PRESS REVIEW Tuesday, June 1, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

Die Seite wird erstellt Susanne Richter
 
WEITER LESEN
PRESS REVIEW Tuesday, June 1, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW

         Daniel Barenboim Stiftung
Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

          Tuesday, June 1, 2021
PRESS REVIEW Tuesday, June 1, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW                                                          Tuesday, June 1, 2021

Jazz Forum, PBS
„Love Longing Loss” At home with Charles Lloyd during a year of the Plague

Süddeutsche Zeitung, DB, DIVAN
Jörg Thadeusz gibt Künstlern den so lange vermissten Applaus

Frankfurter Rundschau, DB, DIVAN
Karl-Josef Kuschel über Goethe, den Islam und den „West-östlichen Divan“

Tribune
The Radical Critique of Edward Said

Berliner Morgenpost
Live-Konzerte in Dresden im Kulturpalast und im Stallhof

Rbb Inforadio
Internationaler Kindertag: Kulturangebote für Kinder

Süddeutsche Zeitung
Die Dramaturgin Sabine Zielke leitet jetzt die Berliner Volksbühne und soll den Machtschutt aufräumen

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nora Schlocker inszeniert die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs „Der Kreis um die Sonne“ in
München

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein Podcast von Michael Maul und Bernhard Schrammek erklärt sämtliche Bachkantaten kenntnisreich
und richtungsweisend

Berliner Zeitung
Im Juni wird zum ersten Mal der Deutsche Jazzpreis verliehen

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein französisches Förderprogramm sorgt für Streit
PRESS REVIEW Tuesday, June 1, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
1.6.2021                                                        W domu z Charlesem Lloydem | Jazz Forum

Film jest dostępny bezpłatnie na stronie internetowej Pierre Boulez Saal w Berlinie do 11 czerwca br. pod linkiem

https://boulezsaal.de/charles-lloyd-love-longing-loss

W domu z Charlesem Lloydem
„Love Longing Loss” – filmowy portret legendarnego saksofonisty dostępny bezpłatnie online na stronie Pierre Boulez Saal.

Na zlecenie Piotra Turkiewicza, kuratora Pierre Boulez Saal w Berlinie, powstał frapujący filmowy portret Charlesa Lloyda pt.
„Love Longing Loss”.
Amerykański saksofonista wystąpił w tej berlińskiej sali po raz pierwszy w listopadzie 2019 r. Miał tam powrócić w grudniu rok
później, jednak ze względu na pandemię Covid-19, zapowiadane dwa koncerty zostały odwołane. Turkiewicz wpadł na pomysł,
by zamówić u jego żony, Dorothy Darr, która jest malarką i artystką wideo, nakręcenie specjalnego filmu dokumentującego
aktywności Lloyda podczas okresu izolacji u nich w domu w Santa Barbara w Kalifornii.

Stworzony w ciągu kilku miesięcy godzinny film – z podtytułem „At home with Charles Lloyd during a year of the plague” –
daje nam intymny obraz procesu twórczego Lloyda. Artysta przekazuje nam swoje refleksje na temat samotności, oporu,
niesprawiedliwości społecznej i własnego pochodzenia. Słyszymy także jego grę solo na saksofonie tenorowym i fortepianie. W
filmie znalazła się także nowa kompozycja, Sky Valley Doll, zagrana na obu instrumentach.
Film jest dostępny bezpłatnie na stronie internetowej Pierre Boulez Saal w Berlinie do 11 czerwca br.

jazzforum.com.pl/main/news/w-domu-z-charlesem-lloydem
PRESS REVIEW Tuesday, June 1, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
Print
Quelle:        Süddeutsche Zeitung, (B) vom 01.06.2021, S.25 (Tageszeitung / täglich ausser Sonntag, München)
Auch in:       15 weiteren Quellen »
                                               Reichweite:     600.600
Auflage:       156.000                         Autor:          Willi Winkler                    Ressort:        Medien

           Als würde er die Oscars verleihen
           Jörg Thadeusz gibt Künstlern den so lange vermissten Applaus

           D com
             ie klassische amerikanische Sit-
                   war begleitet von aufbrau-
                                                               dung bewegt. Wie er in einer früheren
                                                               Folge bewiesen hat, ist Thadeusz ein
                                                                                                                     der junge Barenboim als erster Geiger
                                                                                                                     mit seinem Vater als Dirigent zu se-
           sendem Lachen, das den Fernsehzu-                   verhinderter Tänzer, der auch mit der                 hen ist. Daniel Barenboim bringt in
           schauern anzeigte, wann es lustig war.              vom Robert-Koch-Institut erlaubten                    seinem West-Eastern Divan Orchestra
           Die Lachkonserve musste das Live-                   Pandemie-Zuwaage fast schwerelos                      israelische und arabische Musiker zu-
           Publikum ersetzen, ohne sie ging we-                vom Geiger Michael Barenboim zur                      sammen.
           der Bill Cosby noch Mary Tyler Moore                Schauspielerin Maren Eggert gleitet,                     Nicht ganz so ergreifend sind die
           auf Sendung. In deutschen Shows hilft               von der Sängerin Fatma Said zur Tän-                  kommerziellen Clips, die mit einer
           ein Anklatscher, der das Saalpubli-                 zerin Anudari Nyamsuren flattert und                  sensationell    elastischen  Anudari
           kum bereits vor der Sendung zu                      beiläufig dem Sänger Max Mutzke ein                   Nyamsuren für ihr Programm im
           Höchstleistungen treibt.                            Kompliment für dessen Frau abnötigt.                  Friedrichstadtpalast und mit kosen-
              Jörg Thadeusz bringt den Beifall                 Die Ankündigung, nämlich herauszu-                    den Pferden für den im Wildwasser
           gleich selber mit. Das ist beste öffent-            finden, "wie Künstler Kunst machen",                  schmetternden Mutzke werben. Da ist
           lich-rechtliche Fürsorge, denn die                  konkretisiert sich zwar auch in neun-                 dann wieder Berlin Schwarzwälder
           Künstler, die bei ihm auftreten, müs-               zig Minuten nicht richtig, dafür gibt es              Schaustellerprovinz. Für die Locke-
           sen derzeit ihr Publikum und damit                  schöne Proben der jeweiligen Kunst                    rung sorgt Mark Scheibe, der im offe-
           den Beifall entbehren. Thadeusz ent-                zu hören und zu sehen.                                nen Hemd als bester Udo-Jürgens-
           schädigt sie mit dem Jubel, der einst                  Die ägyptische Sopranistin Fatma                   Wiedergänger aller Zeiten der Berli-
           bei einer Oscar-Verleihung erklang.                 Said wird in einem Duett mit Rolando                  nale-Bären-Siegerin Maren Eggert ei-
           Damit die Zuschauer nicht weiter auf                Villazón als leidenschaftliche Papage-                ne Ode widmet, sodass die Angesun-
           Kunst, vor allem aber auf Künstler                  na gezeigt und singt schließlich vor                  gene tatsächlich errötet vor so viel
           verzichten müssen, hat er fünf von ih-              weniger Gästen als in einer Kellerbar                 Lob. Am Ende, wie könnte es anders
           nen ins Studio geholt und sie in sei-               eine spanische Liebesklage, nicht oh-                 sein, braust der Beifall.
           nem Namen um den Tisch versam-                      ne darauf hinzuweisen, auch das ist
           melt.                                               der öffentlich-rechtliche Bildungsauf-                WILLI WINKLER
              Sie sitzen ein bisschen verhalten                trag, dass sich im Spanischen Wörter                  Thadeusz und die Künstler, RBB,
           um diesen Tisch in Erwartung des                    arabischer Herkunft finden. Bei dem                   1. Juni, 22.15 Uhr
           Moderators, der sich auf seine ange-                ganzen Weltunglück ist es ein glückli-
           nehm schusselige Art durch die Sen-                 cher Zufall, dass in einer Einspielung
           Alle weiteren Quellen: Süddeutsche Zeitung Bayern • Süddeutsche Zeitung Dachau • Süddeutsche Zeitung
           Ebersberg • Süddeutsche Zeitung Erding • Süddeutsche Zeitung Freising • Süddeutsche Zeitung
           Fürstenfeldbruck • Süddeutsche Zeitung Landkreis München Nord • Süddeutsche Zeitung Landkreis
           München Süd • Süddeutsche Zeitung München Ost • Süddeutsche Zeitung München Süd • Süddeutsche
           Zeitung München West • Süddeutsche Zeitung München Zentrum • Süddeutsche Zeitung Online •
           Süddeutsche Zeitung Starnberg • Süddeutsche Zeitung Wolfratshausen
           zum Anfang dieses Artikels                                                       zum Inhaltsverzeichnis

                                                                                                                                                             7
Print
Quelle:       Frankfurter Rundschau D vom 01.06.2021, S.22 (Tageszeitung / täglich ausser Sonntag, Frankfurt (am Main))
Auch in:      7 weiteren Quellen »
Auflage:      12.556                           Reichweite:    54.619                            Ressort:       Feuilleton

           "Ein solches Kreativitätswunder ist ohne Beispiel"
           Karl-Josef Kuschel über Goethe, den Islam und den "West-östlichen Divan" – und die Frage,
           warum die tiefe Bewunderung des Dichters für den Orient und den Poeten Hafis in
           Deutschland bis heute so folgenlos geblieben ist
           Herr Kuschel, Sie präsentieren                      und der Koran" gemacht. Wieso                          das Werk des Persischen Dich-
           den oft genug nationalistisch in-                   ist es mit Kalligrafien ge-                            ters Hafis schenkte...
           strumentalisierten Dichter Goe-                     schmückt?                                                 ... gepriesen sei Tübingen, denn
           the als leidenschaftlichen Be-                         Einerseits ziert es jedes Buch über                 sein Verleger Cotta war ja Tübinger.
           wunderer des Korans. Wo bleibt                      einen großen Dichter, wenn auch eine                   Der drückt ihm die gerade erschiene-
           da das Feindbild Islam?                             andere künstlerische Dimension ein-                    ne Übersetzung von Hafis in die Hand
               (Kuschel lacht) Das Feindbild Is-               bezogen wird, in diesem Fall die Ma-                   und das Wunder geschieht. Das ist
           lam hatte Goethe als Hintergrund –                  lerei. Hinzu kommt, dass Goethe sel-                   keine Floskel, Frau Mika! Der Mann,
           und zwar in doppelter Hinsicht. Seit                ber kalligrafische Übungen gemacht                     der glaubte, mit 65 Jahren literarisch
           Mittelalter und Reformation haben                   hat. Er spürte, er muss sich in den                    ausgebrannt zu sein und sich nur
           die Kirchen alles getan, um den Islam               Geist dieser Kunst einarbeiten, sie auf                noch in Erinnerungen erging, bei dem
           als Religion des Antichristen zu dä-                sich wirken lassen.                                    springt bei der Lektüre von Hafis der
           monisieren und Mohammed als Be-                                                                            lyrische Funke über, einschließlich
           trüger und Pseudopropheten zu de-                   Was macht diesen besonderen                            hinreißender Liebesgedichte. Und in
           nunzieren. Islamverachtung hat eine                 Geist aus?                                             kürzester Zeit, bis Ende des Jahres
           lange, vor allem kirchlich geprägte                 "In keiner Sprache ist vielleicht Geist,               1814, sind schon fast hundert Gedich-
           Tradition...                                        Wort und Schrift so uranfänglich zu-                   te entstanden. Ein solches Kreativi-
           ... wie man in Luthers Anti-Is-                     sammengekörpert", schrieb Goethe.                      tätswunder ist in der deutschen Lite-
           lam-Schriften nachlesen kann...                     Was heißt das übersetzt? In keiner an-                 ratur ohne Beispiel.
               Und nicht nur da. Zudem lebte                   deren Schriftsprache ist es möglich,
           Goethe ja noch zur Zeit der Türken-                 die Buchstaben so ineinander zu ver-                   Was ist denn da mit dem Herrn
           kriege. Das waren regelrechte Kreuz-                schlingen, dass gleichzeitig ihre Indi-                Geheimrat passiert?
           züge christlicher Mächte, vor allem                 vidualität erhalten bleibt. Wenn sie im                Erklären Sie mal ein Kreativitätswun-
           Russlands, gegen das osmanische                     Deutschen die Buchstaben ineinan-                      der (lacht). Das ist das Geheimnis des
           Reich. Soweit der Hintergrund. Um so                derschieben, können sie das Wort                       künstlerischen Schaffens. Der Mo-
           erstaunlicher, dass Goethe sich davon               nicht mehr lesen, sie sehen nur noch                   ment, wo der Funke überspringt, ist
           frei macht und sich ein eigenes Urteil              Grafik ohne Semantik. Im Arabischen                    unverfügbar. Deshalb bestaunen wir
           über die Kultur und die Religion des                ist das anders.                                        als Außenstehende solche Sternstun-
           Islam verschafft. Ganz im Sinne der                 Trotz des " West-östlichen Di-                         den der Menschheit und schauen da-
           Aufklärungsparole, sich seines eige-                van" hat die breite Öffentlichkeit                     rauf respektvoll und beglückt.
           nen Verstandes zu bedienen.                         sich nie sonderlich für Goethes                        War es für Goethe eine kulturel-
           Seine Aufgeschlossenheit führt                      Liebe zum Orient interessiert.                         le, religiöse oder poetische Er-
           allerdings auch dazu, dass er                       Warum eigentlich nicht?                                weckung?
           von einschlägiger islamischer                           Weil es eine religionspolitisch he-                   Das lässt sich nicht trennen. Zu-
           Seite als bekennender Muslim                        rausfordernde Botschaft ist, aber auch                 nächst einmal ist es eine poetische,
           vereinnahmt wird. Klingt ähn-                       eine intellektuell anspruchsvolle. Goe-                weil er ja poetisch reagiert. Aber
           lich unseriös wie die deutschna-                    the hatte sich sehr intensiv in die                    gleichzeitig löst die Faszination der
           tionale Denkmalpflege.                              komplexe Welt des Koran und der                        Poesie den Drang aus, sich mit der
               Wahrhaftig. Als Beleg dienen dann               Prophetenbiografie eingearbeitet und                   Religion auseinanderzusetzen. Wenn
           identifikatorische Aussagen von Goe-                sich mit Fachliteratur auseinanderge-                  man zum Beispiel das "Buch des Para-
           the wie: "Wenn Islam Gott ergeben                   setzt. Er hat Orient-Studien in einer                  dieses" liest, merkt man, wie beste-
           heißt / Im Islam leben und sterben                  Breite und Tiefe betrieben, die im                     chend Goethe die Idee fand, dass der
           wir alle." Oder: "Der Dichter lehnt es              Raum der Dichtung ihresgleichen                        gläubige Mensch eine Zukunft hat
           nicht ab, selber ein Muselman ge-                   sucht. Auf diese Weise hat er seinen                   und im Paradies fortlebt. Es ist ein In-
           nannt zu werden." Ich grenze mich in                eigenen "Divan" zustande gebracht,                     einander von Poesie und Religion –
           aller Schärfe gegen jede Form der                   der aus zwölf Büchern mit fast drei-                   bei Hafis und Goethe.
           Vereinnahmung und unkritischen                      hundert Gedichten besteht. Außerdem                    Mohammed Schemsed-din Hafis
           Verherrlichung des Dichters ab. Vor                 hat er noch einen Prosateil beigefügt,                 lebte im 14. Jahrhundert. Was
           allem wenn Goethe ohne Kontextuali-                 in dem er zeigt, wie gründlich er sich                 zeichnet seine Gedichte aus?
           sierung für Propagandazwecke miss-                  in die Kultur der Anderen eingearbei-                     Eine hohe Formvollendung. Alle
           braucht wird.                                       tet hat.                                               Gedichte sind nach bestimmten
           Zusammen mit dem Kalligrafen                        Goethe hat diese Liebe erst spät                       Form- und Reimgesetzen konstruiert.
           Shahid Alam haben Sie jetzt das                     entdeckt. Es war doch eher Zu-                         Außerdem weist sein "Diwan" eine be-
           wunderschöne Buch "Goethe                           fall, dass sein Verleger ihm 1814                      stimmte Struktur auf, so dass unter

                                                                                                                                                                 4
jedem Buchstaben des persischen Al-       derung zur Selbstvernichtung miss-          verachtung und so weiter. Diese Bil-
phabets eine Reihe von Gedichten          verstanden werden. Goethe über-             der fußen zwar durchaus auch auf Er-
gruppiert ist. Hinzu kommt die innere     nimmt dieses Motiv von Hafis und he-        fahrungen mit der islamischen Welt,
Freiheit, mit der Hafis gedichtet hat –   raus kommt ein unverwechselbares            aber sie verführen uns zu glauben:
obwohl er in einer Zeit lebte, die voll   Goethe-Gedicht, weil beide eine Affi-       Das ist der Islam. Wir haben Goethes
von Katastrophen war, von Erobe-          nität zur Mystik haben: "Und solang         Auseinandersetzung mit Orient und
rungskriegen, Kampf um Territorien,       du das nicht hast / Dieses: Stirb und       Islam noch vor uns.
wechselnden Herrschaftsansprüchen.        werde / Bist du nur ein trüber Gast /       Goethe taugt also auch heute als
Er selbst war Repressionen ausge-         Auf der dunklen Erde".                      Wegbereiter eines Dialogs mit
setzt, stand immer wieder unter Häre-     Goethes " Divan " sei ein politi-           der islamischen Welt?
sieverdacht, wurde von den Gesetzes-      sches Dokument, schreiben Sie.                 Davon bin ich überzeugt. Wenn
lehrern überwacht, weil er für sie ge-    Lag das im Sinne des Dichters?              man Goethe überhaupt noch als Maß-
fährlich war. Dennoch sind seine Ge-         Ja und nein. Goethe kannte die           stab in der deutschen Kultur gelten
dichte voll heiterer Lebensfreude im      Tradition der Islamverachtung, ich          lässt, dann muss man mit ihm für ein
Zeichen von Wein und Liebe. Mit sei-      sagte es. Er wusste, dass er ein Zei-       komplexes Islambild kämpfen und
nen 65 Jahren hat Goethe sich davon       chen setzen muss, um einer großen           streiten. Man muss den Islam so diffe-
mitreißen lassen.                         Kultur Gerechtigkeit widerfahren zu         renziert, aber auch so ästhetisch
                                          lassen. Nur so ist der Prosateil des        künstlerisch herausfordernd wahr-
Goethes Epoche war auch nicht             "West-östlichen Divan" zu verstehen.        nehmen, wie er es getan hat. Und am
gerade friedlich...                       Es ist ja ganz ungewöhnlich, dass ein       besten sollte man zusammen mit
"Nord und West und Süd zersplit-          Dichter seiner Lyrik noch Erklärun-         Muslimen Goethe und Hafis lesen und
tern / Throne bersten, Reiche zit-        gen hinzufügt und signalisiert, dass er     schauen, zu welcher Art von Dialog
tern..." Das erste Gedicht in Goethes     seine Schulaufgaben gemacht hat. Er         man in beiden Kulturen schon fähig
"Divan" ist nicht nur schöne Poesie,      wollte seinen Deutschen, die sich in        war. Ganz im Geiste des Dialogdenk-
sondern bittere Lebenserfahrung.          ihrer Kulturverachtung gegenüber            mals von Goethe und Hafis in Wei-
Goethe betrachtete Hafis als seinen       dem Orient eingerichtet hatten, deut-       mar, des Kalligrafen Shahid Alams, ei-
geistigen Zwilling, er verlebendigt ihn   lich machen, was da an Schätzen zu          nem Muslim pakistanischer Herkunft,
geradezu wie einen Gesprächspartner.      holen ist. Etwa bei den sieben großen       und des West-Eastern Divan Orchest-
Im "Divan" gibt es ja viele Gedichte      Dichtern der persischen Literatur.          ra von Daniel Barenboim.
"An Hafis". Er spricht ihn in unter-      Sein "Divan" ist also gezielt ein politi-   Interview: Bascha Mika
schiedlichen Rollen an: als Trinkbru-     sches Dokument der Kulturaufklä-
der, als fröhlichen Gesellen, kühnen      rung.                                         ZUR PERSON
Häretiker und tiefsinnigen Poeten.                                                      Karl-Josef Kuschel, 1948 in Ober-
Bei Hafis entdeckt Goethe Analogien,      Und das ist es noch heute?                    hausen geboren, hat Germanistik
die ihn, wie er sagt, "erschaffen und     Goethe ist nicht irgendwer in der             und Katholische Theologie in Bo-
beleben".                                 deutschen Kultur, sondern ein Maß-            chum und Tübingen studiert. Bis
                                          stab. Wenn gerade er einen exempla-           2013 war er Professor für Theologie
Wie nahe sind Goethes Texte an                                                          der Kultur und des interreligiösen
                                          rischen Dialog zwischen Orient und
Hafis’ Gedichte angelehnt?                                                              Dialogs an der Fakultät für Katholi-
                                          Okzident, zwischen Islam und Chris-           sche Theologie der Universität Tü-
Goethe nimmt von Hafis Motive auf         tentum nicht nur gefordert, sondern           bingen und Ko-Direktor des Instituts
und verwandelt dann das Fremde ins        selbst geführt hat, dann bekommen             für ökumenische und interreligiöse
Eigene. Ohne Hafis wäre das nicht         wir doch Kriterien an die Hand. Da            Forschung.
passiert. Er brauchte ein solches poe-    müssen wir uns doch nach unserem              Zu seinen Büchern gehören die
tisches Gegenüber, um selber produk-      Islambild fragen. Haben wir uns wie           Bände "Im Fluss der Dinge. Her-
tiv zu sein.                              er gekümmert um intensive Koranlek-           mann Hesse und Bertolt Brecht im
Ähnlich dem, was in der Musik             türe auf höchstem wissenschaftlichen          Dialog mit Buddha, Laotse und
als Variation auf ein Thema be-           Niveau? Haben wir uns so in die ori-          Zen", 2018, und "Die Bibel im Ko-
zeichnet wird?                            entalische Literaturgeschichte einge-         ran. Grundlagen für das interreligiö-
    Nehmen wir als Beispiel das Ge-                                                     se Gespräch", 2017.
                                          arbeitet, wie Goethe glaubte, es nötig
dicht "Selige Sehnsucht": "Sag es nie-                                                  Foto: Fany Fazii
                                          zu haben?
mand nur dem Weisen / Weil die                                                          "Da müssen wir uns doch nach un-
                                          Dennoch geht es Ihnen, wie Sie
Menge gleich verhöhnet / Das Le-                                                        serem Islambild fragen. Haben wir
                                          versichern, nicht um "Orient-
                                                                                        uns wie Goethe um intensive Koran-
bend’ge will ich preisen / Das nach       Schwärmerei". Worum dann?                     lektüre auf höchstem wissenschaftli-
Flammentod sich sehnet..." Eines der         Die Wahrnehmung des Orient und             chen Niveau gekümmert?"
tiefsten Gedichte, die Goethe je ge-      der islamisch geprägten Kultur auf ein        Karl-Josef Kuschel/Shahid Alam
schrieben hat. Es geht um die Seele,      komplexeres Niveau zu heben – da-             (Kalligrafie):
die verbrennen muss, um eins zu wer-      rum geht es mir. Wir haben den Islam          Goethe und der Koran. Kommentier-
den mit dem Göttlichen. Ein mysti-        heute weitgehend auf ein paar Stereo-         te Goethe-Texte. Patmos 2021. 432
sches Motiv – die Selbstaufgabe im        typen reduziert. Auf Gewalttätigkeit,         S., 49 Euro.
Zeichen der Liebe. Und ein schwieri-      Frauenfeindlichkeit, Menschenrechts-
ges Thema, denn es könnte als Auffor-

                                                                                                                                5
1.6.2021                                                           The Radical Critique of Edward Said

           The Radical Critique of Edward Said
           By

           Owen Hatherley

           Four new books about the life and works of Edward Said remind us of his towering intellectual
           significance – and his indispensable contribution to understanding Palestine's struggle for
           liberation.

                               This article appears in our new issue. You can subscribe today for just £10.

           In the eighteen years since his death in 2003, there might be no time we’ve missed Edward W. Said more than the present
           one. The Palestinian-born, US-based literary scholar, journalist, political activist, musician, and philosopher was defined
           by qualities we currently very conspicuously lack. A relentless, unanswerable critique of Zionism that never once lapsed
           into antisemitism or conspiracy theory; a writer with a ferocious hatred of Euro-American imperialism that was
           combined with a deep knowledge and regard for the very culture he aimed to displace and destroy; a lover of Jane
           Austen, Joseph Conrad, and Rudyard Kipling who stressed their complicity in imperialism, and dedicated much of his
           work to popularising twentieth-century Arabic novelists and poets; an Arab, an Anglican who preferred the original Book
           of Common Prayer, and an exile writer of such cosmopolitan sophistication that when, near the end of his life, he told an
           Israeli daily ‘I am the last Jewish intellectual — the only true follower of Adorno’, he was clearly not entirely joking.

           People love to try to reduce Said, and complain about him not being quite one thing or another, and he obviously
           revelled in embodying what the slow-witted would consider to be contradictions. His reputation as a stone-throwing
           Palestinian firebrand (‘professor of terror’) went alongside his Savile Row suits and impeccable manners. He would prefer
           to call his approach ‘contrapuntal’. Too much of a tranche of recent biographies and studies of Said, all three by friends of
           his, seem based on trying to reduce his immensity, turning him into either one thing or another. The Iranian-American
           critic Hamid Dabashi’s On Edward Said is mainly about Said the intellectual militant, and runs sometimes poignant
           reminiscences of his friend alongside somewhat routine demolition jobs on the likes of Slovenian philosopher Slavoj
           Žižek, American imperial liberal Mark Lilla, or the famous Orientalist Bernard Lewis, as anti-Saids. Its mirror-image is
           Lebanese fiction writer Dominique Eddé’s life of her friend ‘as a novel’, which largely treats him as a tortured ineffectual
           luftmensch; if Dabashi’s book tends to tub-thumping and hackwork, then Eddé’s tends towards preciousness and a certain
           theory-bathos (‘shortly before his death, I surprised and, I think convinced Edward that (his) “W” initial was his “double-
           you” ’)

           American professor Timothy Brennan’s newly published life is much better than these, largely because it has a scale
           appropriate to the vast totality of its subject, treating the entire complex breadth of Said’s life and thought, drawing on

https://tribunemag.co.uk/2021/05/the-radical-critique-of-edward-said                                                                       1/2
1.6.2021                                                                The Radical Critique of Edward Said

           archival research and dozens of interviews. A book that contains a major factual error on the British Mandate in
           Palestine in its first few pages should perhaps pull its punches with the failings of others rather more than it does, but on
           the whole, Places of Mind is an excellent book. Ranging from snapshots of Said’s upper-middle class upbringing in
           Jerusalem and Cairo to the oddly respectful FBI file kept on him as an American academic, and from close readings of
           Orientalism and Culture and Imperialism to accounts of the controversies around them, this is largely a well-judged,
           humane, and often funny book. Brennan has a particular ability to recall Said’s delight in sudden code-switching (before
           a notoriously bruising debate with Bernard Lewis, telling colleagues — in Arabic — ‘I am going to fuck his mother’). It
           also stresses how much Said, for all his critiques of Marx, was a man firmly of the left, one who regarded his closest
           intellectual allies to be English Marxists such as John Berger, Raymond Williams, and E. P. Thompson.

           Places of Mind also has the virtue of being published alongside a new Selected Works. This is not an essay collection (there is
           already a good one, Reflections on Exile, published in 2000), but rather a compendium of extracts, ranging from his early
           work on Conrad (with the near-self-portrait of a writer whose sense of style emerged from being a ‘self-conscious
           foreigner writing of obscure experiences in an alien language’), his devastating account of ‘Zionism from the Standpoint
           of its Victims’, and excerpts from his major books and his autobiographical writings. Hopefully it should introduce many
           to his deeply original final works such as Freud and the Non-European and On Late Style, both of which make invigorating
           reading in an era obsessed with authenticity.

           There is now a certain shame in being reminded of basic lines on Israel–Palestine which have been forgotten in the
           shabby politicking of British party politics: too many forgot that ‘institutions whose humanistic and social (and even
           socialist) inspirations were manifest for Jews were precisely, determinedly inhuman for the Arabs.’ So perhaps the last
           word could go to Dabashi, in an address he gave on his death in 2003. ‘Siding with Said is an awakening. Mourning Said is
           a vigilance’. This is truer today than it ever was.

           Review of:

           Places of Mind: a Life of Edward Said by Timothy Brennan (Bloomsbury, 2021).
           On Edward Said by Hamid Dabashi (Haymarket, 2020).
           Edward Said: His Thought as a Novel by Dominique Eddé (Verso, 2019).
           The Selected Works of Edward W. Said, 1966–2006 (Bloomsbury, 2021).

           About the Author

           Owen Hatherley is the culture editor of Tribune. His latest book, Red Metropolis: Socialism and the Government of London, is now out from
           Repeater Books.

https://tribunemag.co.uk/2021/05/the-radical-critique-of-edward-said                                                                                   2/2
1.6.2021                                                                Berliner Morgenpost

           KULTUR                                                                                    SEITE 9 | DIENSTAG 1. JUNI 2021

           Musikfestspiele
           Live-Konzerte in Dresden im Kulturpalast und im
           Stallhof
           Nach über einem Jahr Corona-Zwangspause bieten die Dresdner Mu-
           sikfestspiele ab Freitag erstmals wieder Live-Konzerte. Bis 13. Juni
           könnten zehn Programme im Kulturpalast und Stallhof präsentiert
           werden, so Intendant Jan Vogler. Künstler wie Albrecht Mayer, Boris
           Giltburg, das Dresdner Festspielorchester und die New York Gypsy
           Allstars spielen wegen eingeschränkter Platzkapazität zwei Mal. dpa

           Berliner Morgenpost: © Berliner Morgenpost 2021 - Alle Rechte vorbehalten.

https://emag.morgenpost.de/titles/bmberlinermorgenpost/10120/publications/943/articles/1361705/9/4                                     1/1
1.6.2021                                         Internationaler Kindertag: Kulturangebote für Kinder | Inforadio

Startseite   >   Programm   >   Kultur

Di 01.06.2021 | 07:55 | Kultur
Internationaler Kindertag: Kulturangebote für Kinder
Berlins Kultur erwacht langsam wieder zum Leben, die Erwachsenen können wieder ins
Museum oder auch Open Air ins Theater. Aber wie sieht es mit den Kindern aus? Zum
internationalen Kindertag haben wir uns umgehört, wie und wo Kinder in Berlin im Moment
Kultur erleben können. Von Ann Kristin Schenten

Stand vom 01.06.2021

 Beitrag hören

https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/kultur/202106/01/570031.html                                     1/1
1.6.2021                                       https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11

       Jetzt mal langsam

       Die Dra ma tur gin Sa bi ne Ziel ke lei tet jetzt die Ber li ner Volks büh ne und soll den Macht -
       schutt auf räu men

       Sta lin hängt hier schon lang nicht mehr. Er verschwand mit Frank Cas torf. Noch bevor der bel gi sche
       Ku ra tor Chris Dercon kam und bevor der Bü ro krat Klaus Dörr ein zog, der für den jüngs ten Skan dal
       sorg te und dar um wie der sei ne Sa chen pa cken muss te. Jetzt sitzt vor der blan ken holz ver tä fel ten
       Wand ei ne schma le Frau, in schwarz ge klei det mit ele gan tem, wei ten Kra gen, Haa re auf Kinn län ge,
       ih re Uten si lien auf dem schwe ren Schreib tisch ver teilt, an dem all die Jah re Män ner sa ßen.

       Es ist Frei tag mit tag, al so in Thea ter zei ten noch fast mor gens. Sa bi ne Ziel ke schenkt sich im In ten -
       dan ten zim mer der Volks büh ne ei ne Tas se Fil ter kaf fe ein. Durch die klei nen Fens ter fällt die Früh -
       lings son ne, vor ihr liegt Sar tres „Das Spiel ist aus“. Seit ei ni gen Wochen, seit den Sexis mus- und
       Macht miss brauchs vor wür fen ge gen Klaus Dörr und des sen daraus re sul tie ren dem Rück tritt, lei tet
       die ih rem Be rufs na tu rell ent spre chend zu rück hal ten de Dra ma tur gin von hier aus zu sam men mit der
       frü he ren Ge schäfts füh re rin Ga brie le Gor nowicz die Volks büh ne. Dass plötz lich, wenn auch nur kurz,
       zwei Frauen an der Spit ze ste hen, deu tet ei nen Zei tenwech sel an, der sich an vie len Thea tern die ses
       Lan des zeigt.

       Ziel ke ist kei ne be ken nen de Fe mi nis tin, die das En de des Thea ter-Pa tri archats fordert. Sie ist ge nau-
       er, ih re Wor te prä zi ser als der lau te Schlacht ruf nach mehr Diversi tät und Gleich be rech ti gung. Die
       jüngs te Ras sis mus de bat te am Düs sel dor fer Schau spiel haus und die Re ak tio nen auf den FAZ-Ar ti kel
       des Dra ma tur gen Bernd Ste ge mann fin det sie „to tal emo tio na li siert, da guckt kein Verstand mehr
       durch“. Und sie fügt abwä gend an: „Das Abwer ten des jun gen Spie lers war nicht in Ord nung, aber
       Pro ben müs sen ge schützt blei ben. Na türlich, Ras sis mus liegt sehr tief in der Ge sell schaft und im
       Sich-Ver ges sen hat es leich te res Spiel.“ Bei all den hit zi gen De bat ten, wie sie am Düs sel dor fer Schau-
       spiel haus, am Berli ner Ma xim-Gor ki-Thea ter oder am Staats thea ter in Karls ru he ge führt werden,
       will sie mit kei ner der Fron ten kämp fen. Und auch, dass sie als Frau an der Spit ze steht, än dert nichts
       daran, dass die Men schen, die Ziel kes Kunst verständ nis und da mit ihr Le ben präg ten, Män ner wa ren.
       Al len voran ei ner.

       25 Jah re re gier te Frank Cas torf in ei ner Art kon sti tu tio nel ler Ge nie mon archie und schuf die Volks -
       büh nen-Äs the tik mit Avant garde lust, mit Punk, mit Russ land sehn sucht und Dos to jewski, mit Kar-
       tof fel sa lat und mit ei ner Künst ler fa mi lie aus un ersetz ba ren Re gis seu ren, Au to ren und Spie lern wie
       So phie Rois, Ka thi An ge rer, Silvia Rie ger, Hen ry Hüb chen, Chris toph Martha ler, Di mi ter Gotscheff.
       Seit vier Jah ren ist Cas torf nun weg, aber die Volks büh ne blieb stör risch, un re gier bar, zersplit tert. Im
       Herbst be ginnt der treue Haus freund Re né Pol lesch mit ei nem Kol lek tiv sei ne In ten danz. Er soll die
       Wun de, die seit Cas torfs Weg gang in die sem Thea ter klafft, nä hen. In die sem Wech sel lie ge na türlich
       viel Hoff nung auf ei ne neue Zeit, sagt Ziel ke und fügt an: „Wir müs sen das Haus wie der of fen ma -
       chen, bis Re né kommt.“

       32 Jah re Volks büh ne hat Ziel ke erlebt. Die Mauer, die Män ner, die Mei nun gen fie len in die ser Zeit, sie
       blieb. Als sie 1989 als Dra ma tur gie as sis ten tin an die Volks büh ne kommt, ist sie erst mal er nüch tert.
       „Ich hab’ ge dacht: Brauchen die al le ei ne Ein la dung zum ar bei ten oder was? Die wa ren so: Komms te
       hier an, joa, da komm ich mal zum Mit tag essen in der Kan ti ne vor bei, und dann geh ich wie der.“ Der
       Ort, der sie als Schü le rin mit In sze nie run gen von Jür gen Gosch, Fritz Marquardt, Ben no Bes son, mit
       Kar ge und Lang hoff fas zi nier te, zeig te sich als verschnarcht so zia lis ti scher „Spie gel der DDR-Ge sell-
       schaft“, in der man stän dig „keen Bock“ hat. Der da ma li ge In ten dant Fritz Rö del war „in te ger, der

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11                                                           1/3
1.6.2021                                       https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11

       war jetzt kein Pet zer, was man oft hat te“, sagt Ziel ke und fügt mit ei nem Schul ter zucken hin zu: „Aber
       der konn te sei ne Leu te halt auch nicht mo tivie ren, das Haus hat te kei nen Mo tor.“

       Dra ma tur gen sind Be ob ach ter. Ihr Job ist es, zu ana lysie ren, zu be ra ten, zu struk tu rie ren. Ziel ke saß
       gern im Zu schauerses sel und ana lysier te, wo es rich tig läuft, und wo nicht. „Er zählt das was? Oder ist
       das so: Kann man ma chen, muss man nicht? Sowas fin de ich nicht gut am Thea ter. Ich brauche
       Dring lich keit.“

       Ost-Berlin erlebt da mals ei nen letz ten so zia lis ti schen Schlum mersom mer, aber von der Zeit vor dem
       Mauer fall hat Ziel ke nicht viel mit be kom men. Sie ist in Mos kau auf Gast spiel mit Cas torfs ers ter
       Volks büh nen-Pro duk tion. Für sie ist das his to ri sche Er we ckungs erleb nis im Jahr 1989 vor al lem ein
       Thea terstück: „Das trun kene Schiff“. Und als gär te das schon län ger in ihr, sagt sie plötz lich: „Das
       muss ich jetzt auch mal klarstel len. Die ers te Cas torf-In sze nie rung an der Volks büh ne wa ren nicht die
       Räu ber, son dern das war das trun kene Schiff im drit ten Stock!“ Der wirk liche Sys temwech sel in Ost -
       berlin kommt im Jahr 1992: Frank Cas torf wird In ten dant an der Volks büh ne. Sa bi ne Ziel ke lei tet ei ne
       klei ne re Büh ne, den „Ro ten Sa lon“. Sie steht bei je der Vorstel lung an der Sa l on tür, be grü ßt die Zu-
       schauer und be ob ach tet, wie sie die Vorstel lung verlas sen, mit wel cher Hal tung, mit wel chem Ge -
       sichts aus druck. „Ich ha be Re spekt davor. Das ist in die ser Zeit, in der wir heu te le ben, kein unwe -
       sent licher Auf wand, den Men schen be trei ben, um zu ei nem Thea terabend zu ge hen“, sagt sie.

       Und sie or ga ni sier te den „sehr schmerz haf ten“ Ab schied die ser Ära, von 25 Jah ren Cas torf. Für vie le
       war es ein emo tio na ler Som mer, die ser letz te im Jahr 2017, in dem sich die feind lichen La ger Bier
       über den Kopf schüt te ten nach den Vorstel lun gen, die je den Abend aus ver kauft wa ren. Tau sen de
       Men schen stan den im Re gen am Ro sa-Lu xem burg-Platz, san gen Rio Rei sers „Für im mer und dich“,
       wein ten, lie ßen sich das Räu ber rad tä towie ren. Spä ter be setz ten Ak tivis ten das Thea ter. Ein Kran
       griff nach dem Räu ber rad auf der Wie se vor der Volks büh ne und der krum me Ei sen kreis mit zwei
       kur zen Bei nen dran flog über die Dä cher Berlins davon.

       Ob sie da mals nicht auch überlegt ha be, die ses Thea ter zu verlas sen? Noch bevor man die Fra ge be en -
       det hat, fährt sie mit ei nem schar fen „Nein“ da zwi schen. „Ich war un künd bar.“ Wer län ger als 25 Jah -
       re an ge stellt ist, kann nicht ge kün digt werden. Au ßerdem ha be sie da ei ne Ah nung ge habt, dass das
       nicht lan ge gut ge hen würde mit Dercons Plä nen. Und dann ist da auch ei ne tie fe, ei ne phi lo so phi sche
       Ver bin dung zu die sem Ort: „Die Volks büh ne ist wie ge macht für mich. Es ging hier dar um, an die
       Wahr haf tig keit ran zu kom men. Wahr haf tig keit zu zei gen. Das schafft man nicht im mer, weil es das
       Schwers te ist. Aber ich kann te kein an de res Haus, wo man das so ge sucht hat wie hier.“ Als Mit te März
       mit dem nächs ten Skan dal der Rück tritt Klaus Dörrs kam, nahm ih re Kar rie re ei ne un er war te te Wen -
       dung. Ziel ke verließ die Be ob ach te rin nen po si tion, plötz lich stand sie mit ten drin im Macht schutt der
       ver gan ge nen Jah re. „Man war ja an fangs ein biss chen rat los“, fasst sie die La ge nach dem gro ßen
       Knall zu sam men.

       Zehn Frauen hat ten sich an die Be ra tungs stel le The mis gewandt, die Vor wür fe reich ten von Be rüh -
       run gen, an züg lichen und sexis ti schen Sprüchen, ver ba ler Ein schüch te rung bis zu Al ters dis kri mi nie -
       rung. Ge ra de Letz te res zeigt ein verstaub tes Schau spie le rin nen bild, in dem vor al lem schlan ke, jun ge
       Gret chen fi gu ren Platz ha ben, und es zeigt, wie we nig Dörr von die sem Haus verstand. Denn die Be lei-
       di gung be traf Silvia Rie ger, ei ne der iko nischs ten Schau spie le rin nen der Volks büh ne. So gar die New
       York Times schrieb über den Fall und wun der te sich über den Fluch, der seit Cas torfs Weg gang auf der
       Volks büh ne zu las ten schien.

       Bei der ers ten Vollversamm lung ver kün de te Ziel ke dem Saal – „ei gent lich ei ne Bin senweis heit, aber
       ich muss te das sa gen“ –, dass die Ar beit von je dem und je der am Haus wich tig sei. „Denn was ist das
       gro ße Ding an der Volks büh ne, was ist das Spe zi fi sche?“, fragt sie ein dring lich, und als wol le sie je den
       Buchstaben betonen, antwortet sie sich selbst: „Es ist diese große Form von Identität.“ Dann setzt sie

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11                                                            2/3
1.6.2021                                       https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11

       et was verär gert nach: „Das ver ste hen so vie le nicht.“ Der letz te In ten dant, Klaus Dörr, der ha be das
       erst recht nicht verstan den.

       Jetzt ist es Ziel ke, die der tech ni sche Di rek tor an ruft, die sich mit den Gewer ken ab stimmt, auf die
       Kol le gen zu kom men, um Rat bit ten, und die die letz ten Ent schei dun gen trifft. Sie traf sich mit al len
       Schau spie le rin nen und Schau spie lern zum Ge spräch, sie woll te wis sen, wie es für je den und je de nach
       die sem Som mer wei ter geht, wenn sie die Volks büh ne verlas sen müs sen. Und sie setz te sich für ei ne
       letz te ge mein sa me In sze nie rung des En sem bles ein, das we gen der un glück se li gen Kom bi na tion aus
       Pan de mie und Skan dal seit ein ein halb Jah ren nicht mehr zu sam men auf der Büh ne vor Pu bli kum
       spiel te.

       Seit Kur zem sei „die Stim mung ge lös ter“, sagt sie. „Man hört ab und zu wie der je mand la chen auf
       dem Gang, das ha be ich lan ge ver misst.“ Auch wenn Pol lesch im Herbst kommt, bleibt ih re jahr zehn -
       te al te Vi sion der Volks büh ne, die ihr bis her kein In ten dant aus re den konn te: „Ein Thea ter der an ti ka -
       pi ta lis ti schen Op po si tion, des Wi derstands, der So li da ri tät mit Be nach tei lig ten und Kunst als He tero -
       to pie.“

       Sa bi ne Ziel ke be hielt ihr klei nes Bü ro im drit ten Stock, auch jetzt wo sie den hal ben Tag im kah len In -
       ten dan ten zim mer ar bei tet. Hier hän gen die Wän de voll mit al ten Pro gramm zet teln, Zi ta ten, ei nem
       Pla kat ei ner Cas torf-Le sung von 1995, Ein tritts preis fünf D-Mark. Sa chen, die Ziel ke eben gut fän de,
       die sich so an ge sam melt hät ten. Nicht un be dingt die Mei len stei ne, son dern Spu ren aus 32 Thea ter-
       jah ren. Spu ren, die kein In ten dan ten-, kein Po li tik- und auch kein Dis kurs wech sel weg wi schen wird.
       Sie bleibt.Marle ne Knob loch

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808181/11                                                                3/3
1.6.2021                                              https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/11

        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Dienstag, 01.06.2021

                                                   Auf der Umlaufbahn
        Das Leben mit der Pandemie ist ein Drama, das jeder kennt: Nora Schlocker
        inszeniert die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs „Der Kreis um die Sonne“
        in München.

        Die Atmosphäre: unbeschwert, zuweilen melancholisch. Die Bühne: leer bis auf einen auf die
        immergleichen, „etwas traurigen“ Akkorde gestimmten Konzertflügel und eine überschaubare
        Gruppe von Spielern. Dennoch ein Gefühl von Enge im Gedränge. Dann: der Moment, in dem eine
        Sicherung herausspringt; der Moment, in dem ein Tablett mit Gläsern herunterfällt; der Moment, in
        dem jemand schon nicht mehr da ist und noch nicht fort. Der Moment der Dunkelheit, des Erschre-
        ckens, des Verschwindens – der Veränderung. So wie vorher wird es nachher nie mehr sein.

        „Der Kreis um die Sonne“ ist eine Auftragsarbeit des Münchner Residenztheaters für ein „Stück der
        Stunde“. Wie ein Planet, der blaue natürlich, um seine Sonne, zieht das neue Drama von Roland
        Schimmelpfennig seine Kreise um den Moment, der ein Vorher von einem Nachher trennt, das
        vermutlich wiederum nur der Prolog zu einer noch unbestimmten Zukunft ist. Es sucht nach der
        individuellen Schwelle zwischen zwei Gefühlen, zwischen zwei Leben – getrennt durch den
        Ausbruch einer Pandemie. Im Wohlstandssetting einer privaten Party mit multinationalen Gästen –
        verwickelt in Gespräche über Macht, Sport, Geld, Bienen, Nähe und das Universum, Ping-pong
        spielend mit Lieblingswörtern und historischen Persönlichkeiten – führt der Autor genau diesen
        Moment der Verunsicherung aus der Abstraktion, macht ihn greifbar: in Finsternis, Scherben,
        Abwesenheit, in punktuellen Ereignissen als Stellvertretern einer Veränderung namens Covid-19.

        Denn so funktioniert seine Gegenwartsdramatik, das ist ihr Erfolgsgeheimnis: Die gesellschaftlichen
        Konflikte, die Schimmelpfennig seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Stücke voller kaleidosko-
        pisch sich um sich selbst drehender Sätze, Monologe und Dialoge verpackt, schildern Momente vor
        und während, aber nicht nach einer Krise. Interessanterweise untergräbt das aktuelle Thema dieses
        charakteristische Prinzip. Denn jeder im Zuschauerraum weiß um die Entwicklung der Pandemie
        und die Ungewissheit ihres Ausgangs, jeder war und ist hier als Protagonist selbst mit dabei.

        So wirken die lose angerissenen, wiederholten, fortgesetzten Gedanken und Geschichten viel weni-
        ger rätselhaft als sonst – und bleiben dennoch interessant. Weil sie unaufdringlich nahegehen, zur
        Identifikation einladen. Keine Angst vor echten Emotionen – denn in liebenswert menschlichem
        Pragmatismus fängt der Dramatiker sie sogleich tragikomisch wieder auf.

        „Ich hätte gerne deine Hand gehalten“, sagt unter Tränen der junge Mann, der seine Freundin, eine
        Krankenschwester, direkt nach dem Fest an das Virus verliert, „aber das mochtest du ja sowieso
        nie.“ „Sag, dass du krank bist“, hatte die Gastgeberin sie gebeten, die Klinik zu belügen, damit sie
        noch auf der Party bliebe, die das Leben feierte. „Nein, nein, das heb ich mir lieber auf, für wenn ich
        wirklich mal krank bin“, hatte die Krankenschwester geantwortet. „Vielleicht bist du ja irgendwann
        der Mann, der den Mann mit dem Tablett bezahlt“, äfft der Mann mit dem Tablett den Mann nach,
        der sich eben in den Kopf geschossen hat, weil er plötzlich vor dem Nichts stand, „wir sind alle
        gleich“. Währenddessen zitieren Anwälte Passagen aus der „Allgemeinen Erklärung der Menschen-
        rechte“, und eine Frau niest, immer wieder. Vielleicht habe sie Fieber, scherzt sie.

        In der Münchner Uraufführung durch Regisseurin Nora Schlocker, die bereits Mitte November
        2020 hätte stattfinden sollen, reichen dem Stück der Stunde achtzig Minuten. Sein wichtigster Prot-
        agonist aber ist der schwarze Stutzflügel. Denn statt des vorgesehenen monotonen Stillstands

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/11                                                                                1/2
1.6.2021                                              https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/11

        werden die gespielten Akkorde – mal elektronisch, mal durch Gegenstände auf den Saiten verzerrt,
        mal gezupft und mal als Tinnitustöne isoliert – zum akustischen Gefühlsmetronom. So faszinierend
        die pandemische Komposition von Nevena Glušica auch ist, so dominant stiehlt das Instrument
        seinen Mitspielern die Aufmerksamkeit des Publikums, schluckt einige ihrer Texte, die Nuancen
        ihrer Stimmen, während sie von einer Figur in eine andere gleiten.

        Vor allem Thiemo Strutzenberger, Max Rothbart und Carolin Conrad beherrschen dies feine Spiel
        zwischen den Tonarten. Zusammen mit Katja Jung, Thomas Reisinger, Yodit Tarikwa, Ulrike
        Willenbacher und dem Flügel stehen sie vor einem Winkel aus grauem Sichtbeton. Wie einen Para-
        vent der Erzählzeit hat Irina Schicketanz ihn auf die Bühne gewuchtet und eine monumentale Dreh-
        tür ausgestanzt, die sowohl Gegenwart hereinlässt als auch, recht unmotiviert, als Notausgang
        dient, um Platz für zweisame Privatheit zu schaffen.

        Obgleich sie ihr Ziel umkreisen, es einkreisen, ohne dorthin gelangen zu wollen, sind Schimmel-
        pfennigs poetische Textkompositionen sportlich, nicht statisch. Im schnellen Wechsel aus Offensi-
        ve und Rückzug – in Zeitebenen, Perspek-tiven, Erzählweisen, Stimmungen – for-dern sie spieleri-
        sche Leichtfüßigkeit. Doch noch einmal: Verhandelt wird hier die unmittelbare Realität des Publi-
        kums. Deshalb ist Schlockers Inszenierung dort am stärksten, wo sie nicht versucht, schön,
        funkelnd oder geheimnisvoll zu sein, sondern auf die Bewegungen im Text vertraut.

        Es sei so gut wie unmöglich, Theater im „Jetzt“ festzuhalten, sagt Roland Schimmelpfennig. Mit
        „Der Kreis um die Sonne“ ist er der Unmöglichkeit so nah wie möglich gekommen und: so nah wie
        nötig.Teresa Grenzmann

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/11                                                         2/2
1.6.2021                                              https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/12

        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Dienstag, 01.06.2021

                               Hinter dem Horizont hört man weiter
        Ein Podcast von Michael Maul und Bernhard Schrammek erklärt sämtliche
        Bachkantaten kenntnisreich und richtungsweisend

        Ich habe genug“: Johann Sebastian Bachs Kantatentitel (BWV 82) ist derzeit auch ohne Musik auf
        dem Weg zur Sentenz des Jahres. Im überlieferten Autograph steht sogar noch ein Buchstabe mehr
        – „Ich habe genung“. Manche werden gelegentlich über den Hintergrund dieser heutzutage etwas
        ulkig wirkenden Lautverbiegung und die Möglichkeit der Modernisierung nachgesonnen haben. Für
        den Leipziger Bachfest-Intendanten Michael Maul gehören solche Fragen zum täglichen Geschäft.
        Wie er sie im konkreten Fall mit einem kleinen Exkurs von Luthers „gnung“ über Goethe, der es
        drei Generationen nach Bach immer noch als Reimwort auf „jung“ verwendet, bis in die Jetztzeit
        beantwortet, kann man in einem MDR-Podcast nachhören, der sozusagen das verfestigte Sediment
        von Dialogen darstellt, mit denen Maul und sein Gesprächspartner Bernhard Schrammek das
        allsonntägliche Bachkantaten-Abspiel des Senders einleiten.

        Während vergleichbare Formate aus anderen Radioprogrammen verschwunden sind und
        demnächst auch SWR 2 seinen festen Sendeplatz für geistliche Musik einem Krimihörspiel opfern
        will, gibt es sie im mitteldeutschen Bachland sogar, zeitversetzt, auf zwei Wellen – bei „MDR
        Kultur“ sowie, digital empfangbar, über „MDR Klassik“. „Maul und Schrammek“ – so auch der
        Podcast-Titel – sorgen dabei mit ihren Einführungen für Horizonterweiterungen über das bloße
        Hören hinaus und stehen auch bei der Auswahl der dann folgenden Interpretationen beratend zur
        Seite. Das Projekt umfasst mittlerweile knapp dreißig Folgen und verspricht bei rund zweihundert
        einschlägigen Werken ein langes Mit- und Nachleben.

        Beide Akteure sind Musikwissenschaftler, Bach-versessen ohnehin, dazu aber auch autochthone
        Leipziger, was den per Du und mit sanfter sächsischer Anlautung geführten Dialogen eine anhei-
        melnde Bodenständigkeit verleiht. Dabei sind sie straff organisiert, gelassen wandelnd auf dem Grat
        zwischen exakter Faktenvermittlung und deren lockerer Präsentation am Mikrofon: keine musikter-
        minologischen Überflutungen, sondern lebensnahe Zugriffe, die sich den Stücken bei aller Begeiste-
        rung nicht in gebückter Andachtshaltung nähern, sondern sie selbst noch in ihren Abgründen von
        Verzweiflung, Tod und Vernichtungsangst auf die Augenhöhe freundschaftlicher Vertrautheit holen.
        Die herrscht unüberhörbar auch zwischen den beiden Partnern, wobei Schrammek, seinerseits ein
        erfahrener Autor und Dozent, vielleicht öfter aus seiner bislang eher anregend-richtungweisenden
        Stichwortgeber-Rolle heraustreten könnte in Richtung eines offenen, gelegentlich vielleicht sogar
        streitbaren Disputs: Das Hörvergnügen am Gedankenaustausch mit seinem Gegenüber würde noch
        aktiviert.

        Aber auch jetzt schon machen prägnante Sprachbilder Klangliches greifbar, wenn im Eingangschor
        der Kantate „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ BWV 1 die Violin-Verzierungen über der Choral-
        melodie funkeln „wie Lametta am Weihnachtsbaum“. Und wenn Maul den Text der Kantate „Mein
        Herze schwimmt im Blut“ (BWV 199) zwar als „metapherntriefend“ qualifiziert, in ihm aber
        dennoch außergewöhnliche emotionale Qualitäten findet und dafür in der Verbundenheit des
        Librettisten Georg Christian Lehms zur Opera seria wie in dessen Gesundheitszustand (er starb
        jung an Tuberkulose) auch plausible Erklärungen findet, dann ist das ein Beispiel für jene Dialektik
        von Einfühlung und wissenschaftlicher Distanz wie zwischen historischem Denken und gegenwärti-
        ger Nutzanwendung, wie man ihr in den knapp viertelstündigen Beiträgen immer wieder begegnet.

        Dabei stehen Bachs geniale Textdeutungen und ihr theologisches Hinterland immer im Zentrum;
        doch um sie spinnt sich – gelegentlich mit ganz neuen, noch nicht publizierten Erkenntnissen ange-
https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/12                                                                                1/2
1.6.2021                                              https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/12

        reichert – ein Geflecht von Informationen über Librettisten, Sänger, Aufführungsbedingungen und
        Nachwirkungen, aus denen wie nebenbei eine Skizze des kulturellen und sozialen Lebens nach 1700
        entsteht. Angesichts jener Radiokultur-Erosion, die während der letzten Monate mehrfach kritisch
        beleuchtet wurde (F.A.Z. vom 7.April), zeigt sich hier, dass auch komplexe Sachverhalte – gerade
        auf dem ganz radio-eigenen Feld der Musikvermittlung – eingängig dargestellt werden können.
        Man muss nur die richtigen Leute suchen – und vor allem muss man es wollen.Gerald Felber

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467049/12                                                         2/2
1.6.2021                                      https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15

               Dienstag, 01. Juni 2021, Berliner Zeitung /

               „Zeigen, dass die Branche lebt“
               Im Juni wird zum ersten Mal der Deutsche Jazzpreis verliehen.
               Die Mitorganisatoren Tina Sikorski und Felix Falk über eine viel-
               fältige Szene

               Nominiert für den Preis in der Kategorie „Großes Ensemble“: das Berliner
                     Andromeda Mega Express Orchestra.Benjamin Pritzkuleit

               E
                           rst im Oktober 2020 hat Tina Sikorski die Geschäftsführung der Initiative Mu‐
                           sik, der Fördereinrichtung der Bundesregierung und der Musikbranche für
                           die deutsche Musikwirtschaft, mit übernommen. Und schon jetzt wartet eine
                           große Aufgabe auf sie und ihr Team: Der Deutsche Jazzpreis, den Kultur‐
               staatsministerin Monika Grütters im letzten Jahr auslobte, wird erstmals am 3. Juni ver‐
               liehen. Die Initiative Musik mit Sitz in Berlin wurde mit der Austragung beauftragt – in
               einer Zeit, in der große Events noch immer digital stattfinden. Ob das für eine neu zu
               etablierende Preisverleihung gut ist? Wir rufen Sikorski an und fragen nach. Felix Falk,
               Mitglied des Jazzpreis-Beirates und als freischaffender Jazzmusiker im Vorstand der
               Deutschen Jazzunion, schaltet sich dazu. Eine Art Telefon-Konferenz, bei der jeder im
               Homeoffice sitzt.

               Frau Sikorski, Herr Falk, mit dem Deutschen Jazzpreis gibt es eine neue Trophäe für Mu‐
               siker. Wie kam es dazu?

https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15                                                 1/3
1.6.2021                                      https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15

               Felix Falk: Der Preis ist durch eine Initiative des Deutschen Bundestages entstanden. Es
               gibt zwar schon verschiedene Kulturpreise der Bundesregierung, aber keinen für den
               Jazz. Dabei ist gerade die kulturpolitische und gesellschaftliche Bedeutung des Jazz so‐
               wie improvisierter Musik durch die Musikschaffenden und durch die vielfältige Szene
               insgesamt über die Jahre immer deutlicher geworden. Gemeinsam mit Akteurinnen und
               Akteuren der Szene, der Initiative Musik und dem Team der Bundesbeauftragten für
               Kultur und Medien wurde dann an einem Konzept gearbeitet.

               In einigen deutschen Städten gibt es bereits Preise für Jazz – in Berlin den RBB-Jazzpreis
               – und den Albert-Mangelsdorff-Preis nannte man früher sogar „Deutscher Jazzpreis“.
               Wie unterscheidet sich Ihrer davon?

               Falk:Es gibt tatsächlich einige tolle Preise, die in Bundesländern und Städten stärker
               würdigen, was im Jazz regional passiert. Und den Albert-Mangelsdorff gibt es alle zwei
               Jahre für eine herausragende Persönlichkeit der Musikschaffenden. Aber es gab eben
               noch keinen bundesweiten Leuchtturm, der die ganze Breite des Jazz abdeckt.

               Tina Sikorski: Der Deutsche Jazzpreis hat sich zum Ziel gemacht, die ganze Szene in ih‐
               rer Vielfalt zu würdigen, mit Ausstrahlung in die EU und in die ganze Welt, was man
               auch an den internationalen Kategorien erkennen kann.

               Für den Deutschen Jazzpreis gibt es 31 Kategorien, nationale wie internationale. Über
               Tausend Vorschläge haben Sie hierfür erreicht, 81 Acts wurden letztlich nominiert. Wie
               groß ist denn nun die deutsche Jazzszene?

               Falk: Die Vielfalt der Kategorien demonstriert die Vielschichtigkeit der Szene. Wie groß
               sie tatsächlich ist, ist schwer zu beantworten. Allein die Deutsche Jazzunion hat rund
               1300 Musikerinnen und Musiker als Mitglieder.

               Sikorski: Was heißt überhaupt Szene? Sind es die Musiker oder die Hörer? Blickt man auf
               die Verkaufszahlen, dann ist Pop das dominierende Genre. Aber das Kommerzielle ist
               gerade nicht die entscheidende Größe im Jazz, der nicht nur sehr präsent, sondern eben
               vor allem künstlerisch stilbildend ist. Jazz ist gesellschaftlich verankert und hat eine gro‐
               ße Relevanz, und wir wollen darauf noch stärkere Aufmerksamkeit lenken.

               Kann das inmitten der Pandemie mit einer digitalen Veranstaltung gelingen?

               Sikorski: Wir haben natürlich diskutiert, ob wir die Verleihung dieses Jahr durchführen
               wollen. Wir haben gemeinsam mit unserem Beirat als Vertretung der Jazz-Szene ent‐
               schieden, dass es gerade jetzt wichtig ist. Zum einen um die Preisgelder auszuschütten,
               weil die Künstler das jetzt dringender denn je brauchen. Und um zu zeigen, dass die
               Branche lebt. Für Zuschauer ist es ein Live-Stream-Event, ja. Aber wir haben an vier
               Standorten in Deutschland auch Locations, von wo wir senden werden, und somit ver‐
               schiedene Einblicke gewähren. Preisträgerinnen, Laudatoren, Live-Acts sind zu sehen.
               So haben zumindest einige Musiker die Gelegenheit, sich zu treffen und auszutauschen.

               Für den Deutschen Jazzpreis wurde eine Million Euro zur Verfügung gestellt. In einigen
               Kategorien können Musiker mindestens 10.000 Euro gewinnen. Sind das Summen, die
               bleiben werden?

               Sikorski: Ja, die eine Million Euro sind im Haushalt festgeschrieben. Die sollen wir jedes
               Jahr für den Jazzpreis erhalten. Es geht auf jeden Fall darum, den Preis langfristig in der
https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15                                                 2/3
1.6.2021                                      https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15

               nationalen und internationalen Kulturszene zu etablieren.

               Was braucht es denn, um den Deutschen Jazzpreis langfristig zu etablieren?

               Falk: Ich denke, es sind drei Dinge: einmal die Authentizität und die Glaubwürdigkeit
               für die Szene. Das erreichen wir, indem wir die Szene mit einbeziehen, etwa in die Jurys
               oder in den Jazzbeirat. Und dann kommt die finanzielle Unterstützung hinzu. Das Zwei‐
               te ist die Sichtbarkeit in Deutschland. Es geht um ein möglichst breites Publikum, die
               der Preis für den aktuellen Jazz und improvisierte Musik begeistert. Drittens ist interna‐
               tionaler Austausch wichtig. Jazz in Deutschland ist ja nicht deutscher Jazz, sondern eine
               besonders Grenzen überschreitende Musikform. Wir haben hier auch ganz viele inter‐
               nationale Musiker, und das macht es erst so richtig spannend. Deswegen ist es gut, dass
               der Bundestag die Kunstform Jazz kulturpolitisch langfristig würdigen und stärken will.

               Was ist mit anderen Kunstformen? Pop? HipHop? Techno? Will man denen ebenfalls
               neue Preise widmen?

               Falk: Jazz ist aber nicht einfach nur ein Genre, das sich neben HipHop oder Techno plat‐
               zieren lässt! Jazz ist als Kunstform schon historisch eher als Ressource und Grundlage
               für andere Genres zu verstehen. Als Szene denken wir den Jazzbegriff zudem sehr weit –
               als improvisierte Musik von experimentell bis Pop, von Elektronik bis zu zeitgenössisch.
               Diese Vielfalt muss man immer mitdenken, wenn man Jazz verstehen will.

               Sikorski: Zur Frage, ob es weitere Preise geben soll: Ich weiß, dass es verschiedene Über‐
               legungen im Bereich der Kulturpolitik gibt. Ich kann mir gut vorstellen, dass noch mehr
               in dieser Richtung entstehen wird – zumal es da eine erkennbare Lücke gibt.

               Wie wichtig sind Musikpreise?

               Sikorski: Preise sind wichtig, um Künstlern noch mal eine andere Form der Wertschät‐
               zung entgegenzubringen als vielleicht über verkaufte CDs oder Konzerttickets. Ein Preis
               würdigt die künstlerische Qualität und Kreativität. Und gerade, wenn der Preis von an‐
               deren Künstlern vergeben wird oder sie eine entscheidende Rolle spielen, ist das beson‐
               ders wertvoll für die Preisträger. Natürlich ist ein Preis auch ein Marketing-Instrument,
               um Aufmerksamkeit zu schaffen.

               Das Gespräch führte Nadja Dilger.

https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937848/14-15                                                 3/3
Sie können auch lesen