Pandemie und häusliche Gewalt - KPPP Psychiatrisches Kolloquium 09.04.2021 Dr. phil. Angela Guldimann - Psychiatrische ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Pandemie und häusliche Gewalt Dr. phil. Angela Guldimann Leitung Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management (FFA) angela.guldimann@pukzh.ch KPPP Psychiatrisches Kolloquium 09.04.2021
Inhalt Zusammenspiel Häusliche Gewalt und Corona – aus dem Leben Kennzahlen - Zunahme, Abnahme, Gleichstand oder (noch) Unbekannt? Die Folien werden Risikofaktoren f. Häusliche Gewalt, Ihnen auf der Täter-Typologien Homepage zur Verfügung gestellt. Kantonales Bedrohungsmanagement Zusammenarbeit Gewaltschutz und FFA Schlussgedanken Seite 2 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Suchbegriff „Coronavirus“ für die Schweiz (2016 - 2021) Seite 3 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Suchbegriff Häusliche Gewalt in der Schweiz (2016-2021) Seite 4 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Wovon sprechen wir? Istanbul-Konvention: „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen Früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte“ (Europarat 2011, S. 5). Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen und Trennungssituationen Gewalt gegen Männer in Paarbeziehungen und Trennungssituationen Kinder als Mitbetroffene der Gewalt in Paarbeziehungen und Trennungssituationen Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen Im Rahmen von Zwangsheirat Gewalt gegen ältere Menschen im Familienverband Gewalt von Eltern oder deren Partnern gegen Kinder und Jugendliche Gewalt von Kindern und Jugendlichen gegen Eltern Gewalt zwischen Geschwistern Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management 5
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Der 38-jährige Herr Zwilling ist leider schon einige Male mit Tätlichkeiten gegenüber seiner Frau aufgefallen (Schulter schütteln, einmal eine Ohrfeige). Es tut ihm danach immer sehr leid. Er hat Konflikte mit seinen Arbeitskollegen und will morgens gar nicht mehr zur Arbeit. Im Home Office kann er sich besser von den Kollegen abgrenzen, mehr Zeit mit seiner Familie verbringen. Die familiären Konflikte reduzieren sich stark. Es graut ihm aber schon vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz. Er will nicht ins alte Muster zurückfallen und bespricht mit seiner Frau, was er tun könnte (Jobwechsel, Coaching etc). Seite 6 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Frau Schütze wird von ihrem Mann stark kontrolliert. Seit sie vermehrt zu Hause ist, ist das Aggressionspotential nochmal gestiegen. Beleidigungen, Tritte gegen den Bauch, Herr Schütze kontrolliert sie auf Schritt und Tritt. Wenn sie telefoniert, muss sie auf Lautsprecher stellen, damit er zuhören kann. Frau Schütze hat Angst und sieht für sich wenig Möglichkeiten Hilfe zu holen. Sie ist zwar auch mal allein (Einkaufen) – ihr fehlt aber die Kraft sich bei Fachstellen zu melden. Zudem hat sie gehört, dass die Frauenhäuser voll sind, wo soll sie dann hin? Seite 7 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Der 52 Jahre alte Herr Skorpion ist noch nie mit HG aufgefallen. Er war stets eher zurückhaltend und argwöhnisch im Umgang mit den Mitmenschen. Im Verlauf der Pandemie zieht er sich beinahe komplett von der Aussenwelt zurück. Neben seinem steigenden Interesse für Verschwörungstheorien verdächtigt er mit der Zeit seine Frau, ihn absichtlich mit Corona anstecken zu wollen. Als sie ihn dringend auffordert, mit ihr aufgrund seines Zustands zum Hausarzt zu gehen, wehrt er sich zuerst verbal und dann tätlich gegen sie („Du und der Arzt wollt mich mit dem Killer-Virus um die Ecke bringen“). Seite 8 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Die 29 jährige Frau Wassermann kümmert sie sich um die Geschäftsadministration ihres Mannes, arbeitet Teilzeit damit die Familie finanziell über die Runden kommt. Nach der Home Office Empfehlung des Bundes und der Schliessung der Schulen sitzen alle zu Hause. Ihr Mann kommt mit dem HO schlecht zurecht und lässt seinen Ärger an ihr aus. Er igelt sich in seinem Büro (dem Schlafzimmer) ein. Frau Wassermann beaufsichtigt die Kinder in der Küche / Wohnzimmer. Sie schläft schlecht und kommt an ihre Grenzen. Eines Abends schlägt sie ihre 9 jährige Tochter, weil diese den Teller mit Spaghetti auf den Boden fallen liess. Frau Wassermann tut es bitterlich leid. Seite 9 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Frau Steinbock wird seit Jahren von ihrem Mann geschlagen. Er hat für ihr „Gebaren“ kein Verständnis, schliesslich sollte sie wissen, wann sie den Mund halten sollte. Zwei Mal musste sie auch zum Arzt und hat andere Gründe für die Verletzungen aufgeführt. Sie hofft stets, dass er aufhört. Nachdem sie kürzlich wieder in der Arbeitswelt Fuss gefasst hat, überlegt sie aber ernsthaft ihn zu verlassen. Als ihr Mann im Frühling 2020 in Kurzarbeit geht und dann seine Arbeit ganz verliert, bringt sie es aber nicht übers Herz „ihn sitzen zu lassen“. Als er sie eines Abends brutal schlägt, geht sie nicht in den Notfall – auch weil sie das wegen Corona stark beanspruchte Ärzteteam nicht zusätzlich belasten will. Seite 10 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenspiel: Corona und Häusliche Gewalt Herr Jungfrau ist rasend eifersüchtig. Er hatte damit in all seinen romantischen Beziehungen Probleme. In der aktuelle Beziehung hat er „Eifersuchtsschübe“ und wird gelegentlich auch tätlich, wenn er einen Nebenbuhler vermutet. Seine Freundin ist ein „Superstar“ und wird von allen Männern umschwärmt. Sie arbeitet im Gastrogewerbe und ist seit langer Zeit gar nicht oder selten am arbeiten, sondern zu Hause. Herr Jungfrau - der ebenfalls im HO ist - entlastet die Anwesenheit der Freundin sehr, da dies sein Kontrollbedürfnis etwas stillt. Seite 11 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Risikofaktoren (nicht abschliessend) Durch Corona weiter akzentuiert Multi-Tasking (Home Office, Home Schooling etc.) Begrenzte Rückzugsmöglichkeiten zu Hause Fehlende soziale Unterstützung und emotionale Entlastung durch Aussenkontakte Vermehrt Alkohol (Verlust d. Aggressionshemmung) und Gamen (finanzielle Druck und Verluste) als Coping-Strategie Stress Finanzielle, ev. existenzielle Sorgen Von vornherein begrenzte Ressourcen Angst vor Corona-Ansteckung verhindert Inanspruchnahme von Unterstützung Fehlende Planungssicherheit bzw. mangelndes Kontrollerleben Psychische Erkrankungen, Persönlichkeitszüge oder Störungen, die mit mangelnden Kommunikations- und Konfliktlösungsstrategien einhergehen. Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Kennzahlen - Zunahme, Abnahme, Gleichstand oder (noch) unklar?
Corona Report Pro Juventute, Februar 2021 „Besonders Familien in bereits belasteten, sozial oder wirtschaftlich prekären Verhältnissen haben ein deutlich höheres Risiko, dass sich ihre Situation und das Familienklima spürbar verschlechtern und innerfamiliäre Spannungen und Konflikte bis hin zu Gewalt zunehmen.“ Auch die Beratungen bei innerfamiliären Konflikten und häuslicher Gewalt nahmen über das ganze Jahr hinweg zu, besonders während der Zeit des ersten Lockdowns. Zwischen März und Mai 2020 stiegen die Zahlen von Anfragen wegen «Konflikten mit den Eltern» (+60 %), «Konflikten mit Geschwistern» (+100 %) und «häuslicher Gewalt» (+70 %) dramatisch. Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS): Unter häuslicher Gewalt wird die Anwendung oder Androhung von Gewalt unter Paaren in bestehender oder aufgelöster ehelicher oder partnerschaftlicher Beziehung, zwischen Eltern (auch Stief-/Pflegeeltern) und Kind oder zwischen weiteren Verwandten verstanden. Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Vollendete Tötungsdelikte im Häuslichen Gewaltbereich Schweiz (2009 - 2020) Vollendete Tötungsdelikte 2009-2020 in der Schweiz 35 32 Ganze Schweiz: 30 28 Keine statistisch sig. 27 26 Zunahme seit 2019 25 25 25 24 25 23 22 20 20 Kanton ZH: 20 6 der 28 Tötungsdelikte 2020 15 ereigneten sich in ZH 10 10 Tötungsdelikte ereigneten 5 sich im Jahr 2019 in ZH 0 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Anzahl vollendete Tötungsdelikte Seite 17 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
PKS 2020 für die ganze Schweiz Straftaten häusliche Gewalt: Vorjahresvergleich 2019 2020 Straf- Straf- Differenz taten taten Vorjahr Total ausgewählte Straftaten häusliche Gewalt 19 669 20 123 2% Die polizeiliche Tötungsdelikt vollendet (Art. 111–113/116) 29 28 -3% Kriminalstatistik (PKS) Tötungsdelikt versucht (Art. 111–113/116) 50 61 22% Schwere Körperverletzung (Art. 122) 116 124 7% stellt für das Jahr 2020 Einfache Körperverletzung (Art. 123) 2 035 2 123 4% keine signifikante Tätlichkeiten (Art. 126) 6 379 6 576 3% Erhöhung bei Gefährdung Leben (Art. 129) 126 141 12% Gewaltstraftaten im Beschimpfung (Art. 177) 3 737 3 815 2% Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies) 521 532 2% häuslichen Bereich fest. Drohung (Art. 180) 4 314 4 220 -2% Nötigung (Art. 181) 732 857 17% Entführung/Freiheitsberaubung (Art. 183/184) 115 130 13% Sex. Handl. Kinder (Art. 187) 383 390 2% Sex. Handl. Abhängige (Art. 188) 3 1 -67% Sexuelle Nötigung (Art. 189) 205 229 12% Vergewaltigung (Art. 190) 287 268 -7% Schändung (Art. 191) 24 34 42% Übrige ausgewählte Artikel des StGB33 613 594 -3% © BFS, Neuchâtel Seite 18 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment 2021 & Risk Management
PKS nur für den Kanton Zürich 3.2.2 Häusliche Gewalt: Vorjahresvergleich Straftaten häusliche Gewalt: Vorjahresvergleich 2019 2020 Straf- Straf- Differenz taten taten Vorjahr Total ausgewählte Straftaten häusliche Gewalt 3 391 3 370 -1% Tötungsdelikt vollendet (Art. 111–113/116) 10 6 -40% Tötungsdelikt versucht (Art. 111–113/116) 8 14 75% Schwere Körperverletzung (Art. 122) 36 37 3% Einfache Körperverletzung (Art. 123) 311 383 23% Tätlichkeiten (Art. 126) 1 282 1 117 -13% Gefährdung Leben (Art. 129) 44 59 34% Beschimpfung (Art. 177) 203 232 14% Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies) 155 143 -8% Drohung (Art. 180) 836 753 -10% Nötigung (Art. 181) 233 314 35% Entführung/Freiheitsberaubung (Art. 183/184) 23 24 4% Sex. Handl. Kinder (Art. 187) 67 79 18% Sex. Handl. Abhängige (Art. 188) 0 0 0% Sexuelle Nötigung (Art. 189) 29 37 28% Vergewaltigung (Art. 190) 50 60 20% Schändung (Art. 191) 7 5 -29% Übrige ausgewählte Artikel des StGB5 97 107 10% © BFS, Neuchâtel 2021 Tabelle 23: Straftaten häusliche Gewalt: Vorjahresvergleich Seite 19 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Wichtig zu wissen: PKS zeigt nur Straftaten, die bei der Polizei gemeldet werden UND dann an eine Strafuntersuchungsbehörde rapportiert resp. in einem Strafverfahren untersucht werden Meldungen bei der Polizei Seite 20 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Meldungen bei der Polizei Nicht jede Meldung bei der Polizei löst eine Strafuntersuchung aus, weil Streitigkeiten (ohne Straftatbestand). Hier setzt Polizei präventiv an – Kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) Nicht alle Straftaten sind Offizialdelikte, d.h. Opfer müssen bei Antragsdelikten ein Strafverfahren wollen resp. Strafantrag unterschreiben (z.B. Missbrauch einer Fernmeldeanlage / einmalige Ohrfeige / Drohung zwischen Schwiegervater + Schwiegertochter). Auch nicht in PKS abgebildet: Opfer unterschreibt keinen Strafantrag, es erfolgt aber ein Rapport an die KESB, da Kindeswohl als gefährdet eingeschätzt wird. Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt (IST) Familiäre Häusliche Total davon Differenzen Gewalt Meldungen GSG- (ohne (mit (Familiäre Verfügungen Straftatbestand) Straftatbestand) Differenzen und (mit/ ohne Häusliche Straftatbestand) Gewalt) Total 2019 2733 2866 5599 1123 Total 2020 3532 3027 6559 1278 Zunahme + 29.2 + 5.6 + 17.1 + 13.8 in % Ausrückfälle 2019 15.3 pro Tag 2020 17.9 © Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt (IST) 2021 22
Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt (IST) Polizeiliche Meldungen (Ausrückfälle, ganzer Kanton) im Kontext Häuslicher Gewalt und Familienstreitigkeiten, Jahre 2016-2020 7000 6559 Familiäre Differenzen "FamDiff" 6000 5599 (ohne Straftatbestand) 5293 5037 5016 5000 Häusliche Gewalt "FamHG" 4000 3532 (mit Straftatbestand) 2545 2552 2671 2866 3027 3000 2622 2733 Total Meldungen 2492 2464 (FamDiff+FamHG) 2000 resp. Total Ausrückfälle 1123 1278 1023 989 1012 davon GSG- 1000 Verfügungen (mit/ohne 0 Straftatbestand) Jahr 2016 Jahr 2017 Jahr 2018 Jahr 2019 Jahr 2020 © Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt (IST) 2021 23
Was wissen / vermuten wir bis jetzt? Keine sig. Zunahme an Tötungsdelikten, keine statistisch sig. Zunahme in der PKS, aber teils mehr schwere HG Fälle (im Vergleich mit Tatbeständen 2019) Parallel Anstieg der Meldungen bei Polizei / Opferberatungsstellen / Schutzeinrichtungen / FFA / vor allem im Sommer nach Lockdown Nachgelagerter Effekt / ev. weniger Möglichkeiten, sich zu melden während Lockdown / Fokus auf anderen Problemen / Solidarität in der Familie Allgemeine Sensibilisierung für HG: Mehr Fälle werden gemeldet Geschädigte/Zeugen meldeten sich öfter (ev. auch früher) bei der Polizei (Fam. Streitigkeiten). Polizei (in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen) kann / hat erfolgreich deeskaliert = Gewaltprävention Eine Strafuntersuchung wird oft auf Seiten Geschädigte nicht gewünscht (z.B. Bestrafung nicht im Fokus, sondern HG soll stoppen, Verfahren nicht mehr Stress verursachen) Seite 24 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Risikofaktoren, Tätertypologien
Risikofaktoren für (schwere) Intimpartner-Gewalt Komplexes Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren: Erlebte oder bezeugte Gewalt (physisch, sexuell und emotional) als Kind Bereits mit Gewalt in Beziehung (en) aufgefallen Patriarchalische Einstellung / Weltanschauung Waffenaffinität Psychische Erkrankungen In einer Metaanalyse über 207 Studien fanden Spencer et al. (2019) einen Zusammenhang zwischen diesen untersuchten psychischen Störungen (u.a. Depression, antisoziale Persönlichkeitsstörung und Borderline-PS) Alkohol- und Drogenkonsum Stalking nach der Trennung Depression / Suizidalität Gemäß einer Metaanalyse von Matias et al. (2019) wiesen Männer, die ihre Partnerin getötet haben, im Vergleich zu nichttödlich verlaufende- Fällen im Vorfeld häufiger Suizidgedanken und Suizidversuche auf. Kombination von Selbsttötungsgedanken und Rachephantasien (Narzisstische Krise) Seite 26 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Risikofaktoren für (schwere) Intimpartner- Gewalt Nach Analyse von 60 Risikofaktoren: Kaum Geschlechterunterschiede betreffend IPG, aber z.B. Alkoholkonsum relevanter bei Männern (Spencer et al. 2016) Je nach Population liegen weitere spezifische Risikofaktoren vor: Gleichgeschlechtliche Beziehungen: Internalisierte Homonegativität (Übernahme gesellschaftlicher negativer Bewertungen von Homosexualität) als spezifischer Risikofaktor bei Männern, während bei Frauen eine besonders enge Paarbeziehung mit mangelhaft differenzierter unabhängiger Identität („Fusion“) einen Risikofaktor darstellt. (Kimmes et al. 2019) Im Alter gewinnen kognitive / physische Beeinträchtigungen oder Belastung durch Pflegeverantwortung zwischen Partnern an Relevanz (Gerino et al. 2018) Seite 27 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Intimpartner-Tätertypologie von Holtzworth Munroe & Stuart (1994, 2000, 2003) Dimensionen «Family Only» Dysphoric/ Generell borderline antisozial Schweregrad der Gewalt Gering / Leicht Mittel – schwer Mittel - Schwer Generelle Gewalttätigkeit Selten Selten - manchmal Häufig (ausserhalb Beziehung) Psychopathologie/ Keine Borderline Antisozial, Persönlichkeitsstörungen Passiv «psychopathy» Abhängig / Dependent Alkohol/Drogen Selten - Häufig Häufig manchmal Depression Selten - Häufig Selten manchmal Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management 28
Können sich die Opfer auf ihre Einschätzung verlassen? (und wir auch)? «Ich habe grosse Angst, dass mich mein (Ex)-Mann umbringt» Gewalt tritt ein Gewalt tritt nicht ein Angst des Opfers Richtig positiv Falsch positiv Keine Angst beim Falsch negativ Richtig negativ Opfer Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Annahmen und Gegenannahmen Niemand kennt den Täter so gut wie das Opfer = Experte Opfer von häuslicher Gewalt werden durch diese traumatisiert und desensibilisiert Opfer von häuslicher Gewalt trauen ihrem eigenen Urteilsvermögen nicht (mehr) Opfer will sich nicht vorstellen, dass man es umbringen könnte Opfer, die bei ihrem gewalttätigen Partner bleiben, müssen ihre Angst kleinreden / denken, um die Situation bewältigen bzw. aushalten zu können Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management Habermeyer / Guldimann
Risk Assessment Instrumente; Bsp. ODARA ODARA integriert Sorge des Opfers vor künftigen Übergriffen als Risikofaktor 1. Früherer häuslicher Vorfall 2. Früherer nicht - häuslicher Vorfall 3. Frühere Freiheitsstrafe von mind. 30 Tagen 4. Versagen bei früherer bedingter Entlassung 5. Androhung einer Verletzung oder Tötung beim Index-Delikt 6. Einsperren des Opfers beim Index-Delikt 7. Opfer besorgt über zukünftige Übergriffe 8. Zusammen mehr als ein Kind 9. Leibliche Kinder des Opfers vom Ex-Partner 10.Gewalt gegen andere Personen 11.Zwei Indikatoren für Substanzmissbrauch 12.Übergriff auf das schwangere Opfer 13.Barrieren bei der Opferunterstützung Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Bennett Cattaneo, Bell, Goodman & Dutton (2007): N = 246, follow-up nach 18 Monaten PTBS Werte von Opfern am höchsten in der Gruppe der „richtig positiven“ ABER: wenn Opfer mit PTBS falsch lagen, dann 2.5 wahrscheinlicher „falsch positiv“ als „falsch negativ“ (ev. wegen erhöhter Wachsamkeit) Ein Opfer von Stalking zu sein erhöht (korrekterweise) die Wahrnehmung des eigenen Risikos (sig. häufiger in Gruppe „richtig positiv“) Suchtmittelproblematik beim Opfer führt zu einer reduzierten Wahrnehmung des eigenen Risikos (sig. häufiger in Gruppe „falsch negativ“) Hingegen: Dauer der Beziehung und Dauer der HG standen in dieser Studie in keinem Zusammenhang mit der Vorhersage neuer Gewalt Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Fazit Es spricht nichts dagegen, die Opfer nach ihrer Einschätzung zu fragen bzw. diese miteinzubeziehen Opfereinschätzung ist am zuverlässigsten in Kombination mit anderen Faktoren wie Tätercharakteristika und Opfermerkmalen Diskrepanzen in Selbst- bzw. Fremdbeurteilung analysieren, denn: Die Einschätzung der Opfer (korrekt oder inkorrekt) trägt dazu bei, dass Opfer Handlungsschritte (z.B. Empfehlungen der Polizei) umsetzen oder diese eben unterlassen Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
KANTONALES BEDROHUNGSMANAGEMENT (KBM, www.kbm.zh.ch) Risikoentwicklungen erkennen - einschätzen - entschärfen
Gewaltschutz-Fachstellen • Gewaltschutz der Kantonspolizei, der Stadtpolizei Zürich und der Stadtpolizei Winterthur. • Jeder Bürger und jede Institution kann und soll sich niederschwellig melden, wenn Anlass zur Sorge hinsichtlich Gewalt besteht. • Meldung wird strukturiert geprüft, ob Anlass zur Sorge besteht. Ziel: Gewaltprävention • Früherkennung risikobehafteter Entwicklungen • Eingrenzung von bedrohlichem Verhalten • Entschärfung von Eskalationspotenzial für Gewalttaten • Entlastung von Betroffenen in Gefährdungssituationen • Herbeiführung von Lösungen; Bestrafung steht nicht im Vordergrund • Information über spezialisierte Beratungs- und Betreuungsangebote • Schutz der Gesundheit und Integrität der Bevölkerung • Vernetzung der unterschiedlichen Akteure Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Forensisches Fachwissen Was fehlt(e): Schneller Zugriff auf Fachpersonen für forensische Risikoeinschätzungen und Interventionsempfehlungen für das Fallmanagement Früherkennung Strafverfolgung Forensisch- psychiatrisches/ Untersuchungen psychologisches Fachstelle Forensic (Vor-)Ermittlungen Assessment & Wissen RiskManagement Bedrohungsmanagement Vorlagerung (Dienst Gewaltschutz) Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management Quelle: Hans Schmid
Die Auftraggeber der FFA Staatsanwaltschaften Gewaltschutz- Allgemeinpsychiatrische Zürich dienste Kliniken (Konsildienst) (Justizdirektion) (Sicherheits- (Gesundheitsdirektion) direktion) FFA Klinik für Forensische Psychiatrie (PUK) Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Vertieftes forensisches Fachwissen zur Unterstützung der Polizeiarbeit Was tut die FFA (u.a.)? Fallbesprechungen mit dem Gewaltschutz Teilnahme an Gefährderansprachen, Fallkonferenzen Rücksprache mit dem Behandler der Gefährder (Schweigepflichtsentbindung) Wie macht sie das? Benennen der Risikofaktoren & protektiven Faktoren (Ressourcen) Hinweise zur Gesprächsführung mit Gefährder/in Hinweise auf risikoerhöhendes (Warn-) Verhalten im Verlauf Hinweise wann ggf. eine neue Einschätzung indiziert ist Risikoreduzierende Interventionsempfehlungen Fehlen risikorelevante Informationen? Unsicherheiten benennen! Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) Informationsplattform www.kbm.zh.ch * * * * * FFA-Arbeitsplatz Seite 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Zusammenarbeit FFA & Herr X. hat Gewaltschutz eine Depression. Nachbar hat zunehmend Angst, ist stark verunsichert Im Polis ist Herr X. Herr X. ist im wegen Waffen- Drohung register verzeichnet verzeichnet Quelle: Fotolia Seite 40 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Schlussgedanken 4
Sehr wichtig und klar ausbaufähig: Angebote für gewaltbereite Männer und Frauen „Medienmitteilung Mannebüro 2021“ https://mannebuero.ch/ Über 700 Männer (Vorjahr 588 Männer), mehr denn je, liessen sich im Jahr 2020 von einem der professionellen mannebüro- züri-Fachmänner beraten. Vor allem im Herbst zeigte sich, dass der Lockdown und die anhaltende Krise in den Familien nicht ohne Folgen geblieben sind. Die grösste Zunahme im Zusammenhang mit Gewaltschutzgesetz (GSG) Das mannebüro züri hat 2020 328 Männer (+13%) mit einer solchen Verfügung (Wegweisung, Kontakt-/Rayonverbot) beraten, ein Rekord. Ebenfalls eine massive Zunahme gab es bei den Beratungen zu konfliktiven Trennungen/Scheidungen (+23%) sowie bei den Zuweisungen von gewalttätig gewordenen Jugendlichen. Seite 42 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Was tut der Kanton gegen HG? Im Kanton Zürich ist Häusliche Gewalt ein Schwerpunktthema des Regierungsrats Präventionskampagne stopp-gewalt-gegen-frauen.ch Im Kanton Zürich wird im Bereich Häuslicher Gewalt viel Wert auf die interinstitutionelle Zusammenarbeit gelegt. Es benötigt die Mitarbeit aller (oder zumindest der Mehrheit) der Beteiligten (Täter, Opfer, Fachpersonen etc.) Akzeptanz, dass nicht alle Risiken eliminiert werden können Seite 43 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Auswahl an hilfreiche Links in Zusammenhang mit Gewalt / Corona Entwicklungen Kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) www.kbm.zh.ch Präventionskampagne stopp-gewalt-gegen-frauen.ch FVGS | Fachverband Gewaltberatung Schweiz Wo finde ich Hilfe? - Opferhilfe Schweiz (opferhilfe-schweiz.ch) Forschungsprojekt „Leben zu Corona-Zeiten“ Paula Krüger & Seraina Caviezel Schmitz, Hochschule Luzern. Repräsentative Langzeitstudie, laufend. Covid-19 Social Monitor der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), laufend. Swiss Corona Stress Study der Universität Basel: Umfrage zur psychischen Belastung in der 1. und 2. Covid-19-Welle, 17.12.2020. Video zur Studie Pro Juventute Corona-Report – Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien in der Schweiz, 25.02.2021 Gesundheitsförderung Schweiz, Arbeitspapier 52: Auswirkungen der Corona-Pandemie auf gesundheitsbezogene Belastungen und Ressourcen der Bevölkerung – Ausgewählte Forschungsergebnisse 2020 für die Schweiz. Januar 2021 Kindesschutzradar | Kanton Zürich (zh.ch) Dank auch an Rahel Ott, Interventionsstelle Häusliche Gewalt Mannebuero, Zürich (IST) Seite 44 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
VIELEN DANK FÜR IHRE GESCHÄTZTE AUFMERKSAMKEIT. FRAGEN UND ANREGUNGEN SIND HERZLICH WILLKOMMEN. Seite 45 24.03.2021 Klinik für Forensische Psychiatrie, Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management
Sie können auch lesen