STILL STAND GLEICHZEITIG CHANCEN BIETET FÜR VERÄNDERUNG WISSENSCHAFT UND KULTUR | 24. FEBRUAR BIS 31. MÄRZ 2021
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STIL L STAND E L LS C H A F T LÄ H M T U ND N A - PA N D E M IE D IE G E S WIE DIE CORO N B IE T E T F Ü R V E RÄ N D E R U N G GLEICHZEIT IG C H A N C E R U AUS N D E N M IT GÄSTEN IG ITALEN G E S P RÄ C H S N IS S E AU S S E C H S D Ä R Z 2 021 ERKENNT LT U R | 24. FEB R UA R B IS 3 1 . M S C H A F T U N D K U WISSEN 1
Rasender Stillstand: Wie kommen wir wieder in Bewegung? S. 3 Zwischen Entschleunigung und Isolation: S. 4 Wie verändert der Lockdown unser Leben? Eingeschränkter Radius: Wie verändert sich unsere S. 7 Mobilität und Weltreichweite? Kauflaune: Wie wirkt sich die Krise auf unser S. 10 Konsumverhalten aus? Leben im Lockdown: Welche neue Bedeutung haben privater S. 13 und öffentlicher Raum? Kunst im digitalen Raum: Wie gehen Kultureinrichtungen S. 16 mit der Pandemie um? Post-Corona-Zukunft: Wie verhalten wir uns, sobald die S. 19 Beschränkungen aufgehoben sind? 2
RASENDER STILLSTAND O M M E N W IR W IE D E R WIE K IN BEWEGUNG? Wir müssen gemeinsam Antworten finden. Eigent- lich ist Corona genau so etwas, was einen Sinn dafür weckt, dass wir in einer geteilten Welt leben, deren EINLEITUNG Strukturen nicht ich mache, nicht Sie machen, sondern die sozusagen im gemeinsamen Zusammenwirken Infektionsketten verfolgen, Kranke versorgen, Impf- entstehen. Deswegen leben wir zusammen in dieser stoffe verteilen: Während die einen im Wettlauf ge- Gesellschaft. gen die Zeit arbeiten, ist das Leben der anderen im Prof. Dr. Hartmut Rosa Lockdown fast zum Stillstand gekommen. Die Ge- danken rasen jedoch weiter: Wie bekomme ich Ho- sechs Lunch-Sessions darüber nachgedacht, wie meoffice und Home Schooling unter einen Hut, wie sich die Pandemie auf unsere Gesellschaft auswirkt halte ich mich mit meinem Geschäft über Wasser, – und was wir aus einem Jahr Leben mit Corona ler- welche Perspektiven habe ich als Künstler? Und wie nen können. bleibe ich in Verbindung mit den Menschen, die mir Besonders in Zeiten von Kontaktbeschränkungen wichtig sind? Wird es je wieder so wie früher? und einem weitgehenden Stillstand des öffentli- In seinem Essay „Rasender Stillstand“ beschrieb chen Lebens bauen uns Technologien eine Brücke der französische Medienkritiker Paul Virilio 1989, zu Orten, an denen wir nicht sein können, und zu wie moderne Technologien uns Bewegung ermög- Menschen, die wir nicht treffen dürfen. Gleichzeitig lichen, ohne dass wir uns vom Fleck bewegen. Nun merken wir, dass „Distant Socializing“ mit Video- befindet sich die gesamte Welt in einem rasenden konferenzen, Textnachrichten und Telefonaten auf Stillstand, sehnsüchtig auf die Überwindung der Dauer kein Ersatz für reale Begegnungen ist, und Pandemie wartend. Doch wie verändert uns diese sehnen uns danach, unseren Radius wieder zu er- „Zwischenzeit“? weitern. Mit der Veranstaltungsreihe „Rasender Stillstand“ Wie geht es also besser? hat das Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung gemeinsam Wie kommen wir wieder in Bewegung? mit Holtzbrinck Berlin, Wissenschaft im Dialog und Darüber haben wir bei „Rasender Stillstand“ 20 Gesprächsgästen aus Wissenschaft und Kultur in diskutiert. 3
UAR 2021 SESSION #1 | 24. FEBR H L E U N IG U N G U N D ZWISCHEN ENTSC D E R T D E R ISOLATION: WIE V E RÄ N D O W N U N S E R L E B E N ? LOCK Die Welt steht still. Und sie dreht sich gleichzeitig mit ungebrochener Geschwin- digkeit. Wir leben in einer Zeit der Gleichzeitigkeiten: Züge rasen durch das Land, Flugzeuge und Schiffe verbinden Kontinente, Aktienkurse explodieren, globale Konflikte lodern, Gletscher schmelzen und Konzerne stellen täglich neue Innova- tionen vor. Dies ist die eine Schicht, in der für einen außerirdischen Beobachter alles so wirken müsste, wie vor der Pandemie. Zoomt er näher hinein in unseren Alltag, so wird er eine Mischung aus Zwangsentschleunigung und Vereinzelung von Menschen wahrnehmen, leere Züge sehen, Fracht- statt Urlaubsflieger und teilweise geschlossene Grenzen. Der wird überforderte Familien im Homeoffice sehen und Senior:innen, die seit Monaten keinen Besuch empfangen haben. Der wird verunsicherte Kinder sehen, die bereits im zweiten Jahr keinen Geburtstag mit ihren Freund:innen feiern dürfen und sie höchstens auf Bildschirmkacheln zu sehen bekommen. Der wird Unternehmer:innen sehen, die gerade noch ein kleines Café aufgemacht haben und nun seit Monaten auf Hilfsgelder warten, um sich selbst ein Frühstück leisten zu können, während im eigenen Laden gäh- nende Leere herrscht. Und schließlich wird er Politiker:innen sehen, die sich zu- nehmend ratlos wirkend ebenfalls auf Bildschirmkacheln treffen, um einen un- sichtbaren Feind zu bekämpfen. 4
sind. Eigentlich schieben wir solche Dinge in einer Ge- sellschaft mit knappen Zeitbudgets als Sehnsuchtsideen auf: Wenn ich mal Zeit hätte, würde ich angeln, Brot backen, einen Gemüsegarten anlegen, Kochen lernen, Jürgen Rinderspacher Wagner-Opern hören oder Thomas Mann lesen. Zum Teil Jule Specht konnten wir das jetzt erzwungenermaßen tun, und zum Hartmut Rosa Teil stellen Leute plötzlich fest: Eigentlich finde ich Brot backen öde, das ist mir viel zu aufwendig, Thomas Mann Wie wirkt diese Fragmentierung unserer ist eigentlich scheußlich, und die Wagner-Opern gehen Gesellschaft auf uns Menschen? mir auf den Wecker – und dann enden wir unter Umstän- den doch bei den Katzen-Videos.“ Darüber sprachen wir in der ersten Session mit: Hartmut Rosa, Professor für Soziologie, Universität Der Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher rechnet aus: Jena „40% der Menschen haben plötzlich ein ganz anderes Jule Specht, Professorin für Psychologie, Humboldt- Zeit-Budget, das sie bewältigen müssen.“ Das eröffnet Universität Berlin ihnen neue Möglichkeiten, ihren Alltag auszugestalten Jürgen P. Rinderspacher, Wirtschaftssoziologe und – eine Freiheit, die viele Menschen, die sonst Vollzeit Zeitforscher, Universität Münster arbeiten, nicht mehr gewohnt sind: „Wir nutzen die Zeit auch für Dinge, die wir nie machen konnten.“ Darin ste- Der Soziologe Hartmut Rosa ist Experte für gesellschaft- cken Potenziale, wenn man die Zeit auch für sich selbst liche Beschleunigungs- und Resonanzeffekte. Er betont, reservieren kann: „Viele Menschen nutzen die gewonne- dass die „Zwangsentschleunigung“, die der Lockdown ne Zeit, um einfach mal ausreichend zu schlafen. Das ist mit sich bringt, nicht unbedingt eine entlastende Befrei- erst mal gut. Seit Jahren sprechen wir über die unaus- ung ist, mit der wir sonst Entschleunigung als positive geschlafene Gesellschaft.“ Erfahrung in einer schnelllebigen Welt konnotieren. Die Entschleunigung des Lockdowns sei vielmehr eine Iso- lationserfahrung: „Ich glaube, dass wir gerade die Erfah- rung machen, dass viele Resonanz-Illusionen geplatzt 5
Die Psychologie-Professorin Jule Specht mahnt hinge- gen an, dass Menschen neben Zeit auch materielle Res- sourcen benötigen, um sich zu entwickeln. Und genau hier entstehe derzeit die Diskrepanz zwischen einem LEARNING Mehr an Zeit bei einem oft Weniger an materiellen Res- sourcen, die das Frei-Zeit-Empfinden konterkarierten: „Menschen entwickeln ihre Persönlichkeit immer dann Der rasende Stillstand des Lockdowns hat ambiva- weiter, wenn sie genügend Ressourcen zur Verfügung lente Effekte auf uns Menschen: Die gewonnene Zeit haben und keine Angst haben müssen.“ Specht hofft da- durch die Konzentration auf das eigene Heim gibt her auf schnelle Impfung und kein „weiter so“ nach der uns neue Freiheiten, etwa um länger zu schlafen Pandemie. Die Zeit der Pandemie sei für viele eher keine oder die Arbeit um das Privatleben zu organisieren – Chance zur Weiterentwicklung: „Aus unserer Forschung sie wird aber auf Dauer als Isolationserfahrung emp- sehen wir immer wieder, dass Menschen sich dann wei- funden. Menschen brauchen Gemeinschaft und Ge- terentwickeln, wenn es ihnen gut geht, wenn sie zufrie- sellschaft braucht (reale) Begegnungen. Diese sind den sind, wenn sie glücklich sind, wenn sie wenig Angst durch den Lockdown unterbrochen – und das stellt haben, wenn sie nicht in Konfliktsituationen sind, also auf Dauer eine enorme Belastung für die individuelle wenn sie in einer psychisch ausgewogenen Situation Psyche sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt leben – dann ist der richtige Zeitpunkt, um sich weiter- dar. Hier müssen neue Strategien entwickelt werden, zuentwickeln, wenn wir auf das Individuum gucken,“ so Gemeinschaft trotz Distanz neu zu entwickeln. Denn Specht. gerade Frei-Zeit kann als Horror empfunden werden, wenn man keine soziale Einbindung mehr hat. Hier Auch Hartmut Rosa beobachtet dies: „Ich kenne Be- kann Hartmut Rosas Modell der Resonanzerfahrun- richte von kreativ Tätigen, die besagen, dass es ihnen gen helfen: Resonanzerfahrung kann man zwar auch schwerfällt, kreativ tätig zu sein, wenn sie isoliert sind, in der Natur oder Beschäftigung mit sich selbst ent- weil Kreativität stark vom Umfeld geprägt wird.“ wickeln – für die meisten Menschen entsteht Reso- nanz aber im persönlichen Austausch mit Mitmen- schen. 6
2021 SESSION #2 | 3. MÄRZ S C H RÄ N K T E R R A D IU S : EINGE U N S E R E WIE VER Ä N D E RT S IC H U N D W E LT R E IC H W E IT E? MOBILITÄT Die Welt schrumpft in unserem Alltag gerade massiv: Während wir vor einem Jahr noch über die nächste Fernreise sinnierten, fragen wir uns heute, wie weit der Spaziergang mit Freunden gehen darf, um pünktlich zur Ausgangssperre (die es tatsächlich gab, als dieser Text verfasst wurde) wieder zu Hause zu sein. Bietet diese Lokalisierung auch Chancen, Natur und Umwelt wieder bewusster wahrzu- nehmen, Verkehr und damit Treibhausgase zu reduzieren und letztlich weniger gestresst unterwegs zu sein? Oder brauchen wir nicht Bewegung, um Abstand vom Lagerkoller zu bekommen, Menschen zu treffen und Neues zu entdecken? Genügen dafür nicht unsere Füße – muss es gleich die weite Distanz sein, an die wir uns in der globalisierten Moderne so sehr gewöhnt haben? Darüber sprachen wir mit: Elisabeth Kals, Professorin für Sozial- und Organisationspsychologie, Katho- lische Universität Eichstätt-Ingolstadt Martin Schmitz, Spaziergangswissenschaftler, Kunsthochschule Kassel Meike Jipp, Leiterin des Instituts für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft und Raumfahrt Es beginnt im Alltag. Wir wollen weiterhin mobil sein. Aber dabei ungern auf Fremde treffen. Öffentliche Verkehrsmittel meiden wir also, während wir uns mit Bekannten gerne treffen. Studien zeigen, dass wir bekannten Menschen eher vertrauen, dass sie nicht ansteckend sind, meint die Leiterin des Instituts für Ver- 7
Office bewusst ins Auto oder in die U-Bahn setzten, um das Gefühl von Distanz zu haben, obwohl sie dann wie- der von Zuhause aus arbeiten. Eine andere Qualität hin- gegen habe der Spaziergang: „Ein Spaziergang ist kein echtes Fake-Pendeln, sondern eine abgeschwächte und kreative Variante, die zugleich nicht die Umwelt beein- trächtigt. […] Mobilität ist, im wahrsten Sinne des Wor- Meike Jipp tes, ein wunderbares Vehikel, um eine Trennung zwi- Martin Schnmitz schen verschiedenen Lebensbereichen herzustellen.“ Elisabeth Kals Der Spaziergangs- und Raumforscher Martin Schmitz er- gänzt: „Das Gehen ist die genaueste Methode, um eine kehrsforschung, Meike Jipp. Dadurch leert sich vor allem Landschaft zu erfahren.“ Die Städteplanung sei seit dem der ÖPNV, aber auch geteilte Autos von Carsharing-An- 2. Weltkriegsende hingegen auf das Auto und damit die bietern werden gemieden. Auch bei Bahn- und Flug- schnelle Überwindung der einzelnen Ortsteile ausgelegt: reisen herrscht große Zurückhaltung. Das eigene Auto „Selbst die Fußgängerzonen sind im Prinzip autogerech- erlebt hingegen ein Revival, ebenso wie des Menschen te Planung“, weil man meist mit dem Auto dorthin fahre. neuestes Hobby: Das Spazierengehen. Der Mensch hat sich also an eine funktionale Raumord- nung gewöhnt, bei der es nicht länger um das Erleben Kann ein Spaziergang am Stadtrand eine Wanderung der unmittelbaren Umgebung geht, sondern vielmehr durch die schottischen Highlands ersetzen? Oder neh- um das effektive Erreichen bestimmter Erlebnispunk- men wir diese Lokalisierung unseres Aktionsradius nur te, seien es Arbeitsorte, Kinos, Shoppingmalls oder die als Notlösung wahr? „Meine vorsichtige Hypothese nach Wohnung von Freunden. unseren Untersuchungen ist, dass sich das Mobilitäts- verhalten der Menschen wieder auf das Verhalten von Aber ist der Mensch, der sich bewusster mit der Umge- vor der Pandemie einpendeln wird“, prognostiziert Jipp bung beschäftigt, statt sie nur an sich vorbeiziehen zu – insbesondere der Flugverkehr würde wieder zuneh- sehen, glücklicher? Kann die achtsame Wahrnehmung men oder neue Rekorde anstreben, da die Menschen vor gar dem Umweltschutz dienen? Die Sozialpsychologin allem private Reisen nachholen wollen. Elisabeth Kals meint dazu: „Automatisch ist er sicherlich Wie wichtig auch kleine Ortswechsel für uns Menschen sind, beschreibt die Organisationspsychologin Elisabeth Kals: Es gebe Menschen, die sich vor der Arbeit im Home 8
nicht glücklicher, aber im Erleben der Natur liegt ein rie- zunimmt. Menschliches Verhalten lässt sich eigent- siges Potenzial. Und jetzt kommt es darauf an, ob wir das lich ändern, indem richtiges Verhalten belohnt und ausschöpfen, und das hat mit Wahrnehmungsschulung falsches Verhalten bestraft wird. Eine negative Wir- und mit Achtsamkeit zu tun. […] Je mehr junge Men- kung auf das Klima wäre ein Bestrafungsmechanis- schen Naturerlebnisse haben, umso stärker fühlen sie mus. Ein Problem bei diesem negativen Bestrafungs- sich mit der Natur verbunden, und umso mehr sind sie mechanismus ist, dass er nicht sofort zuschlägt, später als Erwachsene bereit, sie zu schützen.“ wenn ich in ein Flugzeug steige, sondern es länger dauert, bis ich negative Auswirkungen auf mein in- LEARNING dividuelles Leben bemerke. Wir Menschen sind schlecht darin, solche langen Bestrafungsphasen Die Corona-Pandemie bietet eigentlich eine echte mit unserem individuellen Verhalten in Verbindung Chance der nachhaltigen Verkehrswende hin zu we- zu bringen. Da müssten wir eher über Mechanismen niger Verkehr und mehr Naturerleben. Das Dilemma nachdenken, die gutes Verhalten auch fördern.“ Ziel besteht darin, dass die für eine solche Verkehrswen- sollte es daher sein, Verkehrskonzepte zu stärken, de notwendigen Massentransportmittel aus Angst die eine intelligente Mischung aus effektiver und vor Infektionen am ehesten gemieden werden. In- möglichst umweltschonender Bewegung von Punkt sofern ist unklar, ob die Pandemie hier einen echten zu Punkt ermöglichen – und Konzepte, die den lo- „Change“ evozieren kann, oder sich das Verkehrs- kalen Raum aufwerten. Hierzu gehört vor allem eine niveau am Ende wieder einpendelt. Dann hätte der Gleichberechtigung von Fußgängern, Radfahrern Klimaschutz nichts gewonnen – und auch wir Men- und anderen Verkehrsmitteln im immer noch auf schen würden uns zurück in die Hypermobilität be- Autos ausgerichteten Stadtraum. Auch an infektions- geben, die uns zwar eine Schrumpfung von Zeit und sichereren Massentransportmitteln wird geforscht. Raum ermöglicht, aber auch unser Erleben dessel- Diese eröffnen uns die Chance, Verkehr intelligent ben verwischen lässt. Nizza und die Lüneburger Hei- zu organisieren, Sammel- und Individualverkehr fair de sind von Hamburg aus dann wieder gleich schnell und ökologischer zu kombinieren. Dann hat die Ver- erreichbar. Das Erleben von Distanz als Qualität, die kehrswende eine echte Chance, gestärkt aus der Co- es zu erforschen gilt, wäre aufgehoben. Verkehrsfor- vid-Krise hervorzutreten. scherin Meike Jipp resümiert: „Der große Nachteil am Umweltthema ist die Dauer, bis die Bestrafung 9
Z 2021 SESSION #3 | 10. MÄR KAUFLAUNE: R IS E AU F U N SER WIE WIRKT SIC H D IE K U M V E R H A LT E N AU S ? KONS Leere Klopapierregale wurden in Deutschland geradezu zum Sinnbild für die erste Phase der Corona-Pandemie – „Hamsterkäufe“ waren der früheste und offensichtlichste Hinweis auf eine Änderung des Konsumverhaltens. Doch bald schon zeichneten sich weitere Trends ab: Während Gastronomie und Shopping- Tempel geschlossen waren, rasten Paketboten und Lieferdienste umso häufiger durch die Straßen. Hat die Schließung von Geschäften also wirklich zu einer Zü- gelung unseres Konsumhungers und zu einer Besinnung auf immaterielle Werte geführt? Und welche Chancen für ein nachhaltigeres Verbraucher:innen-Verhal- ten traten im Zuge der Pandemie zu Tage? Darüber sprachen wir mit: Andrea Gröppel-Klein, Direktorin des Instituts für Konsum- und Verhaltens- forschung an der Universität des Saarlandes Tilman Santarius, Professor für Sozial-ökologische Transformation und nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin Nicola Erny, Professorin für Philosophie an der Hochschule Darmstadt Zunächst erläutert Andrea Gröppel-Klein den aktuellen Faktenstand: Wie hat sich das Konsumverhalten in den vergangenen Monaten entwickelt? In der Tat profitierten vor allem große Online-Versandhändler von der Krise, aber auch Supermärkte und Discounter. Besonders beliebt bei den Konsument:innen wa- ren Einrichtungsgegenstände, Haushaltsgeräte und Baubedarf. Dem gegenüber 10
Tilman Santarius betrachtet dies mit Sorge: „Je mehr Menschen auch beim digitalen Konsum einen Erleb- niskonsum praktizieren können, desto mehr befürchte ich, dass der Konsum weiter ansteigen wird – und das ist in ökologischer Hinsicht gar nicht wünschenswert.“ Online-Shopping ist für viele Menschen also nicht nur eine Notlösung während der Pandemie, sondern ein Nicola Erny Konsum-Treiber. Dafür sorgen personalisierte Werbung Tilman Santarius und ansprechende Online-Shops mit Chats, Verkaufs- Andrea Gröppel-Klein assistenten und Hintergrundmusik. Auch der Umstand, dass Online-Einkäufe jederzeit und überall möglich sind, stehen deutliche Verluste des Innenstadthandels, ins- animiert zu weiteren Bestellungen. besondere im Bereich Bekleidung. Es erscheint kaum gewagt, ein weiteres Wachstum des Online-Shoppings Gleichzeitig betont Santarius, dass E-Commerce nicht nach Corona anzunehmen – insbesondere da es sich zwangsläufig weniger nachhaltig sein muss. Effizient hierbei, wie Tilman Santarius ergänzt, schon vorher um gebündelte Lieferungen können sogar Emissionen ver- einen Trend handelte, der durch die Pandemie noch ein- meiden, wenn dadurch nicht alle Menschen mit dem mal verstärkt wurde. Andrea Gröppel-Klein stellt weiter- eigenen PKW zum Einkaufen fahren. Zudem ermögli- gehend heraus, dass die Preisorientierung während der chen Online-Plattformen neue und effiziente Modelle Pandemie zugenommen hat – und zwar nicht nur bei für Gebrauchthandel und Sharing. Dagegen stellt Verpa- denjenigen, die unsichere Einkommensverhältnisse und ckungsmüll weiterhin ein Problem dar. Arbeitslosigkeit zu fürchten hatten. Vor diesem Hinter- grund erstaunt eine weitere Entwicklung: Während der Der hedonistische Spaß an der Anhäufung von Gütern erste Lockdown von „Planeinkäufen“ dominiert wurde, steht – unabhängig davon, ob es sich dabei überhaupt die von Konsument:innen als wenig lustvolle Lebens- um ein Modell für ein „gutes“ Leben handeln kann – in notwendigkeit angesehen werden, befand sich der he- einem Spannungsverhältnis zu einer nachhaltigen Ent- donistische „Erlebniseinkauf“ – das Shopping um seiner wicklung unserer Gesellschaft, gibt auch Nicola Erny zu selbst willen – während des zweiten Lockdowns bereits bedenken. Sie beobachtet jedoch, dass Statussymbole wieder auf Vorkrisenniveau. zunehmend an Bedeutung verlieren und der sozial sehr viel zuträglichere Faktor „Lebensfreude“ beim Konsum in 11
LEARNING Die Diskussion zeigt, dass das Nachdenken über nachhalti- gen Konsum oftmals von falschen Oppositionen geprägt ist. So betont Andrea Gröppel-Klein: „Erlebniseinkauf und Nach- den Mittelpunkt rückt. Sie betont: „Letztendlich haltigkeit müssen sich nicht ausschließen.“ Bei vielen Verbrau- geht es um die Frage der Verantwortungsüber- cher:innen ist, auch während der Corona-Pandemie, ein immer nahme. Kann vollkommen verantwortungslo- größeres Interesse an nachhaltigen, qualitativ hochwertigen ser Konsum – in einem gehaltvollen Sinne des und regionalen Produkten zu beobachten. Ebenso macht Ni- Wortes – glücklich machen? Ich würde diese cola Erny deutlich, dass eine stärkere Verantwortungsübernah- Frage verneinen.“ Womöglich könnte der Trend, me durch Verbraucher:innen nur eine vermeintliche Belastung Umwelt und Soziales beim eigenen Konsum- für die Freude am Einkaufen darstellt. Im Gegenteil: Eine Über- verhalten mitzudenken, in ähnlicher Weise an einstimmung von Überzeugungen und Handlungen steigert Popularität gewinnen wie vegetarische und die Zufriedenheit. Ebenso sollten die vermeintlichen Gegen- vegane Ernährungsgewohnheiten, die vor 50 sätze „online“ und „regional“ laut Tilman Santarius nicht ge- Jahren noch belächelt wurden. Andrea Gröp- geneinander ausgespielt werden – zumal Nachhaltigkeit auch pel-Klein ergänzt, dass Werbung zwar zu Ver- eine soziale Dimension hat: „Das Sterben der Innenstädte ist haltensänderungen beitragen kann, eigene Re- aus sozialer Hinsicht absolut nicht wünschenswert. Hier ist die flexionsprozesse jedoch deutlich nachhaltiger Antwort aber nicht: weniger Digitalisierung, sondern mehr Di- wirken. gitalisierung – auch im Lokalen!“ Um großen Online-Versand- händlern etwas entgegenzusetzen, fordert er die Förderung von Lokal-Commerce-Plattformen und gemeinsamen Dach- lösungen. Dann können auch die Stärken des lokalen Handels besser zu Tage treten, zum Beispiel schnelle Lieferungen und der persönliche Kontakt zu Händler:innen. 12
Z 2021 SESSION #4 | 17. MÄR LEBEN IM LOCKDOWN: UNG HABEN WE LC H E N E U E B E D E U T F F E N T L IC H E R RAU M ? PRIVATER UND Ö Auf den ersten Blick versetzt die Corona-Pandemie alle Menschen, ob arm oder reich, in eine ähnliche Situation – denn für alle gelten dieselben Einschränkun- gen, und alle halten sich überwiegend in den eigenen vier Wänden auf. Doch was heißt das – die eigenen vier Wände? Während manche ein Haus mit Garten zur Verfügung haben, müssen sich andere den Küchentisch mit Kindern im Home Schooling teilen oder einen provisorischen Schreibtisch im WG-Zimmer basteln. Sportstätten, Kneipen, Cafés oder Bibliotheken stehen als Ausgleich nicht zur Verfügung. Was sagt uns die Pandemie über unser Verhältnis zum privaten und öffentlichen Raum? Darüber sprachen wir mit: Jutta Allmendinger, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarkt- forschung an der Humboldt-Universität und Präsidentin des Wissenschafts- zentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Van Bo Le-Mentzel, Architekt und Designer Ina Remmers, Gründerin und Geschäftsführerin von nebenan.de Dass wir vor der Pandemie eben nicht alle gleich sind, zeigt sich laut der So- ziologin Jutta Allmendinger bereits bei der innerfamiliären Arbeitsteilung. Denn oft fällt der zusätzliche Betreuungsaufwand, der durch Home Schooling und ge- 13
ler:innen fiel es leichter, mit Online-Videos zu lernen, denn auf diese Weise konnten sie den Lernprozess ihrem individuellen Tempo anpassen und verspürten weniger Druck. Sein Fazit: Digitale Medien können ein gutes Mit- tel für den Unterricht sein, wichtig am Präsenzunterricht ist vor allem die soziale Funktion der Lehrenden. Ina Remmers Ina Remmers, Gründerin und Geschäftsführerin von Van Bo Le-Mentzel nebenan.de, betont, dass „Relokalisierung“ schon vor Jutta Allmendinger der Pandemie ein Trend war, der in den letzten Monaten noch einmal an Bedeutung gewann. Für viele Menschen schlossene Kitas entsteht, auf Frauen zurück. Sie stellt – und gerade auch für zahlreiche Alleinstehende – wur- fest, dass insbesondere das Stressniveau junger Mütter de deutlich, dass es wichtig ist, im eigenen, physischen massiv gestiegen ist – und befürchtet, dass Frauen nun Umfeld vernetzt zu sein. Entsprechend führte die Pande- nach mühsam erkämpfter Teilhabe am öffentlichen mie zu einer Verfünffachung der Anmeldungen auf ihrer Raum ins Private zurückgeworfen werden. Zwar sei Ho- Plattform. Sie stellt klar: nebenan.de ist kein reines On- meoffice nicht grundsätzlich ungeeignet, um Familie line-Netzwerk, sondern eine digitale Plattform für echte und Beruf zu vereinbaren. Jedoch könnte dies auch zu Begegnungen. Zugleich warnt sie vor einer, gerade wäh- einer weiteren sozialen Spreizung führen. Denn nur 40 rend der Corona-Pandemie populären, Romantisierung Prozent der Menschen in Deutschland haben überhaupt des Landlebens: Dort finden Offline-Begegnungen in vie- die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten – und nur len Fällen immer seltener statt, da viele Menschen aus- selten wurden Karrieren bis jetzt am Küchentisch ge- schließlich mit dem Auto unterwegs sind. Denn Kneipen macht. Als Wissenschaftlerin hat sie zudem gelernt, dass und Geschäfte gibt es mitunter nur noch selten direkt die Maßeinheiten für soziologische Studien verbessert vor Ort. werden müssen: „Die Verantwortung, die wir für Familie, Kindern und Eltern haben, lässt sich nicht in Stunden Jutta Allmendinger gibt zu bedenken, dass gute Nach- und Minuten ausrechnen.“ barschaftsbeziehungen zwar für soziale Kontakte sorgen können, aber nicht unbedingt für gesamtgesellschaft- Van Bo Le-Mentzel ist nicht nur Architekt und Designer, liche Solidarität. Denn Nachbarschaften werden immer sondern auch Lehrer. Als solcher war er auch mit digita- lem Unterricht befasst – und hat das Lernen mit neuen Medien in durchaus positiver Erinnerung. Vielen Schü- 14
LEARNING Digitale Kontakte sind nicht immer schlecht. Sie eignen sich zum Beispiel gut, um berufliche Bespre- chungen durchzuführen, die ansonsten mit unver- homogener, häufig begegnet man nur Menschen mit hältnismäßigen Anreisewegen einhergehen würden. ähnlichem sozio-ökonomischen Status. Doch gerade die Gleichzeitig müssen wir uns klar machen, was im di- großen Herausforderungen unserer Zeit wie die Klima- gitalen Raum nicht funktioniert. So gibt Jutta Allmen- krise können wir nur zusammen, über alle Unterschiede dinger zu bedenken: „Ich habe das Problem, dass hinweg, bewältigen. das Kreative nicht im digitalen Raum gelebt werden kann. Und diese Grenzen zu definieren, das ist mir Für eine solidarische Gesellschaft ist öffentlicher Raum wichtig.“ Van Bo Le-Mentzel erklärt, warum das so wichtig – er sorgt für soziale Kontrolle und ungeplanten ist: In geschlossenen Räumlichkeiten finden keine Austausch. Dies hält Van Bo Le-Mentzel jedoch gerade in disruptiven Störungen, keine spontanen Gespräche, Deutschland für ein schwieriges Thema, denn oft wird keine Inspirationen statt. Darum sind Innovation bereits die Nutzung von Parkflächen abgelehnt oder so- Labs für ihn, auch wenn noch so aufwendig gestaltet, gar kriminalisiert. Der Architekt ist der Ansicht: „Wir sind nicht für echte Kreativität geeignet. Er wünscht sich, in Deutschland Öffentlicher-Raum-Legastheniker“. Dem den öffentlichen Raum für parkende Autos in einen entgegen fordert er: „Das Leben sollte viel mehr drau- öffentlichen Raum für Menschen umzuwandeln. ßen stattfinden.“ Er regt an, Parks, Park- und Spielplät- Die Diskussion zeigt: Öffentlicher Raum ist wichtig für ze deutlich vielfältiger zu nutzen. Warum kann man an Solidarität und Kreativität. Die Zeit nach der Pande- Spielplätzen nicht arbeiten? Warum stehen große Park- mie verlangt nicht nur eine Rückeroberung, sondern plätze so häufig leer? Auch Jutta Allmendinger plädiert eine Eroberung des öffentlichen Raums überhaupt. dafür, die eigenen vier Wände zu verlassen – denn der persönliche Umgang jenseits von To-do-Listen kommt in Online-Meetings häufig zu kurz: „Wir wissen immer weniger voneinander und beziehen alles auf organisa- torische Angelegenheiten. Ich habe den Eindruck, dass sich die Gesellschaft stärker bürokratisiert.“ 15
Z 2021 SESSION #5 | 24. MÄR T IM D IG ITA L E N RA U M : KUNS R IC H T U N G E N WIE GEHEN KU LT U R E IN E R PA N D E M IE U M ? MIT D Sie gehörten mit zu den ersten, die schließen mussten: Kultureinrichtungen wie Theater, Kinos, Musikclubs, Konzerthäuser, Bibliotheken, Museen und Stadtteil- zentren. Anfangs noch als gut verzichtbar angesehen, fehlen sie der Mehrheit der Gesellschaft doch schmerzlich. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig gerade die kreativen Impulse und Erlebnisse für die Menschen in einer schwierigen und iso- lierten Zeit sind. Wir sind zwar zuhause von der Kultur nicht abgeschnitten und können digital durch viele wunderbare Museen und Ausstellungen schlendern, können uns Konzerte und Theaterstücke in ungeahnter Fülle ansehen, aber er- setzt es das Live-Erlebnis? Viele sprechen davon, dass das Digitale nur ein Ersatz für das ECHTE Erlebnis ist. Was ist das Besondere am Live-Erlebnis und lässt es sich doch digital übersetzen? Darüber sprachen wir mit: Andreas Bernard, Kulturwissenschaftler und Autor, Professor am „Center for Digital Cultures“ an der Leuphana-Universität Lüneburg Amelie Deuflhard, Theaterproduzentin und Intendantin der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg Pamela Schobeß, Berliner Clubbetreiberin und Mitgründerin der Initiative „United We Stream“ 16
Amelie Deuflhard und das Kampnagel-Team in Hamburg haben von Anfang an überlegt, wie sie als geschlossene Theater- und Kulturstätte ohne Publikum vor Ort rele- vant bleiben können. Sie haben eine Doppelstrategie Pamela Schobeß von einerseits digitalen Formaten und andererseits al- Amelie Deuflhard ternativen Live-Formaten entwickelt. Dabei werden alle Andreas Bernard Projekte möglichst so geplant, dass sie ins Digitale über- tragen werden können. Auch Amelie Deuflhard sieht das Theater – ähnlich wie die Clubs – als Ort, an dem sich unterschiedliche Öffentlichkeiten versammeln. Dieses Pamela Schobeß, Clubbesitzerin und Vorsitzende der Versammeln im öffentlichen Raum findet derzeit nicht Berliner Clubcommission, hat zusammen mit weiteren mehr statt. Auch der elementare Dialog zwischen den Clubbesitzer:innen ein Zeichen gesetzt mit der Initiati- Akteuren auf der Bühne und denen im Raum fehlt. ve „United We Stream“. Die Initiative hat DJs eine Platt- form für ihre Darbietungen gegeben und gleichzeitig Andreas Bernard zieht Vergleiche zwischen der Clubsze- den Zuschauer:innen den Club ins eigene Wohnzimmer ne, die in Berlin fast wie eine Ersatzreligion gehandelt gebracht. Sie wollten im Lockdown etwas anbieten, So- wird, und dem religiösen Gottesdienst. Der Präsenz-Got- lidarität mit den Clubs erzeugen, aber auch motivieren tesdienst wurde fast während der gesamten Pandemie- das social distancing einzuhalten: „Die Clubbetreiben- Zeit als unabdingbar gesehen, Clubs und andere Kultur- den haben verstanden, dass Nähe in Zeiten von Corona gefährlich ist.“ Pamela Schobeß fehlt dabei allerdings die Energie durch die Clubbesucher:innen und die Emo- tionalität, die durch den Körperkontakt kommt. Zudem sind für sie die Clubs auch sichere Orte, die den Men- schen die Möglichkeit zur Entfaltung geben. Nachts im Club kann man sich von einer ganz anderen Seite prä- sentieren als z.B. im 9-to-5-Job. 17
LEARNING Eine positive Erfahrung, die viele Menschen, gerade auch die Kulturschaffenden, gemacht haben, ist, dass die örtliche Begrenzung im digitalen Raum auf- gehoben wurde und sie ein vielfältigeres Publikum einrichtungen hingegen nicht. Es hat sich gezeigt, dass ansprechen konnten. Neue digitale und hybride For- Präsenz eine große Rolle für das Gefühl von Authentizi- men haben sich in Theater, Museum und der Musik tät spielt. Sie wird mit der Echtheit des Erlebnisses ver- entwickelt und die Kreativität gefordert. Auch wenn bunden. Dies ist natürlich gerade für Clubs und Musik es keine 1:1-Übersetzung gibt, wo es um den direkten schwieriger als für Theater und Museen. Clubkultur ist zwischenmenschlichen Kontakt geht. Die Wertschät- für viele ein spirituelles Erlebnis, das sie stark vermissen. zung für das gemeinsame Zusammensein im öffent- Aber die Pandemie und der Zwang zu digitalen Forma- lichen Raum hat sich stark erhöht. Die Sorge davor, ten hat für viele Kulturschaffenden nicht nur Stillstand dass durch den langen Zeitraum der „digitalisierten bedeutet, sondern auch Impulse und neue Formate ge- Pandemie-Phase“ das Analoge abgewertet wird und schaffen. Dennoch gibt es Grenzen des Virtualisierbaren es zu einer stärkeren sozialen Distanz kommt, ist un- im kulturellen und sozialen Leben. begründet. Eher wird das Digitale mitvereinnahmt, so dass man sich beispielsweise im öffentlichen Raum trifft, um dann gemeinsam ein digitales Event anzusehen. 18
Z 2021 SESSION #6 | 31. MÄR C O R O N A -ZU KU N F T : POST- N S, WIE V E R H A LT E N W IR U B E S C H RÄ N K U N G E N SOBALD DIE AUFGEHOBEN SIND? Reisen, Shopping, rauschende Feste – Müssen wir alles nachholen, was wir ver- meintlich verpasst haben? Oder bedeutet die Pandemie-Zeit eine Besinnung und Entschleunigung in Bezug auf unseren zuvor nimmersatten Ressourcen- hunger? Werden wir die Pandemie im Rückblick als Zeit der Entbehrung oder als Wendepunkt für einen Wandel hin zu einer sozialeren, nachhaltigeren und vielfältigeren Gesellschaft sehen? Zu diesen Fragen diskutierten Stephan Rammler, Zukunftsforscher und Direktor des Instituts für Zukunfts- studien und Technologiebewertung Christa Liedtke, Abteilungsleiterin Nachhaltiges Produzieren und Konsumie- ren, Wuppertal Institut Christian Stöcker, Kognitionspsychologe, Autor und Professor für Digitale Kommunikation an der HAW Hamburg Christa Liedtke stellt fest, dass die Kreislaufwirtschaftsorientierung einen Auf- schwung genommen hat, ebenso wie das veränderte Konsumverhalten. „Wir haben durch Corona Zeit für Reflektion gehabt. Es hat sich gezeigt, dass die Ge- sellschaft durchaus kompetent ist. Diese Kompetenz hat sich über alle Gesell- schaftsschichten hinweg entwickelt.“ Zum nachhaltigen Konsumverhalten ge- 19
verstehe weiterhin die Welt, in der ich lebe“. Viele Menschen wol- len an einem Status quo festhalten. Dieser ist aber eine Idealvor- stellung, die so nicht existiert, da wir uns immer in einem Zustand permanenter Veränderung befinden. Durch die Pandemie und den in Teilen wirtschaftlichen Stillstand wird das Konzept des per- manenten und exponentiellen Wachstums diskutiert und in Frage gestellt, insbesondere dann, wenn damit eine Kostenreduzierung Christian Stöcker verbunden ist. Dies ist für ihn eine gesamtgesellschaftliche Aufga- Christa Liedtke be. „Die Tugendhaftigkeit und der Verzicht des Einzelnen bringen uns nicht weiter.“ Stephan Rammler hört für sie auch der Verzicht, der die zweite Seite der Medaille von Freiheit ist. Diese Seite gehört zum Leben und der Gesellschaft LEARNING dazu. Verzicht ist die geteilte Verantwortung. Ganz entscheidend Einerseits wird es sicherlich ein Nachholbedürfnis an Kon- ist für sie, dass es ohne Verzicht keinen Gestaltungsraum und da- sum und Reisen geben, andererseits wird ein Zurück zum mit auch keine Transformation geben kann. „Vor-Corona-Zustand“ nicht möglich sein. Das Digitale wird bleiben, egal ob im Arbeitsleben mit Homeoffice und Video- Zukunfts- und Mobilitätsforscher Stephan Rammler sagt, dass konferenzen statt Geschäftsreisen oder im Bildungsbereich die Pandemie gezeigt hat, wie verletzbar moderne Gesellschaften mit Homeschooling und Online-Vorlesungen. Ganz ent- sind. Die Gesellschaft reagiert relativ langsam auf neu auftreten- scheidend ist, dass die Gesellschaft selbst gestalten und sich de Phänomene wie Klimawandel oder Pandemien. „Wir wollen überlegen muss, in welche Richtung sie sich verändern will. immer gern zurück in die alten Routinen.“ Um auf solche Phäno- Dazu bedarf es der kollektiven Verständigung. Die Politik ist mene reagieren zu können, benötigt der Einzelne die Kompetenz hier gefordert im Zusammenspiel mit der Gesellschaft neue sich selbst zu organisieren. Diese Kompetenz zu entwickeln und Strukturen zu entwickeln. Entscheidend dabei ist, dass die- zu erreichen hat wiederum viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. se Strukturen rechtlich flankiert werden, um nachhaltig zu Ein ganz wichtiger Faktor ist für ihn die Schule: „Schule ist nicht wirken. Menschen in politischer Verantwortung müssen eine nur die Hardware“. Sie soll die Software für die sogenannte „Futu- vorsorgende und vorausschauende Politik betreiben. Es ist re Literacy“, also die Lesefähigkeit der Zukunft sein. von enormer Wichtigkeit, dass wir uns zu einer resilienten Ge- sellschaft entwickeln, um für zukünftige Herausforderungen Auch Christian Stöcker sieht Bildung als einen Schlüsselfaktor: gewappnet zu sein. Die Menschen müssen über Bildung in die Lage versetzt werden mit Wandel umzugehen. Bildung für alle unter dem Aspekt „Ich 20
Das Bucerius Lab ist das Labor für Zukunftsfragen der KONTAKT ZEIT-Stiftung. Es konzentriert sich auf den digitalen Wandel, der zu einem zentralen Motor gesellschaftlicher, ökonomischer, politischer und kultureller Veränderungen geworden ist. Das Lab bildet zum einen in Form von ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius Veranstaltungen, Ausstellungen und Schriften aktuelle Debatten ab, zum anderen Bucerius Lab möchte es durch eigene Impulse und Fellowprojekte den gesellschaftlichen Diskurs Feldbrunnenstraße 56 bereichern. Schwerpunkte bilden dabei derzeit die Themen Grundrechte, Verände- 20148 Hamburg rung und Zukunft der Arbeit durch KI und Robotik sowie die Zukunft von Stadt und www.zeit-stiftung.de Land im digitalen Zeitalter. Die „Digital-Charta“ Initiative sowie die Ausstellung „Out www.buceriuslab.de of Office“ sind zwei Stiftungsprojekte/Impulse, die im Rahmen des Labs entstanden @buceriuslab sind. Gestaltung: Gabriel Krauch, elbspree Holtzbrinck Berlin entwickelt mit seinen Part- „Rasender Stillstand“ ist eine digitale Veranstal- ner*innen und Auftraggeber*innen Veranstal- tungsreihe des Bucerius Labs der ZEIT-Stiftung ge- tungskonzepte und Kampagnen, die inspirieren. Wir arbeiten umfassend, ange- meinsam mit Holtzbrinck Berlin und Wissenschaft fangen bei der Strategie, über den Inhalt bis zur technischen Umsetzung auf allen im Dialog. Die Reihe fand statt in der Zeit vom 24. Kanälen. Mit hohem Anspruch an Ästhetik und Text sorgen wir für Kommunikation, Februar bis 31. März 2021. Wir bedanken uns bei der man vertrauen kann. Wir wollen aufmerksam machen. Unterstützen und ver- allen Gesprächsgästen, bei Christine Watty und stärken. Unsere langjährigen Partnerschaften mit Medien, Stiftungen und Unter- Dirk Peitz für die Moderation, bei allen Mitwirken- nehmen ermöglichen verantwortungsvolle und interdisziplinäre Diskurse zu den den im Hintergrund, und bei allen Zuschauerin- Themen, die unsere Gesellschaft bewegen und prägen. nen und Zuschauern. Die Video-Mitschnitte aller sechs Lunch-Sessions sind online verfügbar unter: Wissenschaft im Dialog ist die Organisation www.rasender-still-stand.de der Wissenschaft für Wissenschaftskommu- #RasenderStillstand nikation in Deutschland. Die gemeinnützige GmbH unterstützt Wissenschaft und Forschung mit Expertise zu wirkungsvoller Kommunikation mit der Gesellschaft, © Bildrechte Fotos Seite 1: Foto Reifenspuren, Gina Sanders - stock.adobe.com Seite 5: Hartmut entwickelt neue Vermittlungsformate und bestärkt Wissenschaftler*innen im Aus- Rosa: Jürgen Brauer, Jule Specht: Jens Gyarmati, Jürgen Rinderspacher: Lukas tausch mit der Öffentlichkeit auch über kontroverse Themen der Forschung. Unter Grünke Seite 8: Elisabeth Kals: KU/Klenk, Martin Schmitz: Patricia Schindler, Meike Jipp: privat Seite 11: Andrea Gröppel-Klein: privat, Tilman Santarius: Bürger*innen schärft WiD das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung der Alexander Gehring, Nicola Erny: privat Seite 14: Jutta Allmendinger: WZB/David Ausserhofer, Van Bo Le-Mentzel: Jan Pries, Ina Remmers: nebenan.de Seite 17: Wissenschaft und fördert das Verständnis von Prozessen und Erkenntnissen der Andreas Bernard: Andreas Labes, Amelie Deuflhard: Marcelo Hernandez, Pame- Forschung. Dafür organisiert WiD deutschlandweit Diskussionen, Schulprojekte, la Schobeß: Paola Vertemati Seite 20: Stephan Rammler: Amin Akhtar, Christa Liedtke: Wuppertal Institut/Sabine Michaelis, Christian Stöcker: Dinny Stöcker Ausstellungen, Wettbewerbe und betreibt Online-Portale rund um Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation. 21
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