Immer und überall verbunden, ohne Bindung-Digitale Sucht als Thema der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung
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Immer und überall verbunden, ohne Bindung – Digitale Sucht als Thema der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung Frank Francesco Birk >> Um eine Störung nach DSM-5 zu diagnostizieren müs- Chatten, telefonieren, Musik hören, shoppen, Filme sen fünf von neun Kriterien erfüllt werden: schauen bzw. erstellen, gamen, fotografieren, das Navigationssystem und News lesen – all dies ist fast 1 Die „Betroffenen beschäftigen sich gedanklich jederzeit und überall möglich. Die Verfügbarkeit des übermäßig stark mit dem Internet und Computer- Internets ist zumeist gegeben, sodass der Mensch spielen.“ (ebd.) heute immerfort erreichbar ist. Viele Kinder in der 2 Falls die Betroffenen das Angebot nicht nutzen, Grundschule besitzen heute ein Smartphone. Selbst entsteht Unruhe, Angst oder eine traurige Stim- einige Kindergartenkinder sind bereits im Besitz eines mung. Mobiltelefons. Die Menschen scheinen mit der ganzen 3 Bei der täglichen Zeitverausgabung nimmt das Welt verbunden. Man sieht junge Mütter, die ihr Kind im Internet bzw. Computerspiele immer mehr an Be- Kinderwagen schieben und dabei mit dem Smartpho- deutung zu. ne beschäftigt sind, oder viele Menschen in der Bahn, 4 Eine Einschränkung der Aktivitäten am PC bleibt die mit ihren Medien im intensiven Dialog stehen. So- erfolglos. ziale Kontakte werden in der heutigen Zeit auf Face- 5 Die Betroffenen „verlieren das Interesse an frü- book, Twitter, Snapchat usw. gesammelt. Berufsfelder heren Hobbies und anderen Vergnügungen oder im eSport oder bei youtube entstehen, die für junge setzen die Nutzung von Computerspielen und Menschen lukrativer erscheinen, als eine Ausbildung Internet fort, obwohl ihnen die für sie daraus re- bzw. ein Studium zu absolvieren. Parallel dazu ist zu sultierenden psychosozialen Probleme bewusst beobachten, dass viele Kinder und Jugendliche ver- sind.“ (ebd.) einsamen und wenig soziale Kontakte haben. Obgleich 6 Die Betroffenen täuschen „… andere über den die Freundesliste auf Social Media anderes vermuten Umfang ihrer Nutzung von Computerspielen und lässt, bestehen doch wenig soziale Kontakte mit real Internet“ (ebd.). existierenden Gleichaltrigen, die über lose Oberfläch- 7 Computerspiele und Internet dienen dazu, negati- lichkeiten hinausgehen. Denn Social Media ermöglicht, ve Emotionen abzubauen. grenzenlos viele Menschen zu kontaktieren und unan- 8 Durch die Beschäftigung mit dem PC werden genehme zu blockieren bzw. zu löschen. Wahre, primäre wichtige Freundschaften, der Arbeitsplatz etc. Beziehungserfahrungen werden nur selten gesammelt vernachlässigt (vgl. ebd.). und bleiben meistens auf der Onlineebene. Der vorlie- 9 Intensiver Gebrauch trotz Wissen über negative gende Beitrag beschäftigt sich mit dem Phänomen der Folgen. digitalen Sucht in der Psychomotorik. Der Autor zählt folgende Suchtbereiche zur digita- len Sucht: Internet-, Smartphone-, Computerspiel-, 1. Zahlen zur digitalen Sucht Social-Media-, E-Mail-, Computer-, Online-Shopping- sowie Like-Sucht. Eine aktuelle Studie (2017) der Ko- Seit 2018 existiert bei der Weltgesundheitsorganisati- rea University in Seoul untersuchte 19 Jugendliche im on (WHO) die Klassifikation Videospielsucht. Darüber Alter von 16 Jahren, die eine digitale Sucht aufweisen, hinaus hat das Diagnostische und Statistische Manual im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Suchterkrankung. Psychischer Störungen (DSM-5) auch das Online-Spie- Sie wurden mithilfe eines standardisierten Fragebo- len (Internet Gaming Disorder) als Störung aufgenom- gens befragt. Zudem wurde eine Magnetresonanz- men (vgl. Orth 2017, 10). spektroskopie (MRS) durchgeführt. Die Gruppe der 44 Praxis der Psychomotorik 1 | 2019
dersetzung sowie konzeptuelle Überlegungen scheinen von Nöten. Ziele der psychomotorischen Entwicklungs- begleitung können für diese Zielgruppe folgende sein: Soziale Kontakte aufbauen und Beziehung zu im Sozialraum zugänglichen Personen schaffen Lebensfreude und Interesse an Aktivitäten außer- halb des PCs wecken bzw. wiederbeleben Psychoedukation für Betroffene und deren Famili- en (Eltern, Lebenspartner) Jugendlichen mit diagnostizierter digitaler Sucht wie- Selbsthilfegruppen schaffen sen beispielsweise höhere Werte in den Bereichen Internetfreie Räume für die Adressaten gestalten Depression, Schlafstörungen und Impulsivität auf (vgl. Verarbeitungsmöglichkeiten für Internet-Erfah- Bergland 2017, o. S.). rungen (z. B. Gaming) ermöglichen Online-Tagebuch Der Bericht „Drogenaffinität Jugendlicher in der Bun- Gesundheitsförderung durch Bewegung und Ent- desrepublik Deutschland“ (2015) der Bundeszentrale spannung für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigt, dass der- Beratungsstellen aufsuchen zeit 270.000 Jugendliche von Internetanwendungen Ggf. Ambulanzen und Kliniken kontaktieren abhängig sind. Im Mittel sind die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen (N = 7.004) zwischen 12 und 25 Die genannten Ziele sind erste Überlegungen zur psy- Jahre alt und 22 Stunden pro Woche online. 7,1 % der chomotorischen Entwicklungsbegleitung im Kontext Jungen und 4,5 % der Mädchen im Alter zwischen 12 digitaler Sucht. Für die direkte Entwicklungsbegleitung und 17 Jahren weisen computerspiel- oder internet- sind Entspannungsverfahren (z. B. Autogenes Training, bezogene Störungen auf (Orth 2017). Zudem entste- Eutonie, Progressive Muskelentspannung, Yoga, Medi- hen weitere pathologische Erscheinungen wie z. B. das tation), künstlerische Tätigkeit (z. B. Werken, Gestal- Phantom-Klingel- bzw. Phantom-Vibrations-Syndrom ten), Psychoedukation und Verfahren der Förderung (psylex o. J., o. S.) (Menschen hören ein klingelndes von Resilienz (z. B. Lubo aus dem All) geeignet. All die- Handy, ohne dass ein Handy läutet.). se Verfahren helfen den Adressaten, Sinnhaftigkeit in Weitere Erkrankungen entstehen durch exzessive Nut- ihrem Leben zu erfahren. Zudem bieten die dargestell- zung auf körperlicher Ebene (z. B. Haltungsschäden, ten Verfahren körperliche und bewegungsorientierte Foto unten rechts: © sakkmesterke – stock.adobe.com; Foto oben links: © JackF – stock.adobe.com Verspannungen und Kurzsichtigkeiten (vgl. Johannes Erfahrungen, die ebenfalls der Gesundheitsförderung Gutenberg-Universität Mainz 2014, o. S.). dienen. Weiter sind Fragebögen wie der Fragebogen Die Zahlen und Fakten lassen viele Spekulationen zu zum Computerspielverhalten bei Kindern – CSVK (Tha- und geben zahlreiche Denkanstöße zur Nutzung des lemann, Grüsser, Albrecht & Thalemann 2004), die Hin- Internets bzw. Smartphones. Weitere Untersuchun- weise auf ein mögliches Suchtverhalten geben kön- gen, gerade Längsschnittuntersuchungen, wären in nen, in der Praxis anwendbar. Trends wie Gamification diesem Bereich wünschenswert. (englisch: game; Spiel) oder die Escape Rooms können Im Folgenden werden die Chancen der psychomoto- rischen Entwicklungsbegleitung aufgezeigt, um den Herausforderungen digitaler Suchterkrankung zu be- gegnen. 2. Psychomotorische Entwicklungs begleitung von Menschen mit digitaler Suchterkrankung Die psychomotorische Entwicklungsbegleitung von Menschen mit digitalen Suchterkrankungen steckt noch in den Kinderschuhen des Diskurses. Eine Auseinan- Praxis der Psychomotorik 1 | 2019 45
dazu dienen, gerade bei Kindern bzw. Jugendlichen weniger hingelegt wird als Teilnehmer anwesend mit Computerspiel-Suchterkrankungen Alternativen sind. Die Teilnehmer stehen in je einem Gymnastik für ihr Verhalten zu finden und dem Bedürfnis nach reifen. Der Teilnehmende, der keinen Gymnastik (Computer-)Spielen gerecht zu werden. Zu beachten reifen hat, positioniert sich in der Mitte und über- ist, dass die Interessen der Kinder und Jugendlichen legt sich eine Anweisung, auf die alle Teilnehmer, beachtet werden und dialogisch Alternativen zu den auf die dieses Merkmal zutrifft, ihren Reifen wech- Internetaktivitäten gesucht werden müssen. Im Fol- seln müssen. Die in der Mitte stehende Person ver- genden werden Beispiele dargestellt, die sich in der sucht dabei selbst, einen freien Reifen zu erreichen. psychomotorischen Praxis bewährt haben. Wer im Kreis verbleibt, überlegt sich eine neue An- weisung (vgl. Fachverband Medienabhängigkeit e.V. 2013, 18). 3. Bewegungsorientierte Verfahren für Menschen mit digitaler Sucht- Beispielfragen: Alle, die … erkrankung ... mehr als ein Smartphone besitzen, In diesem Abschnitt werden praktische Interventio- ... bei Snapchat angemeldet sind, nen dargestellt, die gerade von Kindern und Jugendli- ... weniger als 100 Freunde bei Facebook haben, chen gerne angenommen werden. ... schon einmal eine ganze Nacht ein Computer- spiel durchgespielt haben, 3.1 Computerspiele in der Turn- und wechseln den Reifen. Diese Aufgabe eignet sich bei Bewegungshalle umgesetzt größeren Gruppen als Einstieg und dient v. a. der Suchtprävention in Schulen. In Turnhallen bauen Kinder und Jugendliche ihre Wel- ten, die sie im Computer erleben, nach und schlüp- fen in die Rolle ihrer Superhelden (z. B. Super Mario, Batman, Spiderman, X-Men). So können die Kinder die medialen Erfahrungen verarbeiten und kommen in Bewegung. Dieses Angebot beugt Bewegungsmangel und Haltungsschäden vor und kann insbesondere in der Nachmittagsbetreuung im Kontext Schule angebo- ten werden, sodass betroffene Kinder die Möglichkeit haben, kostenfrei an dem Angebot zu partizipieren. 3.2 Bewegungsorientierte Hausaufgaben 3.4 Stehogramm Die Kinder erhalten nach jeder Psychomotorik-Stunde die Hausaufgabe, innerhalb der Familie einer bewe- „Die Gruppenleitung trifft laut und gut hörbar eine gungsorientierten Aktivität nachzugehen. Diese Akti- Aussage (Beispiele siehe unten). Jeder Teilnehmende vität (z. B. Schwimmen gehen, eine Schaukel auf einem überlegt für sich still, ob die Aussage bezüglich seines Spielplatz aufsuchen, einen Tag in den Wald gehen) eigenen Mediennutzungsverhaltens mit ja oder nein kann mit einem Medium festgehalten (z. B. fotografiert zu beantworten ist. Trifft die Aussage für den Einzel- Foto: © nadezhda1906 – stock.adobe.com bzw. gefilmt) und der psychomotorischen Fachkraft nen zu, stellt er oder sie sich hin. Trifft die Aussage zugesandt werden. Die Erlebnisse sind in der nächs- nicht zu, bleibt er oder sie auf seinem Stuhl sitzen. ten Psychomotorik-Stunde zu thematisieren. Dies kann beliebig oft wiederholt werden.“ (Fachver- band Medienabhängigkeit e.V., 2013, 18). Folgende Aussagen dienen als Beispiel: 3.3 Medien Ab-wechsel-ung Ich bezahle meine Smartphone-Rechnung selbst. Aus Gymnastikreifen wird ein Kreis auf dem Turn- Wir haben zu Hause mehr als einen Computer. hallenboden gebildet, wobei ein Gymnastikreifen Ich spiele Spiele, für die ich offiziell zu jung bin. 46 Praxis der Psychomotorik 1 | 2019
4. Fazit Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (2014): Kurzsichtigkeit nimmt mit höherer Bildung und längerer Schulzeit zu – Wis- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Medium senschaftliche Studie der Universitätsmedizin Mainz belegt Zusammenhang zwischen Bildung und Kurzsichtigkeit. www. Internet viele Chancen bietet, um mit der ganzen Welt uni-mainz.de/presse/61304.php (Zugriff am 10.05.2018). verbunden zu sein. Man hat ständig Zugriff auf seine Daten, kann mit vielen Leuten in Kontakt treten und Orth, B. (2017): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bun- desrepublik Deutschland 2015. Teilband Computerspiele und viele neue Bekanntschaften machen. Jedoch werden Internet. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für die negativen Aspekte des Mediums gerne verdrängt. gesundheitliche Aufklärung. Bedeutsam ist die Balance zwischen On- und Offline. Thalemann R., Albrecht U., Thalemann C. & Grüsser S. (2004): Die psychomotorische Entwicklungsbegleitung er- Kurzbeschreibung und psychometrische Kennwerte des „Fra- möglicht mit ihren unterschiedlichen Zugängen und gebogens zum Computerspielverhalten bei. Kindern“ (CSVK). Perspektiven verschiedene Möglichkeiten der Förde- Psychomed, 16. Seite 226-233. rung, die immer an den Interessen und Ressourcen der Adressaten orientiert sind. Über das Medium Der Autor: Bewegung können soziale Kontakte über Aktivität erfahren und über den körperlich-leiblichen Zugang gestärkt werden. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich die psychomotorische Entwicklungsbegleitung der Thematik digitale Sucht öffnet und ob in Zukunft spezielle Verfahren für diese Adressaten entwickelt und im besten Fall evaluiert werden. Hierfür sind konzeptuelle Ideen zu entwickeln, Fortbildungen (z. B. für Fachkräfte und Eltern) anzubieten sowie (wissen- Frank Francesco Birk M.A. schaftliche) Beiträge zu publizieren. Es bleibt abzu- Doktorand der Universität zu Köln, Motologe (M.A.), warten, wie sich die digitale Sucht im Kontext von Ge- Kindheitspädagoge (B.A.) Motopäde und Erzieher. sellschaft weiterentwickelt und welche Maßnahmen Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sozial- wesen an den Katholischen Hochschulen NRW, von der Politik getroffen werden, um Maßnahmen Abteilung Köln, Dozent der Deutschen Angestellten gegen dieses Suchtpotential zu ergreifen. Akademie Gießen an der Fachschule des Sozialwesens frankbirk2003@yahoo.de Literatur: Bergland, C. (2017): The Neurochemistry of Smartphone Addic- tion Teens with problematic habits may have an imbalance of GABA to Glx ratios. https://www.psychologytoday.com/blog/ the-athletes-way/201711/the-neurochemistry-smartphone- Stichwörter: addiction (Zugriff am 15.01.2018). Digitale Sucht Fachverband Medienabhängigkeit e.V. (2013): Let´s play – Medienkonsum Methoden zur Prävention von Medienabhängigkeit. Lengerich: soziale Kontakte Pabst Verlag. Kinder- und Jugendhilfe Praxis der Psychomotorik 1 | 2019 47
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