Sprachenrechte - Zentrum polis
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polis aktuell 5/2021 Sprachenrechte Quelle/Idee: How do you say, “wash your hands”? In mehr als 600 Sprachen: www.ethnologue.com/guides/health Die Corona-Pandemie zeigt sehr deutlich das Wechselspiel von Sprachenrechten und weiteren Menschenrechten auf (Recht auf Information, Recht auf Bildung, Recht auf Gesundheit etc.). Sprachenrechte als Menschenrechte: Grundlagen Interview: Befund Sprachenrechte in Österreich Mehrsprachigkeit in der Schule Didaktische Vorschläge und Unterrichtsbeispiele Links und Materialien
Liebe Leserin, lieber Leser! In Österreich gibt es – wie in jeder migrationsgeprägten Der schulische Kontext wird anhand folgender Fragestel- Gesellschaft – Mehr- und Vielsprachigkeit. Die Sprachen lungen genauer betrachtet: der über Jahrzehnte zugewanderten Arbeitskräfte, von Was haben Sprachenrechte mit Kinderrechten zu geflüchteten Menschen oder von TouristInnen aus al- tun? ler Welt prägen unseren Alltag (je nachdem, wo in Ös- Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Unter- terreich wir wohnen) manchmal mehr als die Sprachen richtsprinzip Interkulturelle Bildung und Sprachen- der sieben offiziell anerkannten Minderheitensprachen rechten? (Burgenlandkroatisch, Romanes, Slowakisch, Slowe- Welche Bedeutung hat Mehrsprachigkeit für die nisch, Tschechisch, Ungarisch und die Österreichische Schule? Gebärdensprache). Das Thema Sprachen und Sprachenrechte pola- Zusammengestellt hat das Heft Susanne Fraczek. Sie risiert und wird gesellschaftlich kontrovers disku- ist Juristin, Politikwissenschafterin und Absolventin des tiert. So wird es im Sinne des Beutelsbacher Konsens in DaF/DaZ-Zertifikatskurses der Universität Wien. Nach diesem Heft auch dargestellt. langjähriger Mitarbeit am Ludwig Boltzmann Institut SprecherInnen bestimmter Sprachen müssen viel- für Grund- und Menschenrechte ist sie seit März 2021 fach energisch und lange um ihre Rechte kämpfen so- am Department für Rechtswissenschaften und interna- wie Stigmatisierungen ertragen. Die österreichische tionale Beziehungen der Donau-Universität Krems tätig. Debatte um Sprachenrechte umfasst die Sprachen Sie ist außerdem Mitglied des Wiener Forums für Demo- der anerkannten Minderheiten und die Sprachen der kratie und Menschenrechte. zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Politikfel- Mit dem Heft setzten wir die Tradition, Unter- der, die sich immer wieder mit Sprachenrechten be- richtsprinzipien zusammenzudenken, fort – in diesem fassen, sind die Bildungspolitik (Stichwort: Deutsch Fall sind es die Politische und die Interkulturelle Bil- als Schulsprache) und die Integrationspolitik (Stich- dung. wort: Staatsbürgerschaft/Fremdenrecht und Sprache). Das Heft bietet Ihnen Basisinformationen, berei- Wir wünschen Ihnen spannende Momente und gelingen- tet den internationalen und europäischen Rechts- de Diskussionen im Klassenzimmer und freuen uns über rahmen auf, geht auf die österreichische Situation Ihr Feedback! ein und beleuchtet das Wechselspiel von Sprachen- rechten und weiteren Menschenrechten (z.B. Recht Ihr Team von Zentrum polis auf Information, Recht auf Bildung). > service@politik-lernen.at Sprache und Politik Transkulturelles und Roma in Österreich. polis aktuell 1/2015 Interkulturelles Lernen Emanzipation einer polis aktuell 2/2016 Volksgruppe Das Heft gibt einen Überblick polis aktuell 8/2019 über die österreichische und Die Ausgabe beschreibt europäische Sprachenpolitik. anhand ausgewählter Schwer- Das Heft führt in die Geschich- Unterkapitel widmen sich punkte (u.a. Diversität/ te der Volksgruppe der öster- den Themen „Sprache und Vielfalt, Mehrsprachigkeit, reichischen Roma ein, widmet Medien“, „Merkmale des Identität/en) Konzepte, sich ihrer kulturellen Identität nationalsozialistischen Lerninhalte und Kompetenzen als Volksgruppe und enthält Sprachgebrauchs“ sowie des Interkulturellen und Kapitel zu Antiziganismus und „nichtdiskriminierende und Transkulturellen Lernens. Gedenkarbeit für die Opfer des gewaltfreie Sprache“. > www.politik-lernen.at/ Nationalsozialismus. > www.politik-lernen.at/ pa_transkulturelleslernen > www.politik-lernen.at/ pa_spracheundpolitik pa_romainoesterreich 2 polis aktuell 5/2021
1 Sprachenrechte als Menschenrechte: Grundlagen Weltweit werden ca. 7.100 Sprachen gesprochen, wovon im Verhältnis zueinander und wirkt sich auf die Lebens- 40 Prozent als gefährdet eingestuft und nur 23 Spra- realität der SprecherInnen aus. So kann daraus etwa chen der Hälfte der Weltbevölkerung zugerechnet werden.1 eine ungleiche Verteilung von Bildungschancen resul- Laut UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen tieren: SchülerInnen, die (ausschließlich) in einer ande- für Bildung, Wissenschaft und Kultur, haben 40 Prozent ren Sprache als ihrer Erstsprache5 unterrichtet werden, der Weltbevölkerung keinen Zugang zu Bildung in weisen oft geringere Lernerfolge auf.6 Zwei- oder mehr- einer Sprache, die sie am besten sprechen oder ver- sprachige Bildungsprogramme tragen hingegen zur Stär- stehen.2 Von 40 untersuchten Staaten berücksichtigen kung der kognitiven Fähigkeiten wie auch des Selbst- weniger als die Hälfte in den Lehrplänen den Stellenwert werts und Selbstbewusstseins der SchülerInnen bei.7 von Erstsprachenunterricht, wie von der UNESCO insbe- Die UNESCO sieht darüber hinaus in der Förderung der sondere für die ersten sechs Schulstufen empfohlen.3 sprachlichen Vielfalt einen Beitrag zu mehr Toleranz, so- zialem Zusammenhalt und Frieden.8 Top 10 most spoken lanuages, 2021 Sprachenrechte stehen in einem engen Zusammenhang mit anderen Menschenrechten: English dem Recht auf Privatleben, Mandarin Chinese dem Recht auf freie Meinungsäußerung, Hindi dem Recht auf Nichtdiskriminierung, Spanish dem Recht auf Bildung sowie Standard Arabic dem Schutz von kulturellen Rechten, insbesondere Bengali von Minderheiten und indigenen Völkern. French Russian Portuguese Auch wenn diese engen Bezüge bestehen, werden Spra- Urdu chenrechte nicht bloß als Unterfall oder Ausformungen 400,000,000 800,000,000 1,200,000,000 anderer Menschenrechte verstanden, sondern – oft un- ter dem Begriff linguistische Menschenrechte (lingu- istic human rights) – gesondert betrachtet. Quelle: Ethnologue: Languages of the World. Twenty-fourth edition. Sie reichen vom Recht, die eigene Sprache benützen www.ethnologue.com4 zu dürfen – im privaten oder im öffentlichen Bereich wie Sprache ist ein Teil menschlicher Identität, durch in der Schule oder vor Behörden –, über das Recht auf Sprache treten wir in Beziehung zu anderen und inter- Bildung in ebendieser Sprache bis zum Recht, Medien in agieren in der Gemeinschaft. Sprache kann ein-, aber dieser Sprache zu konsumieren oder zu betreiben. Diese auch ausschließen, sie ermöglicht – oder verhindert – Rechte sind völkerrechtlich nicht umfassend anerkannt gesellschaftliche und politische Teilhabe. Der Status, und in beträchtlichem Maße der Rechtsetzung und vor der Sprachen in einer Gesellschaft bzw. einem Staat zu- allem auch der Vollziehung durch die Nationalstaaten erkannt wird, bedingt eine Bewertung dieser Sprachen überlassen. 1 Siehe Eberhard, David M., Gary F. Simons, Charles D. Fennig (Hrsg.): Ethnologue: Languages of the World. Twenty-fourth edition. Dallas, Texas: SIL International, 2021. www.ethnologue.com 2 Global Education Monitoring Report, Policy Paper 24, If you don’t understand, how can you learn? Feb. 2016. https://en.unesco.org/gem-report/if-you-don%E2%80%99t-understand-how-can-you-learn, S. 1. 3 Ebd., S. 1 und 5. 4 Die Zählweise bezieht sich auf die gesamte weltweite Verwendung der genannten Sprachen, egal ob als Erst- oder Zweitsprache. Deutsch findet sich in dieser Aufstellung auf Platz 12, siehe www.ethnologue.com/guides/ethnologue200 5 Anmerkung: In diesem Heft wird „Erstsprache“ als Begriff für die Bezeichnung jener Sprache verwendet, die von Menschen im Verlauf ihres Sprachen- lernens als erste erworben wird. In vielen offiziellen Dokumenten bzw. Übersetzungen wird auch die Bezeichnung „Muttersprache“ für die erste erlernte Sprache angeführt. 6 GEM Report, Policy Paper 24, S. 2. 7 Ebd., S. 3. 8 https://en.unesco.org/news/40-don-t-access-education-language-they-understand polis aktuell 5/2021 3
„Cinderella Rights“ Aufgrund der lückenhaften universellen Fest steht, dass sich einige Sprachen- Anerkennung und des großen Spielraums rechte auf eine völker- und menschen- für nationale Regelungen, der mitunter rechtliche Basis oder auf nationales mit dem Argument der nationalen Inte- Recht gründen (wie unter 1.1. bis 1.3. grität und Sicherheit rigoros gegen die ausgeführt wird); andere sind jedoch Einräumung von Sprachenrechten für bislang nicht als allgemein gültige Men- Minderheiten genützt wird, werden Spra- schenrechte anerkannt und somit eher chenrechte von manchen als „Aschen- Zielvorstellungen oder Ambitionen denn puttel“ oder „Stiefkind“ unter den rechtlich bindende Normen. Menschenrechten bezeichnet.9 Sprachenrechte 10 … haben eine individuelle und eine kollektive und positive Rechte, die über die Nicht-Diskri- Seite. Auch wenn diese beiden Ebenen in ein- minierung hinaus den Gebrauch von Sprachen ander greifen, zielt das individuelle Recht (z.B. gewährleisten sollen und Staaten auch gewisse eine Sprache zu erwerben, zu gebrauchen und Handlungspflichten auferlegen (z.B. im Bereich weiterzugeben) auf die Person als Mensch oder der Justiz oder der Bildung), unterschieden als AngehörigeR einer bestimmten Gruppe. werden. Kollektive Rechte beziehen sich auf die Rechte … werden daran anschließend in der Fachdiskus einer Minderheit, von indigenen Völkern oder an- sion11 auch in toleranzorientierte (betreffen deren Sprachgemeinschaften als soziale Gruppe. den Gebrauch der Sprache ohne staatliche Ein … können persönlich oder territorial ausgestaltet mischung, insbesondere im privaten Bereich), sein, d.h. eine Person hat sie unabhängig von förderungsorientierte (sehen die Unter ihrem Wohnort in einem bestimmten Land, oder stützung des Staates durch den Gebrauch der aber diese Rechte gelten nur für Personen, wenn Sprache in öffentlichen Einrichtungen und sie in einem definierten Gebiet dieses Landes Kommunikationsmitteln vor) und handlungs- leben. orientierte Rechte (ermöglichen die aktive … können in negative Rechte, durch die Diskrimi- Teilhabe an Gesellschaft und Staat mit der nierung aufgrund der Sprache verboten wird, eigenen Sprache) unterteilt. Ob bestimmte Sprachenrechte in welcher Ausgestaltung siehe 1.3.) bis zur sprachlichen Autonomie für bestimm- eingeräumt werden oder nicht bzw. wem und wem nicht, te Sprachgemeinschaften (beispielsweise für die katala- wird durch die Sprachenpolitik – auf überstaatlicher nische Sprache in Spanien) reichen. und vor allem staatlicher Ebene – festgelegt. Andere Definitionen von Sprachenpolitik schließen Der Begriff Sprachenpolitik wird, je nach Zugang und auch Handlungen von nichtstaatlichen Einrichtungen Kontext, unterschiedlich definiert.12 und Individuen, durch die Sprachen gefördert oder un- Zunächst werden darunter Maßnahmen von offizi- terdrückt werden, mit ein. In diesem weiteren Verständ- ellen Stellen verstanden, die den Status von Sprachen nis werden wir alle somit – ob wir es beabsichtigen oder und das Verhältnis zwischen ihnen in einer Gesellschaft nicht – zu AkteurInnen von Sprachenpolitik. Angesichts regeln. Solche Regelungen können von Einsprachigkeit des Stellenwertes von Sprache(n) im Bildungswesen ist (es gibt nur eine offizielle Landessprache, wie etwa in daher auch das System Schule ein zentraler Ort, an dem Frankreich) über den Schutz von Sprachminderheiten Sprachenpolitik gelebt wird. (z.B. durch das österreichische Volksgruppengesetz, 9 Vgl. May, Stephen: Language Rights: The “Cinderella” Human Right, Journal of Human Rights, 10:3, 2011, S. 265-289. 10 Vgl. hier und im Folgenden: Skutnabb-Kangas, Tove: The Role of Linguistic Human Rights in Language Policy and Planning, in: Chapelle, Carol A. (Hrsg.): The Encyclopedia of Applied Linguistics, Malden, MA: Blackwell, 2011/12. 11 Vgl. Krumm, Hans-Jürgen: Recht auf Sprachen: Sprachenrechte sind Menschenrechte, Vortrag im Rahmen der Online-Konferenz zur Menschenrechts bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien am 10.12.2020, https://kommm.phwien.ac.at/krumm 12 Vgl. hier und im Folgenden: Busch, Brigitta; de Cillia, Rudolf (Hrsg.): Sprachenpolitik in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2003, S. 13ff. 4 polis aktuell 5/2021
1.1. Der internationale rechtliche Rahmen Die Allgemeine Erklärung Die UN-Erklärung über die Rechte von Personen, der Menschenrechte der die nationalen oder ethnischen, religiösen oder Vereinten Nationen von 1948 sprachlichen Minderheiten angehören von 1992 enthält als negatives Spra- bringt einen förderungsorientierten Zugang und kon- chenrecht das Verbot der kretisiert das Recht, die eigene Sprache zu verwenden: Diskriminierung aufgrund der Artikel 1: „Die Staaten schützen die … sprachliche Sprache in ihrem Artikel 2: Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und „Jeder hat Anspruch auf begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die alle in dieser Erklärung Förderung dieser Identität.“ verkündeten Rechte und Artikel 2: „Personen, die … sprachlichen Minderheiten Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach angehören, haben das Recht, … sich ihrer eigenen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, …“13 Sprache zu bedienen, privat und in der Öffentlichkeit, frei und ohne Einmischung oder Diskriminierung Der Internationale Pakt über bürgerliche und jedweder Art.“17 politische Rechte 1966 regelt für sprachliche Minder- Außerdem sollen die Staaten tunlichst das Erlernen heiten: der Erstsprache und Unterricht in dieser ermöglichen Artikel 27: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder (Artikel 4.3). sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Auch in der UN-Erklärung über die Rechte der Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, indigenen Völker 2007 finden sich einige förderungs- gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr orientierte, positive Sprachenrechte, die sich auf die eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Weitergabe der Sprache, die Einrichtung von Bildungsin- Religion zu bekennen oder sich ihrer eigenen Sprache stitutionen und Medien beziehen (Artikel 13, 14, 16).18 zu bedienen.“14 Im Unterschied zum Internationalen Pakt über bür- In der Fachliteratur besteht Uneinigkeit darüber, ob gerliche und politische Rechte als völkerrechtlicher Ver- diese Bestimmung als toleranzorientiert oder förde- trag sind beide Erklärungen allerdings rechtlich nicht rungsorientiert zu interpretieren ist und ob sie sich nur bindend, so dass es den Staaten überlassen bleibt, in- auf autochthone oder auch allochthone Minderheiten wieweit sie diese beachten. bezieht. Jedenfalls wird sie als wichtige Basis für weitere internationale Instrumente mit sprachenrechtlichen Re- Anders ist die UN- gelungen für Minderheiten bezeichnet, die insbesondere KONVENTION Konvention über nach Ende des Kalten Krieges an Boden gewannen.15 ÜBER DIE die Rechte des Kin- RECHTE des von 1989 zu beur- DES KINDES teilen, die seit 2011 in Autochthone Minderheiten Österreich im Verfassungsrang steht. Sie enthält einige „einheimische“, „alteingesessene“ nationale verpflichtende sprachenrechtliche Bestimmungen, von Minderheiten denen Artikel 29 zum Zweck von Bildung u.a. vorsieht: „... dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner Allochthone Minderheiten kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen zugewanderte, sogenannte neue Minderheiten, kulturellen Werten … zu vermitteln.“ MigrantInnen, Flüchtende16 Außerdem verdeutlicht Artikel 30, dass einem Kind, das einer (sprachlichen) Minderheit oder indigenen Gruppe angehört, „nicht das Recht vorenthalten werden [darf], … seine eigene Sprache zu verwenden.“19 13 www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf 14 www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1978_591_0/1978_591_0.pdf Auch im Rahmen der UNESCO wurden Sprachenrechte 15 Vgl. May 2011, S. 273. verankert; so sind etwa die Allgemeine Erklärung zur 16 Vgl. Krumm 2020, S. 3. kulturellen Vielfalt 2001 und vor allem die Konven- 17 www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar47135.pdf tion gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen 18 www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration%28German%29.pdf 1960 zu nennen. Letztere definiert Diskriminierung als 19 www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1993_7_0/1993_7_0.pdf Unterscheidung, Ausschluss, Beschränkung oder Bevor- polis aktuell 5/2021 5
zugung u.a. auf Grund der Sprache (Artikel 1). Sie lässt „Jede Person hat das Recht, mehrsprachig zu sein aber z.B. aus sprachlichen Gründen getrennte Unter- und jene Sprache zu kennen und zu verwenden, die richtssysteme zu, wenn der Besuch freiwillig und der am geeignetsten ist für die persönliche Verwirklichung Unterricht qualitativ gleichwertig ist (Artikel 2). Diese oder für die soziale Mobilität“.24 Bedingungen stellen wichtige Schranken gegen die Ein- Zwar wurde die damalige Weltkonferenz von der führung eines nach Erstsprachen und Herkunft segre- UNESCO unterstützt und die Barcelona-Erklärung der gierten Unterrichts in den Konventionsstaaten dar. UNESCO zur Annahme vorgelegt, diese ist aber bis heute nicht erfolgt. Dennoch stellt die Erklärung weiterhin ei- nen wichtigen Bezugspunkt für die Befassung mit und das Segregation Eintreten für Sprachenrechte dar. Trennung von Personen[gruppen] mit gleichen sozialen (religiösen, ethnischen, schichtspezifi- schen u.a.) Merkmalen von Personen[gruppen] > weiterlesen mit anderen Merkmalen, um Kontakte unter United Nations Special Rapporteur on minority einander zu vermeiden20 issues: Language Rights of Linguistic Minorities: A Practical Guide for Implementation. Geneva, March 2017. www.ohchr.org/Documents/Issu- Das 60-Jährige Jubi- es/Minorities/SR/LanguageRightsLinguisticMi- läum der Konvention norities_EN.pdf wurde 2020 von einer UNESCO: Ensuring inclusive education for eth- weltweiten Kampagne nolinguistic minority children in the COVID-19 Say no to discrimination in Education21 begleitet. Die era: guidance note. Paris and Bangkok, 2021. Konvention wird von der UNESCO als wichtiger Pfeiler www.unicef.org/eap/reports/ensuring-inclusi- der Bildungsagenda 203022 bezeichnet, die der Umset- ve-education-ethnolinguistic-minority-child- zung des Ziels 4 der nachhaltigen Entwicklungsziele ren-covid-19-era (Sustainable Development Goals, SDGs) dienen soll: „Bis 2030 allen Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern“. 21. Februar: Internationaler Österreich hat diese UNESCO-Konvention bis dato Tag der Muttersprache nicht ratifiziert, d.h. sie kommt in Österreich nicht zur Von der UNESCO 2000 ins Leben Anwendung (Stand April 2021). gerufen, stand der Tag 2021 unter dem Motto Fostering multilingualism Ein wesentliches inter- for inclusion in education and society nationales Dokument, und hob die Bedeutung von Mehrsprachigkeit und das zwar keinen Rechts- Erstsprachenunterricht für das Gelingen von Inklusion charakter hat, aber den- hervor. Weitere Informationen, inkl. der Aufnahme noch erwähnenswert ist, des UNESCO Webinars vom 19.2.2021 unter: https:// ist die Allgemeine Erklärung der Sprachen- en.unesco.org/commemorations/motherlanguageday rechte (Barcelona-Erklärung).23 Diese wurde 1996 auf der Weltkonferenz der Sprachenrechte in Bar- celona von NGOs und ExpertInnen verabschiedet. In die- ser Erklärung sind – unabhängig von der Zugehörigkeit Coming up – stay tuned zu Minderheiten – zahlreiche positive, individuelle wie Die UNESCO bereitet derzeit die Decade of kollektive Sprachenrechte aufgeführt, u.a. auch ein all- Indigenous Languages (2022–2032) vor.25 gemeines Recht auf Mehrsprachigkeit (Artikel 13): 20 www.duden.de/rechtschreibung/Segregation 21 https://en.unesco.org/themes/right-to-education/campaign 22 Education 2030: Incheon Declaration and Framework for Action for the Implementation of Sustainable Development Goal 4, https://iite.unesco.org/publications/education-2030-incheon-declaration-framework-action-towards-inclusive-equitable-quality-education-lifelong- learning 23 https://culturalrights.net/descargas/drets_culturals389.pdf 24 Krumm 2020, S. 4. 25 Siehe strategischer Fahrplan in der Los Pinos Declaration, 28.02.2020. https://en.unesco.org/sites/default/files/los_pinos_declaration_170720_en.pdf 6 polis aktuell 5/2021
1.2. Der europäische rechtliche Rahmen Ähnlich wie in der Allgemeinen Men- Das Rahmenübereinkom- schenrechtserklärung findet sich men zum Schutz nationa- auch in der Europäischen Men- ler Minderheiten 1994, schenrechtskonvention 1950, die das keine Definition für in Österreich im Verfassungsrang „nationale Minderheit“ vor- steht, im Diskriminierungsver- gibt, überlässt diese Fest- bot aufgrund der Sprache (Artikel legung in ähnlicher Weise wie die Charta jeweils den 14) ein negatives Sprachenrecht. einzelnen Vertragsstaaten. Komplementär zu dieser Hinzu kommt das positive Recht auf Information in sieht es förderungsorientierte Sprachenrechte vor hin- einer verständlichen Sprache bei Festnahmen (Artikel sichtlich der Verwendung der Minderheitensprachen im 5) und der Erhebung von Beschuldigungen (Artikel 6). privaten und öffentlichen Bereich, inkl. im Schulwesen Auch sieht Artikel 6 im Sinne eines fairen Verfahrens und in Medien.29 Wie der Name „Rahmenübereinkom- das Recht einer angeklagten Person auf unentgeltliche men“ schon nahelegt, behalten die Staaten jedoch ei- Dolmetschung vor, wenn sie die Verhandlungssprache nen nicht unwesentlichen Ermessensspielraum in seiner des Gerichts nicht versteht oder spricht.26 Umsetzung auf nationaler Ebene. Für beide Instrumente gibt es einen Berichts- und Im Bereich des Minderheitenrechts sind zwei weitere In- Monitoringmechanismus, aufgrund dessen die Staa- strumente des Europarats relevant: ten regelmäßig Bericht legen müssen, wie sie ihren Die Europäische Charta der Vertragsverpflichtungen nachkommen. Österreich hat Regional- oder Minderheiten- zuletzt 2017 zur Europäischen Charta30 und 2016 zum sprachen 1992 regelt den Schutz Rahmenübereinkommen31 Bericht erstattet; die Folgebe- und die Förderung von Regional- richte, die 2020 bzw. 2019 fällig waren, sind zum Zeit- und Minderheitensprachen in den punkt des Erscheinens dieses Hefts ausständig. Bereichen Bildung, Justiz, Verwal- tung, Medien, Kultur, wirtschaftli- ches und soziales Leben. Jedoch ist die Charta so ausgestaltet, dass den > tipp für unterrichtsmaterialien Europarat: Europäische Charta der Regional- oder Konventionsstaaten – abgesehen vom verpflichtenden Minderheitensprachen – Unterrichtsaktivitäten. Bekenntnis zu den Grundsätzen der Charta – ein be- Mai 2019. https://rm.coe.int/ecrml-educational- trächtlicher Spielraum bleibt, welche der Bestimmungen toolkit-de/16809a42e1 sie bei der Ratifikation für welche Sprachminderheiten tatsächlich annehmen.27 Das bedeutet, dass die Staaten eine diesbezügliche Erklärung abgeben, mit der sie auch festlegen, auf welche (autochthonen) Minderheiten in Die Charta der Grund- ihrem Staatsgebiet die Charta Anwendung findet. Die rechte der Europäischen Charta bezieht sich explizit nur auf Sprachen traditio- Union verbietet zum einen neller Minderheiten, nicht von MigrantInnen. Auch zielt Diskriminierungen wegen sie eher auf den Schutz der Sprachen als Teil des euro- der Sprache (Artikel 21) päischen Kulturerbes ab, als dass sie – individuelle oder und verbrieft zum anderen kollektive – Sprachenrechte einräumt.28 die Achtung sprachlicher Vielfalt (Artikel 22) wie auch das Recht der EU-BürgerInnen zur Verwendung einer der 24 Amtssprachen in der Kommunikation mit EU-Institutionen (Artikel 41).32 26 www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/0900001680063764 27 www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/090000168007c089 28 Vgl. Arzoz, Xabier: The Nature of Language Rights. In: Journal on Ethnopolitics and Minority Issues in Europe. Vol. 2., 2007, S.16. 29 www.coe.int/en/web/minorities/at-a-glance 30 www.coe.int/de/web/european-charter-regional-or-minority-languages/reports-and-recommendations 31 www.coe.int/en/web/minorities/austria 32 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12012P/TXT&from=EN polis aktuell 5/2021 7
Im Sinne der Anerkennung der sprachlichen Vielfalt 26. September: setzt sich die Europäische Kommission auch für den Er- Europäischer Tag der halt der 60 Regional- und Minderheitensprachen Sprachen ein, die innerhalb der EU von ca. 40 Millionen Men- Seit 2001 wird auf Initiative schen gesprochen werden. Dies erfolgt z.B. durch das des Europarats jedes Jahr – zusammen mit der Erasmus+-Förderprogramm – wobei klargestellt ist, dass Europäischen Kommission – am 26. September der die Regelung des Rechtsstatus einer Sprache bei den EU- Europäische Tag der Sprachen gefeiert. In zahl- Mitgliedstaaten verbleibt.33 reichen Veranstaltungen und Aktionen stehen an Die EU bekennt sich außerdem zu einer Politik der diesem Tag die sprachliche Vielfalt Europas und die Mehrsprachigkeit, mit dem vom Europäischen Rat for- Förderung der Mehrsprachigkeit im Mittelpunkt. mulierten 1+2-Ziel, d.h. dass alle EU-BürgerInnen – am Zum 20. Jubiläum gibt es 2021 unter anderem besten von klein auf – neben ihrer Erstsprache mindes- eine Sprachen-Challenge (inkl. spezieller App) tens zwei Fremdsprachen erlernen sollen.34 sowie einen T-Shirt-Wettbewerb. https://edl.ecml.at > tipp: eu-initiativen unter erasmus+ School Education Gateway, Europas Online-Platt- form für schulische Bildung in 23 europäischen Das Europäische Sprachenportfolio ist ein vom Sprachen, bietet einen eigenen Themenbereich zu Europarat initiiertes Lern- und Reflexionsinstru- Mehrsprachigkeit mit verschiedensten Ressourcen ment, das autonomes und interkulturelles Spra- und Unterrichtsmaterialien an: www.schooleduca- chenlernen unterstützt. Es besteht aus: tiongateway.eu/de/pub/theme_pages/multilingua- Sprachenpass: gibt die Sprachenkenntnisse lism des/der InhaberIn an; Europäisches Sprachen- Sprachenbiografie: erfasst Informationen über siegel, mit dem neue den Lernprozess; Methoden im Sprachunter- Sprachendossier: enthält sämtliche in einer richt sowie die Förderung Fremdsprache verfassten „Werke“. des interkulturellen Bewusstseins ausgezeichnet Das Österreichische werden. In Österreich führt das Österreichische Sprachen-Kompetenz- Sprachen-Kompetenz-Zentrum den Wettbewerb um Zentrum hat drei österreichische Versionen für die das Siegel alle zwei Jahre durch und bietet eine Grundstufe, die Mittelstufe (inkl. einer digitalen Sprachensiegel-Datenbank an, die Anregungen für Version) und die Oberstufe entwickelt. Materialien, Projektideen geben kann: www.oesz.at/OESZNEU/ Kopiervorlagen und Übungsbeispiele dazu finden main.php?page=0221&open=42&open2=43 sich auf www.sprachenportfolio.at. EU-Projekt Multilingual Families: Mehrsprachigkeit in Kindergarten und Schule unterstützen Für Eltern, Kinder, Lehrkräfte, KindergartenpädagogInnen, Fachpersonen aus der Schulverwaltung, Schulleitung, Schulteams, Betreuungspersonen etc. gibt es auf www.multilingual-families.eu (in fünf Sprachen inkl. Deutsch verfügbar): Materialien für Eltern sowie für PädagogInnen in Kindergarten und Schule und e-storybooks für Kinder Antworten zu Fragen zur Förderung der Mehrsprachigkeit für Eltern und PädagogInnen pädagogisches Hintergrundwissen Die Materialien können von Eltern, PädagogInnen, Kindergärten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen frei verwendet werden. Das 2013–2015 durchgeführte Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission im Rahmen des Lifelong Learning Programme finanziert. Die Wiener Volkshochschulen (VHS Wien) waren eine der sechs Partnerorganisationen. 33 https://europa.eu/european-union/about-eu/eu-languages_de und https://ec.europa.eu/education/policies/linguistic-diversity_de 34 https://ec.europa.eu/education/policies/multilingualism/about-multilingualism-policy_de 8 polis aktuell 5/2021
1.3. Die Rechtslage in Österreich derheiten verpflichtet. Darin ist zum einen festgelegt, dass die Verwendung der Sprache, im privaten wie öf- In Österreich gibt es viele verschiedene Sprachgemein- fentlichen Bereich, nicht beschränkt werden und zu kei- schaften: Die Mehrheit der hier lebenden Menschen hat ner Benachteiligung führen darf. Zum anderen finden Deutsch als Erstsprache, aber etliche Menschen gehören sich darin Rechte hinsichtlich der Einrichtung von eige- einer sprachlichen Minderheit an, d.h. sie erlernen in der nen Schulen und des Erstsprachenunterrichts. Familie zuerst eine andere Sprache und verwenden diese Der Staatsvertrag von Wien 1955 garantiert in oft als Umgangssprache. Dabei existieren aufgrund der ös- Artikel 7 die Rechte der slowenischen und kroatischen terreichischen Rechtslage allerdings Unterschiede, inwie- Minderheiten in Kärnten, Burgenland und der Steier- weit sich Menschen in der Verwendung ihrer Sprache auf mark auf Unterricht in slowenischer bzw. kroatischer national eingeräumte Sprachenrechte berufen können. Sprache, die Zulassung der Sprachen als Amtssprachen Im Bundes-Verfassungsgesetz regelt Artikel 8: und zweisprachige „Bezeichnungen und Aufschriften to- „ (1) Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den pographischer Natur“. sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich einge räumten Rechte, die Staatssprache der Republik. (2) Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt > tipp: akustische chronik Zusammenfassung des „Ortstafel- sich zu ihrer gewachsenen sprachlichen und kulturel- Streits“ in Kärnten mit Original- len Vielfalt, die in den autochthonen Volksgruppen Tonaufnahmen: zum Ausdruck kommt. Sprache und Kultur, Bestand www.mediathek.at/akustische-chronik/1970-1985/ und Erhaltung dieser Volksgruppen sind zu achten, ortstafelkonflikt-in-kaernten zu sichern und zu fördern. (3) Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigen- ständige Sprache anerkannt. Das Nähere bestim- Das Volksgruppengesetz 1976 (mit Novellierungen) men die Gesetze.“35 führt die völker- und verfassungsrechtlichen Bestim- mungen genauer aus. Es gewährleistet die Achtung der Autochthone Volksgruppen 36 Sprachen der Volksgruppen, regelt die Verwendung von Die in der Bundesverfassung erwähnten Volksgruppen Kroatisch, Slowenisch und Ungarisch als Amtssprachen sind autochthone Minderheiten, die als österreichische in bestimmten Gebieten sowie von zweisprachigen Orts- StaatsbürgerInnen in bestimmten Teilen des Bundes- bezeichnungen im Burgenland und in Kärnten und sieht gebiets wohnen und deren Sprachenrechte besonders die Einrichtung von Volksgruppenbeiräten zur Beratung geschützt und gefördert werden. Diese Sprachgemein- der Bundesregierung vor.38 schaften sind: Als öffentlich-rechtlicher Rundfunk bietet der ORF Burgenlandkroatisch im Burgenland, Nachrichten und Programme in den sechs Volksgruppen- Slowenisch in Kärnten und der Steiermark, sprachen an: https://volksgruppen.orf.at Ungarisch im Burgenland und in Wien, Tschechisch in Wien, Die geltende territoriale Ausgestaltung der Sprachen- Slowakisch in Wien, rechte der Volksgruppen (d.h. sie gelten nur in den Romanes im Burgenland.37 per Gesetz festgelegten Gebieten) sehen ExpertInnen Auf diese sprachlichen Minderheiten sind – nach Er- durchaus kritisch.39 klärung Österreichs an den Europarat – die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen sowie österreich1918plus das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Min- Diskussionen rund um Südtirol derheiten (siehe 1.2.) anzuwenden. www.politik-lexikon.at/oesterreich1918plus/1967 Ihre Sprachenreche sind völkerrechtlich auch durch Österreichische Gebärdensprache zwei Staatsverträge abgesichert: www.politik-lexikon.at/oesterreich- Im Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye 1919 1918plus/2006/gebaerdensprache hat sich Österreich im Abschnitt V zum Schutz der Min- 35 www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1930/1/A8/NOR40066723 36 Vgl. hier und im Folgenden: Bundeskanzleramt: www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/volksgruppen.html 37 4. Bericht der Republik Österreich gemäß Artikel 15 Abs. 1 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, https://rm.coe.int/168070c2f3, S. 11. 38 Seit 1993 – nachdem die österreichischen Roma auch als Volksgruppe anerkannt wurden – gibt es für alle sechs Minderheiten Volksgruppenbeiräte. 39 Vgl. Krumm 2020, S. 4. polis aktuell 5/2021 9
Allochthone/„Neue“ Minderheiten nicht erfolgt, so dass viele Forderungen, wie nach dem Noch problematischer wird die rechtliche Außeracht- Recht auf Unterricht in der Erstsprache ÖGS oder auf lassung der Sprachen von (zum Teil vor Generationen) Gebärdensprachdolmetschung an den Universitäten, zugewanderten Menschen mit anderen Erstsprachen weiterhin offen sind – worauf der Österreichische Ge- als Deutsch eingeschätzt: „Die zugewanderten neuen hörlosenbund und das Netzwerk Sprachenrechte immer Minderheiten gehen sprachenrechtlich leer aus.“40 Die wieder hinweisen. > Tatsache, dass sie nicht unter das geltende Minderhei- tenrecht fallen, heißt aber nicht, dass ihre Sprachen in tipp: youtube-kanal „lilys deaf life“ der Realität der Migrationsgesellschaft keine Beachtung Lily Marek gebärdet auf ihrem Kanal seit Dezember erfahren. Um diese Menschen zu erreichen, mit ihnen zu 2020 für mehr Bewusstsein, Akzeptanz und für den kommunizieren bzw. ihnen die Teilhabe zu ermöglichen, ÖGS-Unterricht an Schulen. gibt es immer mehr Beispiele, in denen sich Behörden, www.youtube.com/channel/UCMfjVHF5e9FHoXa- Gesundheitseinrichtungen oder auch Unternehmen ver- JzFFcydA/videos schiedener Sprachen bedienen. Im schulischen Bereich stellen die Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit und Sprachenrechte sind in vielen Staaten, so auch in Ös- der muttersprachliche Unterricht wichtige Bestandteile terreich, oft kontroversielle Themen und Ergebnis von des Bildungsanliegens sprachliche Bildung dar, das auch politischen Aushandlungsprozessen. die Förderung der Sprachen der „neuen“ Minderheiten ermöglicht. 1.4. Sprachenrechte im Wechselspiel mit anderen Menschenrechten rechercheimpuls Sprachenrechte stehen in enger Wechselbeziehung mit „virtual linguistic landscapes“ anderen Menschenrechten: Diskriminierungen aufgrund Wahrnehmbarkeit von Sprache(n) im öffentlichen der Sprache, die eine Person spricht, können bedeuten, Raum dass gewisse andere Menschenrechte nicht gewährleis- Die SchülerInnen machen in Kleingruppen eine tet sind. So kann z.B. das Recht auf ein faires Ver- Internetrecherche zur Verwendung von anderen fahren vor Gericht ohne Dolmetschung verletzt wer- Sprachen als Deutsch auf Websiten von Behörden, den, oder die Segregation von Schulkindern entlang Spitälern, Dienstleistungseinrichtungen, Unter- ethnisch-sprachlicher Kriterien das Recht auf Bildung nehmen etc. und fertigen z.B. mit Screenshots verletzen. Auch ist für die Erfüllung des Rechts auf Collagen der Mehrsprachigkeit an. Gesundheit wesentlich, dass Menschen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht diskriminiert werden, auch nicht aufgrund ihrer Sprache.42 Die COVID-19-Pandemie hat diesen Zusammen- Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) hang und die Wichtigkeit von z.B. mehrsprachigen Die ÖGS ist die Erstsprache der knapp 10.000 gehörlosen Informationen verdeutlicht. So haben sich die Europa- Menschen sowie deren hörender Kinder in Österreich.41 rats-ExpertInnen im Mai 2020 über den Mangel an rele- Weltweit gibt es verschiedene auf manuell-visuellen vanten Informationen in Minderheitensprachen besorgt Codes basierende Gebärdensprachen, die jeweils über gezeigt.43 In Österreich wurde nach und nach auf die eine eigene Grammatik und Syntax verfügen und auch Herausforderungen reagiert und das Gesundheitsminis- regionale Dialekte ausbilden. Die ÖGS wurde 2005 durch terium stellt Informationen zu COVID-19 in sechs Spra- die Verankerung in Artikel 8 Absatz 3 Bundes-Verfas- chen, in ÖGS sowie als Leicht Lesen-Dokumente bereit.44 sungsgesetz als nicht-ethnische Minderheitensprache Ähnlich ist der ORF mit mehrsprachigen Corona-Infos ohne territorialen Bezug anerkannt. Doch die Ausfor- vorgegangen.45 mulierung von spezifischen Sprachenrechten ist bis dato 40 Krumm 2020, S. 3. 41 Vgl. hier und im Folgenden: www.oeglb.at 42 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte/231964/gesundheit?p=all 43 Vgl. www.coe.int/de/web/european-charter-regional-or-minority-languages/news/-/asset_publisher/t9sWxmY5eZkv/content/comex-expresses-concern- over-lack-of-rml-communication-during-health-crisis 44 Vgl. www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Coronavirus---Aktuelle-Informationen-in-Fremdsprachen-.html 45 Vgl. https://der.orf.at/unternehmen/aktuell/wir_gemeinsam_jetzt100.html 10 polis aktuell 5/2021
2 Ein Befund zur Umsetzung von Sprachenrechten in Österreich Interview mit Angelika Hrubesch vom Netzwerk SprachenRechte Angelika Hrubesch ist Mitarbeiterin der Organisationsgruppe des Netzwerks SprachenRechte. Nach langjähriger Leitung von Kursen für Deutsch als Zweitsprache und Alphabetisierung an Wiener Volkshochschulen und im Wiener Integrationshaus leitet sie seit 2011 das AlfaZentrum für MigrantInnen im lernraum.wien der VHS Wien und ist in der Aus- und Weiterbildung von ErwachsenenbildnerInnen tätig. Angelika Hrubesch Susanne Fraczek Frau Hrubesch, wie ist Ihr Befund zur Umsetzung terricht in der Schule absieht. Zu diesem Feld gehört von Sprachenrechten in Österreich? Wo sehen Sie auch das Thema Dolmetschung und die Frage: Wer hat Erfolge, wo Probleme bzw. Handlungsbedarf? das Recht auf Dolmetschung in der Kommunikation mit Es gibt Errungenschaften hinsichtlich der Anerkennung Behörden oder im Gesundheitswesen? Das betrifft ins- von Minderheitensprachen, aber das ist schon lange her. besondere auch das Asylverfahren, wo die Qualität der Zuletzt wurde 2005 die Österreichische Gebärdensprache Übersetzung für die Entscheidung essentiell ist und wo verfassungsrechtlich anerkannt, was eine sehr positive es auch immer wieder zu Sprachfeststellungen kommt, Entwicklung war. Die praktische Umsetzung bleibt mit- wenn an der Erstsprache von AsylbewerberInnen gezwei- unter jedoch hinter dem zurück, was rechtlich möglich felt wird. wäre. Auch steht Österreich sprachenrechtlich gut da, Zum anderen orten wir massive Probleme im Schul- was das große Angebot an muttersprachlichem Unter- wesen, nicht erst, aber vor allem seit Einführung der richt in anderen Erstsprachen als Deutsch betrifft. Deutschförderklassen und des Messinstruments zur Die Gründung des Netzwerks SprachenRechte vor Kompetenzanalyse–Deutsch (MIKA-D) 2018. Mehrspra- fast 20 Jahren ist zu einem Zeitpunkt erfolgt, als es chige Kinder erfahren Benachteiligungen, weil – unter in Europa immer mehr Bestrebungen gab, den Aufent- den mehreren Sprachen, die sie sprechen – ihr Deutsch haltsstatus jeweils an die Kenntnis der Landessprache nicht den vorgegebenen Standards entspricht und für zu knüpfen und in Österreich dazu im Fremdenrecht die die Kinder sehr viel davon abhängt. Integrationsvereinbarung vorbereitet wurde. Seither ist das Netzwerk immer lauter geworden, weil wir beobach- Das Netzwerk SprachenRechte hat vor einiger Zeit ten, dass Errungenschaften in Frage gestellt werden und vor „zunehmendem Sprachnationalismus“ gewarnt.46 sprachliche Rechte nicht so gewährleistet werden, wie Was ist damit gemeint? wir es uns wünschen. Sowohl auf Basis von wissenschaftlichen Analysen als Großen Handlungsbedarf sehen wir zum einen im auch von Berichten aus dem Alltag beobachten wir, dass Bereich Migration, wo wir feststellen müssen, dass es das Bild von Österreich als einsprachiges, d.h. deutsch- sprachliche Rechte für zugewanderte Minderheiten de sprachiges Land und die Gleichsetzung von Sprache und facto nicht gibt, wenn man vom muttersprachlichen Un- Nation zunimmt. Dass es salonfähig ist, sich so zu positi- 46 www.sprachenrechte.at/pressegespraech-sprachenrechte-sind-menschenrechte polis aktuell 5/2021 11
onieren, ohne Widerspruch hervorzurufen, besorgt uns. Deutsch als dominanter Sprache in Österreich gescheit Österreich ist grundsätzlich kein einsprachiges Land. Die und notwendig. Und natürlich sind wir für die Förde- wenigsten Sprachen enden an den Grenzen der National- rung von Kindern in der Schule, und zwar nicht nur von staaten. Das Bewusstsein dafür war schon mal größer nicht-deutschsprachigen. Aber Deutsch – so wesentlich und nach unserem Befund erstarkt in den letzten Jah- es ist – ist weder der Schlüssel zum Bildungserfolg noch ren dieser Sprachnationalismus: Österreich = Deutsch = zur Integration, jedenfalls nicht der einzige. Dieses Nar- die einzige Sprache hier. Der Zwang zum Deutschlernen rativ stimmt einfach nicht. Wir wissen sehr genau aus wird gar nicht in Frage gestellt und ich merke, ich sto- Statistiken und Berichten, dass Bildungserfolg in Öster- ße auf ganz viel Widerspruch in meinem Alltagsumfeld, reich nicht nur von den Deutschkenntnissen, sondern wenn ich z.B. etwas gegen die Deutschförderklassen vom sozialen Status der Eltern abhängt. Auch ist In- sage. Weil es ja klar ist, dass Österreich und die Schule tegration nicht nur von Deutschkenntnissen, sondern deutschsprachig sind und alle sich daran halten müs- vom Zugang zum Arbeitsmarkt, von der Offenheit der sen. Daraus ergibt sich dann noch mehr als Verkehrung Aufnahmegesellschaft etc. abhängig. ins Negative, dass die anderen Sprachen nicht nur nicht relevant sind, sondern entwertet werden. Statt anzuer- Können Sie bitte erläutern, was Sie konkret an kennen, dass ein Kind vielleicht drei Sprachen spricht, den Deutschförderklassen bzw. MIKA-D-Tests ist das wesentliche Merkmal: es kann nicht Deutsch. problematisch finden? Es sind unseres Erachtens sehr segregierende Maßnah- men. Und da sind wir nicht alleine, es gab auch sehr Das Netzwerk SprachenRechte breite Kritik aus der Germanistik und der Sprachdidak- (www.sprachenrechte.at) ist ein tik. Es gibt viele Befunde dazu, dass eine Sprachförde- Zusammenschluss von Vertrete- rung am besten integrativ funktioniert. Es ist besser, rInnen verschiedener Fachdisziplinen (Sprachwis- SchülerInnen mit vielen Erstsprachen, inkl. Deutsch, senschaft und -didaktik, Germanistik, Rechtswis- zusammenzusetzen als jene, die noch kein bestimmtes senschaften, Politikwissenschaft, Dolmetschen Deutschniveau beherrschen, in Klassen zu gruppieren, etc.) und Institutionen (Universitäten, NGOs, wo sie dann nur die Lehrkraft als Sprachvorbild haben. Sprachkursanbieter, Interessensvertretungen etc.). Zu dieser problematischen Segregation kommt, dass den Es verfolgt das Ziel, einen regelmäßigen Informati- Kindern in den Deutschförderklassen die Möglichkeit zu onsaustausch zu pflegen, interdisziplinäre Projekte Bildung genommen wird, da sie ja nur Deutsch lernen zu verwirklichen und im öffentlichen Diskurs für und keinen Fachunterricht haben. Indem Deutsch über die Wahrung von Sprachenrechten einzutreten. Das alles gestellt wird, nimmt man diesen Kindern eigent- Netzwerk wurde 2003 als Reaktion auf das Inkraft- lich das Recht auf Bildung. Es gibt genug schockierte treten der Integrationsvereinbarung gegründet und Eltern, die nicht verstehen, dass ihre Kinder z.B. keinen widmet sich seither der Entwicklung von gemein- Mathematikunterricht haben. Wenn diese Kinder dann samen Positionen sowie der informativen Arbeit in nach einem Jahr den Deutschtest bestehen, sollen sie Form von Veranstaltungen. Als offenes, nicht als in die Regelklasse einsteigen, oder aber sie werden zu- Verein strukturiertes Netzwerk ermöglicht es allen rückversetzt – was beides schwierig ist. Und wenn wir Interessierten die Teilnahme. von Bildungssprache Deutsch reden: dazu gehört ja auch ein fachsprachliches Repertoire, das den Kindern in den Deutschförderklassen verwehrt wird. Wir sagen: Förde- Bleiben wir gleich bei der Bildungspolitik: das rung, ja bitte, unbedingt! Es funktioniert nicht, wenn Netzwerk SprachenRechte äußert sich immer wieder Kinder einfach nur in eine Klasse gesetzt werden und kritisch zu einschlägigen Maßnahmen, die der quasi „mitlaufen“. Es ist ja dem Bildungsministerium Förderung von Deutschkenntnissen von SchülerInnen auch hoch anzurechnen, dass Geld für Förderung in die mit Migrationshintergrund dienen sollen. Sind Hand genommen wird. Aber wir sind der Meinung, dass Deutschkenntnisse nicht essentiell für den Bildungs- Förderung integrativ viel besser funktionieren würde – erfolg und somit die Integration der SchülerInnen? wofür es auch Nachweise gibt. Wir als Netzwerk SprachenRechte stimmen natürlich Mehr Zeitaufwand als in die Förderung fließt auf Sei- dem Ziel des Erreichens von Deutsch als Bildungssprache ten der Lehrkräfte in die MIKA-D-Tests, die sehr umstrit- absolut zu. Manchmal wird unsere Kritik falsch verstan- ten sind: zum einen in Hinblick auf die Testkriterien, den, als ob wir gegen das Erlernen von Deutsch oder d.h. ob das, was abgeprüft wird, von Relevanz ist für die diesbezügliche Förderung wären. Selbstverständ- eine Aussage darüber, wie gut die Kinder Deutsch bzw. lich nicht! Selbstverständlich ist das Beherrschen von dem Unterricht auf Deutsch folgen können. Zum ande- 12 polis aktuell 5/2021
ren werden die Kinder einer Testsituation ausgesetzt, um sich schnell gegenseitig etwas zu erklären und sich die in der Form nicht notwendig wäre. Somit kommt zu zu helfen. Wenn man das unterbindet, nimmt man ih- unserer sprachenrechtlichen Kritik auch noch eine auf nen auch diese Lernmöglichkeit. linguistischer Ebene dazu: wenn schon testen, dann Es ist aber schwierig auf solche Empfehlungen zu re- nicht so. agieren. Zwar hat das Bildungsministerium die Unzuläs- Worin wir bei den Tests vor Schuleintritt schließlich sigkeit von Verboten klargestellt, aber die Empfehlun- eine Unrechtmäßigkeit sehen, ist, dass den Kindern mit gen bleiben eine Grauzone ohne offizielle Regelung. Oft nicht-ausreichenden Deutschkenntnissen die Schulreife hört man in diesem Zusammenhang den Begriff Schul- abgesprochen wird. Deutschkenntnisse sind kein Schul- sprache, den es im österreichischen Schulrecht gar nicht reifekriterium, die betreffenden Kinder sind weder kog- gibt. Wir haben die Unterrichtssprache Deutsch, was nitiv noch motorisch eingeschränkt. Daher meinen wir, nicht in Frage gestellt wird, aber die Sprache von Pau- dass dieses Vorgehen nicht korrekt ist. sen- und Freizeitkommunikation darf man grundsätzlich Ich möchte noch sagen: Eine Sprachstandsdiagnose nicht vorgeben. Oft sehen wir aber Verklausulierungen halte ich natürlich für sinnvoll. Es ist selbstverständlich in Schulhausordnungen, die vom Schulgemeinschafts- gescheit zu schauen, wo das betreffende Kind steht und ausschuss LehrerInnen, Eltern, SchülerInnen beschlos- welche Förderung es braucht, damit es möglichst gut sen werden. So können sich dann alle verpflichten, oft und schnell in die Schule integriert werden kann. Aber mit einer „wir“-Formulierung: „In der Pause sprechen einen standardisierten Test und die selektiven Deutsch- wir miteinander Deutsch.“ Sehr häufig hat das einen förderklassen halten wir nicht für den passenden Weg. wohlmeinenden Hintergrund mit besten Absichten und wird damit begründet, dass es für alle so wichtig sei und Zum Thema Deutschpflicht in der Schule: Das sie sonst gar nicht Deutsch reden würden. Es spricht Bildungsministerium hat bereits vor einigen ja gar nichts dagegen, Impulse für die Verwendung von Jahren klargestellt, dass das Verbot, in den Pausen Deutsch zu setzen, aber ein Verbot ist kein geeignetes andere Sprachen als Deutsch zu gebrauchen, nicht Mittel. Auch kann man meiner Meinung nach Ausschlüs- zulässig, weil es menschenrechtswidrig ist. Dennoch sen und Mobbingverhalten – was auch oft als Argument gibt es weiterhin entsprechende Empfehlungen kommt – mit Sprachverboten nicht adäquat begegnen. für die Pausenzeit an manchen Schulen. Wie sind Das passiert, würde ich behaupten, sonst eben auf diese zu beurteilen? Deutsch. Solche Empfehlungen haben etwas mit dem zuvor an- gesprochenen wachsenden Sprachnationalismus zu tun. Im österreichischen Schulwesen ist sprachliche Oft finden sie sich z.B. in Schulhausordnungen und wer- Bildung als übergreifendes Bildungsanliegen den als normal empfunden. Aber sie wirken natürlich definiert, das neben der Bildungssprache Deutsch in mehrfacher Hinsicht diskriminierend: Sie bringen auch auf Mehrsprachigkeit und muttersprachlichen wieder eine Schlechterstellung von anderen Sprachen. Unterricht abzielt; hinzu kommt das Unterrichts- SchülerInnen in den Pausen und somit ihrer Freizeit prinzip der interkulturellen Bildung. Was halten vorzuschreiben, welche Sprache sie für ihre privaten Sie für nötig, um diesen Vorgaben in der Schulpraxis Unterhaltungen untereinander verwenden dürfen, ist zur Durchsetzung zu verhelfen? wirklich dreist und bedeutet eine Degradierung ihrer Man muss sagen, dass viele Lehrkräfte bereits auf diese anderen Sprachen. Natürlich haben wir es da mit ganz Vorgaben eingehen und sie umsetzen. Für die Zukunft unterschiedlichen Abstufungen zu tun: in internatio- liegt natürlich ein ganz wichtiger Schlüssel in der Leh- nalen Schulen oder solchen, die einen Englisch-Zweig rerInnenaus- und -fortbildung: in Sensibilisierungs- haben, würden die SchülerInnen wahrscheinlich eher workshops wie auch konkreten Lehrveranstaltungen zu beklatscht, wenn sie in der Pause auch noch Englisch diesen übergeordneten Anliegen, am besten als integra- miteinander reden. Aber wenn sie in einer Schule im tiver Bestandteil der Ausbildungscurricula. Auch weit- 10. Bezirk miteinander Türkisch sprechen, werden sie greifende Sensibilisierungs- und Weiterbildungsmaß- gemaßregelt. Manchmal gibt es sogar Formen der Ahn- nahmen in den Schulen zu rassismuskritischer Arbeit dung, wenn eine andere Sprache als Deutsch verwendet und zu Selbstreflexion halte ich für wichtig. Außerdem wird. Das macht natürlich ganz viel mit den Kindern sollte die Schule insgesamt meiner Meinung nach bunter und ihrer Identität, wenn sie das Gefühl bekommen, und diverser werden: Es wäre schön, mehr mehrsprachi- sich der Familiensprachen schämen oder diese verste- ge LehrerInnen zu haben und auch den Anteil an Lehre- cken zu müssen. Außerdem dürfte es so sein, dass vieles rInnen mit Migrationsgeschichte zu steigern. dieser Pausenkommunikation Gespräche über den Un- terricht sind. Die Kinder verwenden andere Sprachen, polis aktuell 5/2021 13
Wie ist die derzeitige Situation in den Schulen unsere TeilnehmerInnen oft vor den Kopf. Sie sind dann in Sachen Muttersprachenunterricht (MSU)? schockiert über das Bild, das das offizielle Österreich Grundsätzlich gibt es nach wie vor ein sehr breites An- von ihnen hat, wenn es ihnen diese Lernunterlagen zur gebot für MSU. Aber ob er jeweils tatsächlich zustande Verfügung stellt. kommt, hängt natürlich auch immer von Mindestteil- Umgekehrt sind diese Prüfungen für Menschen, die nehmerInnenzahlen ab. Wenn Deutsch den Eltern als tatsächlich keine Schulen besucht haben, eine große das Allerwichtigste und einziger Schlüssel zum Bil- Hürde. Oft hat dies aber nichts mit ihrer realen Integra- dungserfolg präsentiert wird und der MSU ja oft auch ein tion zu tun: Viele dieser Menschen sind berufstätig, ha- Zusatzaufwand ist, kann es dazu kommen, dass Eltern ben hier Kinder großgezogen, schaffen aber die Prüfung befürchten, dass der MSU ihre Kinder im Deutscherwerb nicht. Hinzu kommt, dass das geforderte Niveau über hindert. So entscheiden sich dann wieder weniger Eltern die Jahre – ohne Evaluierungen – hinaufgesetzt wurde: für den MSU als in einer Zeit, in der auch in den Schulen 2003 war das erforderliche Niveau A1, jetzt ist es für den sehr offen kommuniziert wurde, wie wichtig die Erst- Daueraufenthalt B1. Das ist ein sehr großer Unterschied sprachen für den Bildungserfolg und die gemeinsame, in den geforderten Kenntnissen, wofür es von offizieller familiäre Identität sind. Insgesamt steht und fällt der Seite nie eine sachliche Begründung gab. MSU mit der Einstellung der Schulleitung, die wiederum vom gesellschaftlichen Diskurs – Deutsch über alles – Wie schätzen Sie die Auswirkungen der nicht unbeeinflusst ist. COVID-19-Pandemie auf die Umsetzung von Sprachenrechten ein? Kommen wir noch zur angesprochenen Integrations- Heikel und durchaus entlarvend finde ich, dass sämt- politik: Was sind Ihre Hauptkritikpunkte an den liche „Zwangsmaßnahmen“ – sowohl in der Schule als geltenden fremdenrechtlichen Regelungen? auch in der Erwachsenenbildung – in der COVID-Krise Der schwerwiegendste Kritikpunkt aus sprachenrecht- weitergegangen sind. Während Schularbeiten und Tests licher Perspektive ist das Koppeln der Aufenthaltsbe- ausgesetzt wurden und es den Aufruf zu milder Beur- willigung an das Bestehen einer Deutschprüfung. Wenn teilung gab, wurde die MIKA-D-Testung niemals aus- Drittstaatsangehörige innerhalb einer bestimmten Frist gesetzt. Es gab ja auch die Deutschförderklassen nicht die Deutschprüfung auf A2-Niveau nicht bestehen, kann wirklich, aber die Kinder wurden dennoch getestet. Das ihr Aufenthaltstitel nicht verlängert werden. Das heißt, hätte man anders handhaben können. von dieser Prüfung hängen Existenzen ab. Bei all den In der Erwachsenenbildung gab es zwar im ersten verpflichtenden Maßnahmen schwingt auch mit, dass Lockdown im Frühjahr 2020 eine Fristverlängerung für die Personen ohne die Verpflichtungen nicht Deutsch die Nachweise im Rahmen der Integrationsvereinbarung, lernen würden. Aber auch früher waren die Kurse immer aber sehr schnell auch wieder Prüfungsangebote, damit voll und wir hatten Wartelisten. Diese Unterstellung ist die Menschen dieser Pflicht nachkommen können. Mei- in meinen Augen daher falsch, schafft aber ein Bild, ner Meinung nach hätte man ja auch einfach die Pflicht das den öffentlichen Diskurs über MigrantInnen negativ aussetzen können. prägt. Daher verwende ich den Begriff „entlarvend“, weil – Wir kritisieren auch die sehr standardisierten Inhalte bei allem was im letzten Jahr möglich gemacht wurde und die starke Prüfungsorientierung. Es wäre empfeh- – in diesen Bereichen die Möglichkeiten nicht ausge- lenswert, mehr an den Bedürfnissen der Kursteilneh- schöpft wurden. Das führt mich wieder zur Einschätzung merInnen in Hinblick auf ihre Lebensrealitäten anset- zurück, dass es nicht um Unterstützung und Förderung zen zu können. Unsere Kritik bezieht sich außerdem auf beim Deutschlernen geht, sondern um Repression und die Koppelung von deutscher Sprache und Werteinhal- Druck. ten. Wenn man sich die Unterlagen zu den Werteschu- lungen ansieht, findet man einen sehr überheblichen Danke für das Gespräch! Blick auf die Menschen in den Kursen und auf das, was (Das Interview fand am 25. Februar 2021 statt.) sie zu lernen hätten. Ich finde es höchst problematisch, dass damit – und das sage ich nun bewusst provokant – den muslimischen einwandernden Menschen global unterstellt wird, sie könnten 1) nicht Deutsch, 2) nicht gescheit lesen und schreiben und bräuchten daher ein sehr niederschwelliges Kursangebot und wüssten 3) nicht, wie sie sich hier benehmen sollten. All das wird ihnen in einem Kurs sozusagen übergestülpt und stößt 14 polis aktuell 5/2021
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