Pro-Ana-Foren im Internet - Befragungsstudie ihrer Nutzerinnen
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Neue Medien und Psychotherapie Psychotherapeut 2011 Christiane Eichenberg · Andrea Flümann · Kristin Hensges DOI 10.1007/s00278-011-0861-0 Department Psychologie, Klinische Psychologie und © Springer-Verlag 2011 Psychotherapie, Universität zu Köln Pro-Ana-Foren im Internet Befragungsstudie ihrer Nutzerinnen Die Pro-Ana- und Pro-Mia-Bewegung leuten, die bei kritischen Inhalten mode- 2006/2007; Norris et al. 2006). Die ers- werden als ein Zusammenschluss rierend eingreifen können, miteinander ten Foren sind in den 1990er Jahren auf von Betroffenen in Internetforen be- kommunizieren. englischsprachigen Internetseiten ent- schrieben, die ihre Essstörung nicht Aus dem Bereich klinisch relevanter standen (Hans 2007). Im Jahr 2000 ka- nur nicht bekämpfen, sondern sich Probleme im Zusammenhang mit der In- men in US-amerikanischen Medien ers- für diese aussprechen und sie auf- ternetnutzung widmete man sich so den te Berichte über Pro-Ana auf (Bell 2007); rechterhalten wollen. Nach eingehen- Motiven und Auswirkungen der Nutzung in Deutschland wurden diese Foren mit der Recherche hat der deutsche Ju- bestimmter Onlinegruppen wie „Suizid- einer Verzögerung von ca. 5 Jahren be- gendschutz die Schließung zahlrei- foren“, „Saufforen“ oder „Ritzerseiten“ kannt (Fritzsche 2004). Als Bewegung, cher Pro-Ana-Foren veranlasst. Bis- (Eichenberg 2008; Helle 2009). In diesen die ihre Krankheit nicht überwinden, lang mangelt es jedoch an aussage- Kontext fallen auch bestimmte Typen von sondern kultivieren will, stößt Pro-Ana kräftigen Studien, die Pro-Ana-Fo- Onlineplattformen von und für Essgestör- schnell auf Unverständnis und Empö- ren hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit te, die „Pro-Ana“-Foren. Wird das gene- rung. Allein in Deutschland leiden über untersucht haben. Die vorliegende relle Potenzial des Internets zur Selbsthil- 100.000 Menschen, v. a. junge Frauen, an Studie hatte zum Ziel, spekulativen fe bei verschiedenen Störungen und Pro- Magersucht; von Bulimie betroffen sind Annahmen über Funktionen und Ef- blembereichen insgesamt positiv einge- sogar mehr als 600.000 (Zeeck 2008). Als fekte der Nutzung von Pro-Ana-Foren schätzt (Uden-Kraan 2010), so ist die Be- Hauptnutzende der Pro-Ana-Foren wer- empirische Ergebnisse gegenüberzu- urteilung dieser Selbsthilfeforen deutlich den entsprechend der bekannten Risiko- stellen. negativ. Alarmierend wird v. a. in Medi- faktoren von Essstörungen v. a. Mädchen enberichten auf die Gefahren hingewie- und junge Frauen beschrieben (Bundes- Hintergrund sen, die jedoch jenseits empirischer Evi- ministerium für Familie, Senioren, Frau- denzen spekulativ sind. en und Jugend 2009; Dolan 2003). Vor Das Internet stellt eine Fülle von Res- dem Hintergrund der hohen Mortalitäts- sourcen für Betroffene von Essstörun- Problematik der rate der Anorexie wird das Engagement gen bereit, die von reinen Informations- Pro-Ana-Bewegung in Pro-Ana-Foren nicht nur als Gefahr seiten (Eichenberg 2004) bis hin zu kom- für die Mitglieder selbst, sondern auch plexen internetbasierten E-Health-Pro- Pro-Ana steht für Pro Anorexia nervo- für Nichtbetroffene diskutiert (Bardone- grammen wie „overcoming bulimia“ (Ba- sa, Pro-Mia für Pro Bulimia nervosa.1 Die Cone u. Cass 2007; Tkins 2002). Überdies ra-Carril et al. 2004) reichen. Neben den Pro-Ana- und Pro-Mia-Bewegung wer- ist die Befürchtung zentral, dass durch die professionell betreuten Informationssei- den als ein Zusammenschluss von Betrof- Glorifizierung der Essstörung eine Auf- ten und Onlineberatungsangeboten exis- fenen in Internetforen beschrieben, die rechterhaltung der Krankheit bis zum Tod tieren reine Selbsthilfeplattformen von ihre Essstörung nicht nur nicht bekämp- führen könne (Fritzsche 2004). Betroffenen für Betroffene. Für eine Rei- fen, sondern sich für diese aussprechen he solcher Plattformen wurden in ersten und sie aufrechterhalten wollen (Bar- Eigenschaften der Studien positive Effekte empirisch belegt done-Cone u. Cass 2007; Jugendschutz Pro-Ana-Websites (Uden-Kraan 2010). In diesem Rahmen 1 Da sich Pro-Ana- und Pro-Mia-Foren nur in werden zunehmend „extreme commu- Die Mitglieder der Pro-Ana-Gemein- nities“ (Bell 2007) diskutiert, womit On- seltenen Fällen klar voneinander abgrenzen und schaft finden sich in Internetforen auf die Bezeichnung „Pro-Ana“ sowohl umgangs- linegruppen gemeint sind, in denen Be- sprachlich als auch in der Fachliteratur domi- selbstgestalteten Websites zusammen. Di- troffene zu sehr prekären Themen und niert, wird im Folgenden zusammenfassend die ese können hinsichtlich Ausrichtung und Problemen ohne Beteiligung von Fach- Bezeichnung Pro-Ana verwendet. Inhalten stark variieren (Brotsky u. Giles Psychotherapeut 2011 | 1
Neue Medien und Psychotherapie 2007; Lipczynska 2007). Eine „typische“ Wissenschaftliche Befunde Ebenfalls vergleichend gingen Wilson Pro-Ana-Seite ist in Pinktönen gehalten et al. (2006) sowie Harper et al. (2008) und mit kleinmädchenhaften Motiven ge- Insgesamt wurde die Diskussion über die in Befragungsstudien vor. Die Nutzer von staltet (Hans 2007). Oftmals wird auf der Gefahren (aber auch über einen poten- Pro-Ana-Seiten unterschieden sich hin- Startseite ein Hinweis integriert, der die ziellen Nutzen) von Pro-Ana in verschie- sichtlich der Schwere ihrer Krankheit Seite als Pro-Ana-Plattform ausweist und densten Fachbereichen angeregt, z. B. aus nicht von den übrigen Befragten, obgleich vor Inhalten mit potenziellem Trigger-Ef- feministischer (Dias 2003), rechtspsycho- ihre Krankheit länger andauerte (Wilson fekt warnt. Häufig wird um Verständnis logischer (Heubrock et al. 2007) und de- et al. 2006). Zu ähnlichen Ergebnissen ka- geworben und darum gebeten, von An- zidiert psychotherapeutischer Perspektive men Harper et al. (2008), die eine größe- feindungen abzusehen (Uca 2004). Cha- (Eichenberg u. Brähler 2007). re Unzufriedenheit mit dem Körper sowie rakteristische Inhalte von Pro-Ana-Seiten Zum jetzigen Zeitpunkt ist die For- ein in stärkerem Maß essgestörtes Verhal- sind zum einen Informationen über ver- schungslage zu den Motiven und Effekten ten bei denjenigen feststellen, die regelmä- schiedene Essstörungen, deren Sympto- der Nutzung von Pro-Ana-Foren spärlich. ßig Pro-Ana-Seiten besuchten. In diesen matologie und Verlauf (Csipke u. Home In ersten Studien wurden v. a. in qualita- Merkmalen unterschieden sich die Pro- 2007) sowie Informationen rund um das tiven Designs die Einstellungen der Nut- Ana-Mitglieder jedoch nicht von denjeni- Thema Ernährung, wie z. B. Kalorienta- zerinnen zu ihrer Erkrankungen erfasst. gen, die andere Selbsthilfeseiten besuch- bellen und Angaben über „sichere“ und So stellen beispielsweise Fox et al. (2005) ten. Allerdings zeigte die Studie von Stra- „unsichere“ Lebensmittel (Bader u. No- den medizinischen, psychosozialen, so- cke et al. (2008), dass Personen mit einer vak 2005). Zum anderen werden häu- ziokulturellen und feministischen Erklä- Essstörung, die sich zu Pro-Ana beken- fig Tipps und Tricks gegeben, die zu einer rungsmodellen der Essstörung ein Anti- nen, einen stärkeren Ausprägungsgrad Aufrechterhaltung des gestörten Essver- Recovery-Modell gegenüber. Andere Au- der psychischen Beeinträchtigung in Ver- haltens beitragen. Ein weiterer Bestand- toren fokussierten die Kommunikation in bindung mit einer geringeren Verände- teil sind „thinspirations“ z. B. in Form den Pro-Ana-Foren. Mithilfe einer phä- rungsbereitschaft aufwiesen als die Kon- von Fotos extrem schlanker Models, die nomenologischen Analyse verschiedener trollgruppe, die sich nicht zu Pro-Ana zu- dazu motivieren sollen, dünn zu sein (Fox „Pro-Ana-message-threads“ über einen gehörig zählt. Eine experimentelle Studie et al. 2005). Thinspirations können auch Zeitraum von mehreren Wochen iden- von Bardone-Cone u. Cass (2007) gab mithilfe von destruktiven Selbstinstruk- tifizierten Mulveen u. Hepworth (2006) Hinweise darauf, dass das bloße Betrach- tionen, Gedichten, Liedern oder Filmen folgende 4 Schwerpunkte der Kommuni- ten einer Pro-Ana-Seite auch bei Nicht- gegeben werden. Als wichtigstes Element kation: „(1) tipps and techniques; (2) ana essgestörten einen negativen Affekt, ver- aller Pro-Ana-Seiten gelten jedoch ih- vs. anorexia nervosa; (3) social support; ringertes Selbstwertgefühl und geringere re interaktiven Anwendungsbereiche (Fo- (4) need for anorexia“. Sie kamen zu dem Selbstwirksamkeit bezüglich des äußeren ren, Chats, „instant messaging“; Brotsky Schluss, dass die Teilnahme an Pro-Ana- Erscheinungsbilds hervorruft. u. Giles 2007). Foren aus verschiedenen Gründen erfol- Um Einblick in die Nutzungsmotiva- Insgesamt sind Pro-Ana-Seiten meist gen kann und daher nicht zwangsläufig tion und das Nutzungsverhalten zu er- so organisiert, dass zum inneren Bereich in einer Verstärkung der Essstörung mün- halten, wendeten sich Csipke u. Home der Website nur diejenigen Zugang ha- den muss. Manche Autoren wählten den (2007) in einer Onlinebefragungsstudie ben, die sich angemeldet und ein „Bewer- ethisch fragwürdigen Zugang zur Pro- direkt an die Mitglieder 4 englischspra- bungsverfahren“ durchlaufen haben, was Ana-Gemeinschaft, indem sie sich mit- chiger Pro-Ana-Foren. Als Hauptbefund nach Meinung mancher Autoren sekten- hilfe eines erdichteten Charakters in Pro- zeigte sich, dass sich die Nutzungsmo- artig anmutet (Kunz 2007). Der deutsche Ana-Foren einschleusten und so direkt tive zwischen den aktiven und den pas- Jugendschutz hat nach eingehender Re- mit ihren Mitgliedern in Kontakt traten siven Userinnen unterschieden: Während cherche 80% der untersuchten deutsch- (Brotsky u. Giles 2007). die passiven Teilnehmerinnen die Seiten sprachigen Internetseiten als problema- Eine weitere Herangehensweise in- zur Aufrechterhaltung gestörten Essver- tisch eingestuft und die Schließung zahl- nerhalb der inhaltsanalytischen Studi- haltens nutzten, suchten die Aktiven sie reicher Pro-Ana-Foren veranlasst (Ju- en bilden Untersuchungen, die Pro-Ana- überwiegend zur Gewinnung von emoti- gendschutz 2006/2007). Diese Maßnah- Plattformen mit „traditionellen“ Online- onaler Unterstützung auf. Die Ergebnisse men haben die Pro-Ana-Bewegung je- selbsthilfeangeboten und Seiten von pro- weisen darauf hin, dass die aktive Teilnah- doch nicht eindämmen können, sondern fessionellen Organisationen vergleichen. me positive Effekte auf die Krankheit ha- dazu geführt, dass die Administratoren Hauptbefunde sind, dass Pro-Ana-Sei- ben kann und v. a. die passiven „lurker“ ihre Seiten mit weniger offensichtlichen ten vergleichsweise zahlreicher und bes- Anlass zur Sorge geben. Namen auf andere Server verlegt haben ser organisiert sind (Chesley et al. 2003), So lassen sich auf der Grundlage der (Jacoby 2008). mehr therapiebezogene Informationen aktuellen Forschungssituation trotz der in liefern als erwartet und in gleichem Maß den Medien artikulierten Befürchtungen die Wirksamkeit der Behandlung von Ess- neben negativen Auswirkungen auch po- störungen betonen (Keller et al. 2009). sitive Effekte der Aktivität in Pro-Ana-Fo- ren feststellen. 2 | Psychotherapeut 2011
Zusammenfassung · Abstract Die dargestellten Ergebnisse zum Phä- Psychotherapeut 2011 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00278-011-0861-0 nomen Pro-Ana, die fast ausschließlich © Springer-Verlag 2011 im angloamerikanischen Raum gewon- Christiane Eichenberg · Andrea Flümann · Kristin Hensges nen wurden, zeigen weiteren Forschungs- Pro-Ana-Foren im Internet. Befragungsstudie ihrer Nutzerinnen bedarf auf. So ist z. B. die Beschreibung der Nutzerklientel bis jetzt vernachlässigt Zusammenfassung worden. Zudem sprechen die bisherigen Theoretischer Hintergrund. Die „Pro-Ana- Ergebnisse. Die Gesamtstichprobe weist Befunde für eine unterschiedliche Aus- Bewegung“ im Internet stößt auf viel Kritik. eine hohe psychische Belastung und starke richtung der Foren und für eine unein- Unter der Annahme, dass sich eine Mitglied- Ausprägung essgestörter Symptomatik auf. schaft gefährlich auf junge essgestörte Frau- Die Nutzerinnen von Pro-Ana-Foren stellen heitliche Pro-Ana-Philosophie, was not- en auswirkt, kommt es zu Schließungen von jedoch keine heterogene Gruppe dar. Mithilfe wendig macht, Teilnehmerinnen aus un- www-Seiten, die Essstörungen verherrlichen. einer Cluster-Analyse konnten 3 Nutzertypen terschiedlichen „pro-ana communities“ in Bislang mangelt es jedoch an aussagekräfti- identifiziert werden, die sich hinsichtlich der Befragungsstudien einzubeziehen. gen Studien, die Pro-Ana-Foren hinsichtlich Nutzungsmotive, des Alters sowie der Dauer ihrer Gefährlichkeit untersucht haben. der Mitgliedschaft und Essstörung voneinan- Fragestellungen Fragestellung. Wer nutzt Pro-Ana-Foren und der unterscheiden. aus welchen Motiven? Welche Auswirkungen Schlussfolgerung. Die öffentliche Kritik an hat die Forenmitgliedschaft auf den Wunsch diesen spezifischen Essstörungsplattformen Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, nach Gewichtsreduktion, Therapiebereit- ist nur bedingt gerechtfertigt, und ein pau- spekulativen Annahmen über Funktionen schaft und das psychische Wohlbefinden? schales Verbot auf der Grundlage der vorlie- und Effekte der Nutzung von Pro-Ana- Methode. Es beantworteten 220 adoles- genden Befunde ist kontraindiziert. Foren empirische Ergebnisse gegenüber- zente Nutzerinnen deutschsprachiger Pro- zustellen. Folgende offene Forschungsfra- Ana-Foren einen von den Autoren eigens Schlüsselwörter konstruierten Onlinefragebogen, einschließ- Essstörungen · Internet · Kommunikation · gen wurden aufgegriffen: lich des Brief Symptom Inventory (BSI) und Selbsthilfegruppen · Fragebogen 1. Welche soziodemografischen Merk- des Eating Attitudes Test (EAT-26). male besitzt die Nutzerklientel von Pro-Ana-Websites? 2. Welche Symptombelastung und The- Pro-ana communities on the Internet. Survey of users rapieerfahrung weisen die Teilnehme- Abstract rinnen auf? Background. Considering the powerful me- and a highly characteristic symptomatolo- 3. Welches Nutzungsverhalten lässt sich dia backlash and the assumption that pro- gy of eating disorders. The users of pro-ana identifizieren? ana is dangerous for young women with eat- communities do not demonstrate a het- 4. Welche Motive sind ausschlaggebend ing disorders many pro-ana websites that ex- erogeneous population. By the use of clus- für die Partizipation an solchen virtu- plicitly encourage extreme thinness and ad- ter analysis three user types could be iden- vocate anorexia as a lifestyle choice rath- tified which differed from each other with ellen Plattformen? er than an illness have closed down. Howev- respect to user motives, age and the dura- 5. Welche Effekte sind zu erwarten? er, there is a lack of meaningful studies which tion of the eating disorder and participa- 6. Lassen sich verschiedene Nutzertypen have investigated the pro-ana communities tion in the community. identifizieren? with respect to the real risk. Conclusion. The media backlash and criti- Aims. Who uses pro-ana communities and cism of these specific eating disorder com- Methode what are the reasons? What is the impact of munities appear to have only limited justifi- the community on the desire for weight re- cation and an overall prohibition is contra- duction, therapy willingness and mental indicated based on the results of the pres- Datenerhebung well-being? A total of 220 adolescent users of ent study. german-speaking pro-ana communities re- Um die aufgeführten Forschungsfra- sponded to a self-developed online question- Keywords gen zu klären, wurde eine Onlinebefra- naire including the brief symptom inventory Eating disorders · Internet · Communication · (BSI) and eating attitudes test (EAT-26). Self-help groups · Questionnaires gungsstudie durchgeführt. Bei der Befra- Results. The results showed that respon- gung der Mitglieder einer Gemeinschaft, dents have a high degree of mental stress die bisher ausschließlich als Internetge- meinschaft aufgetreten ist, bietet sich die- ser Befragungsmodus an. Zudem ermög- licht eine internetbasierte Befragung eine leichte Erreichbarkeit (ansonsten schwer zugänglicher) größerer Stichproben und ein hohes Maß an Anonymität. Aufgrund der negativen Berichterstattung und der re- sultierenden Schließung zahlreicher Pro- Ana-Seiten kann davon ausgegangen wer- den, dass gerade der Aspekt der Anony- Psychotherapeut 2011 | 3
Neue Medien und Psychotherapie mität entscheidend für die Bereitschaft zu verhalten und die Zufriedenheit mit dem schaft (z. B. bezüglich Einsamkeit) sowie einer Befragungsteilnahme ist. In der ein- eigenen Gewicht. das Ausmaß der Integration der Essstö- schlägigen Literatur zur Onlineforschung Da diagnostische Instrumente zur Er- rung und der Pro-Ana-Erfahrungen in (Reips 2010) werden empirisch abgesi- fassung der Essstörung nach Klassifika- das reale soziale Umfeld. cherte Empfehlungen zu Aufbau und Ge- tionskriterien der International Statis- staltung von webbasierten Fragebogen ge- tical Classification of Diseases and Re- Stichprobenbeschreibung geben, die allesamt in der in dieser Stu- lated Health Problems-10 (ICD-10) den die genutzten Befragungssoftware (http:// Umfang des Fragebogens in unzumutba- Die Onlinebefragung wurde Ende 2008 www.unipark.de) berücksichtigt sind. rer Weise erweitert hätten, wurde der Ea- über 5 Wochen durchgeführt. Die Erhe- Zur Rekrutierung der Nutzerinnen ting Attitudes Test-26 (EAT-26, Münster; bungsdaten sprechen für eine Teilnahme von Pro-Ana-Plattformen wurden zu- Meermann u. Vandereycken 1987) in den von Mitgliedern aus mindestens 64 Foren. nächst 94 deutschsprachige Pro-Ana-Fo- Fragebogen integriert. Der EAT-26 er- In die endgültige Stichprobe von 220 Be- ren identifiziert und die jeweiligen Web- fasst den Schweregrad essgestörter Ver- fragten gingen nur jene Teilnehmerinnen masterinnen mit der Bitte, den Aufruf zu haltensweisen und Gedanken mithilfe von ein, die mehr als zwei Drittel des Frage- der Onlinebefragungsstudie zu posten, 26 Items, die auf 3 Faktoren laden: Diät- bogens und mindestens eines der beiden angeschrieben. Der von den Autoren ei- verhalten, Bulimie und ständige gedank- standardisierten Instrumente (EAT-26 gens entwickelte Fragebogen wurde zu- liche Beschäftigung mit Nahrung sowie oder BSI) vollständig ausgefüllt hatten. nächst im Prätest auf Praktikabilität sowie orale Kontrolle. Verständnis geprüft (n = 14) und entspre- Soziodemografie chend der Rückmeldungen überarbeitet, Allgemeines psychopathologisches sodass in der vorliegenden Studie ein Fra- Profil. Zur Erfassung der allgemeinen Die Gesamtstichprobe von N = 220 setzte gebogen mit 99 Items zum Einsatz kam. psychopathologischen Merkmale wurde sich überwiegend aus adoleszenten Frau- Die Darbietung der Fragen wurde durch das Brief Symptom Inventory (BSI; Dero- en [97,7% weiblich; Alter: Mittelwert Filterführung auf das individuelle Ant- gatis u. Melisaratos 1983) in der deutschen (M)= 20,40 Jahre, Standardabweichung wortverhalten der Teilnehmerinnen zu- Version eingesetzt. Mit dem BSI wird die (SD) ± 4,34 Jahre] mit höherem Bildungs- geschnitten, sodass jeder Befragungsper- subjektiv empfundene Beeinträchtigung niveau zusammen. Die meisten Befragten son nur die für sie relevanten Items prä- durch 53 körperliche und psychische (87,7%) waren ≤ 25 Jahre alt. Daraus er- sentiert wurden. Das Befragungsinstru- Symptome bei einem Zeitfenster von gibt sich, dass drei Viertel der Teilneh- ment setzte sich insgesamt aus folgenden 7 Tagen auf 9 Skalen erfasst. Ermittelbar merinnen (77,4%) zurzeit der Befragung 6 Fragenblöcken zusammen: ist ebenso u. a. der Global Severity Index in Ausbildung waren und der höchs- F Soziodemografie, (GSI), der die grundsätzliche psychische te Schulabschluss dementsprechend war F Essverhalten, Belastung misst. Ein Proband gilt als psy- (88%: mindestens mittlere Reife). Gut die F allgemeines psychopathologisches chisch auffällig belastet, wenn der GSI ≥63 Hälfte der Befragungsteilnehmer lebte in Profil, ist oder wenn die T-Werte bei mindestens einer Partnerschaft (51,4%). F Nutzung von Pro-Ana-Seiten, 2 Skalen ≥63 sind. F Psychotherapie sowie Ergebnisse F psychosoziale Integration und Verän- Nutzung von Pro-Ana-Seiten. Erhoben derungen. wurde u. a., wie die Teilnehmerinnen auf Symptombelastung Pro-Ana aufmerksam geworden waren Soziodemografie. Erhoben wurden u. a. und seit wann sie mit welcher Häufigkeit Selbstauskunft zum Vorliegen Geschlecht, Alter, bislang erreichter Bil- aufgrund welcher Motive ein oder mehre- einer Essstörung dungsabschluss, berufliche Tätigkeit und re Pro-Ana-Foren besuchen. Die generelle Fast alle Befragten (91,7%) gaben an, an Beziehungsstatus. Einstellung zu Pro-Ana wurde erfragt. einer Essstörung zu leiden. Auf die Frage nach der Art der Essstörung konnten die Essverhalten. Die Teilnehmerinnen wur- Psychotherapie. Erfasst wurden mög- Betroffenen offen antworten (. Abb. 1). den gebeten, ihre Körpergröße und ihr liche Psychotherapieerfahrungen (aktu- Von denjenigen, die das Vorliegen einer aktuelles Körpergewicht zu nennen. Zu- elle, vergangene, Art und Dauer, Erfolge, Essstörung mitteilten, gaben 34,5% an, seit dem wurden sie nach dem Vorliegen, der Gründe bei evtl. Abbrüchen) sowie die mehr als 6 Jahren darunter zu leiden; es Art und dem Andauern einer Essstörung Einstellungen zu einer Therapie und mög- berichteten 51,0% der Teilnehmerinnen gefragt. Das jeweils höchste und niedrigs- lichen diesbezüglichen Einstellungsände- von einer Dauer zwischen 2 und 6 Jah- te Körpergewicht sowie die Zufriedenheit rungen seit der Pro-Ana-Mitgliedschaft. ren. mit dem aktuellen Gewicht bzw. das Be- Über die Selbstangaben des Körperge- dürfnis nach Gewichtsreduktion wurden Psychosoziale Integration und Verände- wichts und der Körpergröße wurde der ebenso erfasst wie direkte Auswirkungen rungen. Erhoben wurden die subjektiven Body-Mass-Index (BMI) ermittelt und da- des Pro-Ana-Foren-Besuchs auf das Ess- Einschätzungen nach psychosozialen Ver- mit, ob das Körpergewicht unter dem er- änderungen durch die Pro-Ana-Mitglied- warteten Gewicht liegt und damit ein Kri- 4 | Psychotherapeut 2011
50,0% terium für eine Essstörung nach ICD-10 erfüllt ist. Betroffene, die einen Wert von 40,0% ≤17,5 kg/m2 erreichen, erfüllen ein Krite- 44,6% rium für Anorexia nervosa. Dies war bei über einem Viertel (28,6%) der Pro-Ana- 30,0% Teilnehmerinnen der Fall. Als unterge- wichtig gelten nach der World Health Or- 20,0% ganization (WHO) Personen, die einen BMI
Neue Medien und Psychotherapie Tab. 1 Motive zur Teilnahme an Pro-Ana-Foren auf einer 5-stufigen Rating-Skala Selbsthilfegruppe, die dabei unterstützt, (N = 219–220) eine Essstörung zu überwinden. Pro-Ana Ich nutze das Forum, … Mittel- Standardab- als Lifestyle (8,6%) oder als ein Hobby wert (M) weichung (SD) (0,5%) erlebten insgesamt weniger als ein um Menschen mit ähnlichen Problemen und Gedanken kennenzu- 3,86 0,51 Zehntel der Befragten. Der Wunsch nach lernen Aufrechterhaltung der Essstörung wurde weil mich sonst niemand versteht 3,40 0,87 von den Befragten am häufigsten durch um meine Probleme, die zur Essstörung geführt haben oder dazu bei- 3,17 1,06 Aspekte des Krankheitsgewinns begrün- tragen, mitteilen zu können det, gefolgt von Angaben, die als erfolg- um andere bei Problemen zu unterstützen, die zu ihren Essstörungen 3,10 1,19 lose Überwindungsversuche zusammen- geführt haben oder dazu beitragen gefasst werden konnten. Die häufig der weil mich die anderen motivieren, beim Erreichen meines Wunschge- 2,67 1,22 Pro-Ana-Bewegung zugeschriebene Ein- wichts durchzuhalten stellung, die Magersucht bis in den Tod um Tipps zu bekommen, wie ich am besten abnehmen kann 2,29 1,37 aufrechterhalten zu wollen („Ana till the um andere beim Erreichen ihres Wunschgewichts zu unterstützen 2,26 1,25 end“, ATTE), wurde von der absoluten um jemanden zu finden, mit dem ich gemeinsam abnehmen kann 2,20 1,26 Mehrheit (70,3%) der Befragten stark ab- um anderen zu helfen, die Essstörung zu überwinden 1,94 1,23 gelehnt. Ein wenig oder voll und ganz teil- um mich beim Abnehmen mit anderen vergleichen/messen zu können 1,93 1,34 ten 5,0% diese Einstellung. um andere vor den Gefahren einer Essstörung zu warnen 1,86 1,31 um Informationen über Anorexie/Bulimie zu bekommen 1,84 1,38 Auswirkungen der um anderen Tipps zu geben, wie sie besser abnehmen können 1,54 1,21 Pro-Ana-Nutzung um ein Mitglied der Pro-Ana-/Mia-Gemeinschaft zu sein 1,54 1,52 um Informationen zu bekommen, wie ich professionelle Hilfe zur Über- 1,22 1,13 Die Auswirkungen der Teilnahme an Pro- windung der Essstörung finde Ana Foren wurde auf körperlicher Ebene aus Neugier 0,74 1,15 in Bezug auf Essverhalten und potenzielle um meine Essstörung loszuwerden 0,73 0,93 Gewichtsveränderung während des Zeit- um andere für Pro-Ana/-Mia zu begeistern 0,19 0,69 raums der Nutzung sowie hinsichtlich 0 trifft gar nicht zu bis 4 trifft vollkommen zu. psychischer, sozialer und kognitiver As- pekte erfasst. Dem Motiv, „um Menschen mit ähn- reduktion zu helfen, verbunden sind. Fak- lichen Problemen und Gedanken ken- tor 2 wurde mit Überwindung der Ess- Gewichtsreduktion während nenzulernen“, wurde am stärksten zuge- störung bezeichnet, da hier solche Nut- der Pro-Ana-Nutzung stimmt, gefolgt von Motiven wie „weil zungsmotive, die mit der Überwindung Neben dem aktuellen Körpergewicht zum mich sonst niemand versteht“. Auch das der eigenen Essstörung einhergehen, so- Befragungszeitpunkt wurden die Teilneh- Nutzungsmotiv, „um andere bei Proble- wie der Motivation, anderen dabei zu hel- merinnen gebeten, das Körpergewicht men zu unterstützen …“, fand starke Be- fen, hochladen. Auf einem dritten Fak- zum Zeitpunkt des ersten Besuchs von stätigung – allesamt Motive, die für den tor („emotionale Unterstützung“) laden Pro-Ana-Seiten zu erinnern. Diese Anga- Umgang mit Essstörungen konstruk- jene Motive hoch, die mit sozialem Aus- be diente zur Berechnung eines weiteren tiv sind. Allerdings fanden andere Moti- tausch und bei Problemen, Unterstützung BMI-Werts. Es zeigte sich eine signifikante ve mit Heilungspotenzial nur sehr gerin- zu erhalten, aber auch zu geben, verbun- Reduktion des BMI von M = 21,09 kg/m2 ge Zustimmung wie z. B. „um meine Ess- den sind. Faktor 4 wird durch Motive der (SD ±4,28 kg/m2) vom Zeitpunkt „vor der störung loszuwerden“ oder um Informa- Informationssuche und Neugierde be- Nutzung“ von Pro-Ana auf M = 19,40 kg/ tionen über Psychotherapie zu erhalten. stimmt. Zudem lädt das Nutzungsmotiv m2 (SD ± 3,41 kg/m2) zum Zeitpunkt Mit einer Faktorenanalyse (Haupt- „um ein Mitglied der Pro-Ana/-Mia-Ge- der Erhebung mit einer Effektstärke von komponentenanalyse) über die Moti- meinschaft zu sein“ auf diesem Faktor mit d = 0,42 [t(204) = 7,28; p < 0,05]. Dem- ve zur Teilnahme an Pro-Ana-Foren lie- 0,54. Daher wurde für diesen Faktor die nach hat sich bei der Gesamtstichpro- ßen sich 4 orthogonale Faktoren (mit Bezeichnung Interesse gewählt. be das Körpergewicht seit der Nutzung Eigenwerten > 1, Kaiser-Guttmann-Kri- von Pro-Ana-Foren deutlich verringert. terium) extrahieren – Gewichtsreduktion, Einstellungen bzüglich Pro-Ana Bis auf die Gruppe mit Bulimia nervo- Überwindung der Essstörung, emotionale sa und „Binge-eating“-Störung wiesen Unterstützung, Interesse – die 56,48% der Nach dem subjektiven Verständnis von alle Essstörungstypen eine signifikan- Gesamtvarianz aufklärten. Auf dem Fak- Pro-Ana befragt, gaben die meisten Teil- te Gewichtsreduktion auf; bei den An- tor „Gewichtsreduktion“ luden jene Nut- nehmerinnen an, Pro-Ana sei für sie eine orektikerinnen war diese erwartungsge- zungsmotive hoch, die mit dem Wunsch Selbsthilfegruppe, die das Ziel verfolgt, mäß am ausgeprägtesten [BMI-Erstbe- nach eigener Gewichtsreduktion oder mit einer Essstörung zu leben (85,5%). such: M = 19,33 kg/m2, SD ±2,68 kg/m2; dem Wunsch, anderen bei der Gewichts- Lediglich 14,5% sahen in Pro-Ana eine BMI-Befragungszeitpunkt: M = 17,76 kg/ 6 | Psychotherapeut 2011
m2, SD ±2,03 kg/m2, d = 0,66, t(82) = 5,77; und Clusterzentren-Analyse zur Zuord- der Nutzung von Pro-Ana am wenigs- p < 0,001]. nung der Fälle zu den Clustern; es wurde ten an Gewicht [F(2, 202) = 5,36, p < 0,05; nach 8 Iterationen eine optimale Zuord- post hoc (Scheffé): mittlere Differenz zu Essverhalten nung erreicht). Typ 2 = 1,45, p < 0,05; mittlere Differenz zu Als direkte Auswirkungen der Forennut- Im ersten Cluster (Typ 1) waren 82, im Typ 3 = 1,49, p < 0,05]. zung beschrieben die Befragten in star- zweiten Cluster (Typ 2) 49 und im dritten kem Maß den Einsatz gewichtsreduzie- Cluster (Typ 3) 89 Fälle. In einer „analy- Typ 2. Dieser Typ (n = 49; 22,3%) be- render Maßnahmen. So gaben 50,7% der sis of variance“ (Anova) über die gemit- schreibt eine Nutzerin, die in der Motiv- Befragten an, nach dem Besuch von Pro- telten Items, die jeweils auf den betref- lage in starkem Maß auf der Suche nach Ana-Seiten weniger zu essen. Es berichte- fenden Faktor hochladen, unterschieden emotionaler Unterstützung ist und die- ten 41,5% von verstärkten sportlichen Ak- sich die 3 Typen in ihren Motiven sowohl se auch anderen Nutzerinnen zukommen tivitäten. Allerdings stellte fast ein Drittel hinsichtlich des Faktors Gewichtsredukti- lassen möchte. Ebenso wie von Typ 1 wird (29%) keine Effekte auf das persönliche on [F(2, 203) = 132,95; p < 0,001] als auch die eigene Überwindung der Essstörung Essverhalten fest. bezüglich des Faktors Überwindung der oder die Unterstützung bei der Überwin- Essstörung [F(2, 203) = 30,47; p
Neue Medien und Psychotherapie p < 0,001, Typ 2 zu 3]. Gerade diejenigen, fast alle (meist anorektischen) Teilneh- Pro-Ana-Foren auf die Teilnehmenden die keine Psychotherapieerfahrung haben, merinnen den Wunsch abzunehmen; de muss kritisch reflektiert werden, denn waren am wenigsten überzeugt, dass The- facto hatten sie laut Selbstangabe im Nut- methodische Aspekte schränken die Aus- rapie hilfreich sein kann. zungszeitraum von Pro-Ana auch weiter- sagekraft der Studienergebnisse ein. An hin an Gewicht verloren. Natürlich kann erster Stelle sind hier Probleme der Selbst- Diskussion vom Rückgang des Gewichts nicht auf ei- selektion bei Onlinebefragungen zu disku- ne Wirkung der Teilnahme an Pro-Ana tieren. Dass die Befunde nur für Internet- Interpretation der Ergebnisse geschlossen werden. Die Befundlage legt nutzer gelten, ist insofern zu vernachlässi- aber die Überprüfung einer solchen Ver- gen, als dass es sich bei der Pro-Ana-Be- Hinsichtlich der als problematisch einge- mutung nahe. Subjektiv wurde von den wegung von vornherein um eine Populati- stuften Selbsthilfeforen gibt die aktuelle meisten Befragten die Gewichtsredukti- on handelt, die im Internet auftritt. Aller- Studienlage keinen pauschalen Anlass on zumindest teilweise auf die Pro-Ana- dings kann nicht ausgeschlossen werden, dazu, Suizid- oder Pro-Ana-Foren ge- Mitgliedschaft zurückgeführt. Ebenso be- dass Selbstselektionsprozesse hinsichtlich setzlich verbieten zu müssen. Die darge- schrieb die Hälfte der Befragten als direkte der Bereitschaft, an der Befragung teil- stellten Befunde lassen vielmehr in Über- Auswirkungen der Forennutzung den zunehmen, wirken. So könnte sein, dass einstimmung mit einigen anderen Unter- Einsatz gewichtsreduzierender Maßnah- sich besonders die Teilnehmerinnen von suchungen (Brotsky u. Giles 2007; Ches- men. Allerdings stellte fast ein Drittel kei- der Befragung angesprochen fühlen, die ley et al. 2003) insgesamt auf einen diffe- ne Effekte auf das persönliche Essverhal- verstärkt darum bemüht sind, das nega- renziellen Einfluss der Pro-Ana-Foren auf ten fest. Hier wäre wünschenswert, empi- tive Bild von Pro-Ana zu relativieren. Ei- ihre Nutzerinnen schließen. Je nach Nut- risch der Frage nachzugehen, ob diejeni- ner einseitigen Stichprobenzusammenset- zermotivation können die Betroffenen so- gen, die nach dem Besuch von Pro-Ana- zung steht jedoch entgegen, dass ein nen- wohl Vor- als auch Nachteile aus der Fo- Seiten ein restriktiveres Essverhalten auf- nenswerter Anteil von Nutzerinnen die renteilnahme ziehen. Die durch Medien wiesen, schwerwiegendere Essstörungen als problematisch eingestuften Aspekte verbreitete Meinung, dass „Pro-Ana“ aus- haben als diejenigen ohne diese beschrie- der Pro-Ana-Bewegung eben doch bestä- schließlich destruktive Einflüsse aufweist, bene Auswirkung der Forenteilnahme. tigen wie z. B. den Wunsch, hier Gleich- konnte in dieser Studie demnach nicht Insgesamt belegen die vorliegenden gesinnte zur gemeinsamen weiteren Ge- bestätigt werden. So wurde die häufig der Befunde, dass Pro-Ana-Nutzerinnen kei- wichtsreduktion zu finden. Pro-Ana-Bewegung zugeschriebene Ein- ne homogene Gruppe darstellen. Es ließen Um generell die inhaltliche Reich- stellung, die Magersucht bis in den Tod sich 3 Nutzertypen identifizieren, die – in weite der Ergebnisse zu vergrößern, wä- aufrechterhalten zu wollen („Ana till the Abhängigkeit verschiedener Aspekte – aus ren eine repräsentativ angelegte Offline- end“), z. B. von der absoluten Mehrheit verschiedenen Motiven Pro-Ana-Platt- studie sowie ergänzende Befunde durch der Befragten stark abgelehnt. formen für sich nutzen. Dabei konnten z. B. Angehörige und Behandler wün- Auch erlebten nur weniger als ein gut 40% der Befragten dem „krankheits- schenswert, u. a. um die Selbsteinschät- Zehntel der Befragten Pro-Ana als Life- aufrechterhaltenden Nutzertyp“ zugeord- zungen hinsichtlich der essgestörten Pro- style oder als ein Hobby. Vielmehr zeigten net werden, der durch besorgniserregende blematik zu validieren. Die ergänzenden sich gegen die Annahmen vieler kritischer Nutzermotive gekennzeichnet ist. In die- Perspektiven entsprächen dann dem in Stimmen auch positive Zusammenhänge sem Zusammenhang gilt es weiterhin zu der Psychotherapieforschung gängigen mit der Forennutzung, so z. B. die Reduk- erforschen, welche Nutzertypen in wel- Dreiparteienmodell nach Strupp u. Had- tion von Einsamkeitsgefühlen oder sogar chen Krankheitsstadien vorrangig durch ley (1977). eine teilweise erhöhte Bereitschaft, Psy- Pro-Ana angesprochen werden und in- Zum jetzigen Zeitpunkt kann trotz chotherapie in Anspruch nehmen zu wol- wieweit die Teilnahme die bereits existie- der methodischen Einschränkungen je- len. Gleichzeitig wurde aber auch deut- renden Krankheitsmuster verstärkt, auf- doch von belastbaren Ergebnissen aus- lich, dass Pro-Ana eine Untergruppe der- rechterhält oder gar zur Entwicklung ei- gegangen und die Aussagen der Betrof- jenigen anzuziehen scheint, die Therapien ner schwereren Essproblematik beiträgt. fenen können als verlässliche Informa- abgebrochen haben und diesbezüglich ne- Ebenso muss die Frage geklärt werden, tionsquelle betrachtet werden, denn ins- gative Erfahrungen berichteten. Demnach welchen Einfluss die Rezeption von Pro- gesamt stehen die Befunde im Einklang könnten Pro-Ana-Foren als der Versuch Ana durch nicht von Essstörungen Be- mit weiteren Studien zu Pro-Ana (Csip- einer Entlastung besonders verzweifelter troffenen auf das eigene Körperbild und ke u. Home 2007; Keller et al. 2009) und Betroffener verstanden werden. Schlankheitsideale sowie auf die Perzep- auch anderen „extreme communities“ Somit dürfen die Schattenseiten der tion essgestörter Menschen in der Öffent- (z. B. sog. Suizidforen; Eichenberg 2008; Pro-Ana-Teilnahme nicht übersehen lichkeit generell hat. Winkel 2005). werden. Entsprechende Foren werden von jungen Frauen intensiv genutzt, die Methodenkritische Überlegungen (überwiegend chronifiziert) essgestört und psychisch hochgradig belastet sind. Die z. T. entlastende Befundlage zu den Zum Zeitpunkt der Befragung hatten negativen Einflüssen der Nutzung von 8 | Psychotherapeut 2011
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