                         läutet damit die sogenannte Blaue Periode ein. In den
                                                         emotionalen Bildern dieser Schaffensphase, die er
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Dieses Zeichen weist in der Ausstellung auf Werke hin,   dem menschlichen Elend und widmet sich grossen
die im Folgenden kommentiert sind. Bitte achten Sie      existenziellen Themen.
jeweils auf Zahl und Zeichen an den Beschriftungen der   Mit seiner endgültigen Übersiedelung nach Paris 1904
Exponate sowie auf die entsprechenden Nummern im Text.   beginnt eine neue Etappe im Leben des Künstlers.
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SAAL 1

Es ist die Zeit, in der Picasso seiner ersten grossen Liebe   1
begegnet. Zugleich entstehen Gemälde von äusserster           Yo Picasso, 1901
Zartheit, in denen er vermehrt mit Rosa- und Ockertönen       Ich, Picasso
arbeitet. Die faszinierende Welt des Zirkus wird zu einem
Hauptthema. 1906 weilt Picasso einige Wochen im               Der junge Maler schaut den Betrachter herausfordernd
katalanischen Bergdorf Gósol, wo er Bilder malt, in denen     über die Schulter an. Sein weisses, mit kühnen Pinsel-
sich seine Suche nach einer neuen Ursprünglichkeit            strichen gemaltes Hemd leuchtet vor dem dunklen
manifestiert. Zurück in Paris, entwickelt Picasso diesen      Hintergrund; in seiner rechten Hand hält er eine Palette
»primitivistischen« Stil weiter und findet zu einer neu-      mit Farbresten, die zusammen mit dem lebendigen
artigen Bildsprache, in der sich der Kubismus ankündigt.      Orange und Gelb in Krawatte und Gesicht starke Akzente
So veranschaulichen die einzigartigen Werke der Blauen        setzen. Dieses Selbstbildnis ist für die erste Ausstellung
und der Rosa Periode Picassos fortwährendes Streben           des Künstlers in der Galerie von Ambroise Vollard ent-
nach innovativen künstlerischen Möglichkeiten, die            standen. Picasso hat sich hier in einem Stil gemalt, der
schliesslich der Kunst des 20. Jahrhunderts ganz neue         an Henri de Toulouse-Lautrec oder Vincent van Gogh
Wege eröffnen.                                                denken lässt.
                                                              Ausser der Palette weist ihn nichts als Künstler aus.
Die Ausstellung wird von der Fondation Beyeler organisiert    Die expressiv aufgetragenen Farben, bei denen der Pinsel-
und entsteht in Kooperation mit den Musées d’Orsay            strich deutlich sichtbar bleibt, besitzen Aussagekraft:
et de I’Orangerie, Paris, sowie dem Musée national            Der Maler wird hier nicht beim Arbeiten gezeigt, sondern
Picasso-Paris.                                                durch sein Werk selbst repräsentiert. Das Gemälde ist
                                                              ein kühnes Statement des Neuankömmlings in Paris,
Kurator der Ausstellung ist Dr. Raphaël Bouvier.              was noch durch das unübersehbare »YO« (dt.: Ich)
                                                              neben dem Namenszug links oben untermauert wird.
                                                              Von nun an signiert der Künstler seine Werke nur noch
                                                              mit »Picasso« – dem Familiennamen seiner Mutter.
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Femme dans la loge (recto), 1901                               Arlequin assis, 1901
Frau in der Loge                                               Sitzender Harlekin
Buveuse d’absinthe (verso), 1901
Absinthtrinkerin                                               Arlequin assis gehört zu den allerersten Harlekin-
                                                               Darstellungen im Œuvre Picassos. In einer unnatürlich
In frühen Jahren verwendete Picasso, zumeist aus Geld-         verdrehten Haltung sitzt der Harlekin an einem Tisch und
not, seine Leinwände gleich mehrfach. Oft übermalte            wendet den Kopf in die der Körperdrehung entgegen-
er seine eigenen Bilder oder nutzte, wie in Femme dans         gesetzte Richtung. Der seitlich in das Bild hineinragende
la loge und Buveuse d’absinthe, sowohl die Vorder- als         Tisch bietet ihm eine Aufstützmöglichkeit. Ebenso wie
auch die Rückseite. Femme dans la loge entstand in der         in den Frauenbildnissen von 1901 sind es auch hier
Zeit der ersten Ausstellung bei Ambroise Vollard. Während      die Hände, die aufgrund ihrer Grösse und Längung den
sich der Körper der alternden Tänzerin oder Kurtisane          Blick auf sich lenken.
und die Szenerie als koloristisches Feuerwerk darbieten,       Eigenartigerweise trägt der in seiner Körpersprache
ist das Gesicht sorgfältig modelliert und zeigt individuelle   Melancholie ausdrückende Harlekin die Züge eines
Züge.                                                          Pierrots. Die Unterschiede zwischen Harlekin und Pierrot
Das heute als Vorderseite bekannte Werk Buveuse                kannte Picasso sehr wohl, doch vermischte er ihre
d’absinthe ist nur wenig später entstanden und markiert        Erkennungsmerkmale oft. Die beiden der Commedia
den Übergang von Picassos frühen Bildern zu denen              dell’Arte entstammenden Figuren waren seinerzeit Teil der
der Blauen Periode. Die deckend aufgetragenen Farben           Populärkultur, sei es in Zeitungsillustrationen, im Zirkus
breiten sich flächig aus, wobei die einzelnen Farbfelder       oder in der Oper.
durch dunkle Linien klar voneinander abgegrenzt sind.
Die Absinthtrinkerin sitzt abgerückt vom Tischchen,
einsam, in sich versunken und mit einem ins Leere
gerichteten Blick. Der Szene wohnt eine Melancholie und
Entrücktheit inne, die bald darauf für die Werke der
Blauen Periode charakteristisch werden sollte.
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Autoportrait, 1901                                             Casagemas dans son cercueil, 1901
Selbstbildnis                                                  Casagemas im Sarg

Dieses Selbstporträt hat Picasso am Ende seines zweiten        In diesem eindrücklichen Werk verarbeitete Picasso den
Aufenthalts in Paris gemalt. Gegenüber dem Werk                traumatischen Verlust seines Künstlerfreunds Carles
Yo Picasso, das im Sommer 1901 in der Galerie Vollard          Casagemas, der sich am 17. Februar 1901 das Leben
ausgestellt wurde, zeichnet sich nun im darauffolgenden        genommen hatte. Im hochformatigen Gemälde ist nur
Winter ein deutlicher Wandel ab. Der Künstler präsentiert      ein Teil der leblosen Gestalt wiedergegeben. Der Körper,
sich mit Bart und bleichem Teint, eingefallenen Wangen,        diagonal in die Komposition eingespannt, wird von
gealtert und in einen dicken Mantel gehüllt, der seinen        Sarg und Bildkante beschnitten. Das im Profil gezeigte
Körper als schwere Masse erscheinen lässt. Die imposante,      Gesicht hebt sich durch den gelbgrünen Farbauftrag
selbstsichere Pose des ersten Porträts ist einer Haltung       und die markanten Gesichtskonturen vom blauweissen
der Ungewissheit gewichen, doch auch hier zieht der            Leichentuch ab.
intensive Blick den Betrachter in seinen Bann.                 Das Bild präsentiert sich als Abwandlung des Gemäldes
Das Selbstbildnis ist eines der ersten Werke, die die reiche   La Mort de Casagemas aus derselben Zeit, das ebenfalls
Vielfalt der blauen Farbpalette zur Geltung bringen. Als       hier in der Ausstellung zu sehen ist. Darin ist der Kopf
Ausdrucksmittel für Melancholie durchdringt das Blau           des Toten nahe an den Betrachter herangerückt, und
die gesamte Komposition, die sich in blaugrüne und             eine riesige Kerze versprüht ein vielfarbiges Licht. In
nachtblaue Farbflächen gliedert. Picasso hat das Gemälde       den meisten Werken des Casagemas-Zyklus bildete sich
sein Leben lang bei sich behalten.                             aber eine aus mehrheitlich blauen Tönen bestehende
                                                               Farbpalette heraus. Picasso bemerkte rückblickend:
                                                               »Der Gedanke, dass Casagemas tot ist, brachte mich
                                                               dazu, in Blau zu malen.«
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Femme assise au fichu, 1901                                 Femme assise, 1902
Sitzende mit Schal                                          Sitzende Frau

Femme assise au fichu zeigt eine sitzende, in sich          Die kleine Tonfigur Femme assise ist die erste bekannte
gekehrte Frau im Profil mit verschränkten Armen und         Skulptur im Werk Picassos und wahrscheinlich nach der
übereinandergeschlagenen Beinen. Das hell beleuchtete       Natur, ohne Varianten und ohne Vorzeichnung gefertigt.
Gesicht verleiht ihr eine gleichermassen tiefgründige wie   Die nach vorne geneigte, leicht eingesunkene Frau ist
monumentale Anmutung. Sie befindet sich in einem            sehr schlicht dargestellt, nur ihr Gesicht und ihre Haare
kahlen Raum, wohl eine Zelle im Pariser Frauengefängnis     sind etwas detaillierter herausgearbeitet. In ihrer Nach-
Saint-Lazare, das Picasso im Herbst und Winter 1901/02      denklichkeit und Massigkeit entspricht sie den Figuren
mehrmals aufsuchte, um Zeichnungen für seine Frauen-        der Blauen Periode. Es ist, als hätte Picasso sie aus
porträts anzufertigen. In dem Gefängnis waren auch          einem seiner Gemälde ausgeschnitten und in die Drei-
zahlreiche Prostituierte untergebracht, von denen viele     dimensionalität überführt. In diesem Werk, in dem die
unter Geschlechtskrankheiten litten. Picasso fand in        Sparsamkeit der Mittel auf die Spitze getrieben ist, zählt
Gemälden wie diesem zu allgemeingültigen Darstellungs-      ausschliesslich die Form allein, jegliches erzählerische
mitteln für soziale Themen von Not, Elend und Einsamkeit.   Moment ist ausgeblendet. Die sitzende Frau ist eines
                                                            der immer wiederkehrenden Motive im Œuvre Picassos,
                                                            das er hier zum ersten Mal plastisch gestaltete.
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La Vie, 1903                                                 Le Repas de l’aveugle, 1903
Das Leben                                                    Das Mahl des Blinden

In La Vie, dem allegorischen Meisterwerk der Blauen          Das 1903 in Barcelona entstandene Bild Le Repas
Periode, führt Picasso existenzielle Themen wie den Tod,     de l’aveugle zeigt einen abgemagerten, blinden Mann bei
das Leid und die Liebe in einer von Melancholie durch-       einem kargen Mahl. In der Überzeichnung des Körpers
drungenen Vielschichtigkeit zusammen. Als der damals         mit seinen knochigen Schultern, dem hohlwangigen
21-Jährige im Mai 1903 in Barcelona mit den Vorzeich-        Gesicht und den dürren Fingern gelangt das ganze Leiden
nungen zu diesem monumentalen Gemälde begann,                dieses Mannes zum Ausdruck. Er ist eine jener elenden
hatte er bereits über zwei Jahre hinweg vorwiegend blaue     und einsamen Gestalten, die in Picassos Bildern wie
Bilder gemalt. Ursprünglich als Selbstbildnis geplant,       moderne Märtyrer erscheinen.
taucht hier erneut (und ein letztes Mal) der verstorbene     Die dargestellten Lebensmittel, das Brot und der Wein,
Freund Carles Casagemas auf. Mit einer nackten Frau,         könnten als christliche Symbole gedeutet werden. Die
die sich an seinen Körper schmiegt, steht er, die Blösse     stark reduzierte Palette und die durch das Licht erzeugte
lediglich mit einem weissen Lendenschurz bedeckt, in         dramatische Wirkung der Szene verleihen dem Bild
der linken Bildhälfte. Den Zeigefinger richtet er auf eine   einen Zug ins Mystische. Darin spürt man den Einfluss
bekleidete Frau, die einen in Tücher gehüllten Säugling      von El Grecos Malerei und der spanischen Kunst des
in ihren Armen trägt. Im Hintergrund erscheinen als Bilder   16. und 17. Jahrhunderts.
im Bild weitere Figuren in kauernder Körperhaltung. Sie
verleihen dem Werk eine zusätzliche symbolische und
rätselhafte Dimension.
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Le Fou, 1905                                                Femme en chemise (Madeleine), 1905
Der Narr                                                    Frau im Hemd (Madeleine)

In der extremen Kargheit seines Ateliers im Bateau-Lavoir   Eine junge, im Profil dargestellte Frau steht isoliert in
erkundete Picasso das Universum der Gaukler, in dem die     einem leeren, dunkelblauen Raum. Ihr filigraner Körper
Gestalt des Narren auf andere Aussenseiter der Gesell-      wird von einer weissen Bluse bedeckt. Die linke Brust,
schaft trifft. Le Fou wurde an einem Abend in Paris nach    deren Wölbung betont ist, wird durch den hauchdünnen
der Rückkehr aus dem Cirque Medrano begonnen und soll       Stoff gleichermassen verborgen wie enthüllt. Die blasse
auf einem Porträt des Dichters Max Jacob basieren, der      Haut und die markanten Gesichtszüge der Frau zeichnen
den Künstler begleitet hatte. Die plastische Behandlung     sich auch aufgrund der zierlich definierten Körperkonturen
der Narrenfigur zeichnet sich sowohl durch einen klaren     vor dem Bildhintergrund ab. In der von Licht und Tiefe
Aufbau als auch durch eine fein bewegte Oberfläche          durchdrungenen Farbpalette deutet sich Picassos allmäh-
aus. Im starken Kontrast zwischen Schatten und Licht        liche Hinwendung zu warmen Rosa- und Brauntönen an.
offenbaren sich die Tiefe, Sensibilität und Präzision des   Über die Identität des Modells herrschte lange Zeit
künstlerischen Blicks. In die Oberfläche scheinen sich      Unklarheit, da Picasso hier die Figur eines Jungen mit
die Abdrücke von Picassos Händen eingegraben zu haben.      der schlanken Erscheinung seiner ersten Muse und
Das hohe Mass an Plastizität entsteht nicht zuletzt         Geliebten Madeleine übermalt hatte. Der Künstler hatte
auch aus der extravaganten Form der Mütze mit ihrer         Madeleine 1904 nach seinem Umzug in das Pariser
gekrümmten, von einer Krone umgebenen Spitze.               Atelier Bateau-Lavoir kennengelernt. Sie stand in der
                                                            Phase des Übergangs von Blau zu Rosa bis in den Frühling
                                                            1905 mehrfach für Picassos Gemälde Modell.
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Fillette au panier de fleurs, 1905                          Le Marchand de gui, 1902/03
Junges Mädchen mit Blumenkorb                               Der Mistelverkäufer

Das Gemälde Fillette au panier de fleurs überrascht in      Mit einfühlendem Blick konzentriert sich Picasso hier
vielerlei Hinsicht. Zunächst durch das lang gezogene        auf die Darstellung zweier in Armut lebender Menschen,
Hochformat, das auch das Mädchen überlängt erscheinen       die gemeinsam ihrer täglichen harten Arbeit nachgehen:
lässt. Die Heranwachsende steht seitlich abgewandt völlig   dem Verkauf von Misteln. Das faltenzerfurchte und
nackt und mit ernstem Gesicht vor uns. Im Übergang          zugleich sanftmütige Antlitz des bärtigen alten Mannes
von den Füssen zum Oberkörper ist eine leichte Gegen-       kontrastiert mit dem glatten und frischen, aber dennoch
bewegung angedeutet. Das Gesicht ist dem Betrachter         ernsten Gesicht des Kindes, das in seinem Begleiter
zugewandt und nach Art eines Porträts sorgfältig            Gegenbild wie Vorbild gleichermassen findet. Die beiden
modelliert. Der Körper hingegen erscheint leicht zurück-    Figuren schauen sich zwar nicht an, doch vermitteln ihr
genommen, fast unwirklich. Die rot leuchtenden Blumen       enges Nebeneinander und die liebevolle Geste des alten
im geflochtenen Korb setzen angesichts der hellen Haut,     Mannes den Eindruck grösster Zärtlichkeit. Über das
der schwarzen Haare und des hellblauen Hintergrunds         subtile Farbenspiel gelingt es Picasso, eine mystische
einen kraftvollen Akzent.                                   Stimmung zu erzeugen. In seiner würdevollen Erscheinung
Das Bild wurde für die bescheidene Summe von 75 Franc       wird der Mistelverkäufer mit dem Kind hier zum Sinnbild
vom Kunsthändler Clovis Sagot bei Picasso angekauft.        eines nicht resignierenden Lebens in Armut und der
Es war eines jener ersten Werke, die die amerikanische      gleichzeitigen Hoffnung auf Glück.
Schriftstellerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein zu-
sammen mit ihrem Bruder Leo bereits 1905 erwarb. Die
Geschwister Stein bauten in der Folge eine bedeutende
Picasso-Sammlung auf.
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Acrobate et jeune arlequin, 1905                            Arlequin assis au fond rouge, 1905
Akrobat und junger Harlekin                                 Sitzender Harlekin vor rotem Hintergrund

Zu Picassos eindrücklichsten Bildern der Zirkuswelt zählt   Picasso präsentiert seine Harlekine nie als Spassmacher
Acrobate et jeune arlequin. Zwei Gaukler von zarter         oder Possenreisser, die in wilden Sprüngen ihr Publikum
Erscheinung sitzen vor einem gleichsam zerrissenen blauen   unterhalten, sondern vielmehr als passive, melancholisch
Hintergrund: links ein androgyner Junge im Harlekins-       gestimmte Figuren. In Arlequin assis au fond rouge sitzt
kostüm mit kreideweissem Gesicht, der nachdenklich          der Harlekin mit geschlossenem Mund reglos da. Seine
nach rechts zum jungen Mann in Akrobatenkleidung blickt;    nackten, leicht geöffneten Beine baumeln von der Mauer.
dieser ist mit anliegenden Armen und geschlossenen          Er wirkt entblösst, obwohl er ein dünnes, verwaschenes
Augen dargestellt. Am Übergang zwischen der blauen          Kostüm und einen Hut trägt. Trotz der auffälligen Frontal-
und der rosa Farbenwelt scheinen sich sowohl der Raum       pose ist sein Blick nicht genau auf den Betrachter ge-
wie auch die Figuren im Zustand der Verwandlung zu be-      richtet. Picasso versucht das Wesen der Figur zu erfassen,
finden. Dürfen das Rautenmuster des Harlekinskostüms        ihre grosse Einsamkeit, die durch den vibrierenden, rot
und die geometrische Form der Arme des Akrobaten            glühenden Hintergrund noch anschaulicher wird. Möglicher-
bereits als Vorwegnahme einer »Kubisierung« des Körpers     weise verkörpert die Gestalt des Harlekins auch den
gelesen werden?                                             kreativen, sensiblen Künstler, der sich in der modernen
Als erster Museumsankauf eines Picasso-Werks überhaupt      Gesellschaft behaupten muss.
wurde Acrobate et jeune arlequin 1911 für das Museum
in Elberfeld erworben; heute befindet es sich in
Privatbesitz.
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Les Deux Frères, 1906                                       La Toilette, 1906
Die beiden Brüder
                                                            Im Sommer 1904 lernte Picasso Fernande Olivier kennen,
Ein Junge trägt seinen kleinen Bruder auf dem Rücken,       die sein wichtigstes Modell wurde und bis 1912 auch
sie scheinen miteinander zu verschmelzen. Die Gesichts-     seine Lebensgefährtin war. Sie teilte mit ihm das bitter-
züge des Älteren sind fein modelliert, während diejenigen   arme Leben im baufälligen Atelierhaus Bateau-Lavoir im
des Jüngeren etwas verschwommen und auf wenige              Pariser Montmartre und begleitete ihn 1906 nach
Formen reduziert sind. Beide sind nackt, Ort und Zeit       Spanien ins Pyrenäendorf Gósol. Fernande stand Picasso
bleiben unbestimmt. Nur eine Bodenkante und dunkle          Modell, ihre Gestalt avancierte gewissermassen zum
Schlagschatten markieren den Raum, in dem sie sich          künstlerischen Experimentierfeld. In La Toilette äussert
befinden. Der Künstler erweckt hier den Eindruck, dass      sich die Suche nach einer neuen archaischen Formen-
seine Figuren aus demselben Material gebildet sind wie      sprache noch weitgehend in klassisch anmutenden
der Raum, der sie umgibt.                                   Figuren. In einem kargen Innenraum frisiert sich links
Das Gemälde entstand in Gósol, einem katalanischen          eine frontalansichtige nackte junge Frau ihre roten Haare,
Bergdorf in den östlichen Pyrenäen, in das sich Picasso     während eine blau gekleidete Schwarzhaarige im strengen
im Frühsommer 1906 für mehrere Wochen zurückgezogen         Profil ihr einen Spiegel entgegenhält. Womöglich handelt
hatte. Fernab vom städtischen Leben begann er eine          es sich bei beiden Frauen um Porträts Fernandes, in
neue, von Einfachheit und Erdverbundenheit geprägte         denen unterschiedliche, auf Kontraste angelegte Facetten
Bildsprache zu entwickeln. Dabei bezog Picasso seine        zur Anschauung gelangen.
Inspiration in besonderem Masse vom nackten Körper,
zunächst vom männlichen, danach vom weiblichen.
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Buste de femme (Fernande), 1906                           Autoportrait, 1906
Frauenbüste (Fernande)                                    Selbstbildnis

Während des Aufenthalts im Pyrenäendorf Gósol begann      Picasso hat sich in jungen Jahren häufig selbst porträtiert.
der Künstler mit unterschiedlichen Techniken und          Obwohl nicht durch eindeutige Attribute ausgewiesen,
Materialien zu experimentieren und schuf Holzplastiken,   handelt es sich auch hier um ein Künstlerselbstbildnis,
die er mit rudimentärem Werkzeug behaute. Er zielte       in dem er seine jüngsten malerischen Errungenschaften
auf eine einfache, ungekünstelte Form und liess Buste     zur Anschauung brachte. Der massive Oberkörper des
de femme (Fernande) anmutig aus der Krümmung eines        stämmigen Mannes, die gräuliche Hautfarbe sowie das
Holzes emporwachsen: die nur angedeuteten Arme, das       maskenhafte Gesicht sind charakteristisch für die Bild-
Gesäss, die Wölbung der Brüste und schliesslich das       sprache des »Primitivismus«, die Picasso 1906 entwickelt
fein geschnitzte Gesicht. Das Antlitz der Figur und der   hat. Der Künstler befand sich auf der Suche nach neuen
Schleier, der einen Teil der Haare bedeckt, erinnern an   Ausdrucksmöglichkeiten, malte fast ausschliesslich Frauen-
Fernande Oliviers Erscheinung. Bei dieser archaischen     akte und löste sich dabei zusehends von seinem früheren
Skulptur setzt Picasso ganz auf den Kontrast zwischen     Werk. Es ging ihm nicht mehr darum, Gefühle darzu-
der Beschaffenheit des unbearbeiteten Buchsbaumholzes     stellen, sondern neue Formen zu erproben und den
und der Feinheit des weiblichen Gesichts, dem eine        Menschen mit neuen Bildmitteln zu erfassen. Picassos
aussergewöhnliche, mysteriöse Präsenz innewohnt.          Gesichtszüge wirken in diesem Bildnis schablonenhaft,
                                                          stereotyp, vom Individuum ist hier kaum noch etwas
                                                          geblieben – von der Ästhetik der Blauen und Rosa Periode
                                                          ist er recht weit abgerückt.
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Femme nue assise, les jambes croisées, 1906                  Nu debout (verso: Oiseaux), 1907
Sitzender Frauenakt, mit überschlagenen Beinen               Stehender Akt (verso: Vögel)

Picassos Entdeckung der jahrhundertealten iberischen         1907 schnitzte und schlug Picasso neue Figuren in
Skulptur mündete im Herbst 1906 in zahlreiche weibliche      Holz, die er teilweise farbig bemalte. Die rohe Form der
Aktbilder, in denen sich ein neuer, roher Stil Geltung       Skulpturen erinnert an afrikanische und ozeanische Kult-
verschaffte. Dazu gehört auch die imposante Darstellung      und Kunstobjekte, die der Künstler in dieser Zeit intensiv
einer sitzenden Frau, für die sich der Künstler auf Braun-   studierte und zu sammeln begann. In Nu debout sucht
und Grautöne beschränkt hat. Der schematisierte, aus         er das Unnahbare und Archaische und konzentriert sich
geometrischen Volumina gebildete robuste Körper sowie        dabei auf das Zusammenspiel kraftvoller und einprägsamer
das zur Maske erstarrte Gesicht mit seinen leeren Augen      Formen. Er stellt die Grössenverhältnisse des menschlichen
sind charakteristisch für Picassos »Primitivismus« dieser    Körpers radikal infrage und verzichtet auf jeglichen
Zeit. So führte der Maler hier innerhalb eines klassischen   emotionalen Gehalt. Dabei wird das Hochoval des über-
Bildthemas ein neuartiges, auf Reduktion ausgerichtetes      langen Gesichts zum kompakten Oberkörper und zum
Körperbild ein, das für die künstlerische Entwicklung        mandelförmigen Bauch in Beziehung gesetzt.
hin zu dem im folgenden Jahr entstandenen Gemälde            Die Rückseite des rechteckigen Holzbalkens zeigt drei
Les Demoiselles d’Avignon wegweisend war.                    hieroglyphenartige Vogelmotive. In aller Freiheit liess
                                                             Picasso Referenzen auf unterschiedlichste Kulturen in
                                                             seine Werke einfliessen.
SAAL 9                                                      Bitte sagen Sie uns Ihre Meinung zu den

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Femme (époque des »Demoiselles d’Avignon«), 1907            Der junge PICASSO – Blaue und Rosa Periode
Frau (Zeit der Demoiselles d’Avignon)                                         ++ + ± – – –
                                                            Gesamteindruck
Im Kontext von Picassos wegweisendem Bild Les               Inhalt
Demoiselles d’Avignon entstand auch Femme von 1907,         Verständlichkeit
das früheste Werk aus der umfangreichen Picasso-
                                                            Textlänge
Sammlung von Ernst und Hildy Beyeler. Das skizzenhafte
Gemälde stellt eine nackte weibliche Figur mit erhobenen
Armen dar, deren Körperhaltung ambivalent bleibt.           Wünschen Sie Bildkommentare zu einzelnen Werken?
Sie präsentiert sich mit Matrosen- oder Kapitänshut         Ja      Nein
(vielleicht ist es auch ein Chignon-Haarknoten) vor einem   Oder bevorzugen Sie einen Text zum ganzen Raum?
zur Seite gezogenen gelben Vorhang und blau-grünem          Ja      Nein
Hintergrund. Das Gesicht, dessen Züge an diejenigen
afrikanischer Masken erinnern, gibt den grossen Einfluss,   Was gefällt Ihnen, und was könnte verbessert werden?
den die aussereuropäische Skulptur auf Picasso in dieser
Schaffenszeit ausübte, deutlich zu erkennen. Während
Gesicht, Arme und Brüste der Figur ausgemalt und
von klaren Konturen umgrenzt sind, ist der Unterkörper
mit nur wenigen Linien skizziert worden. In Femme scheint
Picasso bewusst mit der Ästhetik des Unvollendeten zu
spielen – doch hinsichtlich seiner Ausdruckskraft und der
Kompositionsweise ist das Werk zweifellos vollendet.
                                                            Wir freuen uns auf Ihr Feedback an
                                                            kunstvermittlung@fondationbeyeler.ch

                                                            Talon bitte am Art Shop abgeben. Vielen Dank!
DANK

Die Ausstellung Der junge PICASSO – Blaue und Rosa
Periode wird grosszügig unterstützt durch
Beyeler-Stiftung
Hansjörg Wyss, Wyss Foundation
Martin und Marianne Haefner-Jeltsch

Hauptpartner
Swisscom

Partner und Donatoren
Bundesamt für Kultur BAK
Fondation BNP Paribas Suisse
Simone und Peter Forcart-Staehelin
Eckhart und Marie-Jenny Koch-Burckhardt
L. + Th. La Roche-Stiftung
Dr. Christoph M. Müller und Sibylla M. Müller
Novartis
Stavros Niarchos Foundation
Freundeskreis der Fondation Beyeler
und weitere private Gönner, die ungenannt
bleiben möchten

Der Transport und die Versicherung des Werks La Vie, 1903,
werden unterstützt durch den Freundeskreis der
Fondation Beyeler
Der Transport und die Versicherung des Werks
Nu aux mains jointes, 1906, werden unterstützt durch
Jerry Speyer und Katherine Farley
INFORMATIONEN                                                KATALOG

Saaltexte: Tasnim Baghdadi, Raphaël Bouvier, Iris Brugger,
Christine Burger, Daniel Kramer, Jana Leiker
Redaktion: Daniel Kramer, Jana Leiker
Lektorat: Holger Steinemann
Gestaltung: Heinz Hiltbrunner

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                                                                                                  1

                                                             Picasso – Blaue und Rosa Periode
                                                             Fondation Beyeler, Hatje Cantz Verlag, 2019
                                                             300 Seiten, 171 Abb., CHF 68.–

Kommende Ausstellung:                                        Im Art Shop sind weitere Publikationen zu Pablo Picasso
RUDOLF STINGEL                                               erhältlich: shop.fondationbeyeler.ch
26. Mai – 6. Oktober 2019

FONDATION BEYELER
Baselstrasse 101, CH-4125 Riehen / Basel
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Lift                        Souterrain
DER JUNGE PICASSO
BLAUE UND ROSA                                                                        Café Parisien

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            Film                     Wintergarten                  Lift                                                Souterrain / Café Parisien

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                                                               Picasso
                    PICASSO                          Picasso    Multi-
                   PANORAMA                         Art Shop   media
                                                                                          7
                   13.1. -- 5.5.19                                                                                    DER JUNGE PICASSO
                                                                             8                             6       BLAUE UND ROSA PERIODE
                                                                                                                        3. 2. –26. 5. 2019

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Eingang Museum
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Vorsicht: Kunstwerke bitte nicht berühren !
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