PÄDAGOGISCHE PERSPEKTIVEN - Band 8 - Hugendubel

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PÄDAGOGISCHE PERSPEKTIVEN
                                                                            Band 8

                                                                 Herausgegeben von der
                                                   Kirchlichen Pädagogischen Hochschule
                                                                der Diözese Graz-Seckau
                                                                              Graz 2020

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LUISE HOLLERER & ELFRIEDE AMTMANN (HG.)

                                             SCHULTÜTENKINDER reloaded
                                                         Entwicklungspsychologische
                                                            und didaktische Aspekte

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3., überarbeitete Auflage, 2020

            Layout: Maria Anna Pötscher
            Umschlagfoto und -gestaltung: Johannes Pötscher
            Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag – www.leykamverlag.at
            © by Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. Nfg. & Co. KG, Graz 2015

            Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Ver-
            fahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektro-
            nischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

            ISBN 978-3-7011-0452-9

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Inhalt

             Vorwort .............................................................................................................................. 7

             PSYCHOLOGISCHE, PÄDAGOGISCHE, BILDUNGSPOLITISCHE ZUGÄNGE
             Luise Hollerer
             Reife – Fähigkeit – Bereitschaft: Schuleingang im Spannungsfeld zwischen
             Entwicklungspsychologie und Bildungsbürokratie ................................................................. 11
             Birgit Parz-Kovacic / Ingeborg Schmuck
             Bildungswege von Kindern oder Bildung von Anfang an
             Transition vom Kindergarten in die Schule ........................................................................... 23
             Wolfgang Pojer
             Schulstart NEU – Visionen für den Schuleingang aus der Sicht der Schulaufsicht ................... 35
             Josef Zollneritsch
             Die österreichische Schule: Von der Selektion zur Inklusion? ............................................... 39
             Ilse Schmid
             Hurra, ich komme in die Schule!
             Gelingender Übertritt aus Elternsicht .................................................................................. 45
             Eva Haubner
             Elementarpädagogik: Beste Bildung von Anfang an .............................................................. 49
             Alexandra Strohmeier-Wieser / Daniela Greimel / Hannelore Knauder
             Einstellung der KindergartenpädagogInnen und VolksschullehrerInnen zur
             inklusiven Bildung. Eine Vergleichsstudie in der Steiermark ................................................... 55

             PÄDAGOGISCH-DIDAKTISCHE ZUGÄNGE
             Emotion und Soziales
             Elfriede Amtmann / Verena Kerbl / Verena Kurzmann / Florian Pichler
             ELLA – ein Projekt zur Förderung der emotionalen und sozialen Kompetenz
             im Vorschulalter ................................................................................................................. 67
             Friederike Hofer / Kerstin Zechner
             Erste Schritte zu einer Haltung der Achtsamkeit
             Ein Auftrag für den Übergang Kindergarten und Schule ........................................................ 79
             Veronika Schweiger-Mauschitz
             Bildungsauftrag: interkulturelle Kompetenz!? Eine doppelte Herausforderung
             an alle professionell pädagogisch Handelnden! .................................................................... 91
             Alexandra Strohmeier-Wieser / Walter Prügger
             Global Citizenship Education
             Über kindliche Auseinandersetzung mit der Welt und die Rolle der Bildung .......................... 99

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            Sinnesentfaltung & Kreativität
            Christine Guttmann
            Textile Lernwerkstätte als Sprungbrett zur Entfaltung der Sinne .......................................... 111
            Franziska Pirstinger
            Vom Nutzen und Schaden kunstpädagogischer Bemühungen ............................................ 121
            Werner Rohrer
            Rhythmusarbeit als leib-haftes Musizieren. Gestalten mit Hand-, Fuß- und Stimmtönen ...... 131
            Sprache
            Marie-Theres Hofer
            Sprachsensibler Fachunterricht – durchgängige sprachliche Bildung – Sprache im Fach ......... 145
            Katharina Ogris
            Von Beginn an viele Sprachen. Von der Notwendigkeit der Anerkennung eines
            vielsprachigen Repertoires in elementaren Bildungseinrichtungen ...................................... 153
            Lisa Reicher-Pirchegger / Michaela Reitbauer
            Kinder zu Wort kommen lassen – Kinder zur Schrift kommen lassen. Potenziale in der
            erweiterten Schuleingangsphase am Beispiel des (Schrift-)Spracherwerbs ............................ 161
            Kerstin Waldmüller
            Spielend zur Schriftsprache. Wann beginnt die Reise ins Buchstabenland? ............................ 171
            Heterogenität und Unterstützung
            Luise Hollerer
            Transition: Beobachtung, pädagogische Diagnostik und Entwicklungsgespräche ................... 185
            Karin Landerl
            Früherkennung und Diagnostik von Lernschwächen .......................................................... 193
            Anneliese Franz
            Gruppenscreening zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit ..................................... 199
            Ursula Grasser
            Das Zählen ist der Eingang in die Welt der Zahlen ............................................................ 213
            Norbert Holzer / Sybille Mick
            Geometrie als Grundlage für Lesen, Schreiben und Rechnen ............................................ 225
            Ganzheitliches Lernen
            Rosina Haider
            Frühes naturwissenschaftliches Lernen – ein Prozess im Dialog .......................................... 245
            Eleonore Krenn
            Bewegung = Entwicklung = Bildung ................................................................................ 253
            Daniela Schwarzl
            Alltagsmaterial trifft Bewegung und Kunst .......................................................................... 261
            Hollerer / Albrecht / Amtmann (2018)
            BOB-Schuleingang – ein Beobachtungszugang für PädagogInnen und Eltern ........................ 271

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             Vorwort der Herausgeberinnen

                         „Jeder Mensch ist dazu bestimmt, ein Erfolg zu sein,
                         und die Welt ist dazu bestimmt, diesen Erfolg zu ermöglichen.“
                         Quelle: Unesco Bericht 1972; Faure, E. u. a. (Hrsg.). (1972). Apprendre a être. Paris (dt. Wie
                         wir leben lernen. Der Unesco-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme.
                         Hamburg: Reinbek, 1973

             Der Übergang vom Kindergarten in die Schule fällt in einen Entwicklungszeitraum, in dem Kinder
             sehr unterschiedliche Zugänge zum Lernen haben. Als Gegenpol zu systemischen Normierungs-
             vorgaben, die nach dem Zeitpunkt der Schulreife, -fähigkeit und -bereitschaft fragen, rücken wir
             entwicklungsorientierte Aspekte für das Kind in den Mittelpunkt. Wir fragen, wie die personalisierte
             Begleitung des Lernens gestaltet sein kann.
             Es ist an der Zeit, die Lernbiografien der Kinder zu sehen und lernprozess-begleitende „Pädagnostik“
             einzusetzen, weg von punktueller Selektionsdiagnostik. Es ist an der Zeit, auf die Ressourcen des
             sozialen Umfeldes zu achten und Angebote zu erweitern. Denn Bildungsinstitutionen haben einen
             Auftrag zu erfüllen: Es gilt, Kinder zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Dafür wird es wich-
             tig sein, Schultüten neu zu füllen: mit Lebendigkeit und Freude am Erkunden, mit Lernmotivation
             und dem Maß an Herausforderung, bei dem jedes Kind sein Begabungspotential entfalten und seine
             individuelle Lernfähigkeit erweitern kann. Dazu braucht es den Austausch zwischen Pädagoginnen
             und Pädagogen, Kind und Eltern, über die Lernzugänge jedes Kindes – vor allem die emotionalen
             und motivationalen. Es braucht den Austausch über Lernziele und Lernschritte und die Form der pä-
             dagogischen Unterstützung, damit sich das Kind dem leistungsorientierten Lernen und dem Erwerb
             gesicherten Wissens nähern kann, wie im Volksschullehrplan beschrieben.
             Die KPH Graz beforscht Zugänge und partizipative Instrumentarien, die diese Kooperation der Bil-
             dungspartner stärken. Seit 2005 haben sich die Lehrenden aller Fachbereiche mit Individualisierung
             und Altersheterogenität auseinandergesetzt und mit Stakeholdern innovativer Bildung diskutiert.
             Unser großer Dank geht an alle Autorinnen und Autoren, die in ihren Forschungen und didaktischen
             Zugängen das Kind im Mittelpunkt haben und individuelle Zugänge zum Lernen erschließen, sowie
             an alle, die diese Publikation unterstützt haben: das Rektorat der Kirchlichen Pädagogischen Hoch-
             schule der Diözese Graz-Seckau, die Institute für Aus-, Fort- und Weiterbildung, das Institut für
             ­Forschung, Maria Petek für die sorgfältige Lektorierung und Maria Anna Pötscher für die umsichtige
              Layoutierung.
             Alle Beiträge dieses Buches wurden einem Review durch Expertinnen und Experten aus den ­Bereichen
             Hochschule und Universität unterzogen. Wir danken den Beteiligten für die Rückmeldungen.
             Die Ergebnisse 15-jähriger Forschung und pädagogischer Erkundung liegen vor und bieten
             ­Pädagoginnen und Pädagogen aus Volksschule und Kindergarten Impulse für den Umgang mit He-
              terogenität im Übergangsbereich, entwicklungspsychologische und didaktische sowie systemische
              Aspekte.

             Luise Hollerer und Elfriede Amtmann

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                                             PSYCHOLOGISCHE, PÄDAGOGISCHE,
                                               BILDUNGSPOLITISCHE ZUGÄNGE

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Reife – Fähigkeit – Bereitschaft                                                                  11

             Luise Hollerer

             Reife – Fähigkeit – Bereitschaft: Schuleingang im Spannungsfeld
             zwischen Entwicklungspsychologie und Bildungsbürokratie

             Summary
             Gesellschaftliche Bildungserwartungen verändern sich über die Entwicklungsspanne vom Kleinkind
             zum Schulkind. Als Gegenpol zu institutionellen Normierungsvorgaben, die nach dem Zeitpunkt
             der Schulreife, -fähigkeit und -bereitschaft fragen, werden entwicklungspsychologische ­Aspekte
             für das Kind in den Mittelpunkt gerückt, die danach fragen, wie die personalisierte Begleitung des
             Lernens gestaltet sein kann. Im Fokus stehen Möglichkeiten, um das Kind von intrinsisch gesteu-
             erten, spielerischen Zugängen zum Lernen zu beauftragtem Lernen und dem Erwerb gesicherten
             Wissens zu führen, um es immer stärker zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Entwick-
             lungspsychologische und bildungswissenschaftliche Erkenntnisse werden den Curricula aus dem
             elementaren und primaren Bildungsbereich gegenübergestellt und Möglichkeiten für die Beglei-
             tung von jungen Lernenden erörtert. Die Folgerungen beziehen die Kooperationsmöglichkeiten
             zwischen PädagogInnen, Eltern und Kind mit ein.

             Einleitung
             Bildungsinstitutionen erhalten den gesellschaftlichen Auftrag, Kinder in ihrer Entwicklung und ­ihrem
             Lernen zu begleiten. Die Erwartungen an den Outcome von Bildung ändern sich am Übergang
             vom Kindergarten zur Schule. Die Curricula für den elementaren Bereich weisen stärker eine in-
             dividuelle Entwicklungsorientierung auf. Dies ändert sich im Primarbereich hin zu Lehrplänen und
             Lernzielen, die an das Lebensalter gebunden sind und zu formulierten Eingangskriterien. Begriffe
             wie Schul­reife, Schulfähigkeit und Schulbereitschaft signalisieren, dass nicht jedes Kind kommen
             dürfe – sondern sich erst dafür qualifizieren müsse. Dieser selektive Zugang verstellt den Blick
             auf das Kind und seine Entwicklung, seine Lernmöglichkeiten und seinen Lernbedarf. Wir müssen
             deutlicher fragen, wie das Lernen gelingen kann und wie Bildungsinstitutionen ihrem Auftrag der
             Begleitung von Lernen und Entwicklung nachkommen können.

             Entwicklung, Lernen und Wissenskonstruktion
             Lernen scheint Kindern nicht verordnet werden zu können – es scheint vorrangig in aktiver Hin-
             wendung und selbstgesteuerter Auseinandersetzung mit der Umwelt zu erfolgen. Aus neuro-
             psychologischer Sicht unterscheidet Berger (2013) Lernen als umgebungsbezogene Verhaltens-
             änderung, der individuelle Informationsverarbeitung zugrunde liegt, von Entwicklung als Prozess,
             in dem ein Organismus (ein biologisches System) wachsende Komplexität und einen höheren
             Grad von Struktur seiner Austauschprozesse erlangt. Entwicklung erweitert den Grad der Flexi-
             bilität und verbessert die Bedingungen des Individuums in seinem Wechselspiel mit der Umwelt.
             Entwicklung und Lernen erfolgen durch Involviertheit und Initiative eines Individuums. In diesem
             Prozess entstehen Abbilder, Strukturen der Umwelt und des eigenen Handelns, was sich in einer
             Veränderung der zentralen Nervensysteme zeigt (Jaencke, 2006).

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            Das gilt für das Erlernen basaler Funktionen wie die Nahrungsaufnahme, die Bindung zu Mit-
            menschen, soziale Reaktivität, Bewegungsabläufe und all die Bereiche, die als Meilensteine
            kindlicher Entwicklung beschrieben sind (wie Hören, Sehen, Sprechen, soziale Interaktion und
            emotionale Regulation). Zudem scheinen Kinder bereits mit einem Starterpaket für grundle-
            gendes Wissen und Verständnis für die Welt ausgerüstet zu sein – finden sich doch empirische
            Befunde der frühen Kindheitsforschung, die die Annahme von biologisch verankertem Kernwissen
            ­nahelegen (Wellman & Gelman, 1998). Ähnlich wie der von Chomsky postulierte angeborene
             Spracherwerbsmechanismus (vgl. Hoffmann, 2010) gibt es auch Befunde für naive Theorien zu
             grundlegenden menschlichen Abläufen und Lernanlässen, die Kinder in ihrer Umwelt vorfinden.
            Empirische Ergebnisse dazu finden sich in der Frühkindforschung z.B. für physikalische Phäno-
            mene (Spelke, 1991), mathematische (Feigensohn, Dehaene & Spelke, 2004), biologische, sozi-
            ale, ­psychologische (Hamlin, Wynn & Bloom, 2007), für die Bewältigung von Anforderungen (fast
            mapping, Rothweiler, 1999) und die Fähigkeit die eigene Perspektive als subjektiv zu erkennen
            und auf andere Bezug zu nehmen (Theory of Mind, Siegler, deLoache & Eisenberg, 2008) .
            In dieser „Quelle des Vorwissens“ findet sich das Rohmaterial für die Konstruktion neuer
            ­Wissensstrukturen: Dies erfolgt entsprechend der genetisch-konstruktiven Erkenntnistheorie
             Piaget‘s (1969) dadurch, dass das Streben nach kognitivem Gleichgewicht das Lernen vorantreibt
             – sei es über Assimilation (Einordnen der Umweltreize in die vorhandene kognitive Struktur) oder
             Akkomodation (Veränderung, Strukturierung, Differenzierung der kognitiven Struktur).
            Reusser (2006) sieht dieses Zusammenspiel als aktiven Konstruktions- und Selbstorganisations-
            prozess, der mit der sozialen und natürlichen Umwelt im Austausch steht. Das Konstruieren,
            Organisieren, Verstehen von begrifflichen Zusammenhängen ist ein aktiver und zeitaufwändiger
            Prozess, der in der sozio-kulturellen Entwicklungstheorie von Vygotsky (1978) in hohem Maße
            durch Sprache als Unterstützerin der kognitiven Entwicklung gekennzeichnet ist und zu erwei-
            terten Kompetenzen führt z.B. der fokussierten Aufmerksamkeit, der Bildung von Kategorien,
            erhöhter Gedächtniskapazität, Verständnis für Symbole usw. Das pädagogisch Mögliche – also
            die Zone der proximalen Entwicklung (Vygotsky, 1978) wird nicht durch die selbstständige Tätigkeit
            des Kindes definiert, sondern durch das, was es in einem interaktiven Zusammenhang und unter
            Anleitung Erwachsener zu erfassen vermag. Stamm (2013) präzisiert: „Die Differenz zwischen
            dem Niveau, auf dem Aufgaben unter Anleitung, unter Mithilfe der Erwachsenen gelöst werden,
            und dem Niveau, auf dem das Kind Aufgaben selbständig löst, macht die Zone der nächsten Ent-
            wicklung aus.“ (Stamm, 2013, S. 277)

            Kenntnis um Entwicklungsmöglichkeiten und Vorwissen
                  •     Es braucht also Erwachsene, die um Entwicklungsmöglichkeiten in den verschiedensten
                        Bereichen Bescheid wissen, die nächstgelegene Entwicklungsschritte antizipieren und
                        mit dem Vorwissen der Kinder kalibrieren. Die Bedeutung dieses Vorgehens wird ein-
                        drücklich in Hattie‘s Metastudien zur Wirksamkeit von Lernfaktoren belegt (Hattie,
                        2009), wenn Pädagoginnen und Pädagogen Aufgaben und Materialien an die jeweiligen
                        Entwicklungsstufen anpassen: Piagetian programs belegen in der Wirkung auf den Lern-
                        erfolg Rang 2 von 138 untersuchten Lernfaktoren (Hattie, 2009, S. 43).

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Reife – Fähigkeit – Bereitschaft                                                                  13

                   •     Das Erfassen des Vorwissens scheint in gewissen kulturspezifischen ­Bereichen ausschlag-
                         gebende Hinweise für die Förderung zu liefern. Stern (2008) wie auch schon Weinert
                         (1998) weisen nach, dass Leistungsunterschiede in Bezug auf Kulturtechniken (Mathe-
                         matik und Schriftspracherwerb) eher auf Unterschiede im bereichsspezifischen Vorwis-
                         sen zurückzuführen sind als auf die kognitive Abstraktionsfähigkeit. Diese Ergebnisse re-
                         lativieren Piaget‘s Ansicht, dass Lernen immer den Weg vom Konkreten zum Abstrakten
                         gehe.
                   •     Unterstützt wird der kulturspezifische Wissenserwerb durch die Erweiterung der Ge-
                         dächtniskapazität. Hasselhorn (1995) und Hasselhorn & Grube (2006) führen dafür
                         reifungsbedingte Veränderungen, das anwachsende Wissen über die Welt und den zu-
                         nehmenden Einsatz von Behaltensstrategien (innere Wiederholungsprozesse) an.
                   •     Dies wird wesentlich erleichtert durch den Zuwachs an Sprache. Mit zunehmender
                         Möglichkeit zur sprachlichen Erfassung von Phänomenen entstehen erweiterte Kon-
                         zepte über die Vorgänge der Welt und führen mit der Automatisierung der inneren
                         Wiederholungsprozesse in der Regel ab dem fünften Lebensjahr zu einem qualitativen
                         Sprung in der Behaltensleistung.

             Carey (2000) legt in diesem Zusammenhang nahe, Lernen als stetigen Konzeptwandel zu begrei-
             fen, als langwierigen Prozess der Umstrukturierung und Ausdifferenzierung bestehender bereichs-
             spezifischer Wissenseinheiten. Abhängig vom Vorwissen können Aufgaben eines bestimmten Ab-
             straktions- und Komplexitätsgrads häufiger gelöst werden, wenn sie in angemessenere Kontexte
             eingebettet sind.

             Lernbegleitung im Konzeptwandel
             Lernbegleitung als Begleitung des konzeptuellen Wandels zu sehen, erfordert eine andere Struk-
             turierung und Erweiterung dessen, was Unterricht genannt wird. Wenn C   ­ urricula das Erlernen
             von Kulturtechniken und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorsehen, dann scheint es günstig,
             Aufgaben und Lernumgebungen zu schaffen, die Kinder anregen, ihr Vorwissen zu aktivieren, zu
             modifizieren, umzustrukturieren und zu erweitern.
             Saalbach & Schalk (2011) erachten die Unterstützung junger Kinder, Strategien zu entwickeln
             und abzurufen, als wesentliche Aufgabe von Bildungsstätten. Das wird ermöglicht, wenn Kin-
             der ermutigt werden, Erklärungen für ihre Lernschritte zu geben. Damit geben sie Einblick in
             ihre konstruierten Zwischenstufen am Weg zu einem wissenschaftlich adäquaten Verständnis.
             Die Schwierigkeiten beim Verstehen sind nicht darauf zurückzuführen, was den Lernenden fehlt,
             sondern darauf, was sie schon an alternativen Erklärungen haben, die nicht mit wissenschaftlichen
             Theorien übereinstimmen.

             Lernfreude, Selbstkonzept, Selbsteinschätzung
             Die Reaktionen der Umwelt auf die kindlichen Erkundungsschritte wirken auf die kindliche Selbst-
             wahrnehmung und -bewertung und sind von hoher Relevanz, da sie hoch mit der Freude am
             Lernen und der Anstrengungsbereitschaft korrelieren. Keller, Trösch und Grob (2013, S. 92f)

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            v­ erweisen auf Studien, die Zusammenhänge zwischen kindlichem Selbstkonzept, der Lernorien-
             tierung und geringerer Leistungsängstlichkeit belegen. Sie verweisen auf beträchtliche interindivi­
             duelle Unterschiede zwischen den Kindern, was sich im Neugier- und Explorationsverhalten zeigt
             wie auch in der Art, mit Stress, Frustration und Kritik umzugehen. Eine akzeptierende, ermuti-
             gende Erziehung und das Gefühl, von Erwachsenen ernst genommen zu werden, scheinen günstig
             für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts zu sein und sich langfristig positiver auszuwirken
             als spezifische Schulvorbereitung, die nach Largo (2009) eher zu L­ eistungsängstlichkeit führt.
            Zur Lernfreude trägt auch die emotionale Steuerfähigkeit bei. Blair (2002) führt positive Auswir-
            kungen der Fähigkeit der emotionalen Selbstregulierung auf die kognitive Entwicklung an und sieht
            dies als starken Prädiktor für den Schulerfolg. Wahrscheinlich können Kinder, die ihr motorisches
            Verhalten regulieren, kontrollieren und ihre Emotionen regulieren können, zudem nicht von
            Krankheit belastet sind, ihre Aufmerksamkeit auf die vorgegebenen (schulischen) Inhalte lenken
            und diese aufrechterhalten.
            Kinder sind mit wachsender Reflexionsfähigkeit immer besser in der Lage, die eigenen Lernschritte­
            zu erfassen und zu beschreiben. Die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus trägt in ho-
            hem Maße zum Lernerfolg bei (Self report grade, Hattie, Beywl & Zierer, 2013, S. 52) ähnlich­
            hoch wie das Berücksichtigen spezifischer Entwicklungsverläufe (Piagetian programs, Hattie, 2009,
            S. 43), das wechselseitige Feedback und die Formative Evaluation von Lernsettings und Unterricht
            (Hattie, 2009, S. 181). Das erfordert von PädagogInnen laufendes Erkunden, wo die Lernenden
            gerade stehen, um sie durch lernprozessbegleitendes Feedback und individualisierte Förderung
            beim Erreichen der Lernziele zu unterstützen (Carle & Hegemann-Fonger, 2012).
            Das System Schule müsste demzufolge abrücken von alters- und stufenbezogenen Anforderungen
            hin zur Begleitung von Kindern in deren Zonen der nächstmöglichen Entwicklung. Dies scheint im
            früh- und elementarpädagogischen Bereich eher umgesetzt zu werden – in Form von Bildungs-
            und Lerngeschichten (Carr, 2001; Fried, 2007) sowie durch Gesprächsanlässe, Entscheidungs-
            und Reflexionsprozesse, die durch die Arbeit mit Portfolios angeregt werden.

            Umwelt und soziale Beziehung
            Im Laufe der frühen Kindheit steht dem Kind seine unmittelbare dingliche und soziale Umwelt für
            die aktive Auseinandersetzung zur Verfügung. Diese informellen Lern­situationen nimmt das Kind
            alleine oder in Verbindung mit begleitenden Personen (Eltern, Geschwistern, Freunden, Pädago-
            gInnen) wahr, um eigenständig, interaktiv und ko-konstruktiv seine Möglichkeiten zu erweitern,
            Fähigkeiten zu erschließen und Fertigkeiten zu verfeinern.
            Früh findet sich exploratives Verhalten, das entsprechend der Lerntheorien (Edelmann, 2004) als
            instrumentelle Form des Lernens (Thorndike) zu sehen ist, in dem das Kind aktiv wird und seine
            eigene Wirksamkeit wahrnimmt und/oder als operante Form (Skinner), wobei die Umwelt auf
            das erwünschte oder unerwünschte Verhalten reagiert (belohnt / bestraft). Wenn das Kind seine
            Sensorien auf die Umwelt richten kann, erwächst daraus die Möglichkeiten des Lernens durch
            Nachahmung (Bandura & Walters). Dieses Lernen ist untrennbar verbunden mit der Bereitschaft
            eines Individuums, sich an einem Modell zu orientieren, und eigenen Möglichkeiten (Fertigkeiten
            und Fähigkeiten), um diese und ähnliche Handlungssequenzen zu (re)produzieren.

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Reife – Fähigkeit – Bereitschaft                                                              15

             Die positive Wirkung des Lernumfeldes des Kindes hängt sowohl von der Entwicklungsadäquat-
             heit der Angebote, den äußeren Rahmenbedingungen als auch von der Beziehungsqualität und
             sozialen Stützung zwischen Kind und Begleitperson ab. Nach sozial-konstruktivistischer Erklärung
             von Lernen besteht eine linearer Zusammenhang zwischen Beziehungsqualität und der Nutzung
             der Angebote (Stamm, 2013). Je besser die Beziehungsqualität, umso besser die Nutzung der
             Angebote.

             Lernmotivation – ein „Kinderspiel“
             In frühen Entwicklungsphasen ist das Lernen gekennzeichnet durch das Verfolgen von basalen
             Bedürfnissen. Die Motivation für die Aktivierung dient der Nahrungsaufnahme und dem Stillen
             von Beziehungs- und Schutzbedürfnissen. Lässt sich das Kind auf die Erkundung seiner Umwelt
             ein, zeigen sich im hohen Maße scheinbar repetitive Abläufe, die meist allein bis zum Erlöschen
             der Motivation durchgeführt werden (vgl. Exploration, Funktionsspiel). Durch Begleitung kann
             diese Phase der Motivation kurzfristig verlängert und im Laufe der Entwicklung erweitert werden.
             Sobald die Sinnes­systeme die Außenorientierung ermöglichen und der Mobilitätsradius erweitert
             ist, erwacht das Erkundungsbedürfnis gegenüber seiner räumlichen, personalen subjekt- und ob-
             jekthaften Umwelt (Neuigkeit – Anreiz – Exploration). Das erweitert sich im mittleren Kindesalter
             und schließt das Erkunden der eigenen Wirksamkeit in sozialen Interaktionen mit ein. Daraus ent-
             stehen ganz konkrete Spielideen. Diese liefern die Motivation für alle Bemühungen und Anstren-
             gungen, die bis zur Umsetzung der Idee aufrecht erhalten werden. Kinder werden im Verlauf der
             frühkindlichen Entwicklung immer besser darin, Kognitionen (also innere Repräsentationen von
             Objekten, Handlungen) zu etablieren, und können somit Ideen und Intentionen entwickeln. Sie
             lassen sich nicht mehr so leicht davon abbringen, sondern bleiben immer stärker ihrer Spielidee
             verbunden und kognitiv beschäftigt, ihre Vorstellungen von Handlungen, Konzepten, Gesprächen,
             Abläufen im Als-ob-Spiel alleine oder mit SpielpartnerInnen umzusetzen.
             Die gewählten Spielpartnerschaften dienen dazu Abläufe zu variieren und zu verfeinern, Rollen
             auszuprobieren, zu versprachlichen, Konzepte zu entwickeln und zu erproben – es sind Lernpart-
             nerschaften im besten Sinne. In der elementarpädagogischen Literatur sowie im Bildungsrahmen-
             plan (Charlotte Bühler Institut, 2009) werden diese Formen des Lernens forciert. PädagogInnen
             etablieren Möglichkeiten für ko-konstruktivistische Bildungs- und Entwicklungsarbeit, um die im-
             manenten Ressourcen aller Mädchen und Buben sowie ihrer Familien mitsamt den individuellen
             Stärken zu nutzen. Für die Berücksichtigung der ökologisch-sozialen Entwicklungsdimension legt
             Wustmann (2011) die Gestaltung von Beziehungs-, Beteiligungs- und Kommunikationsräumen
             nahe.

             Freies Spiel und beauftragtes Lernen
             Kennzeichen dieses freien intrinsisch motivierten Spiels ist die Umsetzung der eigenen Idee, das
             Interesse an der Variation und das Fehlen von externen Leistungskriterien.
             Die Wirkrichtung der Motivation im freien Spiel unterscheidet sich deutlich vom intentionalen
             (didaktischen) Spiel, das durch andere Personen, meist Erwachsene, angeleitet wird. Erwachsene
             sind vor allem im pädagogischen Kontext vom Förderauftrag geleitet und verfolgen didaktische

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            Wege (umweltorientiert-schulvorbereitende Haltung, Stamm, 2013). Die Zugänge werden im
            elementaren Bildungsbereich eng an Spielinteressen des Kindes gebunden.
            Es dauert geraume Zeit, bis Kindern extern vermittelte Leistungsansprüche wichtig und hand-
            lungsleitend werden. Dazu müssen kognitive Fähigkeiten entwickelt werden – um eigene Hand-
            lungen, Aussagen, Produkte zu reflektieren, zu vergleichen oder in Bezug zu einer sozialen Regel
            oder Leistungsnorm zu stellen. Die dafür benötigten differenzierten kognitiven Abläufe (Speiche-
            rung, Erinnerung, Vergleich, Bezugnahme zu einer anerkannten Norm) stehen nicht ab einem
            bestimmten Alter zur Verfügung, sondern entwickeln sich im Laufe des späteren Kindesalters bis
            zur Pubertät und darüber hinaus (Edelmann, 2004). Um leistungsbereit zu werden, sind nach
            Maccoby (1980) einige Entwicklungs- und Lernschritte nötig:
            Kinder brauchen, um extern geforderte Leistung zu erbringen,
                  •     stärkere emotionale Regulationsfähigkeit für Emotionen,
                  •     Verzicht auf unmittelbare Reaktionen zugunsten von Überlegungen zur Problemlösung,
                  •     eine Tendenz zum Belohnungsaufschub
                  •     sowie die Hemmung des Bewegungswunsches, damit Aufgaben fertig gestellt werden
                        können.

            All dies sind wichtige Schritte, damit sich Kinder auf beauftragtes Lernen längerfristig einlassen
            können. Diesen entwicklungspsychologisch erfassten langsamen Veränderungen in der kindlichen
            Entwicklung wird im Lehrplan der Volksschule und im Bildungsrahmenplan (Charlotte Bühler In-
            stitut, 2009) für den Kindergarten Rechnung getragen.

            Lernen und Lehrpläne
            Das Curriculum des Kindergartens weist dabei eine stärkere Entwicklungsorientierung auf, wohin-
            gegen der Lehrplan der Volksschule zunehmend auf Leistung fokussiert und diese altersspezifisch
            einfordert (Lehrplanspezifizierung je Jahrgangsstufen).
            Dennoch findet sich in beiden die Berücksichtigung der entwicklungs-spezifischen Besonderheit
            des Lernens von Kindern: Beide halten fest, dass der kindliche Zugang zum Lernen das Spiel ist.
            Im Lehrplan der Volksschule findet sich dies in der Diktion: „Die Grundschullehrerin bzw. der
            Grundschullehrer hat den Unterricht grundsätzlich am Kind zu orientieren, an seinen Lernmög-
            lichkeiten und -grenzen im Spannungsfeld von dem, was es braucht, und dem, was es will.“
            (Lehrplan der Volksschule, 2000, S. 42).
            Die Diktion „… was es will“ mag den Anschein der Beliebigkeit erwecken und Gedanken an
            „laissez-faire“ hochkommen lassen. Aus dem Blickpunkt der Neurowissenschaften und der
            Entwicklungspsychologie ist dies jedoch der unmittelbare Zugang zum Lernen. Kinder sind in
            diesem frühen Entwicklungsalter noch nicht im dem Maße extrinsisch motivierbar, wie wir aus
            der Erwachsenenwelt denken mögen – es braucht also zunächst die Spielidee, die intrinsische
            Steuerung, damit sich ein Kind einer Handlung hingibt. Wenn es sich mit Interesse aktiv einer
            Handlung zuwendet, kann es gar nicht anders als zu lernen (Laevers, 1993). Seine Spielidee hält
            das ­Interesse und die Motivation aufrecht, damit es die hohe Anzahl an Iterationen durchführt,
            Wiederholungsleistungen, die nötig sind, um Spuren im Gedächtnis zu hinterlassen, um neuronale

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Reife – Fähigkeit – Bereitschaft                                                                17

             Bahnungen zu entwickeln, die sich ausdifferenzieren, um für rasche, effiziente Abläufe zur Verfü-
             gung zu stehen (Siegler, de Loache, Eisenberg, 2008). Diese Haltung gegenüber der kindlichen
             Erkundung und Aneignung der Welt ist ­entscheidend und prägt ein Klima, in dem sich Lernen
             immer wieder ereignen und weiterentwickeln kann.
             Dem wird auch im Lehrplan der Volksschule Rechnung getragen mit dem Wortlaut:
                   		    „Diese ersten schulischen Erfahrungen entscheiden mit darüber, ob sich die Lernfähigkeit
                         und Lernbereitschaft eines Kindes entsprechend entwickeln können.
                   •     Es ist daher darauf zu achten, dass zunächst die dem Kind bekannten und vertrauten
                         Formen des täglichen Lebens, der Sprache, des Spielens und des häufig eher zufälligen
                         Lernens von der Schule aufgenommen werden.
                   •     Allmählich und behutsam sind diese Formen zu eher zielorientierten Lernformen
                         zu erweitern. Die bereits angeführten Möglichkeiten des Ausschöpfens des Rahmencha-
                         rakters des Lehrplanes der Vorschulstufe einerseits und der darauf folgenden Schulstufen
                         andererseits dienen insbesondere der Vermeidung von Über- bzw. Unterforderungen
                         beim Wechsel von Schulstufen gemäß § 17 Abs. 5 des Schulunterrichtsgesetzes.
                   •     Anzustreben ist eine sachbezogene Arbeitshaltung, die unter anderem durch Genau-
                         igkeit, Sorgfalt und Ausdauer gekennzeichnet ist, die aber auch Hilfsbereitschaft und
                         Rücksichtnahme mit einschließt.
                   •     Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, dass es nicht durch ein zu rasches Ansteigen
                         der Lernanforderungen im Schuleingangsbereich bei einzelnen Schülerinnen bzw. ein-
                         zelnen Schülern zu Überforderungen kommt.
                   •     Erfahrungsaustausch zwischen Lehrerinnen, Lehrern und Eltern kann widersprüchliche
                         Lern- und Erziehungsmuster durchschaubar machen …“ (Lehrplan der Volksschule,­
                         2012, S. 8).

             Daraus lässt sich ableiten, dass es in der Phase der Transition vom Bildungssystem Kindergarten
             in das anschließende Bildungssystem Schule mehr Verständigung und Kooperation geben sollte.
             Vor allem im Sinne des aufbauenden Lernens und Wissenserwerbs sind nach Faust, Kratzmann &
             Wehner (2012) kontinuierlichere Formen der Lernbegleitung günstiger als die bislang häufig vor-
             zufindenden, die eher dem Kennenlernen dienen (Amtmann, Blahowsky, Hollerer, Reckendorfer,
             2014). Es lassen sich bundesweit einige Initiativen erkennen, die Möglichkeiten der Kooperation
             im Rahmen der derzeit engen gesetzlichen Bedingung ausloten und einem wissenschaftlichen
             Diskurs zuführen (Stanzel-Tischler, 2017).
             Dieser Aufbruch in Richtung Kooperation in Transitionsphasen zeigt sich im gesamten deutsch-
             sprachigen Raum und in regionalen Initiativen (Reicher-Pirchegger, 2015). Da werden regional
             und überregional Initiativen gestartet und Kooperationsprojekte entworfen, Übergangsbegleite-
             rInnen angedacht, neue Curricula für vertiefte Aus-, Fort- und Weiterbildung für diesen Entwick-
             lungsbereich entworfen (Holzinger, 2012) und der Austausch mit den Eltern forciert, der in struk-
             turierter, ressourcenorientierter Form förderliche Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes hat
             (Fried, 2007; Hollerer, 2014; Grillitsch, 2016).

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            Kooperationen – Beziehungsaufbau oder Bürokratie
            Entwicklungspsychologisch gesehen kommt der Ausbildung von Lerndispositionen in der frühen
            Kindheit eine große Bedeutung zu, da sich erworbene Bildungsdispositionen im späteren Verlauf
            nur schwer verändern lassen. Diesem Aspekt scheint nach Keller, Trösch & Grob (2013) der lau-
            fende Bildungsdiskurs mit der vorrangigen ­Fokussierung auf Bildungsinhalte und dem Überprüfen
            von Kompetenzen nicht gerecht zu werden.
            PädagogInnen stehen dabei im Auftrag des Systems und müssen Bewertungen vornehmen,
            Schulstufenentscheidungen treffen, da damit Personalzuteilungen verknüpft sind. Sie stehen im
            Spannungsfeld von systemischen Anforderungen, dem Diktat von Verwaltung und ­Bürokratie
            und Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie und Bildungswissenschaft. Folgen Lehrpersonen
            den bürokratischen Aufträgen, kommen sie rasch in die Position, Kinder bewerten zu müssen,
            um ­Systemressourcen auf der Grundlage von kompensatorischen Überlegungen bei einzelnen
            Kindern zu generieren. Das erschwert am Übergangsbereich vom Kindergarten zur Schule den
            vertrauensvollen Beziehungsaufbau.
            In der Transitionssituation müsste die Bildungsinstitution Schule andere Haltungen leben als die
            der Selektion und Etikettierung, um Systementscheidungen zu begründen.
            Kooperation in Transitionen erfordert Begleitung und vorrangig Beziehungsarbeit.
            Am Beginn der Eltern-PädagogInnen-Schultütenkind-Kooperation ist eine akzeptierende, empa-
            thische und ermutigende Haltung förderlich und der Austausch darüber, wie das Kind in der neuen
            Umgebung mit seinen Begabungen und Potentialen weiterlernen kann:

            Austausch auf der Ebene von PädagogInnen und Eltern über
                • Lernverständnis und Lernwege, die in der Institution verfolgt werden,
                • die Geschwindigkeit und Form, mit der Kinder an Leistungsvorgaben herangeführt werden.
            Kindbezogener Austausch auf der Ebene von PädagogInnen und Eltern über
                • sozial-kommunikative Strategien eines Kindes wie Kooperation und Kontakt­initiative
                • personale Lernstrategien und günstige Lernumgebung
                • Resilienz, Selbstkontrolle und konstruktiven Umgang mit Stress und starken Emotionen
                • erprobte lösungsorientierte Bewältigungsstrategien im Einzel- und Gruppensetting
                und Haltungen, die nach dem Volksschullehrplan zusehends wichtiger werden wie
                • Aufmerksamkeitsspanne
                • Verhalten bei Anforderung
                • körperliche Verfasstheit (Belastbarkeit, Bewegungsbedarf, …).
            Austausch mit dem Kind (Kind-PädagogInnen-Eltern) über
                • Lern-, Aneignungs-, Behaltestrategien
                • Anwendungs-, Wiedergabestrategien
                • Lernziele, Lernschritte, Lernmöglichkeiten
                und wenn die Leistungsbereitschaft erwächst auch über
                • Leistungsziele und Leistungsnachweise.

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             Resume: Forschende Haltung in der Lernbegleitung
             Für Kooperationen in der Transition empfiehlt sich statt einer Bewertung von Inhalten und Kom-
             petenzen eine forschende Grundhaltung einzunehmen und die Lerndispositionen zu erkunden.
             Es braucht dazu auch die Einladung an die Eltern, sich auf eine forschende Haltung einzulassen,
             die beobachtet und dokumentiert und mit Zugängen der Bildungswissenschaften zu individu-
             ellen Anregungen für das Kind verwebt. Für lern- und entwicklungsbezogene Elterngespräche
             im Übergang Kindergarten-Schule legen Hollerer & Amtmann (2014) eine Struktur nahe, die
             bei der ­Beobachtung interessierter aktiver Zuwendung zu Bildungsangeboten in der vorbereiteten
             Umgebung beginnt und Eltern in diesen Prozess mit hineinnimmt. So kann als erster Schritt ein ge-
             meinsames Verständnis für Begleitmöglichkeiten in entwicklungsrelevanten Bereichen entstehen.
             Für die Sicherung des Lern- und Entwicklungsfortschritts legen die Autorinnen ein mehrgliedriges
             Vorgehen nahe.
             Auf diesen Erkundigungen basierend können individualisierte Lernangebote erstellt werden, kann
             der ­immer größer werdenden Diversität der Kinder einer Altersgruppe pädagogisch begegnet
             werden und kann positive Lerndisposition entstehen.
             Prengel (2007) sieht mit seiner Forderung nach Diversity Education auch die Probleme der Pädago-
             gik der Vielfalt. Derzeit finden sich Impulse für Kooperation und Individualisierung in den ­Curricula
             niedergeschrieben. Um dies in Bildungssystemen umzusetzen, braucht es Veränderungen – von
             der Zuteilung von Ressourcen über Durchgangszeiten bis zur Erreichung von curricularen Vorga-
             ben und Bildungszielen, Verordnungen zur Leistungsfeststellung, Transitionsmodalitäten in weiter-
             führende Bildungssysteme bis hin zur Aus- Fort- und Weiterbildung der PädagogInnen.
             Dass derzeit viele institutionsübergreifende Kooperationen aufkeimen, ist auf die kreative Kraft der
             Beteiligten in beiden Bildungsinstitutionen und ihr Herz für das Kind in seiner Entwicklung zurück-
             zuführen. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Sie sind bereit für personalisierte Lernbegleitung und
             stellen das Kind in den Fokus – das in jedem Alter reif, fähig und bereit ist zu lernen.

              Luise Hollerer, Dr.in
             Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin. Lehre und Forschung an der
             Kirchlichen Pädagogischen Hochschule der Diözese Graz-Seckau und UNI Graz. Leitung des Kom­
             petenzzentrums „Kindliche Entwicklung – Elementare Bildung“. Publikations- und internationale
             ­Lehrtätigkeit für die Bereiche Entwicklungs- und Lernpsychologie, Diagnostik, Pädagnostik, Transition
              vom Kindergarten zur Schule, Kreativität, Emotionsregulation

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Bildungswege von Kindern oder Bildung von Anfang an                                               23

             Birgit Parz-Kovacic / Ingeborg Schmuck

             Bildungswege von Kindern oder Bildung von Anfang an
             Transition vom Kindergarten in die Schule

             Summary
             Bereits vor dem Schuleintritt besuchen Kinder vielfältige Formen elementarer Bildungseinrich-
             tungen: In Kinderkrippen, bei Tagesmüttern bzw. -vätern, in Kindergärten und Kinderhäusern
             erleben Kinder erstmals außerfamiliäre Bildung und Betreuung. Der Schuleintritt bzw. die Tran-
             sition von elementaren Bildungseinrichtungen in die Volksschule stellt somit für den Großteil der
             SchulanfängerInnen nicht ihre erste Transitionserfahrung in eine Bildungseinrichtung dar.
             Eine angemessene und feinfühlig begleitete Eingewöhnungszeit in die Kinderkrippe oder den Kin-
             dergarten (Dies bedeutet nicht unbedingt einen in jedem Fall ausschließlich harmonischen und
             problemlosen Ablauf!) ist nicht nur eine gute Basis für den weiteren Krippen- bzw. Kindergarten-
             besuch: Wenn sich Kinder als erfolgreich erleben und gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen,
             ermöglichen diese vorangegangenen effektiv bewältigten Transitionen Kindern und Familien, beim
             Schuleintritt auf wichtige Ressourcen und Kompetenzen aufzubauen, um die neuerliche Heraus-
             forderung zu meistern.

             1           Am Beginn der Bildungsbiografie eines Kindes – elementare
                         Bildungseinrichtungen
             Zu den Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen zählen laut Steiermärkischem Kinderbil-
             dungs- und -betreuungsgesetz (LGBl. Nr. 22/2000, zuletzt in der Fassung LGBl. Nr. 19/2019)
             Kinderkrippen, Kindergärten und Heilpädagogische Kindergärten, Horte und Heilpädagogische
             Horte, Kinderhäuser, Alterserweiterte Gruppen und Tagesmütter/Tagesväter. Ab Herbst 2020
             gilt das Steiermärkische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz 2019, LGBl. Nr. 95/2019, durch
             das sich die angeführten Bestimmungen aber inhaltlich nicht ändern. Für alle Arten der Kinderbil-
             dungs- und -betreuungseinrichtungen sind gemeinsame (§ 4), aber auch einrichtungsspezifische
             Aufgaben (§ 5) definiert, aus welchen sich deren Bildungsauftrag ableitet:
             㤠4 Gemeinsame Aufgaben aller Kinderbetreuungseinrichtungen
                  (1) Alle Kinderbetreuungseinrichtungen haben:
                  1. die soziale, emotionale, kognitive, sprachliche und physische Entwicklung jedes Kindes
                       ­individuell zu unterstützen;
                  2. nach den gesicherten Erkenntnissen und Methoden der Pädagogik unter besonderer Be-
                        rücksichtigung einer altersgerechten Bildungsarbeit und der für die jeweilige Alters- bzw.
                        Zielgruppe in Betracht kommenden pädagogischen Grundlagendokumente gemäß § 5
                        Abs. 7 die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit jedes Kindes und seine Fähigkeit zu einer
                        ­eigenverantwortlichen, selbstständigen und mündigen Lebensführung in der Gemeinschaft
                         zu fördern;
                  3. auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes einzugehen, insbesondere auch die Familiensitua-
                         tion zu berücksichtigen;

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                  4. die Familienerziehung bis zur Beendigung der Schulpflicht zu unterstützen und zu ergänzen
                     (Subsidiarität);
                  5. Integrationsaufgaben im Hinblick auf Kinder mit besonderen Erziehungsansprüchen oder auf
                     interkulturelle Aspekte zu übernehmen;
                  6. zu einer grundlegenden religiösen und ethischen Bildung beizutragen;
                  7. bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mit den Eltern (Erziehungsberechtigten) bzw. den Lehre-
                     rinnen/Lehrern der Kinder in geeigneter Weise möglichst eng zusammenzuarbeiten. Dazu ist
                     pro Kinderbetreuungsjahr auf Basis der laufenden Dokumentation mindestens ein struktu-
                     riertes Gespräch mit den Eltern (Erziehungsberechtigten) über den Bildungs- und Entwick-
                     lungsverlauf des Kindes anzubieten.“

            Der Bildungsauftrag elementarer Bildungseinrichtungen, der Kinder bis zum Schuleintritt betrifft,
            wird in Form von „pädagogischen Grundlagendokumenten“ inhaltlich näher ausgeführt. Die Fest-
            legung auf die derzeit anzuwendenden fünf Grundlagendokumente erfolgte aufgrund der Verein-
            barung gemäß Art. 15a B-VG zwischen dem Bund und den Ländern über die Elementarpädagogik
            für die Kindergartenjahre 2018/19 bis 2021/22 und gilt somit österreichweit.
            Um die verpflichtende Anwendung der Grundlagendokumente in allen steirischen elementaren
            Bildungseinrichtungen sicherzustellen, wurden diese durch eine eigene Verordnung der Steier-
            märkischen Landesregierung (LGBl. Nr. 22/2019) für verbindlich erklärt:

             Grundlagendokument                          Anwendungsbereich / Zielgruppe
             Bundesländerübergreifender Bildungs-   • Institutionelle Kinderbetreuungseinrichtungen
             RahmenPlan für elementare Bildungsein-   hinsichtlich aller Kinder
             richtungen in Österreich (CBI, 2009)   • Tagesmütter/-väter hinsichtlich aller Kinder im
                                                      verpflichtenden Kinderbetreuungsjahr bzw. im
                                                      Jahr vor dem Schuleintritt
             Leitfaden zur sprachlichen Förderung        • Institutionelle Kinderbetreuungseinrichtungen
             am Übergang vom Kindergarten in die           hinsichtlich Kinder im verpflichtenden Kinder­
             Volksschule (CBI, 2014)                       betreuungsjahr bzw. im Jahr vor dem Schul­
                                                           eintritt
                                                         • Tagesmütter/-väter hinsichtlich aller Kinder im
                                                           verpflichtenden Kinderbetreuungsjahr bzw. im
                                                           Jahr vor dem Schuleintritt
             Modul für das letzte Jahr in elementaren    Institutionelle Kinderbetreuungseinrichtungen
             Bildungseinrichtungen (CBI, 2010)           hinsichtlich Kinder im verpflichtenden Kinder­
                                                         betreuungsjahr bzw. im Jahr vor dem Schuleintritt
             Werte- und Orientierungsleitfaden           Institutionelle Kinderbetreuungseinrichtungen und
             (PH Niederösterreich, 2018)                 Tagesmütter/-väter hinsichtlich aller Kinder bis zum
                                                         Schuleintritt
             Leitfaden für die häusliche Betreuung       Tagesmütter/-väter hinsichtlich aller Kinder im
             sowie die Betreuung durch Tageseltern       verpflichtenden Kinderbetreuungsjahr bzw. im Jahr
             (CBI, 2010)                                 vor dem Schuleintritt

2020_001_276_schultuetenkinder_buch.indb 24                                                                        12.03.20 08:35
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