Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
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1/2–2021 Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten www.lpb-bw.de bis2021_0102_cover.indd u1 21.04.21 12:04
Heft 1/2–2021, 71. Jahrgang Thema im Folgeheft: »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Bundestagswahl 2021 für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktion der Landeszentrale Lothar Frick Sibylle Thelen Redaktion Inhaltsverzeichnis Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, Mark Terkessidis barbara.bollinger@lpb.bwl.de Was ist Rassismus? ............................................................................ 4 Anschrift der Redaktion Maria Alexopoulou Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Rassismus in der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft Telefon: 07 11/16 40 99-44 Fax: 07 11/16 40 99-77 Deutschland ..................................................................... .............. 12 Herstellung Andreas Eckert Schwabenverlag AG Schwierige europäische Erinnerung: Kolonialismus in Afrika .............. 19 Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Thomas Thiemeyer Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Kolonialzeitliche Sammlungen und deutsche Erinnerungskultur .......... 24 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Heiko Wegmann, Markus Himmelsbach „In fernen Ländern gibt es ganze schwäbische Kolonien.“ .................... 30 Gestaltung Innenteil Schwabenverlag Media Anna Lampert der Schwabenverlag AG Ordnen und Unterordnen – Das Verhältnis von Kolonialismus, Vertrieb Rassismus und Kunst ........................................................ .............. 37 Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Tshamala Schweizer, Farina Görmar Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 Die afrikanische Diaspora ............................................................... 43 www.suedvg.de Josephine Jackson Druck Black Lives Matter – Self-Care für Schwarze Aktivistinnen und Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Aktivisten ......................................................................... .............. 48 Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Noah Sow Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Rassistische Sprache ...................................................................... 51 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Ein Gespräch zwischen Noomi Arndt, Susanne Belz und Anna Feldbein dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte über die Arbeit als Antirassismustrainerin ......................................... 58 Kundennummer an. Jule Bönkost Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht Ohne geht‘s nicht: Warum rassismuskritische Bildungsarbeit unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Kolonialismus zum Thema macht ..................................................... 66 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte Moritz Holfelder übernimmt die Redaktion keine Haftung. Der afrikanische Krieger – Sieben Vorschläge zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit ..................................................... 73 Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung Aus unserer Arbeit ........................................................................... 78 in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Buchbesprechungen ......................................................................... 79 Titelfoto: picture alliance/dpa Jahresinhaltsverzeichnis 2020 ......................................................... 87 Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare Redaktionsschluss: 22.03.2021 ISSN 0007-3121 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.buergerundstaat.de bis2021_0102_cover.indd u2 21.04.21 12:04
Street Art in London nahe der Waterloo Station. Das Wandbild zeigt mehrere Porträts von George Floyd. Der durch Polizei- gewalt herbeigeführte Tod des Afroamerikaners in Minneapolis am 25. Mai 2020 führte zu weltweiten Protesten und trieb rassismuskritische Diskurse voran. picture alliance/dpa 1 bis2021_0102_inhalt.indd 1 21.04.21 12:14
Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten Rassismus ist wandelbar und hat sich im Laufe der Ge- hergingen. Diese hierarchische Weltsicht fand ihre Recht- schichte verändert. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich im fertigung in der „Zivilisierungsmission“, die Europa „aufer- Gefolge des europäischen Kolonialismus jener Rassismus, legt“ war. Obwohl der Kolonialismus seit den 1960er-Jahren der bis in die Gegenwart reicht. Kolonialismus und Koloni- ideologisch weitgehend geächtet ist, hatte bzw. hat die alpropaganda haben nicht nur Spuren in städtischen Räu- rassistische Diskriminierung in vielen Regionen der Welt men und Museen hinterlassen. Rassistisch geprägte Denk- noch Bestand. Gegendiskurse, angestoßen u. a. von ehe- und Wahrnehmungsmuster überdauerten und wirken bis mals Kolonisierten und Vertretern der Diaspora, entwi- heute nach. ckelten sich zunächst nur zögerlich. Nachdem die koloni- Das Heft „Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten“ ale Vergangenheit in Deutschland lange Zeit eine margi- will über Geschichte und Ideologie des Rassismus, über nale Rolle gespielt hat, setzte erst in den 1990er-Jahren Positionen, Phänomene und aktuelle Erscheinungsformen eine intensive Phase kolonialer Erinnerung ein. aufklären und für Fragen einer rassismuskritischen politi- Ein angemessener und gemeinschaftsstiftender Umgang schen Bildung sensibilisieren. Rassismuskritische politische mit der kolonialen Vergangenheit konzentriert sich auf Bildung beinhaltet u. a. einen Austausch über eigene zwei Kernfragen: Wie kann man Kolonialismus angemes- Denk- und Wahrnehmungsmuster, um den Blick für Vorur- sen analysieren und beurteilen, ohne heutige Normen ab- teile und Feindbildkonstruktionen zu schärfen. solut zu setzen? Und welche handlungsleitenden Folgen Obwohl Rassismus das Thema des Jahres 2020 war, ist ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit der Koloni- weder hinreichend bekannt, was Rassismus überhaupt ist alzeit? Thomas Thiemeyer diskutiert mehrere Gründe für und wie das Phänomen angemessen erklärt werden kann. das Aufkommen postkolonialer Diskurse. Neben der spä- Dies hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun, ten Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland sondern auch mit der Geschichte des Rassismus in Deutsch- ist und dichotome Kulturbegriffe obsolet geworden sind, land sowie mit der Art und Weise der Auseinandersetzung befördern Kontroversen um das prestigeträchtige Berliner mit diesem Thema. Will man sich dem Begriff Rassismus Humboldt-Forum grundsätzliche Fragen der Erinnerungs- annähern, geht es zunächst um zwei Fragen: Was unter- kultur. Mit der Art der Sammlungen und der Namensge- scheidet die Konstrukte „Ausländer- und Fremdenfeind- bung ist das Humboldt-Forum in die imperiale Geschichte lichkeit“ von Rassismus? Wie funktioniert die Spaltung verwickelt. Die Kritik an Museen, die eurozentrische, res- zwischen „uns“ und „ihnen“? Rassismus ist laut Mark Ter- taurative sowie koloniale Präsentationsmuster fortschrei- kessidis durch das Zusammenspiel von Ausgrenzungspra- ben, berührt auch Eigentumsfragen mit Blick auf unrecht- xen und Rassifizierung charakterisiert. Rassismus ist ein mäßig erworbenes Kultur- und Raubgut. „Apparat“, in dem die Praxis der Unterdrückung mit Pro- Was hat das Stuttgarter Linden-Museum mit dem deut- zessen der Wissensbildung einhergeht, welche die Unter- schen Kolonialismus zu tun? Welche württembergischen drückung legitimieren sollen. Akteure und Institutionen waren in das koloniale Gesche- Die Ermordung von George Floyd im Frühsommer 2020 hen involviert? Gibt es heute noch Spuren in der Alltags- sorgte in Deutschland für kontroverse Diskurse. Ein brisan- welt und im Stadtbild von Stuttgart? Heiko Wegmann ter Streitpunkt war die Frage, ob es auch in Deutschland und Markus Himmelsbach, Kuratoren der Werkstatt- systemischen Rassismus gebe. Im Mittelpunkt der Kontro- ausstellung „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Würt- verse stand die umstrittene Praxis des racial profiling. Nach temberg im Kolonialismus“, erörtern die Konzeption und den öffentlichen und medialen Scharmützeln ist man in- Themenbereiche der Ende 2020 fertiggestellten Ausstel- zwischen wieder zur Normalität übergegangen. Mithin lung. Entlang der acht Module werden Einblicke in die ein Indikator, dass der deutsche Rassismus als Untersu- württembergische Kolonialgeschichte vermittelt. Mit die- chungsgegenstand der Zeitgeschichte nach wie vor ein ser Ausstellung stellt sich das Linden-Museum gezielt sei- Desiderat ist. Maria Alexopoulou erörtert, ausgehend von ner eigenen Geschichte, indem es seine kolonialen Wur- den Vorkommnissen der jüngsten Zeit, die historische Di- zeln kritisch reflektiert. Die Ausstellung ist daher mehr als mension des Rassismus in der Bundesrepublik Deutsch- eine bloße Dokumentation historischen Materials. Mittels land. Eine Dimension, die nicht auf die zwölf Jahre der na- interaktiver Stationen werden eurozentrische Sprachmus- tionalsozialistischen Diktatur begrenzt ist, sondern mit der ter, Vorstellungswelten und Bilder bewusst hinterfragt. deutschen Kolonialgeschichte und Geschichte der Migra- Durch Verfremdungseffekte wird die „kontemplative“ Be- tion eng verflochten ist. Seit der Mitte des 19. Jahrhun- trachtung der inszenierten Originale, die einen „gewöhn- derts etablierte sich die Zweiteilung in „Deutsche und Aus- lichen“ Museumsbesuch auszeichnen, gezielt durchbro- länder“. Mit dieser Dichotomie gingen klare Herrschafts- chen. hierarchien einher. Bei der Etablierung und Kontrolle Öffentlichkeitswirksame Aktionen von Kunstschaffenden, dieser Hierarchien spielte die Polizei eine zentrale Rolle, Aktivistinnen und Aktivisten of Color trieben im vergange- prägte und prägt die kollektiven Erfahrungen von Migran- nen Jahr den rassismuskritischen Diskurs voran. Einhellig tinnen und Migranten bis heute. wurde ein angemessener Umgang mit der kolonialen Ver- Europa war nie hermetisch abgeschlossen. Nicht-europä- gangenheit und eine Aufarbeitung rassistischer Strukturen ische Erfahrungen haben sich in europäische Gesellschaf- im Kultur- und Kunstbetrieb gefordert. Die Aktionen und ten eingeschrieben. Die europäische Moderne ist ohne Inszenierungen fanden nicht zufällig im öffentlichen Raum Kolonialismus, Imperialismus und ohne koloniale Herr- statt. Die Kunst und die Themen der People of Color finden schaftspraxis nur schwer vorstellbar. Mit Blick auf Afrika in den etablierten Kulturinstitutionen keinen Raum. Seit erörtert Andreas Eckert, wie mit der europäischen Koloni- dem frühen 19. Jahrhundert ist die Kultur- und Museums- alherrschaft Herablassung und rassistische Attitüde ein- landschaft von binären Denkmustern geprägt. Die koloni- 2 bis2021_0102_inhalt.indd 2 21.04.21 12:14
alen Kategorien „einheimisch“ und „fremd“ bzw. „wir“ und in die Rahmenbedingungen antirassistischer Workshops, „die Anderen“ sind immer noch Bestandteil des Kulturbe- skizziert die Motive sowie die unterschiedliche psycho- triebs und prägen mithin die Definitionsmacht. Die künstle- soziale Zusammensetzung der Teilnehmenden und er- rische Relevanz verschiedener Kulturformen und kultureller örtert das Selbstverständnis bzw. die Rolle der Workshop- Äußerungen bzw. Objektivationen wird von weißem Perso- Leitung. In der Beschreibung verschiedener Workshop- nal und weißem Publikum definiert. Die gesellschaftliche Situationen wird offenkundig, dass Verhaltensänderung Vielfalt spiegelt sich im Kunst- und Kulturbetrieb keines- ein individueller kognitiver Konstruktionsprozess ist. Die wegs wider. Anna Lampert mahnt in ihrem Beitrag nach- reflexive Auseinandersetzung mit eigenen Wahrnehmun- haltige Veränderungsprozesse und die migrationsgesell- gen, Kogni tionen und Deutungen steht im Mittelpunkt der schaftliche Öffnung der Kultureinrichtungen an. Workshops. Das Gespräch zeigt die Grundproblematik, Die Schwarze Diaspora in Deutschland umfasst ca. eine die allen Bildungsanstrengungen innewohnt: Einsicht und Million Menschen, deren politisches, ökonomisches, sozi- Wissen garantieren nicht immer eine unmittelbare Verhal- ales und kulturelles Potenzial unterschätzt wird. Zu ihrer tensänderung. Lebenswirklichkeit gehören Partizipationshemmnisse und Soll Rassismus langfristig abgebaut werden, muss dieser Diskriminierungen. Ungeachtet der Internationalen De- zunächst einmal erkannt und als strukturelles Phänomen kade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015–2024) begriffen werden. Ein Anliegen, das u. a. auch der im sind koloniale Kontinuitäten und globale Machtdiffe- November 2020 von der Bundesregierung beschlossene renzen immer noch Ursachen von Flucht und Migration. Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Rassismus und Zudem prägen Spuren und Spätfolgen des Kolonialismus Rechtsextremismus thematisiert. Explizit verlangt wird eine bis heute das Alltagsleben der Schwarzen Diaspora. Pro- kritische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und Aus- zesse des Othering und Mikroaggressionen sind alltägli- einandersetzung mit dem Zusammenhang von Kolonia- che Erfahrungen, denen vor allem Schwarze Kinder und lismus und Rassismus. Jule Bönkost plädiert für eine Jugendliche ausgesetzt sind. Tshamala Schweizer und Fa- Verbindung von schulischer sowie außerschulischer Bil- rina Görmar fordern in ihrem engagierten Plädoyer, die dungsarbeit und Kolonialismusaufarbeitung. Die Ausein- Lebensrealitäten, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ex- andersetzung mit Rassismus und Kolonialismus in der schu- pertisen Schwarzer Menschen wertzuschätzen und als lischen und non-formalen Bildungsarbeit ist vorausset- gleichwertig anzuerkennen. zungsvoll. Pädagogische Fachkräfte benötigen hierfür Wer soll über Rassismus sprechen und schreiben, wenn neben einer sorgfältigen Vorbereitung angemessenes nicht diejenigen, die ihn erfahren? Ermutigt durch die Pro- Wissen. Dies schließt die selbstkritische Reflexion eigener teste gegen Rassismus im Juni 2020 schildert Josephine Weltbilder mit ein. Jackson ihre eigenen Rassismuserfahrungen und ihr Enga- In den westlichen Gesellschaften wurde das koloniale gement gegen Rassismus im Kontext der Sozialen Arbeit. Gedankengut nie konsequent aufgearbeitet. Die Beschäf- Sie beschreibt den Alltagsrassismus, mit dem sich Schwarze tigung mit unserer Kolonialgeschichte ist längst überfällig. Menschen konfrontiert sehen, spannt dabei aber auch Die uns heute noch prägenden Vorstellungen, Denkweisen den Bogen zur gesamtgesellschaftlichen Problematik. In und Sprachmuster, die auf jene Zeit zurückgehen, müssen einem weiteren Schritt skizziert sie Herausforderungen, auf den Prüfstand gestellt werden. Moritz Holfelder unter- mit denen Schwarze Aktivistinnen und Aktivisten konfron- breitet Vorschläge, wie dieser kolonialen „Amnesie“ wirk- tiert werden. Engagement kostet Zeit sowie Energie und sam begegnet werden kann. Er plädiert u. a. für eine um- erfordert Sachverstand. Um den Stressfaktor Rassismus fassende Aufklärung, mahnt die stärkere Verankerung des abzumildern, stellt sie einige Methoden und Strategien Themas in den Lehr- und Bildungsplänen an und fordert der Selbstfürsorge (Self-Care) vor. eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit alltägli- Rassistische Sprache ist beileibe kein reines Stammtisch- chen und nicht hinterfragten Sprachmustern. Exemplari- problem. Rassismus ist in unserer Geschichte, Kultur und in sche Literatur- und Filmempfehlungen sind als Anregung unserer Sprache verankert. Worte haben bekanntlich gedacht, sich mit den Spuren und Spätfolgen des Koloni- mehrere Bedeutungsebenen und Botschaften. Probleme alismus zu beschäftigen. Einen wertvollen Beitrag leisten im alltagssprachlichen Umgang miteinander löst man auch immer mehr Museen, indem sie zu relevanten Orten nicht, indem man sie geflissentlich ignoriert. Vielmehr kann für historische Reflexion und neue Denkprozesse werden, ein reflek tierter Sprachgebrauch rassistische Botschaften möglichst in Form kooperativer Projekte, in denen die und Ausgrenzungen aufdecken und kritisch hinterfragen. weiße Deutungshoheit nicht mehr dominiert. Noah Sow entlarvt in deutlicher Sprache und mit tiefgrün- Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen auf- digem Humor den rassistischen Sprachgebrauch, der uns schlussreiche Informationen vermitteln und Denk- und Dis- tagtäglich begegnet. Sie enttarnt den sprachlichen Ras- kussionsanstöße geben, sei an dieser Stelle gedankt. Dank sismus, der uns u. a. auch in den Medien begegnet, und gebührt auch dem Schwabenverlag und den Mitarbeite- stellt eingefahrene, zumeist unreflektierte Denkmuster in rinnen und Mitarbeitern der Druckvorstufe für die stets Frage. Sie untermauert ihre Argumentation mit anschauli- gute und effiziente Zusammenarbeit. Ich erlaube mir ab- chen Beispielen und hält uns ohne Besserwisserei den schließend eine persönliche Bemerkung: Mit diesem Heft Spiegel vor. möchte ich mich von allen Leserinnen und Lesern der Zeit- Noomi Arndt, Susanne Belz und Anna Feldbein be- schrift „Bürger & Staat“ verabschieden. Bei meiner Nach- schreiben entlang ihrer Berufsbiografien die Wegmarken, folgerin, Maike Hausen, weiß ich die Redaktion in guten die den Anlass gaben, sich zur Antirassismustrainerin Händen. ausbilden zu lassen. Das Gespräch vermittelt Einblicke Siegfried Frech 3 bis2021_0102_inhalt.indd 3 21.04.21 12:14
R ASSISMUS – GESCHICHTE, SPUREN, KONTINUITÄTEN Was ist Rassismus? Mark Terkessidis schung verlief in Konjunkturen und war hochgradig abhän- Obwohl Rassismus das Thema des Jahres 2020 war, ist gig davon, dass „etwas“ passierte: Gewalt zum einen in weder hinreichend bekannt, was Rassismus überhaupt ist Form von direkten Angriffen auf Personen nichtdeutscher und wie das Phänomen angemessen erklärt werden kann. Herkunft, seien es Geflüchtete, BPoC (Black and People of Dies hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun, Color) oder Personen mit Migrationshintergrund; zum an- sondern auch mit der Geschichte des Rassismus in deren Rechtsextremismus in Form von Wahlerfolgen, De- Deutschland sowie mit der Art und Weise der Auseinan- monstrationen oder dem medienwirksamen Auftreten ein- dersetzung mit diesem Thema hierzulande. Will man sich zelner Personen. Alltägliche Ausgrenzungsphänomene dem Begriff Rassismus annähern, geht es zunächst um wie Diskriminierungen in Schulen, Verwaltungen oder zwei Fragen: Was unterscheidet eigentlich die Konst- Krankenhäusern wurden jahrzehntelang gar nicht unter rukte „Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit“ von Rassis- Rassismus geführt – dafür gab es Sonderbezeichnungen mus? Wie funktioniert die Spaltung zwischen „uns“ und wie „Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit“. Das hatte „ihnen“? Mark Terkessidis diskutiert zunächst Prozesse auch mit der deutschen Geschichte zu tun. Vor dem Hinter- der Rassifizierung, beschreibt die Konstruktion rassisti- grund des Weltbildes und der Verbrechen des nationalso- schen Wissens sowie verschiedene Ausgrenzungsme- zialistischen „Dritten Reiches“, die durch und durch von chanismen. Rassismus ist stets durch das Zusammenspiel „Rassen“-Ideen geprägt waren, erschienen die Vorkomm- von Ausgrenzungspraxen und Rassifizierung charakteri- nisse in der Bundesrepublik weniger gravierend und an- siert. Gleichzeitig ist Rassismus ein „Apparat“, in dem die ders motiviert. Von Rassismus zu sprechen, stellte eine Ver- Praxis der Unterdrückung mit Prozessen der Wissensbil- bindung mit dieser Vergangenheit her, und diese Verbin- dung einhergeht, welche die Unterdrückung erklären und dung wurde aktiv oder passiv abgewehrt. legitimieren sollen. Rassismus ist, so das Fazit von Mark Allerdings war die Rede von „Ausländer- oder Fremden- Terkessidis, eines der großen Ungleichheitsverhältnisse feindlichkeit“ ideologisch. Offenbar adressierten diese der Moderne. Konstrukte die „Feindlichkeit“ einer Bevölkerungsgruppe („Deutsche“) gegen eine andere, nicht zugehörige Gruppe Vorbemerkung Die großen Demonstrationen anlässlich des Todes von George Floyd durch Polizeigewalt in Minneapolis im Som- mer 2020 haben gezeigt, dass das Thema Rassismus vor allem jüngeren Menschen regelrecht auf den Nägeln brennt. Das hatte sich mit der regen Beteiligung am Hash- tag „#MeTwo“, in dem über Diskriminierungserfahrungen berichtet wurde, sowie den Reaktionen auf die Anschläge von Halle und Hanau bereits angedeutet. Während Ras- sismus geradezu kometenhaften zu einem der Themen des Jahres 2020 aufstieg, bleibt das Wissen über das Thema weiterhin relativ gering. Während heftig diskutiert wird, ist im Großen und Ganzen weder allgemein bekannt (und an- erkannt), was überhaupt als Rassismus zu betrachten wäre, geschweige denn, wie das Phänomen erklärt werden kann. Das Spektrum reicht von jenen, die reflexhaft behaupten, Demonstrierende gegen Ras- in den USA gebe es so etwas schon, in Deutschland aber sismus spiegeln sich in einer nicht, bis hin zu jenen, die Diskriminierung aufgrund von Pfütze. Die Demonstrationen Hautfarbe oder Herkunft fast als ausschließliches Struktu- anlässlich des Todes von rierungsmoment von Gesellschaft betrachten. Diese Ver- George Floyd durch Polizeige- wirrung ist der Debatte nicht unbedingt zuträglich, hat walt in Minneapolis im Sommer aber sowohl mit der Komplexität des Gegenstandes zu tun 2020 haben gezeigt, dass das als auch mit der Geschichte des Rassismus sowie der Art Thema Rassismus vor allem der Behandlung des Themas in Deutschland. jüngeren Menschen regelrecht auf den Nägeln brennt. Wäh- rend Rassismus zum Thema des „Feindlichkeit“ oder Rassismus? Jahres 2020 aufstieg, bleibt das Wissen über das Thema Ein dauerhaftes Interesse an diesem Thema hat hierzu- weiterhin relativ gering. lande lange gefehlt. Die Wahrnehmung und auch die For- picture alliance/dpa 4 bis2021_0102_inhalt.indd 4 21.04.21 12:14
(„Ausländer“, „Fremde“). Dieses Modell war aber bereits in WAS IST RASSISMUS? den 1970ern zweifelhaft: Nicht nur hatten die „Ausländer“ zumeist ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik, sondern auch mit deren „Fremdheit“ hatten die meisten Personen deutscher Herkunft bereits reichlich Erfahrungen gerufen und interviewt wurde. Es ging um einen Streit in sammeln können. 1998 schließlich erkannte erstmals eine der FDP, um Bemerkungen des FDP-Fraktionschefs im Bun- Bundesregierung an, es habe ein „unumkehrbarer Prozess destag, Rainer Brüderle, über seinen Parteikollegen Phi- der Zuwanderung“ stattgefunden. Im Jahr 2000 wurde das lipp Rösler. Brüderle hatte die vietnamesische Herkunft Staatsangehörigkeitsrecht substanziell verändert: Durch Röslers ins Spiel gebracht, indem er bemerkte: „Glaubwür- die Abschaffung des „ius sanguinis“, welches die Zugehö- digkeit gewinnt man, indem man nicht wie Bambusrohre rigkeit buchstäblich an das deutsche Blut koppelte, wurde hin und her schwingt, sondern steht wie eine Eiche. Deswe- schließlich die Anerkennung von Deutschen nichtdeutscher gen ist die Eiche hier heimisch und nicht das Bambusrohr.“ Herkunft möglich. Dadurch wurde Deutschland endgültig Nun war die Frage, ob das als Rassismus bezeichnet wer- als eine fundamental vielheitliche Gesellschaft neu defi- den könne. Zu jenem Zeitpunkt war Philipp Rösler der deut- niert. Der Begriff Rassismus adressiert nun die undemokra- sche Vizekanzler, und der deutsche Vizekanzler konnte per tischen Spaltungen zwischen „uns“ und „ihnen“ – und zwar se weder Ausländer noch Fremder sein. Wie also sollte das innerhalb einer Bevölkerung: Die Spaltungen umfassen Be- Phänomen anders bezeichnet werden? Brüderle konstru- nachteiligungen, Angriffe, Ausgrenzungen, Beleidigun- ierte zunächst eine symbolische Spaltung zwischen „uns“ gen, also große, aber auch sehr kleine Formen eines Pro- und „ihnen“ („Eiche“ versus „Bambusrohre“), um Rösler in zesses, der diese Spaltung ständig herbeiführt. einem zweiten Schritt quasi auszubürgern („nicht hei- misch“). Rösler gehörte keineswegs einer anderen, real existieren- Eine Spaltung zwischen „uns“ und „ihnen“ den Gruppe an, sondern diese Gruppe wurde von Brü- derle symbolisch ab- und dann ausgegrenzt. Diese Konst- Diesen Prozess der Trennung grundsätzlich zu verstehen, ruktion von Gruppen ist für die Definition von Rassismus ist ganz entscheidend, um Rassismus begreifen zu können: essenziell und unterscheidet das Konzept Rassismus von Es geht nicht um die „Feindlichkeit“ einer Bevölkerungs- den Vorstellungen von „Feindlichkeit“ einer Gruppe gegen gruppe gegen eine andere, sondern um den Vorgang der eine andere. Auch Weiterentwicklungen wie „Gruppenbe- Spaltung innerhalb einer Bevölkerung. Ich möchte das an zogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) werden dem be- einem Beispiel verdeutlichen. Ich erinnere mich daran, wie schriebenen Prozess nicht gerecht (vgl. Heitmeyer 2005: ich 2013 von einer Pressagentur zum Thema Rassismus an- 13–34.) GMF wird als „Syndrom“ aus sehr unterschiedli- chen Ideologien der Ungleichwertigkeit beschrieben, die von Rassismus über Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Homo- phobie und „Abwertung von Behinderten“ reicht. Zu den Aussagen, mit denen die „Einstellung“ zu Rassismus gemes- sen wird, gehört etwa folgende: „Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt“. In dieser Aussage wird allerdings vo- rausgesetzt und selbstverständlich erklärt, dass „die Wei- ßen“ existieren, ebenso wie an anderen Stellen im GMF- Fragebogen vorausgesetzt wird, dass es „Ausländer“ oder „Muslime“ gibt. Das kann aber nicht vorausgesetzt wer- den, sondern es geht um den spezifischen Vorgang, in dem solche Herkunftsgruppen produziert werden. Rassifizierung Das mag möglicherweise absonderlich wirken, denn der Einwand des „gesunden Menschenverstandes“ würde lau- ten: Gruppen von Menschen unterscheiden sich eben! Es gibt in unterschiedlichen Ländern doch ganz verschiedene Arten miteinander umzugehen, es gibt kulturelle Unter- schiede und die Religion sorgt doch auch für diverse Ver- haltensweisen. Tatsächlich behauptet auch niemand, es würde keine Differenzen geben. Wenn wir über Rassismus sprechen, dann stellt sich aber die Frage: Warum spielen bestimmte Merkmale wie Hautfarbe überhaupt so eine große Rolle, und befinden sich die Differenzen dort, wo „wir“ sie zu sehen glauben? Das Diktum des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, er bestimme, wer Jude sei, beschreibt den rassistischen Konstruktionsprozess durchaus angemessen. Mittlerweile ist klar belegt, dass der Begriff „Rasse“ keinen wissenschaftlichen Wert hat, so wie es umgekehrt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür 5 bis2021_0102_inhalt.indd 5 21.04.21 12:14
Mark Terkessidis gibt, dass die ethnische Herkunft einer Person direkte Aus- wirkungen auf deren Verhalten hat. Wird also von „den Muslimen“ gesprochen, so ist nur scheinbar klar, wovon die Rede ist. Tatsächlich wird diese Gruppe dabei geradezu erfunden: Darunter fallen Gläubige teilweise nahezu un- vereinbarer Richtungen und sehr unterschiedlicher Her- kunft; gewöhnlich sind sogar alle Personen türkischer oder arabischer Herkunft gemeint, ob sie nun religiös sind oder nicht. Tatsächlich gibt es letztlich gar keinen Grund dafür, dass Haut- oder Haarfarbe, ein bestimmtes Aussehen oder bestimmte kulturelle Accessoirs überhaupt eine Bedeutung bekommen – wir könnten die Zusammensetzung von Men- schen nach ganz anderen Kriterien beschreiben. Ein definitorisches Kriterium des Rassismus ist also ein Vor- gang, den ich 1998 als „Rassifizierung“ bezeichnet habe (Terkessidis 1998: 74ff.) Im Prozess dieser Rassifizierung wird einerseits mittels bestimmter Merkmale eine Gruppe von Menschen als natürliche Gruppe festgelegt und gleich- zeitig wird die Natur dieser Gruppe im Verhältnis zur eige- nen Gruppe formuliert. Die betreffenden Merkmale können ganz unterschiedlicher Art sein. Die französische Soziolo- gin Colette Guillaumin spricht von einem „Bündel von Kon- notationen“, in das Elemente von äußerst heterogener Art eingehen können: (a) morpho-physiologische Kennzeichen (diese können sichtbar oder unsichtbar sein, sie gelten als natürlich/evident und als geeignet, Gruppen zu unter- scheiden); (b) soziologische Kennzeichen (Sprachen, Wirtschaftssysteme, alltägliche Gewohnheiten, Ernäh- rung, Kleidung, Musik etc.); (c) symbolische und geistige Kennzeichen (politische Praktiken, Einstellungen, Lebens- auffassungen, kulturelle und religiöse Verhaltensweisen etc.) sowie (d) imaginäre Kennzeichen (etwa phantasmati- sche Vorstellungen von okkulter Macht etc.). „Die Gesamt- bekannt. Unschwer lassen sich Vorstellungen erkennen, heit dieser Merkmale“, schreibt Guillaumin, „verschmilzt zu die auch heutzutage verbreitet sind – etwa über „Auslän- einem Ensemble, das sich als synkretistisch definieren lässt“ der“, Geflüchtete oder über „die Muslime“. (Guillaumin 1991: 167). Angesichts der Geschichte des Rassismus, auf deren Ur- sprünge ich später noch zurückkommen werde, macht es keinen Sinn, von „Vorurteilen“ zu sprechen, also von Irrtü- Rassistisches Wissen mern über die Welt. Angesichts der Tatsache, dass „Rasse“ bis ins mittlere 20. Jahrhundert als kaum bezweifeltes wis- Der Prozess der Festlegung einer Gruppe als natürliche senschaftliches Konzept galt und auch angesichts der Ubi- Gruppe geht zugleich mit Zuschreibungen über die Natur quität der angeblichen Vorurteile, ist es angemessener, dieser Gruppe einher. Diese Zuschreibungen sind inhalt- von „rassistischem Wissen“ zu sprechen (vgl. Terkessidis lich sowohl erstaunlich konstant als auch über die Zeit va- 1998: 83ff.) Diese Wissensbestände haben mannigfaltige riabel. Ich möchte ein Beispiel aus dem Jahre 1525 zitieren, Auswirkungen im Alltag, die vor allem von jenen Personen eine Aussage des Dominikanermönches Tomas Ortiz. Er als verletzend wahrgenommen werden, deren Zugehörig- berichtet über die Indigenen in von Spanien eroberten Ge- keit unbestreitbar scheint, weil sie zwar eine andere Her- bieten Amerikas: „Sie sind mehr als irgendein anderes Volk kunft haben, aber in Deutschland geboren wurden (ebenso unzüchtig. Gerechtigkeit gibt es bei ihnen nicht. Sie gehen wie teilweise ihre Eltern und sogar Großeltern). Insofern ist ganz nackt, haben keine Achtung vor wahrer Liebe und entgegen der herrschenden Vorstellung die Differenz kei- Jungfräulichkeit und sind dumm und leichtfertig. Wahr- neswegs von Anfang präsent. Oft genug wird diesen Per- heitsliebe kennen sie nicht, außer wenn sie ihnen selbst sonen erst in einer Art „Urszene“ klar, dass sie als nicht-zu- nützt. Sie sind unbeständig, glauben nicht an die Vorse- gehörig betrachtet wird: Das kann eine Beschimpfung sein, hung, sind undankbar und umstürzlerisch. […] Sie sind ge- das Erlebnis einer Ungleichbehandlung oder die Konfron- walttätig, und verschlimmern dadurch noch die ihnen an- tation mit Klischees aller Art – im oben genannten Hashtag geborenen Fehler“ (zit. nach Todorov 1985: 182). Kaum je- „#MeTwo“ wurden sehr viele Beispiele aus dem Kontext mand würde heute noch so reden. Doch wenn ich die der Schule berichtet. Bemerkungen von Ortiz auf ihre Essenz reduziere und et- was aktueller formuliere, dann klingt das in etwa so: „Sie“ kleiden sich auf eine Weise, die unseren Ordnungsvorstel- Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung lungen widerspricht; sie verstoßen gegen unseren Glau- ben und unsere Moralkodizes, es mangelt ihnen (gene- Die Kraft der Ausgrenzung besteht nun in der alltäglichen tisch) an Intelligenz und Beständigkeit, sie stören die Ord- Wiederholung solcher manchmal anscheinend unbedeu- nung und machen ständig Ärger. Das wirkt plötzlich tenden Erlebnisse. So wird Personen mit Migrationshinter- 6 bis2021_0102_inhalt.indd 6 21.04.21 12:14
WAS IST RASSISMUS? Diese Unterstellung ist zumeist mit weiteren Zuschreibun- gen über die Natur dieses „Woanders“ verbunden. Kli- schees – mögen sie nun negativ (faul, traditionell, aufbrau- send, kriminell, fundamentalistisch etc.) oder positiv (spon- tan, feurig, gefühlsbetont etc.) sein – haben zweifellos Auswirkungen auf die Kommunikation. Tatsächlich wird oft genug gar nicht mit den betreffenden Personen gespro- chen, sondern sie werden als Repräsentanten einer Her- kunftsgruppe adressiert. In diesem Moment findet etwas statt, das ich Entantwortung nenne. Was eine Person sagt oder tut, wird nicht mehr als individueller Ausdruck gewer- Im erläuternden Text zum tet, sondern als Ausfluss des „Afrikanischen“ oder des „Ahnenpass“, der dem „Arier- „Südländischen“, und so wird sie ihrer Verantwortung (für Nachweis“ diente, wird der ihr Sprechen und Handeln) beraubt, denn es ist ja das „Af- „völkische Rassegrundsatz“ rikanische“ oder das „Südländische“, das dieses Sprechen erklärt. Vor dem Hintergrund und Handeln zu bedingen scheint. Zugleich wird ihr damit des Weltbildes und der Ver- auch die Möglichkeit einer Antwort verwehrt: All ihre Äu- brechen des nationalsozialisti- ßerungen sind ja schon vorbestimmt durch die Gruppenzu- schen „Dritten Reiches“, die gehörigkeit. durch und durch von „Rassen“- Eng mit diesem Vorgang zusammen hängt auch die Unter- Ideen geprägt waren, erschie- stellung von Defiziten – die Entgleichung. Hier wird den Per- nen rassistische Vorkommnisse sonen mit Migrationshintergrund kommuniziert, dass sie in der Bundesrepublik lange einer bestimmten Norm nicht genügen, also nicht als gleich Zeit weniger gravierend und anerkannt werden. Freilich soll so auch der Vergleich ver- anders motiviert. hindert werden, denn immer sind es die Einheimischen, die picture alliance/dpa als Kontrolleure und Richter der Norm fungieren. Ein Bei- spiel aus dem Bereich Schule mag diesen Prozess verdeut- lichen. Gerade beim wohlmeinenden Lehrpersonal gelten grund häufig vor Augen geführt, dass sie eigentlich woan- Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft oft als Re- ders zu Hause sind. Das äußert sich in oftmals nur angeb- präsentanten ihres Heimatlandes. Sie müssen stets Rede lich neugierigen Fragen wie „Woher kommst Du?“, wobei und Antwort stehen, wenn es um ihre angeblichen Her- die Nennung eines fremden Landes erwartet wird. Auch kunftsregionen geht, wobei die geographischen Einheiten Vor- und Nachnamen sind ein stetiger Anlass zum „frem- sehr unterschiedlich sein können – das Spektrum reicht von deln“ – die Namen werden als „zu kompliziert“ erachtet „Afrika“ bis „Kurdistan“. Freilich sind Schülerinnen und (auch wenn sie es objektiv gar nicht sind) und erstaunlich Schüler in der Schule, um etwas zu lernen, und daher ist es konsequent falsch ausgesprochen oder geschrieben. Zu- absurd, „Herkunftswissen“ vorauszusetzen. So wird den dem wird häufig oft davon ausgegangen, dass Personen Kindern und Jugendlichen letztlich bewiesen, dass sie ein mit Migrationshintergrund oder BPoC eine andere Mutter- Defizit haben in Bezug auf ihre Herkunft. Da sie gleichzei- sprache haben. Obzwar deutsche Muttersprachler, wer- tig in ihrem sonstigen Leben oft genug auch nicht wirklich den sie vielfach in ihrer angeblichen „Heimatsprache“ als Deutsche anerkannt werden, gibt es quasi unentwegt oder in Englisch angesprochen. Oder es wird ihnen be- jemanden, der feststellt, dass die betreffenden Personen scheinigt, dass man einen kleinen Akzent aber noch hören zu viel oder zu wenig „Deutsches“ oder „Anderes“ haben, würde – oft von Personen, deren Bildungsgrad weit niedri- wobei der Maßstab relativ beliebig festgelegt werden ger ist. kann. Daraus ergibt sich bei vielen jungen Leuten nicht- Ich habe im Rahmen einer qualitativen Untersuchung ver- deutscher Herkunft das höchst unangenehme Gefühl, sucht, diese Ausgrenzungsmechanismen mit Bezeichnun- ständig begutachtet zu werden, aber gleichzeitig nicht ge- gen zu versehen – die beschriebenen Erlebnisse, die eine nau zu wissen, an welchen Kriterien sich die Beurteilungen Person an einen anderen Ort schicken, fasse ich unter dem eigentlich orientieren. Begriff Verweisung zusammen (vgl. Terkessidis 2004). Die genannten Beispiele mögen harmlos erscheinen, doch sie stehen in einer Kontinuität mit abwertenden Bemerkungen Was kein Rassismus ist wie „Ich weiß ja nicht, wie das bei ihnen zuhause gemacht wird, aber hier bei uns …“ oder auch mit Angriffen wie Ich möchte hier betonen, dass diese alltäglichen Grenz- „Geh zurück dahin, wo du hergekommen bist“ oder eben ziehungen auf einem „rassistischen Wissen“ basieren, in auch mit tätlichen Angriffen, die eine Vertreibung anstre- dem Gruppen als natürliche Gruppen festgelegt werden ben. Damit das nicht missverstanden wird: Selbstverständ- und zugleich die Natur eine Gruppe formuliert wird. Diese lich sind Fragen und Gewalttätigkeiten nicht das Gleiche, Grenzziehung anhand bestimmter Merkmale stellt selbst doch die Voraussetzung ist es schon: Jemand gehört nicht das Problem dar, nicht nur die abwertende Qualität des „hierher“, sondern eigentlich „woanders“ hin. Wissens. Tatsächlich müssen Zuschreibungen keineswegs immer eine abwertende Komponente haben. Wenn je- 7 bis2021_0102_inhalt.indd 7 21.04.21 12:14
Mark Terkessidis mand äußert, dass „Südländerinnen“ im Gegensatz zu die jüdische Bevölkerung: „Man bindet uns die Hände und Deutschen so herrlich warm und gastfreundlich seien oder macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen“ dass schwarze Männer attraktiver und zumal potenter (Mendelsohn 1782: XI). In einer kürzlich erschienenen Ge- seien als solche mit weißer Hautfarbe, dann sind solche schichte rassistischer Ideen betont der US-Forscher Ibra- Bemerkungen nicht abwertend im eigentlichen Sinne, aber him X. Kendi: Es sei ein „volkstümliches Märchen“, dass Un- sie erfüllen dennoch sämtliche Kriterien von „rassistischem wissenheit und Hass die Ursache für diskriminatorische Wissen“. Allerdings sei hier auch erwähnt, dass Personen Praxen seien: „Die umgekehrte Logik kommt der Wahrheit selten ausschließlich Opfer von „rassistischem Wissen“ näher: Ethnische Diskriminierung führte zu rassistischen werden, sondern auf vielfältige Weise ebenfalls in solche Ideen, die Unwissenheit und Hass mit sich brachten. Ethni- Wissensbestände verwickelt sind. Was Auffassungen über sche Diskriminierung → rassistische Ideen → Unwissenheit/ die vermeintlich „eigene“ Gruppe betrifft, aber auch was Hass: Das ist die kausale Verknüpfung, die der Geschichte ihr Wissen über wiederum andere Gruppen in der Gesell- der ethnischen Beziehungen in Amerika zugrunde liegt“ schaft betrifft. Personen mit Migrationshintergrund können (Kendi 2017: 18). problematische Wissensbestände über Juden, Sinti und Das hat mit traditioneller „Fremdheit“ nur sehr bedingt et- Roma äußern, Juden solche über „die Muslime“. was zu tun. Die antiken Griechen nannten all jene „Barba- Nun ist im Zusammenhang mit Rassismus des Öfteren ge- ren“, deren Sprache sie nicht verstanden, also all jene, die äußert worden, dass es ja auch so etwas geben würde wie außerhalb ihres Sprach- und Verständnisraums lebten. Der „Deutschenfeindlichkeit“, dass also Personen deutscher Begriff hatte zweifellos etwas Abwertendes, aber nur in Herkunft Erfahrungen von Ausgrenzung oder Abwertung dem Sinne, dass die Anderen quasi unverständliche Laute machen könnten – zumal etwa in einem Umfeld wie der ausstießen. Mit dem modernen Rassismus, sagt der Sozial- Schule, in dem Kinder und Jugendliche mit Migrationshin- wissenschaftler Immanuel Wallerstein, sei ein vollkommen tergrund unterdessen häufig die Mehrheit darstellten. Tat- neues Beziehungsgeflecht in die Welt gekommen. Das Be- sächlich soll die Realität solcher Erfahrungen gar nicht in sondere an Rassismus zeige sich in einem paradox anmu- Abrede gestellt werden. Ebenso können auch Personen, tenden Verhältnis: Rassismus schließe Menschen aus, in- die in Nordrhein-Westfalen geboren wurden, in Bayern dem es sie einbeziehe (Wallerstein 1995: 102). Dieses Ver- schlechte Erfahrungen machen, Deutsche in Österreich, hältnis beginnt mit der „Entdeckung“ der sogenannten Franzosen oder US-Amerikanerinnen in Deutschland. Al- Neuen Welt durch Christoph Kolumbus vor über 500 Jah- lerdings trifft für solche Ergebnisse der Begriff Rassismus ren und erweist sich seitdem als erstaunlich hartnäckig. nicht zu. Tatsächlich ist die Art der Wissensbestände ähn- Anstatt ein nebulöses Konzept wie „Gruppenbezogene lich, aber es fehlt ein anderes wesentliches Element, das Menschenfeindlichkeit“ zu verwenden, wäre es ange- definitorisch zu Rassismus gehört, nämlich eine materielle bracht, Rassismus als eines der großen, strukturierenden und systematische Qualität der Ausgrenzung. Der britische Ungleichheitsverhältnisse anzuerkennen – ebenso wie so- Soziologe Robert Miles hat diese Qualität als „Ausgren- ziale Ungleichheit und jene zwischen den Geschlechtern. zungspraxis“ charakterisiert. Es geht also um systemati- sche Praxen, „in denen eine näher bezeichnete Gruppe bei der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen nach- Die rassistische „Urszene“ weislich ungleich behandelt wird, oder in denen sie in der Hierarchie der Klassenverhältnisse systematisch über- Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die rassistische oder unterrepräsentiert ist“ (Miles 1991: 103). Um von Ras- „Urszene“zu werfen – die Landung der Spanier am Ufer sismus sprechen zu können, müssen Ausgrenzungspraxis der Insel Guanahani (Bahamas) im Jahr 1492. Bekanntlich und Rassifizierung zusammenkommen – ansonsten besitzt war die kleine Flotte des Kolumbus auf der Suche nach ei- der Begriff keinerlei Trennschärfe. nem Seeweg nach Ostasien – die Europäer fanden sich in ihren Handelsbeziehungen über Land zunehmend vom Os- manischen Reich blockiert. Als Kolumbus nun nach einer Wissen und Ausgrenzungspraxen geradezu phantastisch anmutenden Fahrt ins Nichts des Atlantiks auf der Insel erstmals Menschen entdeckt, macht Wir wissen aus der Wissenssoziologie, dass gesellschaft- er in seinem „Bordbuch“ nur einen höchst prosaischen Ver- lich verbreitete Wissensbestände einen institutionellen merk. Kolumbus zeigte gar kein Interesse an einem Dialog Gegenpart haben, dass solches Wissen eine Funktion, ge- mit den Personen, sein Ziel war die schiere Besitzergrei- wissermaßen einen Nutzen hat – ansonsten wäre die Ver- fung. Im Vertrag von Santa Fe hatte er sich von der Krone breitung kaum zu erklären. In Bezug auf rassistisches Wis- das Recht zusichern lassen, ein Zehntel einbehalten zu dür- sen wird nun häufig darauf hingewiesen, „Vorurteile“ habe fen „von allen Perlen, Edelsteinen, Gold, Silber, Spezereien es ja schon immer gegeben und Kategorisierung und Ste- sowie allen anderen Kauf- und Handelswaren, die in sei- reotypisierung seien letztlich anthropologische Gegeben- nem Bereich gefunden, gebrochen, gehandelt oder ge- heiten. Tatsächlich handelt es sich um psychische Konstan- wonnen werden“ (Terkessidis 2019: 24). Die „Entdecker“ ten, aber die Frage bleibt, warum bestimmte Merkmale für und die Eroberer waren keine Aristokraten, die mit Ehren die Kategorisierung relevant werden und warum bestimmte und Titeln belohnt wurden, sie begehrten materielle Güter, Personen zu Gruppen zusammengefasst und Aussagen Land, Anteile, Geld. über deren Natur getroffen werden. Es sind die ursprüngli- Gerade angekommen, fährt Kolumbus mit einem bewaff- chen Ausgrenzungspraxen, die Ab- und Ausgrenzungen neten Boot an Land und entfaltet dort die königliche etablieren – das Wissen über die Differenz kommt erst da- Flagge. Dann ruft er seine Begleiter zusammen, damit sie nach. Dieser Zusammenhang wurde über Jahrhunderte die Besitzergreifung bezeugen können, die mit einer ur- von den unterschiedlichsten Denkern thematisiert. So kundlichen Unterschrift besiegelt wird. Derweil haben sich schrieb der Philosophen Moses Mendelssohn 1782 über Menschen, die auf der Insel wohnen, um das Spektakel 8 bis2021_0102_inhalt.indd 8 21.04.21 12:14
versammelt. Sie sehen die Fahne der katholischen Könige, WAS IST RASSISMUS? sie hören die unverständliche Verlesung der Urkunde, die eine seltsame Form von Einbeziehung verkündet. Das Ziel der Besitzergreifung ist angeblich die „Rettung“ jener Men- schen durch ihre Bekehrung zu „unserem Heiligen Glau- Diese Urszene der Begegnung mit den überseeischen An- ben“. Er verschenkt „rote Kappen und Halsketten aus Glas deren verdeutlicht, wie Rassismus funktioniert. Ein Dialog und noch andere Kleinigkeiten von geringem Wert“ soll gar nicht stattfinden. Während noch Geschenke ver- (a. a. O.: 25). Die Freude der Anwesenden über die friedli- teilt werden und die „Entdecker“ Süßholz raspeln, verwan- che Geste zeigt ihm ihre kindliche Unbedarftheit und die deln sich die Ansässigen im besten Fall in Untertanen der eigene Überlegenheit. Krone, in unreife, falschgläubige Untertanen, die eigent- Der Akt der Besitznahme wurde ab 1513 mit einem festge- lich noch zu Untertanen gemacht werden müssen. Im legten Text, dem Requerimento durchgeführt, welches von schlimmsten Fall sind sie einfach Aussätzige, jedwede einem königlichen Beamten verlesen werden musste. Ei- Grausamkeit der neuen Herren ihnen gegenüber erscheint gentlich sollte es übersetzt werden, aber es ist davon aus- per se gerechtfertigt. Als sich die Bevölkerung von Amerika zugehen, dass das in den seltensten Fällen geschah. In den durch Gewalt und Krankheiten schließlich dramatisch re- ersten Zeilen wurden die Einheimischen mit freundlichen duziert, begannen die Spanier schwarze Sklaven aus Worten dazu aufgefordert, zum christlichen Glauben Westafrika zu „importieren“ und begründen das, was der überzuwechseln. Im Falle der Zustimmung konnten sie freie Historiker Immanuel Geiss als „erste moderne Rassen-Kas- Untertanen der kastilischen Krone werden. Wenn sie sich ten-Gesellschaft“ bezeichnet (Geiss 1988: 121). Tatsäch- aber nicht äußerten, was aufgrund der Sprachbarriere lich ist es die neue soziale Barriere, die der Hautfarbe Be- wahrscheinlich erschien, gab es für die Konquistadoren deutung verleiht. Erst die Etablierung einer Gesellschaft, in keine Grenzen mehr: Nicht nur das Eindringen mit Gewalt der Weiße herrschten und Schwarze als Sklaven arbeiten und die Unterwerfung waren dann legitim, sondern die mussten, sorgte dafür, dass die Hautfarbe zum definitiven Versklavung und die Plünderung und das Antun von jedem Kriterium der Unterscheidung wurde. Sicher hatten Perso- Schaden und Bösen. Der Text besagte, die Menschen hät- nen zuvor unterschiedliches Aussehen zur Kenntnis genom- ten diese Behandlung selbst über sich gebracht, so dass men, aber es gab weder die Idee, die Pigmentierung der „die Tötungen und Schäden, die sich daraus ergeben wer- Haut würde eine Verbindung zwischen Menschen schaf- den, zu euren Schulden gehen und nicht zu denen seiner fen, noch die Idee, die Rollen in der Gesellschaft würden Hoheit“ (a. a. O.: 25). entlang dieser Pigmentierung verteilt werden. Der Kupferstich von Theodor de Bry (1528–1598) zeigt die Landung von Kolumbus auf Guanahani (Bahamas). Diese „Urszene“ der Begegnung mit den überseeischen Anderen verdeutlicht, wie Rassismus funktioniert. Ein Dialog soll gar nicht stattfinden. Die Ansässi- gen verwandeln sich im besten Fall zu unreifen und devoten Untertanen der Krone. Im schlimmsten Fall sind sie ein- fach Aussätzige, jedwede Grausamkeit der neuen Herren ihnen gegenüber erscheint per se gerechtfertigt. picture alliance/dpa 9 bis2021_0102_inhalt.indd 9 21.04.21 12:14
Mark Terkessidis Öffentlicher Verkauf von Skla- ven in den USA. Die Etablie- rung einer „Rassen-Kasten- Gesellschaft“ (Immanuel Geiss), in der Weiße herrschten und Schwarze als Sklaven arbeiten mussten, sorgte dafür, dass die Hautfarbe zum definitiven Kri- terium der Unterscheidung wurde. picture alliance/dpa Legitimation und Erklärung zeigt, dass die Migration durch globale Ungleichgewichte mitbedingt wird und diese Gesellschaft von mannigfalti- Das Wissen über die Anderen, das „rassistische Wissen“ gen Ausgrenzungspraxen durchzogen bleibt: Wirtschaftli- folgte der Praxis nach. Ein Element der Moderne ist – zumal che Benachteiligung, Diskriminierung bei Arbeits- und mit zunehmender Demokratisierung im Westen –, dass die Wohnungssuche, rechtliche Ungleichstellung, Zurückset- Verhältnisse nicht mehr als selbstverständlich hingenom- zung durch hegemoniale Kulturvorstellungen bilden die – men wurden, sondern begründet werden mussten. Die Er- durchaus komplizierte – materielle Grundlage der in der oberungen und die Sklaverei trafen nicht nur auf erhebli- Gesellschaft herrschenden „Vorurteile“. chen Widerstand, sondern auch auf die vehemente Kritik von Spaniern selbst. So diente das Wissen dazu, den Un- terschied zu legitimieren, aber auch zu erklären. Die Er- Wahrnehmungsprobleme in Deutschland oberer fanden, sie erfanden Gründe, warum sie die Ande- ren unterdrücken mussten, und diese Gründe lagen eben in Die Diskussion in Deutschland beschränkt sich weiterhin der „Natur“ derer, denen man Gewalt antat. Wir mussten sehr stark auf die Dimension dieser „Vorurteile“, die materi- „sie“ fesseln, weil sie so wild waren oder weil sie wie Kinder elle und strukturelle Seite wird kaum thematisiert. Diese ist waren oder weil sie nicht tätig sein wollten. „Sie“ können auch häufig schwieriger zu erkennen, dafür aber umso nicht alleine für sich sorgen, wir müssen bis zu ihrer Reife wirkmächtiger. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: In der über sie wachen und sie dabei auch zur Arbeit (auf unseren TIMSS-Untersuchung 2019 („Trends in International Ma- Plantagen) zwingen. Die Errungenschaften des Westens thematics and Science Study“) wurde festgestellt, dass an sind ein Januskopf: Auf der einen Seite entwickeln sich deutschen Grundschulen der Lernunterschied in Mathe- Fortschritt, Wohlstand, Freiheit und Demokratie, während matik und in den naturwissenschaftlichen Fächern zwi- auf der anderen Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgren- schen armutsgefährdeten und anderen Kindern bei einem zung zu Buche stehen. Rassismus lässt sich als „Apparat“ bis zwei Schuljahren liegt (Schwippert u. a. 2020: 20). verstehen, in dem die Praxis der Unterdrückung mit einer Dazu muss man wissen, dass das Armutsrisiko bei Personen Wissensbildung einhergeht, welche die Unterdrückung le- mit Migrationshintergrund signifikant höher liegt (etwa 27 gitimiert und erklärt. Prozent) als bei Personen deutscher Herkunft (ca. 13 Pro- Historisch gesehen ist die Geschichte des Rassismus, was zent) – ein Erbe der „Unterschichtung“ in unqualifizierte In- die Praxen als auch was die Wissensbildung betrifft, so- dustriejobs im Prozess der Einwanderung ab den 1960er- wohl konstant als auch äußerst variabel. Der Ausschluss Jahren. durch Einbeziehung verändert sich über die Jahrhunderte: Nach der Veröffentlichung der Untersuchung wurde je- Auf die Sklaverei folgen der Kolonialismus und die Migra- doch nicht etwa auf diese offensichtliche Disparität einge- tion. Die Verhältnisse unterscheiden sich allerdings stark, gangen, sondern die Präsidentin der Kultusministerkonfe- je nachdem um welchen Kolonialismus es geht, um den renz und der Staatssekretär im Bildungsministerium lobten englischen etwa oder um den deutschen, und auch da- mit fast gleichem Wortlaut die Lehrerinnen und Lehrer, die nach, welche Territorien und Bevölkerungen betroffen wa- trotz „einer heterogener werdenden Schülerschaft“ das ren. Zweifellos hat sich das strukturelle Element der Gewalt Niveau aufrechterhalten konnten. Hier zeigt sich, wie die nach dem Ende des Kolonialismus historisch sehr abge- seit Jahren in jeder Untersuchung wiederkehrende struktu- schwächt. Doch ein Blick auf die Migrationsgesellschaft relle Schieflage zwischen Personen mit und ohne Migrati- 10 bis2021_0102_inhalt.indd 10 21.04.21 12:14
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