"Race": Warum alte Begriffe keine neuen Perspektiven haben

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Journal für

 Neurologie, Neurochirurgie
 und Psychiatrie
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 JNeurolNeurochirPsychiatr   Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems

"Race": Warum alte Begriffe keine
                                                                               Homepage:
neuen Perspektiven haben
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Heinz A, Müller DF, Kluge U                                      JNeurolNeurochirPsychiatr

Journal für Neurologie                                                 Online-Datenbank
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Neurochirurgie und Psychiatrie
                                                                      und Stichwortsuche
2011; 12 (2), 168-174

                                                                                            Indexed in
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Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

                              „Race“: Warum alte Begriffe keine
                                 neuen Perspektiven haben
                                                                 A. Heinz, D. J. Müller, U. Kluge

 Kurzfassung: Anhand von historischen und ak-            getragen haben, welche soziale und ökonomi-       native account of population differences that is
 tuellen Debatten und Diskursen werden Kom-              sche Unterschiede zu rechtfertigen suchten. Re-   based on clinical, i. e. gradual variations among
 plexität und Kontext der Entwicklung des „Ras-          duktionistischen Sichtweisen wird ein Blick auf   human populations rather than categorical dif-
 se“-Begriffs und seine Verwendung in Wissen-            die Variabilität der Menschen entgegengesetzt.    ferences as implied in the „race“ construct. We
 schaft und Gesellschaft dargestellt. Es werden                                                            provide a critical perspective on reductionist
 wissenschaftliche Argumentationslinien und die          Schlüsselwörter: „Rasse“-Begriff, Stereo-         theses about human differences, which have
 damit verbundene Stereotypenbildung diskutiert          type, genetische Varianzen, Erklärungsmodelle     contributed during the past century and in some
 und in ihrer wissenschaftlichen und praktischen                                                           contemporary discourses to inappropriate and
 Relevanz hinterfragt.                                   Abstract: “Race” – Why Old Terms Have No          discriminating classifications of „human races“.
    Ein Einblick in Modelle menschlicher Popula-         New Perspectives. On the basis of historical      We show how reductionist accounts of human
 tionen und ihrer Wanderungsbewegungen bil-              and contemporary arguments and discourses,        variability can be abused to justify social and
 det den Anknüpfungspunkt für Erklärungs-                we discuss the development and context of the     economic differences and discuss an alternative
 modelle biologischer Varianzen, Gemeinsamkei-           „race“ concept and its utilisation in science and view based on anthropological and genetic stud-
 ten und Unterschiede zwischen den Menschen.             society. The scientific lines of reasoning and theies, which emphasize the diversity and variabil-
 Dadurch wird eine Kritik an reduktionistischen          associated stereotypes are discussed and scru-    ity of human populations. J Neurol Neurochir
 Thesen ermöglicht, die in den vergangenen               tinised with respect to their scientific, clinicalPsychiatr 2011; 12 (2): 168–74.
 Jahrhunderten (und in einigen zeitgenössischen          and social relevance.
 Diskursen) zu sachfremden und diskriminieren-              An short overview over migrational move- Key words: “race”-concept, stereotypes, ge-
 den Einteilungen nach „Menschenrassen“ bei-             ments of human populations provides an alter- netic variation, explanatory model

„ Einleitung                                                                        rung wesentlicher Enzyme unterscheiden, wie beispielsweise
                                                                                    für den Arzneimittelabbau belegt wurde? Einer solchen Auf-
In den vergangenen Jahren erlebte der Rassebegriff eine Art                         fassung steht nun aber entgegen, dass beispielsweise die Ver-
Renaissance. Allerdings erscheint er meist in angelsächsi-                          einigung der amerikanischen Anthropologen, die „Associa-
scher Form („race“), beispielsweise in Arbeiten zu Genetik                          tion of American Physical Anthropologists“, in ihrem „State-
und Neurobiologie, wenn Unterschiede in der genetischen                             ment on biological aspects of race“ 1996 die Verwendung die-
Variation in verschiedenen Populationen bezeichnet werden                           ses Begriffs klar abgelehnt hat, da er wissenschaftlich nicht
sollen. Viele Journale verlangen direkt die Spezifikation der                       mehr haltbar sei [1]. Livingston publizierte bereits 1962 seine
„rassischen“ Herkunft der Studienteilnehmer: Handelt es sich                        richtungweisenden Arbeiten zur Unhaltbarkeit des Rasse-
um „Hispanics“, „African Americans“ oder „Caucasians“?                              begriffs [2], und auch Genetiker wie Cavalli-Sforza [3] kriti-
Auch der weltweit größte Kongress der Neurowissenschaft-                            sierten diesen Begriff als untauglich und politisch stigmatisie-
ler, die jährliche Tagung der „Society for Neuroscience“, er-                       rend. Wie kann das sein, welche genetischen Varianzen gibt
fragte vor einigen Jahren die „race“ ihrer Kongressteilneh-                         es beim Menschen zu unterscheiden und wie verteilen sich
mer. Hintergrund war kein verspäteter Versuch, Klassifikatio-                       diese auf unterschiedliche Populationen?
nen aus dem Apartheid-System in den USA einzuführen, son-
dern vielmehr die ehrenwerte Absicht der speziellen Förde-                          Der vorliegende Essay gibt einen kurzen Überblick über die
rung von Minderheiten – unter Neurowissenschaftlern, Pro-                           Entstehungsgeschichte des Begriffs, die evolutionären
fessoren wie Studenten, sind Menschen mit europäischem                              Grundlagen menschlicher genetischer Variabilität und die
und asiatischem Hintergrund häufiger repräsentiert als Men-                         sich daraus ergebenden Folgerungen für den Gebrauch des
schen aus spanischsprachigen Ländern („Hispanics“) oder                             Begriffs selbst.
Afroamerikaner. Politische Korrektheit und Neurobiologie
scheinen also eine Verwendung des Rassebegriffs nahezu-                             „ Die historische Entstehung des Begriffs
legen. Und ist es denn nicht unmittelbar evident, dass sich
Menschen in Bezug auf Körpergröße, Haut- und Haarfarbe                                „Rasse“
oder Ähnliches vermeintlich leicht in augenfällige Typolo-                          Ursprünglich wird mit dem Begriff der Rasse eine individu-
gien einteilen lassen? Und müssten sich dann die unterschied-                       elle Abstammungslinie beschrieben. Demgegenüber wurde
lichen Rassen nicht auch in Bezug auf die genetische Kodie-                         im 19. Jahrhundert zunehmend die nationale Eigenheit unter-
                                                                                    schiedlicher europäischer Völker betont und ein Konzept der
                                                                                    kategorialen Unterschiede verschiedener Menschenrassen
                                                                                    entwickelt. Bereits in der Bibel wurden unterschiedliche
Eingelangt am 29. März 2010; angenommen am 17. Mai 2010
                                                                                    Populationen auf die 3 Söhne Noahs zurückgeführt, wobei
Aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin
Berlin, Campus Charité-Mitte, Berlin, Deutschland
                                                                                    Japhet als Stammvater der Europäer, Sem als jener der Semi-
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Andreas Heinz, Klinik für Psychiatrie und      ten und Ham als Stammvater der (Nord-) Afrikaner gesehen
Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité-Mitte (CCM),   wurde. Da Ham das Geschlecht seines betrunkenen Vaters
D-10117 Berlin, Charitéplatz 1; E-Mail: andreas.heinz@charite.de                    Noah erblickte, wurde angenommen, dass dieses Missge-

168    J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)

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Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

schick ihn und seine Nachkommen gegenüber den anderen             der transatlantischen Sklaverei entwickelt wurden, geht die
Söhnen Noahs zur Sklaverei verdamme. Europäische Bilder           Entstehungstheorie unserer modernen Art „Homo sapiens
von Afrikanern, die vor dem eigentlichen Beginn der trans-        sapiens“, die vor etwa 200.000–160.000 Jahren in Afrika ent-
atlantischen Sklaverei in den amerikanischen Kolonien ent-        stand, davon aus, dass sich die Menschheit von dort aus über
standen, beispielsweise von Albrecht Dürer, sind in der Regel     Wanderungsbewegung nach Europa, Asien und Amerika aus-
jedoch weder abwertend noch karikaturenhaft vergröbert.           gebreitet hat.
Erst die entmenschlichende Behandlung afrikanischer Skla-
ven, von der Erzeugung eines permanenten Kriegszustands in        Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die erste
westafrikanischen Regionen über das Massensterben an Bord         menschliche Population, welche in Afrika ansässig war, durch
der Sklavenschiffe bis hin zur erzwungenen Arbeit in den          hohe genetische Varianz gekennzeichnet ist, da diese Popula-
Kolonien, führte zu einer systematischen Entwertung afrika-       tion die älteste ist, und die genetische Varianz in einer Popula-
nischer Menschen, welche sich von da ab auch in den bild-         tion im Laufe der Zeit von Generation zu Generation zu-
lichen Darstellungen wie in den „Rassevorurteilen“ findet.        nimmt. Genetische Forschung zeigte nun, dass im Rahmen
                                                                  von Wanderungsbewegungen relativ begrenzte Personenzah-
Der deutsche Anthropologe Blumenbach [4] betonte aller-           len (zuerst in den Vorderen Orient, dann nach Europa und
dings bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts, dass sich nur „sehr   Asien und von dort aus bis nach Amerika) nur bestimmte
willkürliche Gränzen“ zwischen den „Rassen“ feststellen las-      Anteile der ursprünglich in Afrika vorhandenen genetischen
sen, und lehnte den zeitgenössischen Versuch ab, die „Neger“      Varianz mitgenommen haben: So wird beispielsweise bei der
näher an das Tierreich heranzustellen als andere Menschen-        Analyse der Konstitution des CD4-Gens deutlich, dass Allele
gruppen. Blumenbach prägte auch den Begriff der „Kauka-           (d. h. alternative Formen der Gene bzw. alternative Gen-
sier“ zur Bezeichnung europäischer Völker [5]. Dieser Be-         abschnitte, welche denselben Locus im Chromosom einneh-
griff entstand allerdings nicht, wie man vermuten könnte, auf-    men) in Afrika südlich der Sahara in vielen verschiedenen
grund einer Fehllokalisation des ursprünglichen Siedlungs-        Kombinationen (Haplotypen) vorliegen, während bereits in
raums der indoeuropäischen Sprachfamilie in kaukasusnahen         Nordafrika deutlich weniger genetische Varianz in den Popu-
Regionen. Vielmehr ging Blumenbach davon aus, dass die            lationen vorzufinden ist. Bei der weiteren späteren Wande-
Menschwerdung selbst in der Nähe des Kaukasus stattgefun-         rung von Europa nach Asien ist die genetische Varianz gerin-
den habe und dass sich die Europäer bzw. „Kaukasier“ gegen-       ger, da diese Populationen jünger sind und weniger Zeit für
über den ursprünglichen Menschen am wenigsten degenerativ         die Entstehung von genetischen Varianten blieb. So finden
verändert hätten, während die „Äthiopier“ bzw. die „mongoli-      sich beispielsweise in Europa nur noch 3 unterschiedliche
sche Rasse“ deutlichere Degenerationserscheinungen aufwei-        Kombinationen (Haplotypen), während sich in Asien und
sen sollten. Blumenbach ging hier wie viele seiner Nachfolger     Amerika sogar nur noch 2 Haplotypen mit einigermaßen gro-
ganz fraglos von europäischen Schönheitsidealen aus und           ßer Häufigkeit nachweisen lassen, wie die Abbildungen 1 und
wertete die relative Abweichung vom europäischen Aussehen         2 zeigen.
als Kennzeichen der Hässlichkeit bzw. Degeneration.
                                                                  Dies weist darauf hin, dass sich die höchste genetische Vari-
Rassenkonzepte gewannen im 19. Jahrhundert einen besonde-         anz eben bei Menschen südlich der Sahara in einer Region fin-
ren gesellschaftlichen Widerhall, da sie mit der Annahme ver-     den lässt, wo die ursprüngliche Entstehung der menschlichen
bunden wurden, dass die Menschwerdung unabhängig von-             Art und damit die Ursprungspopulation vermutet werden.
einander an verschiedenen Orten der Erde und zu unterschied-      Dies weist darauf hin, dass sich einzelne Menschen aus dem
lichen Zeiten stattgefunden habe. Nach dieser Theorie, die        südlich der Sahara gelegenen Afrika genetisch voneinander
„Polygenismus“ genannt wird, seien klar voneinander ab-           deutlich stärker unterscheiden können als von Menschen aus
grenzbare Menschenrassen entstanden, welche nur durch die         Nordafrika, Europa und Asien.
spätere Vermischung „an ihren Rändern“ den Anschein abge-
stufter Ähnlichkeiten erwecken könnten. So beschreibt der         Ganz wesentlich für die Frage, ob man kategoriale Einteilun-
Biologe Steven J. Gould in seinem Buch „Der falsch vermes-        gen der Menschen in klar unterscheidbare „Rassen“ vorneh-
sene Mensch“ [6], wie beispielsweise der Schweizer Natur-         men kann oder nicht, ist aber der Befund, dass es sich in die-
forscher Agassiz von der Annahme ausging, dass „die Rassen        sen unterschiedlichen Populationen um Unterschiede in der
als gesonderte Arten“ geschaffen worden seien. Grundannah-        Häufigkeit der Ausprägung von Varianten eines Gens, d. h.
me der Rassedefinition ist hier das Postulat, dass „Rassen“       der Allele und ihrer Kombination (Haplotypen), handelt. Es
abgegrenzte und einander nicht überschneidende geographi-         ist also keineswegs der Fall, dass unterschiedliche Menschen-
sche Gebiete besetzt gehalten hätten. Gerade in den US-           rassen unterschiedliche Gene aufweisen – vielmehr ist es so,
amerikanischen Südstaaten hatte die Theorie des Polygenis-        dass unterschiedliche genetische Ausprägungen im Sinne der
mus viele Anhänger, zu denen auch Samuel Morton gehörte,          Allele in verschiedenen Häufigkeiten vorkommen. Auch bei
der nach seinem Tod 1851 in einem Nachruf wie folgt gewür-        funktionell wichtigen Genen, wie z. B. dem bekannten Blut-
digt wurde: „Wir im Süden sollten ihn als unseren Wohltäter       gruppensystem, zeigen sich keine kategorialen Unterschiede
betrachten, weil er entscheidend dazu beigetragen hat, den        zwischen den vermeintlich unterschiedlichen „Menschenras-
Neger in seine wahre Stelle als Minderwertiger zu verweisen“      sen“, sondern es gibt nur bevölkerungsbezogene Unterschiede
[6].                                                              in der Häufigkeit des Auftretens der einzelnen genetischen
                                                                  Varianzen. Es ist eben gerade nicht so, dass Menschen aus
Gegenüber diesen überlieferten Theorien, welche in engem          Europa zum Beispiel typischerweise die Blutgruppe A auf-
zeitlichem Zusammenhang zur Entstehung und Verbreitung            weisen, Menschen aus Asien die Blutgruppe B und Menschen

                                                                                       J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)   169
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

                                                                                        Abbildung 1: Wahrscheinliche Routen des
                                                                                        modernen Menschen (Homo sapiens sapiens)
                                                                                        bei seiner Ausbreitung von Afrika ausgehend
                                                                                        auf die anderen Kontinente. Die Zahlen ge-
                                                                                        ben die wahrscheinlichen Zeitpunkte der An-
                                                                                        kunft auf den verschiedenen Kontinenten an.
                                                                                        Mod. nach [3]. Die Buchstaben A–H geben die
                                                                                        in der folgenden Abbildung 2 aufgeführten
                                                                                        Populationen nach den Regionen an, in denen
                                                                                        sie beheimatet sind.

                                                                                    Abbildung 2: Häufigkeiten von verschiedenen
                                                                                    CD4-Haplotypen in 4 ausgewählten unterschiedli-
                                                                                    chen afrikanischen Populationen/Regionen (A–D)
                                                                                    und 4 unterschiedlichen nicht-afrikanischen Popu-
                                                                                    lation/Regionen (E–H). Mod. nach [7].

aus Afrika die Blutgruppe 0. Deswegen mag der rettende        land oder in Kenia, Äthiopien und Nigeria. Der Genetiker
Blutspender für einen verletzten Oberfranken aus Südafrika    Cavalli-Sforza [3] gibt in Tabelle 1 ein Beispiel für solche
stammen und nicht aus Würzburg. Unterschiede im Auftreten     Unterschiede im Auftreten der relativen Häufigkeit von gene-
solcher genetischer Varianzen finden sich deshalb nicht nur   tischer Varianz.
beim Vergleich von Menschengruppen aus beispielsweise
China und Europa, sondern auch beim Vergleich von Popula-     Tabelle 1 zeigt für ausgewählte Gene die Unterschiede in der
tionen in Nord- versus Süddeutschland, Spanien versus Finn-   relativen Häufigkeit in der genetisch kodierten Form eines im

170   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

 Tabelle 1: Ausgewählte Gene und deren Unterschiede in             nachweisen. Eine ähnliche genetische Varianz existiert schließ-
 der relativen Häufigkeit in der genetisch kodierten Form ei-      lich genauso zwischen Individuen einer gleichen Population.
 nes im Blut enthaltenen Proteins. Aus [3].
 Gene    Europa    Afrika    Indien   Ferner Süd-   Austra-        „ Der Rassebegriff: Wissenschaftlich nicht
                  südl. d.            Osten amerika  lien
                  Sahara                                             haltbar, aber praktisch relevant?
 GC-1     72 %     88 %      75 %     76 %     73 %      83 %
                                                                   Auch wenn der Rassebegriff als wissenschaftlich unhaltbar
                                                                   gelten muss, da er von der irrigen Annahme kategorialer
 GC-2     28 %     12 %      25 %     24 %     27 %      16 %
                                                                   Unterschiede zwischen menschlichen Populationen ausgeht,
 FY-0     0,3 %    87 %       3%       0%      0,2 %      0%       stellt sich dennoch die Frage, ob er denn praktisch nützlich ist.
                                                                   Wenn beispielsweise die Blutgruppe 0 bei 70 % bestimmter
                                                                   afrikanischer und bei 40 % europäischer Populationen vor-
Blut enthaltenen Proteins. GC-1 und GC-2 sind 2 unterschied-       kommt, ist es denn dann nicht doch sicherer, Blutspender aus
liche, genetisch kodierte Formen des GC-Proteins, welches          lokalen Populationen zu gewinnen, und diese Populationen
Vitamin D im Blut bindet. Es wird angenommen, dass GC-2            anhand von „Rassekriterien“ (wenn auch unzureichend) ein-
in Regionen mit intensiver Sonneneinstrahlung und GC-1 in          zuteilen? Das Vorgehen bei Bluttransfusionen zeigt schon,
Regionen mit weniger intensiver Sonneneinstrahlung vorteil-        dass sich eine solche praktische Anwendung verbietet, da die
hafter ist, die Unterschiede in der Häufigkeit dieser geneti-      Vorhersage einer Blutgruppe durch Zugehörigkeit zu einer
schen Varianz in verschiedenen Populationen sind aber nur          Population viel zu unpräzise ist, um danach therapeutische
gering. FY-0 bedeutet die Abwesenheit der Substanz FY, wel-        Entscheidungen auszurichten. Es wäre ja völlig indiskutabel,
che sich normalerweise auf der Oberfläche der roten Blutkör-       im oben genannten Fall eine Bluttransfusion mit dem Risiko
perchen befindet und einem bestimmten Malariaparasiten             durchzuführen, bei 30 % aller Versuche eine Unverträglich-
hilft, in die roten Blutkörperchen einzudringen. Das Fehlen        keitsreaktion auszulösen. Hinzu kommt, dass die zur ver-
dieses Proteins erschwert das Wachstum des Parasiten und           meintlichen „Rasse“-Klassifikation benutzten körperlichen
verleiht dem Individuum eine gewisse Resistenz gegen diese         Merkmale keinesfalls auf bestimmte geographische Regionen
besondere Form der Malaria. Obwohl diese Variante also in          beschränkt sind. So ähneln beispielsweise Melanesier in Be-
bestimmten Klimagebieten deutlich günstiger ist, ist sie nicht     zug auf die Tönung ihrer Hautfarbe und der Struktur ihrer
auf eine einzige Population beschränkt. Das häufige Auftreten      Haare Menschen aus Afrika, während sich sprachlich und ge-
in Afrika wird durch das dort häufige Vorkommen eines              netisch eher Ähnlichkeiten zu weiteren Populationen im pazi-
Malariaparasiten bedingt, gegen den die Träger von FY-0 re-        fischen Raum nachweisen lassen [3]. Grundsätzlich lässt sich
sistent sind. In beschränktem Umfang finden sich solche ge-        sagen, dass der Phänotyp, d. h. das äußere Aussehen, unter
netischen Varianzen aber auch in Indien und in Europa sowie        dem Druck der Umweltbedingungen veränderlich ist. Die
in Südamerika. Die Variation, die man bei der Farbe der Haut       Textur der Haare und Tönung der Hautfarbe sind offenbar
feststellt, ist mit der von FY vergleichbar, laut Cavalli-Sforza   eine Anpassung an den Grad der Sonneneinstrahlung, umge-
handelt es sich aber um einen fast einmaligen Fall unter vielen    kehrt ist helle Haut vorteilhaft in Regionen mit niedriger
100 bekannter Gene [3].                                            Sonneneinstrahlung, da dann trotz der verminderten Licht-
                                                                   intensität die Umwandlung der Vorstufen in Vitamin D
Entsprechend den Wanderungsbewegungen gibt es also keine           gelingt. Cavalli-Sforza vermerkt hierzu: „Tatsächlich aber
kategorialen, sondern graduelle Unterschiede in der Verbrei-       haben sich die für diese sichtbaren Unterschiede verantwortli-
tung genetischer Varianzen, weswegen man auch von Zu-              chen Gene nur infolge der klimatischen Einwirkungen verän-
bzw. Abnahme genetischer Frequenzunterschiede spricht              dert. […] Die Gene, die auf das Klima reagieren, beeinflussen
(„de-cline“ oder „in-cline). Livingston [2] basierte 1962 in       die äußeren Merkmale des Körpers, weil die Anpassung an
seiner fundamentalen Kritik des Rassekonzepts eine eigene          das Klima vor allem eine Veränderung der Körperoberfläche
Konstruktion von Populationsunterschieden auf diesem Be-           erforderlich macht. Eben weil diese Merkmale äußerlich sind,
griff der „clines“, also der graduellen Unterschiede zwischen      springen die Unterschiede zwischen den Rassen so sehr ins
Populationen. Und auch der Populationsgenetiker Cavalli-           Auge, so dass wir glauben, ebenso krasse Unterschiede exis-
Sforza formulierte wörtlich: „Tatsächlich ist bei der Gattung      tieren auch für den ganzen Rest der genetischen Konstitution.
Mensch eine Anwendung des Begriffs „Rasse“ völlig unsin-           Aber das trifft nicht zu: Im Hinblick auf unsere übrige geneti-
nig. Die Struktur der menschlichen Population ist äußerst          sche Konstitution unterscheiden wir uns nur geringfügig
komplex und variiert von Region zu Region und von Volk zu          voneinander“ [3].
Volk. Dank der ständigen Migration innerhalb der Grenzen
einer Nation und darüber hinweg gibt es immer Nuancen, die         Auch Enzyme, welche den Abbau von Psychopharmaka
klare Trennungen unmöglich machen [3]“. In ähnlicher Weise         regeln, sind genetisch kodiert und die Allelfrequenzen der
formulierte die „American Association of Physical Anthro-          kodierenden Gene können zwischen verschiedenen Popula-
pologists“, dass der Rassebegriff wissenschaftlich obsolet ist.    tionen schwanken. So können beispielsweise „slow metaboli-
Zusammenfassend ist eine Rasseneinteilung der menschli-            zers“ bestimmter Leberenzyme (der CYP450-Familie) mit
chen Spezies aus genetischer Sicht haltlos, da es keine nen-       besonders langsamem Abbau in einigen Populationen mit
nenswerten kategorialen Unterschiede im Hinblick auf die           einer Frequenz von 1–2 %, in anderen jedoch mit einer Fre-
Genausstattung zwischen verschiedenen Populationen zu ge-          quenz von bis zu 10 % auftreten. Es wäre aber fahrlässig, aus
ben scheint. Es lassen sich nur unterschiedliche Genvarianten      diesem statistisch signifikanten Unterschied im Vorkommen
(Polymorphismen) zwischen verschiedenen Populationen               von langsamen Metabolisierern darauf zu schließen, alle

                                                                                        J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)   171
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

Menschen aus der Population, in der langsame Metabolisierer        Anthropologie des 18. Jahrhunderts entstanden. Wie bereits
besonders selten vorkommen, automatisch höher dosieren zu          geschildert, verwendete Blumenbach hierbei Elemente der
müssen. Genauso inakzeptabel wäre es, die 90 % aller Perso-        biblischen Schöpfungsgeschichte und ging von der Annahme
nen, welche eine „normale“ Metabolisierungsrate aufweisen,         der unterschiedlichen Schwere der Degeneration einzelner
generell mit niedrigen Dosierungen zu behandeln, nur weil          Menschenrassen aus, deren Maßstab jeweils das europäische
10 % aller Menschen aus derselben Population ein Medika-           Schönheitsideal war. Auch andere Bezeichnungen sind offen-
ment besonders langsam abbauen. Hilfreich für eine genetisch       bar historisch gewachsen. So bezeichnet der Begriff der
informierte Medikamentengabe sind demgegenüber Medika-             „Hispanics“ alle Einwanderer aus spanischsprechenden süd-
mentenspiegel und, sofern praktisch durchführbar, die indivi-      amerikanischen Ländern. Bezeichnet werden hierbei aber
duelle Bestimmung des Genotyps. Entgegen dem Vermark-              nicht etwa nur die Nachfahren der Indios und der spanischen
tungsinteresse einer sich formierenden „rassischen Pharma-         Eroberer, sondern je nach Ausmaß des transatlantischen Skla-
kologie“ muss also dringend vor falschen Generalisierungen         venhandels auch die Nachfahren der aus Afrika entführten
gewarnt werden: Jeder einzelne Patient ist individuell zu          Menschen. Entglitt ein Land nun im Laufe der Kolonialge-
betrachten und die Möglichkeit der Vorhersage eines beson-         schichte der spanischen Herrschaft, wie dies beispielsweise
ders schnellen oder langsamen Medikamentenabbaus auf-              bei Jamaika im 18. Jahrhundert der Fall war, dann wurden die
grund der geographischen Herkunft einzelner Patienten ist          Menschen aus diesen Regionen nicht mehr als „Hispanics“
von sehr hoher Irrtumswahrscheinlichkeit begleitet.                bezeichnet, sondern zählen als Jamaikaner mit überwiegend
                                                                   dunkler Hautfarbe zu den „African Americans“. Wie willkür-
Was sich also bei der Betrachtung unterschiedlicher Popula-        lich eine solche Klassifikation ist, zeigt sich nicht nur an den
tionen nachweisen lässt, sind Frequenzunterschiede in der ge-      Wechselfällen der amerikanischen Geschichte, sondern auch
netischen Variation, d. h. in der Häufigkeit von allelischen       an den vielfachen Vermischungen, wie sie sich an der spani-
Varianzen der genetischen Konstitution. Demgegenüber las-          schen Klassifizierung für die amerikanischen „Mündel“ in
sen sich keine kategorialen Unterschiede im Vorkommen ein-         Puerto Rico ablesen lässt:
zelner Gene nachweisen – was zwischen den Populationen             Spanier und Indianerin zeugen mestizo
prozentual variiert, sind Ausprägungsformen einzelner Gene,        mestizo und Spanierin zeugen castizo
nicht das Vorkommen der Gene selbst. Hinzu kommt, dass             castizo und Spanier zeugen Spanier
auch vermeintlich populationsspezifische Varianzen, wie die        Spanier und Negerin zeugen mulato
genetisch bedingte Sichelzellenanämie, welche vor Malaria          Spanier und mulato zeugen morisco
schützt, in vergleichbarer Form und Ausprägung auch in euro-       morisco und Spanier zeugen albino
päischen Malariagebieten, beispielsweise in Griechenland,          Spanier und albino zeugen torna atrás
nachweisbar sind. Je nach Population können hier aber unter-       Indianer und torna atrás zeugen lobo
schiedliche Mutationen zum selben Effekt, d. h. zum selben         lobo und Indianerin zeugen zambaigo
Phänotyp der Sichelzellenanämie, führen. Aus der spezifi-          zambaigo und Indianerin zeugen cambujo
schen Ausprägung einer solchen Mutation kann also gefolgert        cambujo und Mulattin zeugen albarazado
werden, in welcher Region diese Mutation wahrscheinlich            albarazado und Mulattin zeugen barcino
entstanden ist. Zur Konstruktion einer „Rasse“ eignet sie sich     barcino und Mulattin zeugen coyote
dagegen nicht.                                                     coyote und Indianerin zeugen chamiso
                                                                   chamiso und Mestize zeugen coyote mestizo
„ Ist der amerikanische Begriff „race“ vom                         coyote mestizo und Mulattin zeugen ahí te estas
  europäischen Begriff der „Rasse“ unter-                          Dies ist die offizielle Rangordnung der spanischen Klassifi-
  scheidbar?                                                       zierung für die amerikanischen „Mündel“. Die unterste Stufe
Der Begriff „race“ scheint im angloamerikanischen Sprach-          bildeten die ahí te estas („hier bist du“) [8]. Bei Menschen mit
raum, anders als der durch den Nationalsozialismus besonders       afrikanischer und indianischer Abstammung, bei denen diese
belastete Begriff der „Rasse“, noch als politisch korrekt be-      Herkunft als vermeintlich „minderwertig“ galt, zählten Men-
wertet zu werden. Dieser Eindruck wird allerdings durch die        schen so lange als „African Americans“ oder Indianer, wie
amerikanische Rassenklassifikation gerade deshalb bewirkt,         sich in ihrem Aussehen noch Hinweise auf die entsprechen-
weil auch die Befürworter einer besseren Beteiligung von           den Vorfahren finden ließen. Jemand ist also so lange
Minderheiten am Schul- und Weiterbildungssystem zur Über-          schwarz, wie man ihn noch als solchen in irgendeiner Form
prüfung der Zugangsbarrieren auf die Zählung der rassistisch       erkennen und diskriminatorischen Praktiken aussetzen kann.
diskriminierten Menschen angewiesen sind. Dazu benötigen           Deshalb zählt der aktuelle US-Präsident Barack Obama mit
sie nun aber wiederum eine Klassifikation der Menschen,            einem afrikanischen Vater und einer europäischstämmigen
welche von rassistischer Diskriminierung betroffen sein kön-       Mutter als „schwarzer“ Präsident. Das Stereotyp der rassisti-
nen. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich damit die sozialpsycho-   schen Diskriminierung prägt hier Rassenklassifikation wie
logisch simplen Klassifizierungen vermeintlicher „Rassen“ in       Selbstverständnis jener Menschen, welche sich unter dem
der Selbstwahrnehmung jener Menschen reproduzieren, die            Druck rassistischer Klassifikation und Diskriminierung als
davon betroffen sind. Die amerikanischen Rasseklassifika-          selbstbewusste Träger einer schwarzen Kultur konstituierten.
tionen sind aber auch aus weiteren Gründen wissenschaftlich        Ähnlich wie im Fall der jüdischen Großmutter, die zur Zeit
unsinnig: Der Begriff der „Kaukasier“ bezeichnete ursprüng-        des Nationalsozialismus ausreichte, um einen Menschen der
lich keineswegs Menschen mit indoeuropäischem Sprach-              entsprechenden Vernichtungsmaschinerie auszuliefern, zählt
hintergrund, sondern ist vielmehr im Bereich der imaginären        also nicht die vermeintliche genetische Ähnlichkeit mit der

172   J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

angeblichen Ursprungspopulation, sondern die auf irgendeine      Staaten nach dem 2. Weltkrieg spielte also eine wesentliche
Weise noch herstellbare Verbindung zu einer sozial verfolg-      Rolle bei der Neukategorisierung der vermeintlichen „Ras-
ten Gruppe als Kriterium, wer den diskriminierenden Prakti-      sen“ in Amerika. In Deutschland selbst findet man sowohl vor
ken ausgesetzt ist und sich gegen die entsprechenden Stereo-     als auch nach dem 2. Weltkrieg in enzyklopädischen Werken
typen wehren muss.                                               durchaus noch die Einteilung der Europäer in idealtypisch
                                                                 definierte „nordische“, „westische“ und „ostische“ Rassen,
Dass diese historisch obsolete Klassifizierung der vermeintli-   wobei erstere als blauäugig und langschädelig und letztere als
chen Menschenrassen in Amerika auch heute noch klinische         klein, dunkelhaarig, braunäugig und nicht explizit zu höherer
Anwendung findet, zeigt sich am Beispiel des bei Herzschwä-      geistiger Betätigung befähigte Menschen definiert wurden
che eingesetzten Medikaments Bidil (eine Kombination von         [10].
Hydralazin und Isosorbit-Dinitrat). Bei klinischen Testungen
zeigte dieses Medikament keine allgemeine Wirksamkeit,           Mit der Niederlage des Nationalsozialismus verlor diese Art
Subgruppenanalysen ergaben bei Afroamerikanern allerdings        der Rasseneinteilung allerdings an Bedeutung. Entsprechend
einen signifikanten Therapieerfolg. So wurde es 2005 von der     diesem zeithistorisch wie politisch ermöglichten Neubeginn
amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ausdrücklich nur           gibt es auch derzeit keine Versuche, das unterschiedliche Auf-
für Afroamerikaner zugelassen. In diesem Rahmen entspann         treten bestimmter Allelfrequenzen in Nord- versus Südeuropa
sich eine kontroverse Diskussion, bei der auf 2 wichtige         durch eine innereuropäische Rassenklassifikation vorher-
Punkte hingewiesen wurde: Zum einen, dass Afroamerikaner         zusagen, um damit das Ansprechen auf einzelne Psychophar-
ein höheres Risiko haben, an Herzschwäche zu versterben und      maka im Voraus abzuschätzen. Wie oben gezeigt, wäre eine
es deshalb nicht vertretbar sei, dieser Gruppe ein wirksames     solche Einteilung nicht nur extrem unzuverlässig, aufgrund
Medikament vorzuenthalten; zum anderen, dass die Wirksam-        der genetischen Variabilität in den einzelnen Populationen
keit von Bidil nicht durch die Hautfarbe zu erklären sei, son-   wäre sie auch keineswegs geeignet, auch nur mit einiger-
dern dass die Faktoren, die mit der – vermeintlichen – Wirk-     maßen vertretbarer Sicherheit das Auftreten von beispiels-
samkeit des Medikaments assoziiert seien, noch nicht ent-        weise schweren Nebenwirkungen bei extrem langsamer
deckt worden sind. Es ist nicht abschließend geklärt, ob es      Metabolisierung (extrem langsamem Abbau) eines Medika-
sich hier um Genvarianten oder Umweltfaktoren oder um das        ments vorherzusagen. Kenntnisse über Frequenzunterschiede
Ergebnis multipler Subgruppentestungen unter dem Ver-            in der Allelausprägung einzelner Gene zwischen Menschen
marktungsdruck eines in der Allgemeinbevölkerung nicht           unterschiedlicher geographischer Herkunft ersetzen deshalb
wirksamen Medikaments handelt. Da, wie oben ausgeführt,          auf keinen Fall eine Auseinandersetzung mit dem individuel-
der Begriff der Afroamerikaner unterschiedslos auf alle Men-     len Vulnerabilitätsprofil des Patienten, sie ersparen keine ge-
schen angewendet wird, welche in irgendeiner sichtbaren          netische Testung bei Verdacht auf Extremtypen der Metaboli-
Form Vorfahren aus Afrika haben könnten – unabhängig             sierung und sagen keinesfalls verlässlich voraus, welche The-
davon, ob es sich um eine afroamerikanische Großmutter bei       rapie im Einzelfall anzuwenden ist. Dies gilt auch bei Ein-
Familien handelt, die seit 200 Jahren in Amerika leben oder      beziehung von modernen Formen der Definition von Sub-
um die Kinder von 2 in den vergangenen Jahrzehnten aus           populationen durch Kartierung von einigen 100 Genpolymor-
Nigeria zugewanderten Ehepartnern – erscheint es als nicht       phismen [11]. Diese Methode war primär entwickelt worden,
ganz unwahrscheinlich, dass multiples Testen eines in der        um geringfügige Unterschiede in der Auftretenswahrschein-
Allgemeinbevölkerung statistisch nicht signifikant wirksa-       lichkeit genetischer Varianzen bei der Testung, beispiels-
men Medikaments neue Vermarktungsmöglichkeiten bei ver-          weise von Medikamentenwirkungen in verschiedenen Regio-
meintlichen „Rassen“ eröffnet, welche ohne die Konstruktion      nen, zu erfassen. Auch die hier erhobenen Befunde stützen
von solchen „Rassen“ nicht gegeben sind.                         den bereits beschriebenen graduellen Unterschied zwischen
                                                                 verschiedenen Populationen und sprechen gegen eine simple
„ Verschiedene europäische Menschen-                             kategoriale Unterscheidung von Allelfrequenzen innerhalb
                                                                 unterschiedlicher Populationen im Sinne des Rassenkonzepts.
  rassen?                                                        Deshalb kann die Auseinandersetzung mit genetischen Varia-
Vor der Niederlage des Nationalsozialismus wurde die Eintei-     tionen, d. h. unterschiedlichen Allelfrequenzen, beispiels-
lung der Menschenrassen weit über die Zuordnung zu den ver-      weise für Enzyme, welche Psychopharmaka abbauen (z. B.
meintlichen 3 „Großrassen“ betrieben. So wurden Millionen        Cytochrom-P450-Enzyme), bei einzelnen Populationen
Juden trotz ihrer jahrhundertelangen Sesshaftigkeit in Mit-      durchaus im Interesse der Patienten sein. Sie stützen aber
teleuropa als „artfremde“ semitische „Rasse“ definiert. Dies     keine reduktionistische Einteilung in Menschenrassen, wel-
war aber nicht nur in Deutschland der Fall, auch in anderen      che aufgrund der bisher damit verbundenen diskriminieren-
Teilen Europas und in Amerika erfolgte die Zuordnung jüdi-       den Praktiken zudem für die Betroffenen sozial schädlich ist
scher Menschen zur Großrasse der „Kaukasier“ bzw. zu den         und den Blick auf die Vielfältigkeit menschlicher Seins- und
„White Folks“ erst nach dem 2. Weltkrieg. Sie wurde erleich-     Erlebnisweisen sowie ihrer neurobiologischen Korrelate ver-
tert durch Integrationsprogramme für Soldaten, welche hell-      stellt.
häutigen jüdischen und christlichen Amerikanern zugespro-
chen wurden, schwarzen Soldaten jedoch in der Regel nicht        „ Interessenkonflikt
offenstanden [9]. Die Aufhebung diskriminierender Behand-
lung gegenüber jüdischen Mitbürgern in den Vereinigten           Der korrespondierende Autor verneint einen Interessenkonflikt.

                                                                                      J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (2)   173
Entwicklung und Kritik des „Rasse“-Begriffs

                                                              Literatur:                                         7. Tishkoff SA, Dietzsch E, Speed W, Pakstis
 „ Relevanz für die Praxis                                    1. Association of American Physical Anthro-
                                                                                                                 AJ, Kidd JR, Cheung K, Bonné-Tamir B,
                                                                                                                 Santachiara-Benerecetti AS, Moral P, Krings
                                                              pologists. Statement of biological aspects of
                                                                                                                 M. Global patterns of linkage disequilibrium
                                                              race. Am J Physiol Anthropology 1996; 101:
 Neuere Forschungen zeigen, dass sich im Erbgut keine         569–70.
                                                                                                                 at the CD4 locus and modern human origins.
                                                                                                                 Science 1996; 271: 1380–7.
 kategorialen Unterschiede zwischen den vermeintlichen        2. Livingston F. On the non-existence of human
                                                              races. In: Harding S (ed). The Racial Economy      8. Röhrbein K, Schultz R. Puerto Rico. Insel-
 Menschenrassen, sondern nur Unterschiede in der Auf-                                                            paradies der Wallstreet und unabhängiger
                                                              of Science. Indiana University Press, Blooming-
 tretenshäufigkeit einzelner genetischer Varianzen finden     ton-Indianapolis, 1962; 133–41.                    Staat? Geschichte, Kultur, Gegenwart. Verlag
                                                                                                                 Klaus Wagenbach, Berlin, 1978.
 lassen.                                                      3. Cavalli-Sforza L, Cavalli-Sforza F. Verschie-
                                                              den und doch gleich: ein Genetiker entzieht        9. Brodkin K. How Jews became white folks
                                                              dem Rassismus die Grundlage. Droemer Knaur,        and what that says about race in America.
 Diese Erkenntnisse haben zu einer Neugewichtung phäno-       München, 1994.                                     Rutgers University Press, New Brunswick-
                                                              4. Blumenbach JF. Handbuch der Naturge-            New York-London, 1998.
 typischer Unterschiede geführt, die nicht mehr als Kenn-     schichte. 11. rechtmäßige Ausg. Dieterich’sche     10. Der Brockhaus. In vier Bänden. Brockhaus,
 zeichen einer (vermeintlich höher- oder minderbegabten)      Buchhandlung, Göttingen, 1825.                     Mannheim, 1934.
 „Rasse“ gelten. Nichtsdestoweniger gibt es immer wieder      5. Blumenbach JF. De Generis Humani Varietate      11. Price AL, Patterson NJ, Plenge RM, Wein-
                                                              Nativa. 5. Aufl. Göttingen, 1795.                  blatt ME, Shadick NA, Reich D. Principal com-
 Publikationen und Forschungen, die kategoriale Unter-        6. Gould SJ. Der falsch vermessene Mensch.         ponents analysis corrects for stratification in
 schiede zwischen „Rassen“ postulieren und darüber sozia-     3. Aufl. Suhrkamp Taschenbuchverlag, Frank-        genome-wide association studies. Nat Genet
                                                              furt/Main, 1999 [1981].                            2006; 38: 904–9.
 le, ökonomische oder Verhaltensunterschiede zu erklären
 versuchen.
                                                                Prof. Dr. med. Andreas Heinz
 Wir erörtern eine alternative Sichtweise, welche das aktu-     Studium der Medizin, Philosophie und Anthro-
 elle Wissen über graduelle biologische Varianzen, Ge-          pologie in Bochum, Berlin und Washington.
 meinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen in            Approbation und Dissertation 1988, Habilita-
 unterschiedlichen Populationen ernst nimmt und reduktio-       tion 1998. Arzt für Neurologie, Psychiatrie
 nistischen und potenziell diskriminierenden Einteilungen       und Psychotherapie sowie Sozialmedizin.
                                                                Seit 2002 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie
 in „Menschenrassen“ widerspricht. Dies ermöglicht eine         und Psychotherapie an der Charité Universi-
 differenzierte und kontextorientierte Auseinandersetzung       tätsmedizin Berlin, Campus Mitte.
 mit der menschlichen Diversität und Variabilität.

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