"Race": Warum alte Begriffe keine neuen Perspektiven haben
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems "Race": Warum alte Begriffe keine Homepage: neuen Perspektiven haben www.kup.at/ Heinz A, Müller DF, Kluge U JNeurolNeurochirPsychiatr Journal für Neurologie Online-Datenbank mit Autoren- Neurochirurgie und Psychiatrie und Stichwortsuche 2011; 12 (2), 168-174 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs „Race“: Warum alte Begriffe keine neuen Perspektiven haben A. Heinz, D. J. Müller, U. Kluge Kurzfassung: Anhand von historischen und ak- getragen haben, welche soziale und ökonomi- native account of population differences that is tuellen Debatten und Diskursen werden Kom- sche Unterschiede zu rechtfertigen suchten. Re- based on clinical, i. e. gradual variations among plexität und Kontext der Entwicklung des „Ras- duktionistischen Sichtweisen wird ein Blick auf human populations rather than categorical dif- se“-Begriffs und seine Verwendung in Wissen- die Variabilität der Menschen entgegengesetzt. ferences as implied in the „race“ construct. We schaft und Gesellschaft dargestellt. Es werden provide a critical perspective on reductionist wissenschaftliche Argumentationslinien und die Schlüsselwörter: „Rasse“-Begriff, Stereo- theses about human differences, which have damit verbundene Stereotypenbildung diskutiert type, genetische Varianzen, Erklärungsmodelle contributed during the past century and in some und in ihrer wissenschaftlichen und praktischen contemporary discourses to inappropriate and Relevanz hinterfragt. Abstract: “Race” – Why Old Terms Have No discriminating classifications of „human races“. Ein Einblick in Modelle menschlicher Popula- New Perspectives. On the basis of historical We show how reductionist accounts of human tionen und ihrer Wanderungsbewegungen bil- and contemporary arguments and discourses, variability can be abused to justify social and det den Anknüpfungspunkt für Erklärungs- we discuss the development and context of the economic differences and discuss an alternative modelle biologischer Varianzen, Gemeinsamkei- „race“ concept and its utilisation in science and view based on anthropological and genetic stud- ten und Unterschiede zwischen den Menschen. society. The scientific lines of reasoning and theies, which emphasize the diversity and variabil- Dadurch wird eine Kritik an reduktionistischen associated stereotypes are discussed and scru- ity of human populations. J Neurol Neurochir Thesen ermöglicht, die in den vergangenen tinised with respect to their scientific, clinicalPsychiatr 2011; 12 (2): 168–74. Jahrhunderten (und in einigen zeitgenössischen and social relevance. Diskursen) zu sachfremden und diskriminieren- An short overview over migrational move- Key words: “race”-concept, stereotypes, ge- den Einteilungen nach „Menschenrassen“ bei- ments of human populations provides an alter- netic variation, explanatory model Einleitung rung wesentlicher Enzyme unterscheiden, wie beispielsweise für den Arzneimittelabbau belegt wurde? Einer solchen Auf- In den vergangenen Jahren erlebte der Rassebegriff eine Art fassung steht nun aber entgegen, dass beispielsweise die Ver- Renaissance. Allerdings erscheint er meist in angelsächsi- einigung der amerikanischen Anthropologen, die „Associa- scher Form („race“), beispielsweise in Arbeiten zu Genetik tion of American Physical Anthropologists“, in ihrem „State- und Neurobiologie, wenn Unterschiede in der genetischen ment on biological aspects of race“ 1996 die Verwendung die- Variation in verschiedenen Populationen bezeichnet werden ses Begriffs klar abgelehnt hat, da er wissenschaftlich nicht sollen. Viele Journale verlangen direkt die Spezifikation der mehr haltbar sei [1]. Livingston publizierte bereits 1962 seine „rassischen“ Herkunft der Studienteilnehmer: Handelt es sich richtungweisenden Arbeiten zur Unhaltbarkeit des Rasse- um „Hispanics“, „African Americans“ oder „Caucasians“? begriffs [2], und auch Genetiker wie Cavalli-Sforza [3] kriti- Auch der weltweit größte Kongress der Neurowissenschaft- sierten diesen Begriff als untauglich und politisch stigmatisie- ler, die jährliche Tagung der „Society for Neuroscience“, er- rend. Wie kann das sein, welche genetischen Varianzen gibt fragte vor einigen Jahren die „race“ ihrer Kongressteilneh- es beim Menschen zu unterscheiden und wie verteilen sich mer. Hintergrund war kein verspäteter Versuch, Klassifikatio- diese auf unterschiedliche Populationen? nen aus dem Apartheid-System in den USA einzuführen, son- dern vielmehr die ehrenwerte Absicht der speziellen Förde- Der vorliegende Essay gibt einen kurzen Überblick über die rung von Minderheiten – unter Neurowissenschaftlern, Pro- Entstehungsgeschichte des Begriffs, die evolutionären fessoren wie Studenten, sind Menschen mit europäischem Grundlagen menschlicher genetischer Variabilität und die und asiatischem Hintergrund häufiger repräsentiert als Men- sich daraus ergebenden Folgerungen für den Gebrauch des schen aus spanischsprachigen Ländern („Hispanics“) oder Begriffs selbst. Afroamerikaner. Politische Korrektheit und Neurobiologie scheinen also eine Verwendung des Rassebegriffs nahezu- Die historische Entstehung des Begriffs legen. Und ist es denn nicht unmittelbar evident, dass sich Menschen in Bezug auf Körpergröße, Haut- und Haarfarbe „Rasse“ oder Ähnliches vermeintlich leicht in augenfällige Typolo- Ursprünglich wird mit dem Begriff der Rasse eine individu- gien einteilen lassen? Und müssten sich dann die unterschied- elle Abstammungslinie beschrieben. Demgegenüber wurde lichen Rassen nicht auch in Bezug auf die genetische Kodie- im 19. Jahrhundert zunehmend die nationale Eigenheit unter- schiedlicher europäischer Völker betont und ein Konzept der kategorialen Unterschiede verschiedener Menschenrassen entwickelt. Bereits in der Bibel wurden unterschiedliche Eingelangt am 29. März 2010; angenommen am 17. Mai 2010 Populationen auf die 3 Söhne Noahs zurückgeführt, wobei Aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité-Mitte, Berlin, Deutschland Japhet als Stammvater der Europäer, Sem als jener der Semi- Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Andreas Heinz, Klinik für Psychiatrie und ten und Ham als Stammvater der (Nord-) Afrikaner gesehen Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité-Mitte (CCM), wurde. Da Ham das Geschlecht seines betrunkenen Vaters D-10117 Berlin, Charitéplatz 1; E-Mail: andreas.heinz@charite.de Noah erblickte, wurde angenommen, dass dieses Missge- 168 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs schick ihn und seine Nachkommen gegenüber den anderen der transatlantischen Sklaverei entwickelt wurden, geht die Söhnen Noahs zur Sklaverei verdamme. Europäische Bilder Entstehungstheorie unserer modernen Art „Homo sapiens von Afrikanern, die vor dem eigentlichen Beginn der trans- sapiens“, die vor etwa 200.000–160.000 Jahren in Afrika ent- atlantischen Sklaverei in den amerikanischen Kolonien ent- stand, davon aus, dass sich die Menschheit von dort aus über standen, beispielsweise von Albrecht Dürer, sind in der Regel Wanderungsbewegung nach Europa, Asien und Amerika aus- jedoch weder abwertend noch karikaturenhaft vergröbert. gebreitet hat. Erst die entmenschlichende Behandlung afrikanischer Skla- ven, von der Erzeugung eines permanenten Kriegszustands in Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die erste westafrikanischen Regionen über das Massensterben an Bord menschliche Population, welche in Afrika ansässig war, durch der Sklavenschiffe bis hin zur erzwungenen Arbeit in den hohe genetische Varianz gekennzeichnet ist, da diese Popula- Kolonien, führte zu einer systematischen Entwertung afrika- tion die älteste ist, und die genetische Varianz in einer Popula- nischer Menschen, welche sich von da ab auch in den bild- tion im Laufe der Zeit von Generation zu Generation zu- lichen Darstellungen wie in den „Rassevorurteilen“ findet. nimmt. Genetische Forschung zeigte nun, dass im Rahmen von Wanderungsbewegungen relativ begrenzte Personenzah- Der deutsche Anthropologe Blumenbach [4] betonte aller- len (zuerst in den Vorderen Orient, dann nach Europa und dings bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts, dass sich nur „sehr Asien und von dort aus bis nach Amerika) nur bestimmte willkürliche Gränzen“ zwischen den „Rassen“ feststellen las- Anteile der ursprünglich in Afrika vorhandenen genetischen sen, und lehnte den zeitgenössischen Versuch ab, die „Neger“ Varianz mitgenommen haben: So wird beispielsweise bei der näher an das Tierreich heranzustellen als andere Menschen- Analyse der Konstitution des CD4-Gens deutlich, dass Allele gruppen. Blumenbach prägte auch den Begriff der „Kauka- (d. h. alternative Formen der Gene bzw. alternative Gen- sier“ zur Bezeichnung europäischer Völker [5]. Dieser Be- abschnitte, welche denselben Locus im Chromosom einneh- griff entstand allerdings nicht, wie man vermuten könnte, auf- men) in Afrika südlich der Sahara in vielen verschiedenen grund einer Fehllokalisation des ursprünglichen Siedlungs- Kombinationen (Haplotypen) vorliegen, während bereits in raums der indoeuropäischen Sprachfamilie in kaukasusnahen Nordafrika deutlich weniger genetische Varianz in den Popu- Regionen. Vielmehr ging Blumenbach davon aus, dass die lationen vorzufinden ist. Bei der weiteren späteren Wande- Menschwerdung selbst in der Nähe des Kaukasus stattgefun- rung von Europa nach Asien ist die genetische Varianz gerin- den habe und dass sich die Europäer bzw. „Kaukasier“ gegen- ger, da diese Populationen jünger sind und weniger Zeit für über den ursprünglichen Menschen am wenigsten degenerativ die Entstehung von genetischen Varianten blieb. So finden verändert hätten, während die „Äthiopier“ bzw. die „mongoli- sich beispielsweise in Europa nur noch 3 unterschiedliche sche Rasse“ deutlichere Degenerationserscheinungen aufwei- Kombinationen (Haplotypen), während sich in Asien und sen sollten. Blumenbach ging hier wie viele seiner Nachfolger Amerika sogar nur noch 2 Haplotypen mit einigermaßen gro- ganz fraglos von europäischen Schönheitsidealen aus und ßer Häufigkeit nachweisen lassen, wie die Abbildungen 1 und wertete die relative Abweichung vom europäischen Aussehen 2 zeigen. als Kennzeichen der Hässlichkeit bzw. Degeneration. Dies weist darauf hin, dass sich die höchste genetische Vari- Rassenkonzepte gewannen im 19. Jahrhundert einen besonde- anz eben bei Menschen südlich der Sahara in einer Region fin- ren gesellschaftlichen Widerhall, da sie mit der Annahme ver- den lässt, wo die ursprüngliche Entstehung der menschlichen bunden wurden, dass die Menschwerdung unabhängig von- Art und damit die Ursprungspopulation vermutet werden. einander an verschiedenen Orten der Erde und zu unterschied- Dies weist darauf hin, dass sich einzelne Menschen aus dem lichen Zeiten stattgefunden habe. Nach dieser Theorie, die südlich der Sahara gelegenen Afrika genetisch voneinander „Polygenismus“ genannt wird, seien klar voneinander ab- deutlich stärker unterscheiden können als von Menschen aus grenzbare Menschenrassen entstanden, welche nur durch die Nordafrika, Europa und Asien. spätere Vermischung „an ihren Rändern“ den Anschein abge- stufter Ähnlichkeiten erwecken könnten. So beschreibt der Ganz wesentlich für die Frage, ob man kategoriale Einteilun- Biologe Steven J. Gould in seinem Buch „Der falsch vermes- gen der Menschen in klar unterscheidbare „Rassen“ vorneh- sene Mensch“ [6], wie beispielsweise der Schweizer Natur- men kann oder nicht, ist aber der Befund, dass es sich in die- forscher Agassiz von der Annahme ausging, dass „die Rassen sen unterschiedlichen Populationen um Unterschiede in der als gesonderte Arten“ geschaffen worden seien. Grundannah- Häufigkeit der Ausprägung von Varianten eines Gens, d. h. me der Rassedefinition ist hier das Postulat, dass „Rassen“ der Allele und ihrer Kombination (Haplotypen), handelt. Es abgegrenzte und einander nicht überschneidende geographi- ist also keineswegs der Fall, dass unterschiedliche Menschen- sche Gebiete besetzt gehalten hätten. Gerade in den US- rassen unterschiedliche Gene aufweisen – vielmehr ist es so, amerikanischen Südstaaten hatte die Theorie des Polygenis- dass unterschiedliche genetische Ausprägungen im Sinne der mus viele Anhänger, zu denen auch Samuel Morton gehörte, Allele in verschiedenen Häufigkeiten vorkommen. Auch bei der nach seinem Tod 1851 in einem Nachruf wie folgt gewür- funktionell wichtigen Genen, wie z. B. dem bekannten Blut- digt wurde: „Wir im Süden sollten ihn als unseren Wohltäter gruppensystem, zeigen sich keine kategorialen Unterschiede betrachten, weil er entscheidend dazu beigetragen hat, den zwischen den vermeintlich unterschiedlichen „Menschenras- Neger in seine wahre Stelle als Minderwertiger zu verweisen“ sen“, sondern es gibt nur bevölkerungsbezogene Unterschiede [6]. in der Häufigkeit des Auftretens der einzelnen genetischen Varianzen. Es ist eben gerade nicht so, dass Menschen aus Gegenüber diesen überlieferten Theorien, welche in engem Europa zum Beispiel typischerweise die Blutgruppe A auf- zeitlichem Zusammenhang zur Entstehung und Verbreitung weisen, Menschen aus Asien die Blutgruppe B und Menschen J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 169
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs Abbildung 1: Wahrscheinliche Routen des modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) bei seiner Ausbreitung von Afrika ausgehend auf die anderen Kontinente. Die Zahlen ge- ben die wahrscheinlichen Zeitpunkte der An- kunft auf den verschiedenen Kontinenten an. Mod. nach [3]. Die Buchstaben A–H geben die in der folgenden Abbildung 2 aufgeführten Populationen nach den Regionen an, in denen sie beheimatet sind. Abbildung 2: Häufigkeiten von verschiedenen CD4-Haplotypen in 4 ausgewählten unterschiedli- chen afrikanischen Populationen/Regionen (A–D) und 4 unterschiedlichen nicht-afrikanischen Popu- lation/Regionen (E–H). Mod. nach [7]. aus Afrika die Blutgruppe 0. Deswegen mag der rettende land oder in Kenia, Äthiopien und Nigeria. Der Genetiker Blutspender für einen verletzten Oberfranken aus Südafrika Cavalli-Sforza [3] gibt in Tabelle 1 ein Beispiel für solche stammen und nicht aus Würzburg. Unterschiede im Auftreten Unterschiede im Auftreten der relativen Häufigkeit von gene- solcher genetischer Varianzen finden sich deshalb nicht nur tischer Varianz. beim Vergleich von Menschengruppen aus beispielsweise China und Europa, sondern auch beim Vergleich von Popula- Tabelle 1 zeigt für ausgewählte Gene die Unterschiede in der tionen in Nord- versus Süddeutschland, Spanien versus Finn- relativen Häufigkeit in der genetisch kodierten Form eines im 170 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs Tabelle 1: Ausgewählte Gene und deren Unterschiede in nachweisen. Eine ähnliche genetische Varianz existiert schließ- der relativen Häufigkeit in der genetisch kodierten Form ei- lich genauso zwischen Individuen einer gleichen Population. nes im Blut enthaltenen Proteins. Aus [3]. Gene Europa Afrika Indien Ferner Süd- Austra- Der Rassebegriff: Wissenschaftlich nicht südl. d. Osten amerika lien Sahara haltbar, aber praktisch relevant? GC-1 72 % 88 % 75 % 76 % 73 % 83 % Auch wenn der Rassebegriff als wissenschaftlich unhaltbar gelten muss, da er von der irrigen Annahme kategorialer GC-2 28 % 12 % 25 % 24 % 27 % 16 % Unterschiede zwischen menschlichen Populationen ausgeht, FY-0 0,3 % 87 % 3% 0% 0,2 % 0% stellt sich dennoch die Frage, ob er denn praktisch nützlich ist. Wenn beispielsweise die Blutgruppe 0 bei 70 % bestimmter afrikanischer und bei 40 % europäischer Populationen vor- Blut enthaltenen Proteins. GC-1 und GC-2 sind 2 unterschied- kommt, ist es denn dann nicht doch sicherer, Blutspender aus liche, genetisch kodierte Formen des GC-Proteins, welches lokalen Populationen zu gewinnen, und diese Populationen Vitamin D im Blut bindet. Es wird angenommen, dass GC-2 anhand von „Rassekriterien“ (wenn auch unzureichend) ein- in Regionen mit intensiver Sonneneinstrahlung und GC-1 in zuteilen? Das Vorgehen bei Bluttransfusionen zeigt schon, Regionen mit weniger intensiver Sonneneinstrahlung vorteil- dass sich eine solche praktische Anwendung verbietet, da die hafter ist, die Unterschiede in der Häufigkeit dieser geneti- Vorhersage einer Blutgruppe durch Zugehörigkeit zu einer schen Varianz in verschiedenen Populationen sind aber nur Population viel zu unpräzise ist, um danach therapeutische gering. FY-0 bedeutet die Abwesenheit der Substanz FY, wel- Entscheidungen auszurichten. Es wäre ja völlig indiskutabel, che sich normalerweise auf der Oberfläche der roten Blutkör- im oben genannten Fall eine Bluttransfusion mit dem Risiko perchen befindet und einem bestimmten Malariaparasiten durchzuführen, bei 30 % aller Versuche eine Unverträglich- hilft, in die roten Blutkörperchen einzudringen. Das Fehlen keitsreaktion auszulösen. Hinzu kommt, dass die zur ver- dieses Proteins erschwert das Wachstum des Parasiten und meintlichen „Rasse“-Klassifikation benutzten körperlichen verleiht dem Individuum eine gewisse Resistenz gegen diese Merkmale keinesfalls auf bestimmte geographische Regionen besondere Form der Malaria. Obwohl diese Variante also in beschränkt sind. So ähneln beispielsweise Melanesier in Be- bestimmten Klimagebieten deutlich günstiger ist, ist sie nicht zug auf die Tönung ihrer Hautfarbe und der Struktur ihrer auf eine einzige Population beschränkt. Das häufige Auftreten Haare Menschen aus Afrika, während sich sprachlich und ge- in Afrika wird durch das dort häufige Vorkommen eines netisch eher Ähnlichkeiten zu weiteren Populationen im pazi- Malariaparasiten bedingt, gegen den die Träger von FY-0 re- fischen Raum nachweisen lassen [3]. Grundsätzlich lässt sich sistent sind. In beschränktem Umfang finden sich solche ge- sagen, dass der Phänotyp, d. h. das äußere Aussehen, unter netischen Varianzen aber auch in Indien und in Europa sowie dem Druck der Umweltbedingungen veränderlich ist. Die in Südamerika. Die Variation, die man bei der Farbe der Haut Textur der Haare und Tönung der Hautfarbe sind offenbar feststellt, ist mit der von FY vergleichbar, laut Cavalli-Sforza eine Anpassung an den Grad der Sonneneinstrahlung, umge- handelt es sich aber um einen fast einmaligen Fall unter vielen kehrt ist helle Haut vorteilhaft in Regionen mit niedriger 100 bekannter Gene [3]. Sonneneinstrahlung, da dann trotz der verminderten Licht- intensität die Umwandlung der Vorstufen in Vitamin D Entsprechend den Wanderungsbewegungen gibt es also keine gelingt. Cavalli-Sforza vermerkt hierzu: „Tatsächlich aber kategorialen, sondern graduelle Unterschiede in der Verbrei- haben sich die für diese sichtbaren Unterschiede verantwortli- tung genetischer Varianzen, weswegen man auch von Zu- chen Gene nur infolge der klimatischen Einwirkungen verän- bzw. Abnahme genetischer Frequenzunterschiede spricht dert. […] Die Gene, die auf das Klima reagieren, beeinflussen („de-cline“ oder „in-cline). Livingston [2] basierte 1962 in die äußeren Merkmale des Körpers, weil die Anpassung an seiner fundamentalen Kritik des Rassekonzepts eine eigene das Klima vor allem eine Veränderung der Körperoberfläche Konstruktion von Populationsunterschieden auf diesem Be- erforderlich macht. Eben weil diese Merkmale äußerlich sind, griff der „clines“, also der graduellen Unterschiede zwischen springen die Unterschiede zwischen den Rassen so sehr ins Populationen. Und auch der Populationsgenetiker Cavalli- Auge, so dass wir glauben, ebenso krasse Unterschiede exis- Sforza formulierte wörtlich: „Tatsächlich ist bei der Gattung tieren auch für den ganzen Rest der genetischen Konstitution. Mensch eine Anwendung des Begriffs „Rasse“ völlig unsin- Aber das trifft nicht zu: Im Hinblick auf unsere übrige geneti- nig. Die Struktur der menschlichen Population ist äußerst sche Konstitution unterscheiden wir uns nur geringfügig komplex und variiert von Region zu Region und von Volk zu voneinander“ [3]. Volk. Dank der ständigen Migration innerhalb der Grenzen einer Nation und darüber hinweg gibt es immer Nuancen, die Auch Enzyme, welche den Abbau von Psychopharmaka klare Trennungen unmöglich machen [3]“. In ähnlicher Weise regeln, sind genetisch kodiert und die Allelfrequenzen der formulierte die „American Association of Physical Anthro- kodierenden Gene können zwischen verschiedenen Popula- pologists“, dass der Rassebegriff wissenschaftlich obsolet ist. tionen schwanken. So können beispielsweise „slow metaboli- Zusammenfassend ist eine Rasseneinteilung der menschli- zers“ bestimmter Leberenzyme (der CYP450-Familie) mit chen Spezies aus genetischer Sicht haltlos, da es keine nen- besonders langsamem Abbau in einigen Populationen mit nenswerten kategorialen Unterschiede im Hinblick auf die einer Frequenz von 1–2 %, in anderen jedoch mit einer Fre- Genausstattung zwischen verschiedenen Populationen zu ge- quenz von bis zu 10 % auftreten. Es wäre aber fahrlässig, aus ben scheint. Es lassen sich nur unterschiedliche Genvarianten diesem statistisch signifikanten Unterschied im Vorkommen (Polymorphismen) zwischen verschiedenen Populationen von langsamen Metabolisierern darauf zu schließen, alle J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 171
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs Menschen aus der Population, in der langsame Metabolisierer Anthropologie des 18. Jahrhunderts entstanden. Wie bereits besonders selten vorkommen, automatisch höher dosieren zu geschildert, verwendete Blumenbach hierbei Elemente der müssen. Genauso inakzeptabel wäre es, die 90 % aller Perso- biblischen Schöpfungsgeschichte und ging von der Annahme nen, welche eine „normale“ Metabolisierungsrate aufweisen, der unterschiedlichen Schwere der Degeneration einzelner generell mit niedrigen Dosierungen zu behandeln, nur weil Menschenrassen aus, deren Maßstab jeweils das europäische 10 % aller Menschen aus derselben Population ein Medika- Schönheitsideal war. Auch andere Bezeichnungen sind offen- ment besonders langsam abbauen. Hilfreich für eine genetisch bar historisch gewachsen. So bezeichnet der Begriff der informierte Medikamentengabe sind demgegenüber Medika- „Hispanics“ alle Einwanderer aus spanischsprechenden süd- mentenspiegel und, sofern praktisch durchführbar, die indivi- amerikanischen Ländern. Bezeichnet werden hierbei aber duelle Bestimmung des Genotyps. Entgegen dem Vermark- nicht etwa nur die Nachfahren der Indios und der spanischen tungsinteresse einer sich formierenden „rassischen Pharma- Eroberer, sondern je nach Ausmaß des transatlantischen Skla- kologie“ muss also dringend vor falschen Generalisierungen venhandels auch die Nachfahren der aus Afrika entführten gewarnt werden: Jeder einzelne Patient ist individuell zu Menschen. Entglitt ein Land nun im Laufe der Kolonialge- betrachten und die Möglichkeit der Vorhersage eines beson- schichte der spanischen Herrschaft, wie dies beispielsweise ders schnellen oder langsamen Medikamentenabbaus auf- bei Jamaika im 18. Jahrhundert der Fall war, dann wurden die grund der geographischen Herkunft einzelner Patienten ist Menschen aus diesen Regionen nicht mehr als „Hispanics“ von sehr hoher Irrtumswahrscheinlichkeit begleitet. bezeichnet, sondern zählen als Jamaikaner mit überwiegend dunkler Hautfarbe zu den „African Americans“. Wie willkür- Was sich also bei der Betrachtung unterschiedlicher Popula- lich eine solche Klassifikation ist, zeigt sich nicht nur an den tionen nachweisen lässt, sind Frequenzunterschiede in der ge- Wechselfällen der amerikanischen Geschichte, sondern auch netischen Variation, d. h. in der Häufigkeit von allelischen an den vielfachen Vermischungen, wie sie sich an der spani- Varianzen der genetischen Konstitution. Demgegenüber las- schen Klassifizierung für die amerikanischen „Mündel“ in sen sich keine kategorialen Unterschiede im Vorkommen ein- Puerto Rico ablesen lässt: zelner Gene nachweisen – was zwischen den Populationen Spanier und Indianerin zeugen mestizo prozentual variiert, sind Ausprägungsformen einzelner Gene, mestizo und Spanierin zeugen castizo nicht das Vorkommen der Gene selbst. Hinzu kommt, dass castizo und Spanier zeugen Spanier auch vermeintlich populationsspezifische Varianzen, wie die Spanier und Negerin zeugen mulato genetisch bedingte Sichelzellenanämie, welche vor Malaria Spanier und mulato zeugen morisco schützt, in vergleichbarer Form und Ausprägung auch in euro- morisco und Spanier zeugen albino päischen Malariagebieten, beispielsweise in Griechenland, Spanier und albino zeugen torna atrás nachweisbar sind. Je nach Population können hier aber unter- Indianer und torna atrás zeugen lobo schiedliche Mutationen zum selben Effekt, d. h. zum selben lobo und Indianerin zeugen zambaigo Phänotyp der Sichelzellenanämie, führen. Aus der spezifi- zambaigo und Indianerin zeugen cambujo schen Ausprägung einer solchen Mutation kann also gefolgert cambujo und Mulattin zeugen albarazado werden, in welcher Region diese Mutation wahrscheinlich albarazado und Mulattin zeugen barcino entstanden ist. Zur Konstruktion einer „Rasse“ eignet sie sich barcino und Mulattin zeugen coyote dagegen nicht. coyote und Indianerin zeugen chamiso chamiso und Mestize zeugen coyote mestizo Ist der amerikanische Begriff „race“ vom coyote mestizo und Mulattin zeugen ahí te estas europäischen Begriff der „Rasse“ unter- Dies ist die offizielle Rangordnung der spanischen Klassifi- scheidbar? zierung für die amerikanischen „Mündel“. Die unterste Stufe Der Begriff „race“ scheint im angloamerikanischen Sprach- bildeten die ahí te estas („hier bist du“) [8]. Bei Menschen mit raum, anders als der durch den Nationalsozialismus besonders afrikanischer und indianischer Abstammung, bei denen diese belastete Begriff der „Rasse“, noch als politisch korrekt be- Herkunft als vermeintlich „minderwertig“ galt, zählten Men- wertet zu werden. Dieser Eindruck wird allerdings durch die schen so lange als „African Americans“ oder Indianer, wie amerikanische Rassenklassifikation gerade deshalb bewirkt, sich in ihrem Aussehen noch Hinweise auf die entsprechen- weil auch die Befürworter einer besseren Beteiligung von den Vorfahren finden ließen. Jemand ist also so lange Minderheiten am Schul- und Weiterbildungssystem zur Über- schwarz, wie man ihn noch als solchen in irgendeiner Form prüfung der Zugangsbarrieren auf die Zählung der rassistisch erkennen und diskriminatorischen Praktiken aussetzen kann. diskriminierten Menschen angewiesen sind. Dazu benötigen Deshalb zählt der aktuelle US-Präsident Barack Obama mit sie nun aber wiederum eine Klassifikation der Menschen, einem afrikanischen Vater und einer europäischstämmigen welche von rassistischer Diskriminierung betroffen sein kön- Mutter als „schwarzer“ Präsident. Das Stereotyp der rassisti- nen. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich damit die sozialpsycho- schen Diskriminierung prägt hier Rassenklassifikation wie logisch simplen Klassifizierungen vermeintlicher „Rassen“ in Selbstverständnis jener Menschen, welche sich unter dem der Selbstwahrnehmung jener Menschen reproduzieren, die Druck rassistischer Klassifikation und Diskriminierung als davon betroffen sind. Die amerikanischen Rasseklassifika- selbstbewusste Träger einer schwarzen Kultur konstituierten. tionen sind aber auch aus weiteren Gründen wissenschaftlich Ähnlich wie im Fall der jüdischen Großmutter, die zur Zeit unsinnig: Der Begriff der „Kaukasier“ bezeichnete ursprüng- des Nationalsozialismus ausreichte, um einen Menschen der lich keineswegs Menschen mit indoeuropäischem Sprach- entsprechenden Vernichtungsmaschinerie auszuliefern, zählt hintergrund, sondern ist vielmehr im Bereich der imaginären also nicht die vermeintliche genetische Ähnlichkeit mit der 172 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs angeblichen Ursprungspopulation, sondern die auf irgendeine Staaten nach dem 2. Weltkrieg spielte also eine wesentliche Weise noch herstellbare Verbindung zu einer sozial verfolg- Rolle bei der Neukategorisierung der vermeintlichen „Ras- ten Gruppe als Kriterium, wer den diskriminierenden Prakti- sen“ in Amerika. In Deutschland selbst findet man sowohl vor ken ausgesetzt ist und sich gegen die entsprechenden Stereo- als auch nach dem 2. Weltkrieg in enzyklopädischen Werken typen wehren muss. durchaus noch die Einteilung der Europäer in idealtypisch definierte „nordische“, „westische“ und „ostische“ Rassen, Dass diese historisch obsolete Klassifizierung der vermeintli- wobei erstere als blauäugig und langschädelig und letztere als chen Menschenrassen in Amerika auch heute noch klinische klein, dunkelhaarig, braunäugig und nicht explizit zu höherer Anwendung findet, zeigt sich am Beispiel des bei Herzschwä- geistiger Betätigung befähigte Menschen definiert wurden che eingesetzten Medikaments Bidil (eine Kombination von [10]. Hydralazin und Isosorbit-Dinitrat). Bei klinischen Testungen zeigte dieses Medikament keine allgemeine Wirksamkeit, Mit der Niederlage des Nationalsozialismus verlor diese Art Subgruppenanalysen ergaben bei Afroamerikanern allerdings der Rasseneinteilung allerdings an Bedeutung. Entsprechend einen signifikanten Therapieerfolg. So wurde es 2005 von der diesem zeithistorisch wie politisch ermöglichten Neubeginn amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ausdrücklich nur gibt es auch derzeit keine Versuche, das unterschiedliche Auf- für Afroamerikaner zugelassen. In diesem Rahmen entspann treten bestimmter Allelfrequenzen in Nord- versus Südeuropa sich eine kontroverse Diskussion, bei der auf 2 wichtige durch eine innereuropäische Rassenklassifikation vorher- Punkte hingewiesen wurde: Zum einen, dass Afroamerikaner zusagen, um damit das Ansprechen auf einzelne Psychophar- ein höheres Risiko haben, an Herzschwäche zu versterben und maka im Voraus abzuschätzen. Wie oben gezeigt, wäre eine es deshalb nicht vertretbar sei, dieser Gruppe ein wirksames solche Einteilung nicht nur extrem unzuverlässig, aufgrund Medikament vorzuenthalten; zum anderen, dass die Wirksam- der genetischen Variabilität in den einzelnen Populationen keit von Bidil nicht durch die Hautfarbe zu erklären sei, son- wäre sie auch keineswegs geeignet, auch nur mit einiger- dern dass die Faktoren, die mit der – vermeintlichen – Wirk- maßen vertretbarer Sicherheit das Auftreten von beispiels- samkeit des Medikaments assoziiert seien, noch nicht ent- weise schweren Nebenwirkungen bei extrem langsamer deckt worden sind. Es ist nicht abschließend geklärt, ob es Metabolisierung (extrem langsamem Abbau) eines Medika- sich hier um Genvarianten oder Umweltfaktoren oder um das ments vorherzusagen. Kenntnisse über Frequenzunterschiede Ergebnis multipler Subgruppentestungen unter dem Ver- in der Allelausprägung einzelner Gene zwischen Menschen marktungsdruck eines in der Allgemeinbevölkerung nicht unterschiedlicher geographischer Herkunft ersetzen deshalb wirksamen Medikaments handelt. Da, wie oben ausgeführt, auf keinen Fall eine Auseinandersetzung mit dem individuel- der Begriff der Afroamerikaner unterschiedslos auf alle Men- len Vulnerabilitätsprofil des Patienten, sie ersparen keine ge- schen angewendet wird, welche in irgendeiner sichtbaren netische Testung bei Verdacht auf Extremtypen der Metaboli- Form Vorfahren aus Afrika haben könnten – unabhängig sierung und sagen keinesfalls verlässlich voraus, welche The- davon, ob es sich um eine afroamerikanische Großmutter bei rapie im Einzelfall anzuwenden ist. Dies gilt auch bei Ein- Familien handelt, die seit 200 Jahren in Amerika leben oder beziehung von modernen Formen der Definition von Sub- um die Kinder von 2 in den vergangenen Jahrzehnten aus populationen durch Kartierung von einigen 100 Genpolymor- Nigeria zugewanderten Ehepartnern – erscheint es als nicht phismen [11]. Diese Methode war primär entwickelt worden, ganz unwahrscheinlich, dass multiples Testen eines in der um geringfügige Unterschiede in der Auftretenswahrschein- Allgemeinbevölkerung statistisch nicht signifikant wirksa- lichkeit genetischer Varianzen bei der Testung, beispiels- men Medikaments neue Vermarktungsmöglichkeiten bei ver- weise von Medikamentenwirkungen in verschiedenen Regio- meintlichen „Rassen“ eröffnet, welche ohne die Konstruktion nen, zu erfassen. Auch die hier erhobenen Befunde stützen von solchen „Rassen“ nicht gegeben sind. den bereits beschriebenen graduellen Unterschied zwischen verschiedenen Populationen und sprechen gegen eine simple Verschiedene europäische Menschen- kategoriale Unterscheidung von Allelfrequenzen innerhalb unterschiedlicher Populationen im Sinne des Rassenkonzepts. rassen? Deshalb kann die Auseinandersetzung mit genetischen Varia- Vor der Niederlage des Nationalsozialismus wurde die Eintei- tionen, d. h. unterschiedlichen Allelfrequenzen, beispiels- lung der Menschenrassen weit über die Zuordnung zu den ver- weise für Enzyme, welche Psychopharmaka abbauen (z. B. meintlichen 3 „Großrassen“ betrieben. So wurden Millionen Cytochrom-P450-Enzyme), bei einzelnen Populationen Juden trotz ihrer jahrhundertelangen Sesshaftigkeit in Mit- durchaus im Interesse der Patienten sein. Sie stützen aber teleuropa als „artfremde“ semitische „Rasse“ definiert. Dies keine reduktionistische Einteilung in Menschenrassen, wel- war aber nicht nur in Deutschland der Fall, auch in anderen che aufgrund der bisher damit verbundenen diskriminieren- Teilen Europas und in Amerika erfolgte die Zuordnung jüdi- den Praktiken zudem für die Betroffenen sozial schädlich ist scher Menschen zur Großrasse der „Kaukasier“ bzw. zu den und den Blick auf die Vielfältigkeit menschlicher Seins- und „White Folks“ erst nach dem 2. Weltkrieg. Sie wurde erleich- Erlebnisweisen sowie ihrer neurobiologischen Korrelate ver- tert durch Integrationsprogramme für Soldaten, welche hell- stellt. häutigen jüdischen und christlichen Amerikanern zugespro- chen wurden, schwarzen Soldaten jedoch in der Regel nicht Interessenkonflikt offenstanden [9]. Die Aufhebung diskriminierender Behand- lung gegenüber jüdischen Mitbürgern in den Vereinigten Der korrespondierende Autor verneint einen Interessenkonflikt. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2) 173
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs Literatur: 7. Tishkoff SA, Dietzsch E, Speed W, Pakstis Relevanz für die Praxis 1. Association of American Physical Anthro- AJ, Kidd JR, Cheung K, Bonné-Tamir B, Santachiara-Benerecetti AS, Moral P, Krings pologists. Statement of biological aspects of M. Global patterns of linkage disequilibrium race. Am J Physiol Anthropology 1996; 101: Neuere Forschungen zeigen, dass sich im Erbgut keine 569–70. at the CD4 locus and modern human origins. Science 1996; 271: 1380–7. kategorialen Unterschiede zwischen den vermeintlichen 2. Livingston F. On the non-existence of human races. In: Harding S (ed). The Racial Economy 8. Röhrbein K, Schultz R. Puerto Rico. Insel- Menschenrassen, sondern nur Unterschiede in der Auf- paradies der Wallstreet und unabhängiger of Science. Indiana University Press, Blooming- tretenshäufigkeit einzelner genetischer Varianzen finden ton-Indianapolis, 1962; 133–41. Staat? Geschichte, Kultur, Gegenwart. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1978. lassen. 3. Cavalli-Sforza L, Cavalli-Sforza F. Verschie- den und doch gleich: ein Genetiker entzieht 9. Brodkin K. How Jews became white folks dem Rassismus die Grundlage. Droemer Knaur, and what that says about race in America. Diese Erkenntnisse haben zu einer Neugewichtung phäno- München, 1994. Rutgers University Press, New Brunswick- 4. Blumenbach JF. Handbuch der Naturge- New York-London, 1998. typischer Unterschiede geführt, die nicht mehr als Kenn- schichte. 11. rechtmäßige Ausg. Dieterich’sche 10. Der Brockhaus. In vier Bänden. Brockhaus, zeichen einer (vermeintlich höher- oder minderbegabten) Buchhandlung, Göttingen, 1825. Mannheim, 1934. „Rasse“ gelten. Nichtsdestoweniger gibt es immer wieder 5. Blumenbach JF. De Generis Humani Varietate 11. Price AL, Patterson NJ, Plenge RM, Wein- Nativa. 5. Aufl. Göttingen, 1795. blatt ME, Shadick NA, Reich D. Principal com- Publikationen und Forschungen, die kategoriale Unter- 6. Gould SJ. Der falsch vermessene Mensch. ponents analysis corrects for stratification in schiede zwischen „Rassen“ postulieren und darüber sozia- 3. Aufl. Suhrkamp Taschenbuchverlag, Frank- genome-wide association studies. Nat Genet furt/Main, 1999 [1981]. 2006; 38: 904–9. le, ökonomische oder Verhaltensunterschiede zu erklären versuchen. Prof. Dr. med. Andreas Heinz Wir erörtern eine alternative Sichtweise, welche das aktu- Studium der Medizin, Philosophie und Anthro- elle Wissen über graduelle biologische Varianzen, Ge- pologie in Bochum, Berlin und Washington. meinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen in Approbation und Dissertation 1988, Habilita- unterschiedlichen Populationen ernst nimmt und reduktio- tion 1998. Arzt für Neurologie, Psychiatrie nistischen und potenziell diskriminierenden Einteilungen und Psychotherapie sowie Sozialmedizin. Seit 2002 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie in „Menschenrassen“ widerspricht. Dies ermöglicht eine und Psychotherapie an der Charité Universi- differenzierte und kontextorientierte Auseinandersetzung tätsmedizin Berlin, Campus Mitte. mit der menschlichen Diversität und Variabilität. 174 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
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