Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat

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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
1/2–2021

                             Rassismus – Geschichte,
                             Spuren, Kontinuitäten

                             www.lpb-bw.de

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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
Heft 1/2–2021, 71. Jahrgang                                                                                              Thema im Folgeheft:
    »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale
                                                                                                                             Bundestagswahl 2021
    für politische Bildung Baden-Württemberg
    herausgegeben.

    Direktion der Landeszentrale
    Lothar Frick
    Sibylle Thelen

    Redaktion
                                                        Inhaltsverzeichnis
    Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de

    Redaktionsassistenz
    Barbara Bollinger,                                  Mark Terkessidis
    barbara.bollinger@lpb.bwl.de                        Was ist Rassismus? ............................................................................ 4
    Anschrift der Redaktion                             Maria Alexopoulou
    Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart            Rassismus in der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft
    Telefon: 07 11/16 40 99-44
    Fax: 07 11/16 40 99-77
                                                        Deutschland ..................................................................... .............. 12

    Herstellung                                         Andreas Eckert
    Schwabenverlag AG                                   Schwierige europäische Erinnerung: Kolonialismus in Afrika .............. 19
    Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit
                                                        Thomas Thiemeyer
    Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74
                                                        Kolonialzeitliche Sammlungen und deutsche Erinnerungskultur .......... 24
    Gestaltung Titel
    VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart                    Heiko Wegmann, Markus Himmelsbach
                                                        „In fernen Ländern gibt es ganze schwäbische Kolonien.“ .................... 30
    Gestaltung Innenteil
    Schwabenverlag Media                                Anna Lampert
    der Schwabenverlag AG                               Ordnen und Unterordnen – Das Verhältnis von Kolonialismus,
    Vertrieb                                            Rassismus und Kunst ........................................................ .............. 37
    Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH            Tshamala Schweizer, Farina Görmar
    Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
    Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24       Die afrikanische Diaspora ............................................................... 43
    www.suedvg.de                                       Josephine Jackson
    Druck                                               Black Lives Matter – Self-Care für Schwarze Aktivistinnen und
    Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH            Aktivisten ......................................................................... .............. 48
    Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
                                                        Noah Sow
    Preis der Einzelnummer 3,33 EUR.                    Rassistische Sprache ...................................................................... 51
    Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung.
    Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit        Ein Gespräch zwischen Noomi Arndt, Susanne Belz und Anna Feldbein
    dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte        über die Arbeit als Antirassismustrainerin ......................................... 58
    Kundennummer an.
                                                        Jule Bönkost
    Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
                                                        Ohne geht‘s nicht: Warum rassismuskritische Bildungsarbeit
    unbedingt die Meinung des Herausgebers
    und der Redaktion wieder.                           Kolonialismus zum Thema macht ..................................................... 66

    Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte          Moritz Holfelder
    übernimmt die Redaktion keine Haftung.              Der afrikanische Krieger – Sieben Vorschläge zum Umgang
                                                        mit der kolonialen Vergangenheit ..................................................... 73
    Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek-
    tronischen Datenträgern sowie Einspeisung           Aus unserer Arbeit ........................................................................... 78
    in Datennetze nur mit Genehmigung der
    Redaktion.                                          Buchbesprechungen ......................................................................... 79
    Titelfoto: picture alliance/dpa                     Jahresinhaltsverzeichnis 2020 ......................................................... 87
    Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare

    Redaktionsschluss: 22.03.2021

    ISSN 0007-3121

                                                                  Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
                                                                  www.buergerundstaat.de

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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
Street Art in London nahe der Waterloo Station. Das Wandbild zeigt mehrere Porträts von George Floyd. Der durch Polizei-
         gewalt herbeigeführte Tod des Afroamerikaners in Minneapolis am 25. Mai 2020 führte zu weltweiten Protesten und trieb
         rassismuskritische Diskurse voran.
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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten
         Rassismus ist wandelbar und hat sich im Laufe der Ge-           hergingen. Diese hierarchische Weltsicht fand ihre Recht-
         schichte verändert. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich im      fertigung in der „Zivilisierungsmission“, die Europa „aufer-
         Gefolge des europäischen Kolonialismus jener Rassismus,         legt“ war. Obwohl der Kolonialismus seit den 1960er-Jahren
         der bis in die Gegenwart reicht. Kolonialismus und Koloni-      ideologisch weitgehend geächtet ist, hatte bzw. hat die
         alpropaganda haben nicht nur Spuren in städtischen Räu-         rassistische Diskriminierung in vielen Regionen der Welt
         men und Museen hinterlassen. Rassistisch geprägte Denk-         noch Bestand. Gegendiskurse, angestoßen u. a. von ehe-
         und Wahrnehmungsmuster überdauerten und wirken bis              mals Kolonisierten und Vertretern der Diaspora, entwi-
         heute nach.                                                     ckelten sich zunächst nur zögerlich. Nachdem die koloni-
         Das Heft „Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten“        ale Vergangenheit in Deutschland lange Zeit eine margi-
         will über Geschichte und Ideologie des Rassismus, über          nale Rolle gespielt hat, setzte erst in den 1990er-Jahren
         Positionen, Phänomene und aktuelle Erscheinungsformen           eine intensive Phase kolonialer Erinnerung ein.
         aufklären und für Fragen einer rassismuskritischen politi-      Ein angemessener und gemeinschaftsstiftender Umgang
         schen Bildung sensibilisieren. Rassismuskritische politische    mit der kolonialen Vergangenheit konzentriert sich auf
         Bildung beinhaltet u. a. einen Austausch über eigene            zwei Kernfragen: Wie kann man Kolonialismus angemes-
         Denk- und Wahrnehmungsmuster, um den Blick für Vorur-           sen analysieren und beurteilen, ohne heutige Normen ab-
         teile und Feindbildkonstruktionen zu schärfen.                  solut zu setzen? Und welche handlungsleitenden Folgen
         Obwohl Rassismus das Thema des Jahres 2020 war, ist             ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit der Koloni-
         weder hinreichend bekannt, was Rassismus überhaupt ist          alzeit? Thomas Thiemeyer diskutiert mehrere Gründe für
         und wie das Phänomen angemessen erklärt werden kann.            das Aufkommen postkolonialer Diskurse. Neben der spä-
         Dies hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun,       ten Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland
         sondern auch mit der Geschichte des Rassismus in Deutsch-       ist und dichotome Kulturbegriffe obsolet geworden sind,
         land sowie mit der Art und Weise der Auseinandersetzung         befördern Kontroversen um das prestigeträchtige Berliner
         mit diesem Thema. Will man sich dem Begriff Rassismus           Humboldt-Forum grundsätzliche Fragen der Erinnerungs-
         annähern, geht es zunächst um zwei Fragen: Was unter-           kultur. Mit der Art der Sammlungen und der Namensge-
         scheidet die Konstrukte „Ausländer- und Fremdenfeind-           bung ist das Humboldt-Forum in die imperiale Geschichte
         lichkeit“ von Rassismus? Wie funktioniert die Spaltung          verwickelt. Die Kritik an Museen, die eurozentrische, res-
         zwischen „uns“ und „ihnen“? Rassismus ist laut Mark Ter-        taurative sowie koloniale Präsentationsmuster fortschrei-
         kessidis durch das Zusammenspiel von Ausgrenzungspra-           ben, berührt auch Eigentumsfragen mit Blick auf unrecht-
         xen und Rassifizierung charakterisiert. Rassismus ist ein       mäßig erworbenes Kultur- und Raubgut.
         „Apparat“, in dem die Praxis der Unterdrückung mit Pro-         Was hat das Stuttgarter Linden-Museum mit dem deut-
         zessen der Wissensbildung einhergeht, welche die Unter-         schen Kolonialismus zu tun? Welche württembergischen
         drückung legitimieren sollen.                                   Akteure und Institutionen waren in das koloniale Gesche-
         Die Ermordung von George Floyd im Frühsommer 2020               hen involviert? Gibt es heute noch Spuren in der Alltags-
         sorgte in Deutschland für kontroverse Diskurse. Ein brisan-     welt und im Stadtbild von Stuttgart? Heiko Wegmann
         ter Streitpunkt war die Frage, ob es auch in Deutschland        und Markus Himmelsbach, Kuratoren der Werkstatt-
         systemischen Rassismus gebe. Im Mittelpunkt der Kontro-         ausstellung „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Würt-
         verse stand die umstrittene Praxis des racial profiling. Nach   temberg im Kolonialismus“, erörtern die Konzeption und
         den öffentlichen und medialen Scharmützeln ist man in-          Themenbereiche der Ende 2020 fertiggestellten Ausstel-
         zwischen wieder zur Normalität übergegangen. Mithin             lung. Entlang der acht Module werden Einblicke in die
         ein Indikator, dass der deutsche Rassismus als Untersu-         württembergische Kolonialgeschichte vermittelt. Mit die-
         chungsgegenstand der Zeitgeschichte nach wie vor ein            ser Ausstellung stellt sich das Linden-Museum gezielt sei-
         Desiderat ist. Maria Alexopoulou erörtert, ausgehend von        ner eigenen Geschichte, indem es seine kolonialen Wur-
         den Vorkommnissen der jüngsten Zeit, die historische Di-        zeln kritisch reflektiert. Die Ausstellung ist daher mehr als
         mension des Rassismus in der Bundesrepublik Deutsch-            eine bloße Dokumentation historischen Materials. Mittels
         land. Eine Dimension, die nicht auf die zwölf Jahre der na-     interaktiver Stationen werden eurozentrische Sprachmus-
         tionalsozialistischen Diktatur begrenzt ist, sondern mit der    ter, Vorstellungswelten und Bilder bewusst hinterfragt.
         deutschen Kolonialgeschichte und Geschichte der Migra-          Durch Verfremdungseffekte wird die „kontemplative“ Be-
         tion eng verflochten ist. Seit der Mitte des 19. Jahrhun-       trachtung der inszenierten Originale, die einen „gewöhn-
         derts etablierte sich die Zweiteilung in „Deutsche und Aus-     lichen“ Museumsbesuch auszeichnen, gezielt durchbro-
         länder“. Mit dieser Dichotomie gingen klare Herrschafts-        chen.
         hierarchien einher. Bei der Etablierung und Kontrolle           Öffentlichkeitswirksame Aktionen von Kunstschaffenden,
         dieser Hierarchien spielte die Polizei eine zentrale Rolle,     Aktivistinnen und Aktivisten of Color trieben im vergange-
         prägte und prägt die kollektiven Erfahrungen von Migran-        nen Jahr den rassismuskritischen Diskurs voran. Einhellig
         tinnen und Migranten bis heute.                                 wurde ein angemessener Umgang mit der kolonialen Ver-
         Europa war nie hermetisch abgeschlossen. Nicht-europä-          gangenheit und eine Aufarbeitung rassistischer Strukturen
         ische Erfahrungen haben sich in europäische Gesellschaf-        im Kultur- und Kunstbetrieb gefordert. Die Aktionen und
         ten eingeschrieben. Die europäische Moderne ist ohne            Inszenierungen fanden nicht zufällig im öffentlichen Raum
         Kolonialismus, Imperialismus und ohne koloniale Herr-           statt. Die Kunst und die Themen der People of Color finden
         schaftspraxis nur schwer vorstellbar. Mit Blick auf Afrika      in den etablierten Kulturinstitutionen keinen Raum. Seit
         erörtert Andreas Eckert, wie mit der europäischen Koloni-       dem frühen 19. Jahrhundert ist die Kultur- und Museums-
         alherrschaft Herablassung und rassistische Attitüde ein-        landschaft von binären Denkmustern geprägt. Die koloni-

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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
alen Kategorien „einheimisch“ und „fremd“ bzw. „wir“ und       in die Rahmenbedingungen antirassistischer Workshops,
         „die Anderen“ sind immer noch Bestandteil des Kulturbe-        skizziert die Motive sowie die unterschiedliche psycho-
         triebs und prägen mithin die Definitionsmacht. Die künstle-    soziale Zusammensetzung der Teilnehmenden und er-
         rische Relevanz verschiedener Kulturformen und kultureller     örtert das Selbstverständnis bzw. die Rolle der Workshop-
         Äußerungen bzw. Objektivationen wird von weißem Perso-         Leitung. In der Beschreibung verschiedener Workshop-
         nal und weißem Publikum definiert. Die gesellschaftliche       Situationen wird offenkundig, dass Verhaltensänderung
         Vielfalt spiegelt sich im Kunst- und Kulturbetrieb keines-     ein individueller kognitiver Konstruktionsprozess ist. Die
         wegs wider. Anna Lampert mahnt in ihrem Beitrag nach-          reflexive Auseinandersetzung mit eigenen Wahrnehmun-
         haltige Veränderungsprozesse und die migrationsgesell-         gen, Kogni tionen und Deutungen steht im Mittelpunkt der
         schaftliche Öffnung der Kultureinrichtungen an.                Workshops. Das Gespräch zeigt die Grundproblematik,
         Die Schwarze Diaspora in Deutschland umfasst ca. eine          die allen Bildungsanstrengungen innewohnt: Einsicht und
         Million Menschen, deren politisches, ökonomisches, sozi-       Wissen garantieren nicht immer eine unmittelbare Verhal-
         ales und kulturelles Potenzial unterschätzt wird. Zu ihrer     tensänderung.
         Lebenswirklichkeit gehören Partizipationshemmnisse und         Soll Rassismus langfristig abgebaut werden, muss dieser
         Diskriminierungen. Ungeachtet der Internationalen De-          zunächst einmal erkannt und als strukturelles Phänomen
         kade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015–2024)           begriffen werden. Ein Anliegen, das u. a. auch der im
         sind koloniale Kontinuitäten und globale Machtdiffe-           November 2020 von der Bundesregierung beschlossene
         renzen immer noch Ursachen von Flucht und Migration.           Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Rassismus und
         Zudem prägen Spuren und Spätfolgen des Kolonialismus           Rechtsextremismus thematisiert. Explizit verlangt wird eine
         bis heute das Alltagsleben der Schwarzen Diaspora. Pro-        kritische Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und Aus-
         zesse des Othering und Mikroaggressionen sind alltägli-        einandersetzung mit dem Zusammenhang von Kolonia-
         che Erfahrungen, denen vor allem Schwarze Kinder und           lismus und Rassismus. Jule Bönkost plädiert für eine
         Jugendliche ausgesetzt sind. Tshamala Schweizer und Fa-        Verbindung von schulischer sowie außerschulischer Bil-
         rina Görmar fordern in ihrem engagierten Plädoyer, die         dungsarbeit und Kolonialismusaufarbeitung. Die Ausein-
         Lebensrealitäten, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ex-           andersetzung mit Rassismus und Kolonialismus in der schu-
         pertisen Schwarzer Menschen wertzuschätzen und als             lischen und non-formalen Bildungsarbeit ist vorausset-
         gleichwertig anzuerkennen.                                     zungsvoll. Pädagogische Fachkräfte benötigen hierfür
         Wer soll über Rassismus sprechen und schreiben, wenn           neben einer sorgfältigen Vorbereitung angemessenes
         nicht diejenigen, die ihn erfahren? Ermutigt durch die Pro-    Wissen. Dies schließt die selbstkritische Reflexion eigener
         teste gegen Rassismus im Juni 2020 schildert Josephine         Weltbilder mit ein.
         Jackson ihre eigenen Rassismuserfahrungen und ihr Enga-        In den westlichen Gesellschaften wurde das koloniale
         gement gegen Rassismus im Kontext der Sozialen Arbeit.         Gedankengut nie konsequent aufgearbeitet. Die Beschäf-
         Sie beschreibt den Alltagsrassismus, mit dem sich Schwarze     tigung mit unserer Kolonialgeschichte ist längst überfällig.
         Menschen konfrontiert sehen, spannt dabei aber auch            Die uns heute noch prägenden Vorstellungen, Denkweisen
         den Bogen zur gesamtgesellschaftlichen Problematik. In         und Sprachmuster, die auf jene Zeit zurückgehen, müssen
         einem weiteren Schritt skizziert sie Herausforderungen,        auf den Prüfstand gestellt werden. Moritz Holfelder unter-
         mit denen Schwarze Aktivistinnen und Aktivisten konfron-       breitet Vorschläge, wie dieser kolonialen „Amnesie“ wirk-
         tiert werden. Engagement kostet Zeit sowie Energie und         sam begegnet werden kann. Er plädiert u. a. für eine um-
         erfordert Sachverstand. Um den Stressfaktor Rassismus          fassende Aufklärung, mahnt die stärkere Verankerung des
         abzumildern, stellt sie einige Methoden und Strategien         Themas in den Lehr- und Bildungsplänen an und fordert
         der Selbstfürsorge (Self-Care) vor.                            eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit alltägli-
         Rassistische Sprache ist beileibe kein reines Stammtisch-      chen und nicht hinterfragten Sprachmustern. Exemplari-
         problem. Rassismus ist in unserer Geschichte, Kultur und in    sche Literatur- und Filmempfehlungen sind als Anregung
         unserer Sprache verankert. Worte haben bekanntlich             gedacht, sich mit den Spuren und Spätfolgen des Koloni-
         mehrere Bedeutungsebenen und Botschaften. Probleme             alismus zu beschäftigen. Einen wertvollen Beitrag leisten
         im alltagssprachlichen Umgang miteinander löst man             auch immer mehr Museen, indem sie zu relevanten Orten
         nicht, indem man sie geflissentlich ignoriert. Vielmehr kann   für historische Reflexion und neue Denkprozesse werden,
         ein reflek tierter Sprachgebrauch rassistische Botschaften     möglichst in Form kooperativer Projekte, in denen die
         und Ausgrenzungen aufdecken und kritisch hinterfragen.         weiße Deutungshoheit nicht mehr dominiert.
         Noah Sow entlarvt in deutlicher Sprache und mit tiefgrün-      Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen auf-
         digem Humor den rassistischen Sprachgebrauch, der uns          schlussreiche Informationen vermitteln und Denk- und Dis-
         tagtäglich begegnet. Sie enttarnt den sprachlichen Ras-        kussionsanstöße geben, sei an dieser Stelle gedankt. Dank
         sismus, der uns u. a. auch in den Medien begegnet, und         gebührt auch dem Schwabenverlag und den Mitarbeite-
         stellt eingefahrene, zumeist unreflektierte Denkmuster in      rinnen und Mitarbeitern der Druckvorstufe für die stets
         Frage. Sie untermauert ihre Argumentation mit anschauli-       gute und effiziente Zusammenarbeit. Ich erlaube mir ab-
         chen Beispielen und hält uns ohne Besserwisserei den           schließend eine persönliche Bemerkung: Mit diesem Heft
         Spiegel vor.                                                   möchte ich mich von allen Leserinnen und Lesern der Zeit-
         Noomi Arndt, Susanne Belz und Anna Feldbein be-                schrift „Bürger & Staat“ verabschieden. Bei meiner Nach-
         schreiben entlang ihrer Berufsbiografien die Wegmarken,        folgerin, Maike Hausen, weiß ich die Redaktion in guten
         die den Anlass gaben, sich zur Antirassismustrainerin          Händen.
         ausbilden zu lassen. Das Gespräch vermittelt Einblicke                                                      Siegfried Frech

                                                                                                                                        3

bis2021_0102_inhalt.indd 3                                                                                                       21.04.21 12:14
Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
R ASSISMUS – GESCHICHTE, SPUREN, KONTINUITÄTEN

         Was ist Rassismus?
         Mark Terkessidis

                                                                         schung verlief in Konjunkturen und war hochgradig abhän-
         Obwohl Rassismus das Thema des Jahres 2020 war, ist             gig davon, dass „etwas“ passierte: Gewalt zum einen in
         weder hinreichend bekannt, was Rassismus überhaupt ist          Form von direkten Angriffen auf Personen nichtdeutscher
         und wie das Phänomen angemessen erklärt werden kann.            Herkunft, seien es Geflüchtete, BPoC (Black and People of
         Dies hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun,       Color) oder Personen mit Migrationshintergrund; zum an-
         sondern auch mit der Geschichte des Rassismus in                deren Rechtsextremismus in Form von Wahlerfolgen, De-
         Deutschland sowie mit der Art und Weise der Auseinan-           monstrationen oder dem medienwirksamen Auftreten ein-
         dersetzung mit diesem Thema hierzulande. Will man sich          zelner Personen. Alltägliche Ausgrenzungsphänomene
         dem Begriff Rassismus annähern, geht es zunächst um             wie Diskriminierungen in Schulen, Verwaltungen oder
         zwei Fragen: Was unterscheidet eigentlich die Konst-            Krankenhäusern wurden jahrzehntelang gar nicht unter
         rukte „Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit“ von Rassis-         Rassismus geführt – dafür gab es Sonderbezeichnungen
         mus? Wie funktioniert die Spaltung zwischen „uns“ und           wie „Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit“. Das hatte
         „ihnen“? Mark Terkessidis diskutiert zunächst Prozesse          auch mit der deutschen Geschichte zu tun. Vor dem Hinter-
         der Rassifizierung, beschreibt die Konstruktion rassisti-       grund des Weltbildes und der Verbrechen des nationalso-
         schen Wissens sowie verschiedene Ausgrenzungsme-                zialistischen „Dritten Reiches“, die durch und durch von
         chanismen. Rassismus ist stets durch das Zusammenspiel          „Rassen“-Ideen geprägt waren, erschienen die Vorkomm-
         von Ausgrenzungspraxen und Rassifizierung charakteri-           nisse in der Bundesrepublik weniger gravierend und an-
         siert. Gleichzeitig ist Rassismus ein „Apparat“, in dem die     ders motiviert. Von Rassismus zu sprechen, stellte eine Ver-
         Praxis der Unterdrückung mit Prozessen der Wissensbil-          bindung mit dieser Vergangenheit her, und diese Verbin-
         dung einhergeht, welche die Unterdrückung erklären und          dung wurde aktiv oder passiv abgewehrt.
         legitimieren sollen. Rassismus ist, so das Fazit von Mark       Allerdings war die Rede von „Ausländer- oder Fremden-
         Terkessidis, eines der großen Ungleichheitsverhältnisse         feindlichkeit“ ideologisch. Offenbar adressierten diese
         der Moderne.                                                    Konstrukte die „Feindlichkeit“ einer Bevölkerungsgruppe
                                                                         („Deutsche“) gegen eine andere, nicht zugehörige Gruppe

         Vorbemerkung

         Die großen Demonstrationen anlässlich des Todes von
         George Floyd durch Polizeigewalt in Minneapolis im Som-
         mer 2020 haben gezeigt, dass das Thema Rassismus vor
         allem jüngeren Menschen regelrecht auf den Nägeln
         brennt. Das hatte sich mit der regen Beteiligung am Hash-
         tag „#MeTwo“, in dem über Diskriminierungserfahrungen
         berichtet wurde, sowie den Reaktionen auf die Anschläge
         von Halle und Hanau bereits angedeutet. Während Ras-
         sismus geradezu kometenhaften zu einem der Themen des
         Jahres 2020 aufstieg, bleibt das Wissen über das Thema
         weiterhin relativ gering. Während heftig diskutiert wird, ist
         im Großen und Ganzen weder allgemein bekannt (und an-
         erkannt), was überhaupt als Rassismus zu betrachten wäre,
         geschweige denn, wie das Phänomen erklärt werden kann.
         Das Spektrum reicht von jenen, die reflexhaft behaupten,        Demonstrierende gegen Ras-
         in den USA gebe es so etwas schon, in Deutschland aber          sismus spiegeln sich in einer
         nicht, bis hin zu jenen, die Diskriminierung aufgrund von       Pfütze. Die Demonstrationen
         Hautfarbe oder Herkunft fast als ausschließliches Struktu-      anlässlich des Todes von
         rierungsmoment von Gesellschaft betrachten. Diese Ver-          George Floyd durch Polizeige-
         wirrung ist der Debatte nicht unbedingt zuträglich, hat         walt in Minneapolis im Sommer
         aber sowohl mit der Komplexität des Gegenstandes zu tun         2020 haben gezeigt, dass das
         als auch mit der Geschichte des Rassismus sowie der Art         Thema Rassismus vor allem
         der Behandlung des Themas in Deutschland.                       jüngeren Menschen regelrecht
                                                                         auf den Nägeln brennt. Wäh-
                                                                         rend Rassismus zum Thema des
         „Feindlichkeit“ oder Rassismus?                                 Jahres 2020 aufstieg, bleibt
                                                                         das Wissen über das Thema
         Ein dauerhaftes Interesse an diesem Thema hat hierzu-           weiterhin relativ gering.
         lande lange gefehlt. Die Wahrnehmung und auch die For-                        picture alliance/dpa

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bis2021_0102_inhalt.indd 4                                                                                                        21.04.21 12:14
Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
(„Ausländer“, „Fremde“). Dieses Modell war aber bereits in                                         WAS IST RASSISMUS?
         den 1970ern zweifelhaft: Nicht nur hatten die „Ausländer“
         zumeist ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik,
         sondern auch mit deren „Fremdheit“ hatten die meisten
         Personen deutscher Herkunft bereits reichlich Erfahrungen    gerufen und interviewt wurde. Es ging um einen Streit in
         sammeln können. 1998 schließlich erkannte erstmals eine      der FDP, um Bemerkungen des FDP-Fraktionschefs im Bun-
         Bundesregierung an, es habe ein „unumkehrbarer Prozess       destag, Rainer Brüderle, über seinen Parteikollegen Phi-
         der Zuwanderung“ stattgefunden. Im Jahr 2000 wurde das       lipp Rösler. Brüderle hatte die vietnamesische Herkunft
         Staatsangehörigkeitsrecht substanziell verändert: Durch      Röslers ins Spiel gebracht, indem er bemerkte: „Glaubwür-
         die Abschaffung des „ius sanguinis“, welches die Zugehö-     digkeit gewinnt man, indem man nicht wie Bambusrohre
         rigkeit buchstäblich an das deutsche Blut koppelte, wurde    hin und her schwingt, sondern steht wie eine Eiche. Deswe-
         schließlich die Anerkennung von Deutschen nichtdeutscher     gen ist die Eiche hier heimisch und nicht das Bambusrohr.“
         Herkunft möglich. Dadurch wurde Deutschland endgültig        Nun war die Frage, ob das als Rassismus bezeichnet wer-
         als eine fundamental vielheitliche Gesellschaft neu defi-    den könne. Zu jenem Zeitpunkt war Philipp Rösler der deut-
         niert. Der Begriff Rassismus adressiert nun die undemokra-   sche Vizekanzler, und der deutsche Vizekanzler konnte per
         tischen Spaltungen zwischen „uns“ und „ihnen“ – und zwar     se weder Ausländer noch Fremder sein. Wie also sollte das
         innerhalb einer Bevölkerung: Die Spaltungen umfassen Be-     Phänomen anders bezeichnet werden? Brüderle konstru-
         nachteiligungen, Angriffe, Ausgrenzungen, Beleidigun-        ierte zunächst eine symbolische Spaltung zwischen „uns“
         gen, also große, aber auch sehr kleine Formen eines Pro-     und „ihnen“ („Eiche“ versus „Bambusrohre“), um Rösler in
         zesses, der diese Spaltung ständig herbeiführt.              einem zweiten Schritt quasi auszubürgern („nicht hei-
                                                                      misch“).
                                                                      Rösler gehörte keineswegs einer anderen, real existieren-
         Eine Spaltung zwischen „uns“ und „ihnen“                     den Gruppe an, sondern diese Gruppe wurde von Brü-
                                                                      derle symbolisch ab- und dann ausgegrenzt. Diese Konst-
         Diesen Prozess der Trennung grundsätzlich zu verstehen,      ruktion von Gruppen ist für die Definition von Rassismus
         ist ganz entscheidend, um Rassismus begreifen zu können:     essenziell und unterscheidet das Konzept Rassismus von
         Es geht nicht um die „Feindlichkeit“ einer Bevölkerungs-     den Vorstellungen von „Feindlichkeit“ einer Gruppe gegen
         gruppe gegen eine andere, sondern um den Vorgang der         eine andere. Auch Weiterentwicklungen wie „Gruppenbe-
         Spaltung innerhalb einer Bevölkerung. Ich möchte das an      zogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) werden dem be-
         einem Beispiel verdeutlichen. Ich erinnere mich daran, wie   schriebenen Prozess nicht gerecht (vgl. Heitmeyer 2005:
         ich 2013 von einer Pressagentur zum Thema Rassismus an-      13–34.) GMF wird als „Syndrom“ aus sehr unterschiedli-
                                                                      chen Ideologien der Ungleichwertigkeit beschrieben, die
                                                                      von Rassismus über Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Homo-
                                                                      phobie und „Abwertung von Behinderten“ reicht. Zu den
                                                                      Aussagen, mit denen die „Einstellung“ zu Rassismus gemes-
                                                                      sen wird, gehört etwa folgende: „Die Weißen sind zu Recht
                                                                      führend in der Welt“. In dieser Aussage wird allerdings vo-
                                                                      rausgesetzt und selbstverständlich erklärt, dass „die Wei-
                                                                      ßen“ existieren, ebenso wie an anderen Stellen im GMF-
                                                                      Fragebogen vorausgesetzt wird, dass es „Ausländer“ oder
                                                                      „Muslime“ gibt. Das kann aber nicht vorausgesetzt wer-
                                                                      den, sondern es geht um den spezifischen Vorgang, in dem
                                                                      solche Herkunftsgruppen produziert werden.

                                                                      Rassifizierung

                                                                      Das mag möglicherweise absonderlich wirken, denn der
                                                                      Einwand des „gesunden Menschenverstandes“ würde lau-
                                                                      ten: Gruppen von Menschen unterscheiden sich eben! Es
                                                                      gibt in unterschiedlichen Ländern doch ganz verschiedene
                                                                      Arten miteinander umzugehen, es gibt kulturelle Unter-
                                                                      schiede und die Religion sorgt doch auch für diverse Ver-
                                                                      haltensweisen. Tatsächlich behauptet auch niemand, es
                                                                      würde keine Differenzen geben. Wenn wir über Rassismus
                                                                      sprechen, dann stellt sich aber die Frage: Warum spielen
                                                                      bestimmte Merkmale wie Hautfarbe überhaupt so eine
                                                                      große Rolle, und befinden sich die Differenzen dort, wo
                                                                      „wir“ sie zu sehen glauben? Das Diktum des ehemaligen
                                                                      Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, er bestimme, wer Jude
                                                                      sei, beschreibt den rassistischen Konstruktionsprozess
                                                                      durchaus angemessen. Mittlerweile ist klar belegt, dass
                                                                      der Begriff „Rasse“ keinen wissenschaftlichen Wert hat, so
                                                                      wie es umgekehrt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür

                                                                                                                                     5

bis2021_0102_inhalt.indd 5                                                                                                    21.04.21 12:14
Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
Mark Terkessidis
                       gibt, dass die ethnische Herkunft einer Person direkte Aus-
                       wirkungen auf deren Verhalten hat. Wird also von „den
                       Muslimen“ gesprochen, so ist nur scheinbar klar, wovon die
                       Rede ist. Tatsächlich wird diese Gruppe dabei geradezu
                       erfunden: Darunter fallen Gläubige teilweise nahezu un-
                       vereinbarer Richtungen und sehr unterschiedlicher Her-
                       kunft; gewöhnlich sind sogar alle Personen türkischer oder
                       arabischer Herkunft gemeint, ob sie nun religiös sind oder
                       nicht. Tatsächlich gibt es letztlich gar keinen Grund dafür,
                       dass Haut- oder Haarfarbe, ein bestimmtes Aussehen oder
                       bestimmte kulturelle Accessoirs überhaupt eine Bedeutung
                       bekommen – wir könnten die Zusammensetzung von Men-
                       schen nach ganz anderen Kriterien beschreiben.
                       Ein definitorisches Kriterium des Rassismus ist also ein Vor-
                       gang, den ich 1998 als „Rassifizierung“ bezeichnet habe
                       (Terkessidis 1998: 74ff.) Im Prozess dieser Rassifizierung
                       wird einerseits mittels bestimmter Merkmale eine Gruppe
                       von Menschen als natürliche Gruppe festgelegt und gleich-
                       zeitig wird die Natur dieser Gruppe im Verhältnis zur eige-
                       nen Gruppe formuliert. Die betreffenden Merkmale können
                       ganz unterschiedlicher Art sein. Die französische Soziolo-
                       gin Colette Guillaumin spricht von einem „Bündel von Kon-
                       notationen“, in das Elemente von äußerst heterogener Art
                       eingehen können: (a) morpho-physiologische Kennzeichen
                       (diese können sichtbar oder unsichtbar sein, sie gelten
                       als natürlich/evident und als geeignet, Gruppen zu unter-
                       scheiden); (b) soziologische Kennzeichen (Sprachen,
                       Wirtschaftssysteme, alltägliche Gewohnheiten, Ernäh-
                       rung, Kleidung, Musik etc.); (c) symbolische und geistige
                       Kennzeichen (politische Praktiken, Einstellungen, Lebens-
                       auffassungen, kulturelle und religiöse Verhaltensweisen
                       etc.) sowie (d) imaginäre Kennzeichen (etwa phantasmati-
                       sche Vorstellungen von okkulter Macht etc.). „Die Gesamt-       bekannt. Unschwer lassen sich Vorstellungen erkennen,
                       heit dieser Merkmale“, schreibt Guillaumin, „verschmilzt zu     die auch heutzutage verbreitet sind – etwa über „Auslän-
                       einem Ensemble, das sich als synkretistisch definieren lässt“   der“, Geflüchtete oder über „die Muslime“.
                       (Guillaumin 1991: 167).                                         Angesichts der Geschichte des Rassismus, auf deren Ur-
                                                                                       sprünge ich später noch zurückkommen werde, macht es
                                                                                       keinen Sinn, von „Vorurteilen“ zu sprechen, also von Irrtü-
                       Rassistisches Wissen                                            mern über die Welt. Angesichts der Tatsache, dass „Rasse“
                                                                                       bis ins mittlere 20. Jahrhundert als kaum bezweifeltes wis-
                       Der Prozess der Festlegung einer Gruppe als natürliche          senschaftliches Konzept galt und auch angesichts der Ubi-
                       Gruppe geht zugleich mit Zuschreibungen über die Natur          quität der angeblichen Vorurteile, ist es angemessener,
                       dieser Gruppe einher. Diese Zuschreibungen sind inhalt-         von „rassistischem Wissen“ zu sprechen (vgl. Terkessidis
                       lich sowohl erstaunlich konstant als auch über die Zeit va-     1998: 83ff.) Diese Wissensbestände haben mannigfaltige
                       riabel. Ich möchte ein Beispiel aus dem Jahre 1525 zitieren,    Auswirkungen im Alltag, die vor allem von jenen Personen
                       eine Aussage des Dominikanermönches Tomas Ortiz. Er             als verletzend wahrgenommen werden, deren Zugehörig-
                       berichtet über die Indigenen in von Spanien eroberten Ge-       keit unbestreitbar scheint, weil sie zwar eine andere Her-
                       bieten Amerikas: „Sie sind mehr als irgendein anderes Volk      kunft haben, aber in Deutschland geboren wurden (ebenso
                       unzüchtig. Gerechtigkeit gibt es bei ihnen nicht. Sie gehen     wie teilweise ihre Eltern und sogar Großeltern). Insofern ist
                       ganz nackt, haben keine Achtung vor wahrer Liebe und            entgegen der herrschenden Vorstellung die Differenz kei-
                       Jungfräulichkeit und sind dumm und leichtfertig. Wahr-          neswegs von Anfang präsent. Oft genug wird diesen Per-
                       heitsliebe kennen sie nicht, außer wenn sie ihnen selbst        sonen erst in einer Art „Urszene“ klar, dass sie als nicht-zu-
                       nützt. Sie sind unbeständig, glauben nicht an die Vorse-        gehörig betrachtet wird: Das kann eine Beschimpfung sein,
                       hung, sind undankbar und umstürzlerisch. […] Sie sind ge-       das Erlebnis einer Ungleichbehandlung oder die Konfron-
                       walttätig, und verschlimmern dadurch noch die ihnen an-         tation mit Klischees aller Art – im oben genannten Hashtag
                       geborenen Fehler“ (zit. nach Todorov 1985: 182). Kaum je-       „#MeTwo“ wurden sehr viele Beispiele aus dem Kontext
                       mand würde heute noch so reden. Doch wenn ich die               der Schule berichtet.
                       Bemerkungen von Ortiz auf ihre Essenz reduziere und et-
                       was aktueller formuliere, dann klingt das in etwa so: „Sie“
                       kleiden sich auf eine Weise, die unseren Ordnungsvorstel-       Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung
                       lungen widerspricht; sie verstoßen gegen unseren Glau-
                       ben und unsere Moralkodizes, es mangelt ihnen (gene-            Die Kraft der Ausgrenzung besteht nun in der alltäglichen
                       tisch) an Intelligenz und Beständigkeit, sie stören die Ord-    Wiederholung solcher manchmal anscheinend unbedeu-
                       nung und machen ständig Ärger. Das wirkt plötzlich              tenden Erlebnisse. So wird Personen mit Migrationshinter-

   6

bis2021_0102_inhalt.indd 6                                                                                                                        21.04.21 12:14
Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
WAS IST RASSISMUS?

                                                                          Diese Unterstellung ist zumeist mit weiteren Zuschreibun-
                                                                          gen über die Natur dieses „Woanders“ verbunden. Kli-
                                                                          schees – mögen sie nun negativ (faul, traditionell, aufbrau-
                                                                          send, kriminell, fundamentalistisch etc.) oder positiv (spon-
                                                                          tan, feurig, gefühlsbetont etc.) sein – haben zweifellos
                                                                          Auswirkungen auf die Kommunikation. Tatsächlich wird oft
                                                                          genug gar nicht mit den betreffenden Personen gespro-
                                                                          chen, sondern sie werden als Repräsentanten einer Her-
                                                                          kunftsgruppe adressiert. In diesem Moment findet etwas
                                                                          statt, das ich Entantwortung nenne. Was eine Person sagt
                                                                          oder tut, wird nicht mehr als individueller Ausdruck gewer-
                                     Im erläuternden Text zum             tet, sondern als Ausfluss des „Afrikanischen“ oder des
                                     „Ahnenpass“, der dem „Arier-         „Südländischen“, und so wird sie ihrer Verantwortung (für
                                     Nachweis“ diente, wird der           ihr Sprechen und Handeln) beraubt, denn es ist ja das „Af-
                                     „völkische Rassegrundsatz“           rikanische“ oder das „Südländische“, das dieses Sprechen
                                     erklärt. Vor dem Hintergrund         und Handeln zu bedingen scheint. Zugleich wird ihr damit
                                     des Weltbildes und der Ver-          auch die Möglichkeit einer Antwort verwehrt: All ihre Äu-
                                     brechen des nationalsozialisti-      ßerungen sind ja schon vorbestimmt durch die Gruppenzu-
                                     schen „Dritten Reiches“, die         gehörigkeit.
                                     durch und durch von „Rassen“-        Eng mit diesem Vorgang zusammen hängt auch die Unter-
                                     Ideen geprägt waren, erschie-        stellung von Defiziten – die Entgleichung. Hier wird den Per-
                                     nen rassistische Vorkommnisse        sonen mit Migrationshintergrund kommuniziert, dass sie
                                     in der Bundesrepublik lange          einer bestimmten Norm nicht genügen, also nicht als gleich
                                     Zeit weniger gravierend und          anerkannt werden. Freilich soll so auch der Vergleich ver-
                                     anders motiviert.                    hindert werden, denn immer sind es die Einheimischen, die
                                                   picture alliance/dpa   als Kontrolleure und Richter der Norm fungieren. Ein Bei-
                                                                          spiel aus dem Bereich Schule mag diesen Prozess verdeut-
                                                                          lichen. Gerade beim wohlmeinenden Lehrpersonal gelten
         grund häufig vor Augen geführt, dass sie eigentlich woan-        Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft oft als Re-
         ders zu Hause sind. Das äußert sich in oftmals nur angeb-        präsentanten ihres Heimatlandes. Sie müssen stets Rede
         lich neugierigen Fragen wie „Woher kommst Du?“, wobei            und Antwort stehen, wenn es um ihre angeblichen Her-
         die Nennung eines fremden Landes erwartet wird. Auch             kunftsregionen geht, wobei die geographischen Einheiten
         Vor- und Nachnamen sind ein stetiger Anlass zum „frem-           sehr unterschiedlich sein können – das Spektrum reicht von
         deln“ – die Namen werden als „zu kompliziert“ erachtet           „Afrika“ bis „Kurdistan“. Freilich sind Schülerinnen und
         (auch wenn sie es objektiv gar nicht sind) und erstaunlich       Schüler in der Schule, um etwas zu lernen, und daher ist es
         konsequent falsch ausgesprochen oder geschrieben. Zu-            absurd, „Herkunftswissen“ vorauszusetzen. So wird den
         dem wird häufig oft davon ausgegangen, dass Personen             Kindern und Jugendlichen letztlich bewiesen, dass sie ein
         mit Migrationshintergrund oder BPoC eine andere Mutter-          Defizit haben in Bezug auf ihre Herkunft. Da sie gleichzei-
         sprache haben. Obzwar deutsche Muttersprachler, wer-             tig in ihrem sonstigen Leben oft genug auch nicht wirklich
         den sie vielfach in ihrer angeblichen „Heimatsprache“            als Deutsche anerkannt werden, gibt es quasi unentwegt
         oder in Englisch angesprochen. Oder es wird ihnen be-            jemanden, der feststellt, dass die betreffenden Personen
         scheinigt, dass man einen kleinen Akzent aber noch hören         zu viel oder zu wenig „Deutsches“ oder „Anderes“ haben,
         würde – oft von Personen, deren Bildungsgrad weit niedri-        wobei der Maßstab relativ beliebig festgelegt werden
         ger ist.                                                         kann. Daraus ergibt sich bei vielen jungen Leuten nicht-
         Ich habe im Rahmen einer qualitativen Untersuchung ver-          deutscher Herkunft das höchst unangenehme Gefühl,
         sucht, diese Ausgrenzungsmechanismen mit Bezeichnun-             ständig begutachtet zu werden, aber gleichzeitig nicht ge-
         gen zu versehen – die beschriebenen Erlebnisse, die eine         nau zu wissen, an welchen Kriterien sich die Beurteilungen
         Person an einen anderen Ort schicken, fasse ich unter dem        eigentlich orientieren.
         Begriff Verweisung zusammen (vgl. Terkessidis 2004). Die
         genannten Beispiele mögen harmlos erscheinen, doch sie
         stehen in einer Kontinuität mit abwertenden Bemerkungen          Was kein Rassismus ist
         wie „Ich weiß ja nicht, wie das bei ihnen zuhause gemacht
         wird, aber hier bei uns …“ oder auch mit Angriffen wie           Ich möchte hier betonen, dass diese alltäglichen Grenz-
         „Geh zurück dahin, wo du hergekommen bist“ oder eben             ziehungen auf einem „rassistischen Wissen“ basieren, in
         auch mit tätlichen Angriffen, die eine Vertreibung anstre-       dem Gruppen als natürliche Gruppen festgelegt werden
         ben. Damit das nicht missverstanden wird: Selbstverständ-        und zugleich die Natur eine Gruppe formuliert wird. Diese
         lich sind Fragen und Gewalttätigkeiten nicht das Gleiche,        Grenzziehung anhand bestimmter Merkmale stellt selbst
         doch die Voraussetzung ist es schon: Jemand gehört nicht         das Problem dar, nicht nur die abwertende Qualität des
         „hierher“, sondern eigentlich „woanders“ hin.                    Wissens. Tatsächlich müssen Zuschreibungen keineswegs
                                                                          immer eine abwertende Komponente haben. Wenn je-

                                                                                                                                           7

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Rassismus - Geschichte, Spuren, Kontinuitäten - Der Bürger im Staat
Mark Terkessidis
                       mand äußert, dass „Südländerinnen“ im Gegensatz zu            die jüdische Bevölkerung: „Man bindet uns die Hände und
                       Deutschen so herrlich warm und gastfreundlich seien oder      macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen“
                       dass schwarze Männer attraktiver und zumal potenter           (Mendelsohn 1782: XI). In einer kürzlich erschienenen Ge-
                       seien als solche mit weißer Hautfarbe, dann sind solche       schichte rassistischer Ideen betont der US-Forscher Ibra-
                       Bemerkungen nicht abwertend im eigentlichen Sinne, aber       him X. Kendi: Es sei ein „volkstümliches Märchen“, dass Un-
                       sie erfüllen dennoch sämtliche Kriterien von „rassistischem   wissenheit und Hass die Ursache für diskriminatorische
                       Wissen“. Allerdings sei hier auch erwähnt, dass Personen      Praxen seien: „Die umgekehrte Logik kommt der Wahrheit
                       selten ausschließlich Opfer von „rassistischem Wissen“        näher: Ethnische Diskriminierung führte zu rassistischen
                       werden, sondern auf vielfältige Weise ebenfalls in solche     Ideen, die Unwissenheit und Hass mit sich brachten. Ethni-
                       Wissensbestände verwickelt sind. Was Auffassungen über        sche Diskriminierung → rassistische Ideen → Unwissenheit/
                       die vermeintlich „eigene“ Gruppe betrifft, aber auch was      Hass: Das ist die kausale Verknüpfung, die der Geschichte
                       ihr Wissen über wiederum andere Gruppen in der Gesell-        der ethnischen Beziehungen in Amerika zugrunde liegt“
                       schaft betrifft. Personen mit Migrationshintergrund können    (Kendi 2017: 18).
                       problematische Wissensbestände über Juden, Sinti und          Das hat mit traditioneller „Fremdheit“ nur sehr bedingt et-
                       Roma äußern, Juden solche über „die Muslime“.                 was zu tun. Die antiken Griechen nannten all jene „Barba-
                       Nun ist im Zusammenhang mit Rassismus des Öfteren ge-         ren“, deren Sprache sie nicht verstanden, also all jene, die
                       äußert worden, dass es ja auch so etwas geben würde wie       außerhalb ihres Sprach- und Verständnisraums lebten. Der
                       „Deutschenfeindlichkeit“, dass also Personen deutscher        Begriff hatte zweifellos etwas Abwertendes, aber nur in
                       Herkunft Erfahrungen von Ausgrenzung oder Abwertung           dem Sinne, dass die Anderen quasi unverständliche Laute
                       machen könnten – zumal etwa in einem Umfeld wie der           ausstießen. Mit dem modernen Rassismus, sagt der Sozial-
                       Schule, in dem Kinder und Jugendliche mit Migrationshin-      wissenschaftler Immanuel Wallerstein, sei ein vollkommen
                       tergrund unterdessen häufig die Mehrheit darstellten. Tat-    neues Beziehungsgeflecht in die Welt gekommen. Das Be-
                       sächlich soll die Realität solcher Erfahrungen gar nicht in   sondere an Rassismus zeige sich in einem paradox anmu-
                       Abrede gestellt werden. Ebenso können auch Personen,          tenden Verhältnis: Rassismus schließe Menschen aus, in-
                       die in Nordrhein-Westfalen geboren wurden, in Bayern          dem es sie einbeziehe (Wallerstein 1995: 102). Dieses Ver-
                       schlechte Erfahrungen machen, Deutsche in Österreich,         hältnis beginnt mit der „Entdeckung“ der sogenannten
                       Franzosen oder US-Amerikanerinnen in Deutschland. Al-         Neuen Welt durch Christoph Kolumbus vor über 500 Jah-
                       lerdings trifft für solche Ergebnisse der Begriff Rassismus   ren und erweist sich seitdem als erstaunlich hartnäckig.
                       nicht zu. Tatsächlich ist die Art der Wissensbestände ähn-    Anstatt ein nebulöses Konzept wie „Gruppenbezogene
                       lich, aber es fehlt ein anderes wesentliches Element, das     Menschenfeindlichkeit“ zu verwenden, wäre es ange-
                       definitorisch zu Rassismus gehört, nämlich eine materielle    bracht, Rassismus als eines der großen, strukturierenden
                       und systematische Qualität der Ausgrenzung. Der britische     Ungleichheitsverhältnisse anzuerkennen – ebenso wie so-
                       Soziologe Robert Miles hat diese Qualität als „Ausgren-       ziale Ungleichheit und jene zwischen den Geschlechtern.
                       zungspraxis“ charakterisiert. Es geht also um systemati-
                       sche Praxen, „in denen eine näher bezeichnete Gruppe bei
                       der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen nach-       Die rassistische „Urszene“
                       weislich ungleich behandelt wird, oder in denen sie in der
                       Hierarchie der Klassenverhältnisse systematisch über-         Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die rassistische
                       oder unterrepräsentiert ist“ (Miles 1991: 103). Um von Ras-   „Urszene“zu werfen – die Landung der Spanier am Ufer
                       sismus sprechen zu können, müssen Ausgrenzungspraxis          der Insel Guanahani (Bahamas) im Jahr 1492. Bekanntlich
                       und Rassifizierung zusammenkommen – ansonsten besitzt         war die kleine Flotte des Kolumbus auf der Suche nach ei-
                       der Begriff keinerlei Trennschärfe.                           nem Seeweg nach Ostasien – die Europäer fanden sich in
                                                                                     ihren Handelsbeziehungen über Land zunehmend vom Os-
                                                                                     manischen Reich blockiert. Als Kolumbus nun nach einer
                       Wissen und Ausgrenzungspraxen                                 geradezu phantastisch anmutenden Fahrt ins Nichts des
                                                                                     Atlantiks auf der Insel erstmals Menschen entdeckt, macht
                       Wir wissen aus der Wissenssoziologie, dass gesellschaft-      er in seinem „Bordbuch“ nur einen höchst prosaischen Ver-
                       lich verbreitete Wissensbestände einen institutionellen       merk. Kolumbus zeigte gar kein Interesse an einem Dialog
                       Gegenpart haben, dass solches Wissen eine Funktion, ge-       mit den Personen, sein Ziel war die schiere Besitzergrei-
                       wissermaßen einen Nutzen hat – ansonsten wäre die Ver-        fung. Im Vertrag von Santa Fe hatte er sich von der Krone
                       breitung kaum zu erklären. In Bezug auf rassistisches Wis-    das Recht zusichern lassen, ein Zehntel einbehalten zu dür-
                       sen wird nun häufig darauf hingewiesen, „Vorurteile“ habe     fen „von allen Perlen, Edelsteinen, Gold, Silber, Spezereien
                       es ja schon immer gegeben und Kategorisierung und Ste-        sowie allen anderen Kauf- und Handelswaren, die in sei-
                       reotypisierung seien letztlich anthropologische Gegeben-      nem Bereich gefunden, gebrochen, gehandelt oder ge-
                       heiten. Tatsächlich handelt es sich um psychische Konstan-    wonnen werden“ (Terkessidis 2019: 24). Die „Entdecker“
                       ten, aber die Frage bleibt, warum bestimmte Merkmale für      und die Eroberer waren keine Aristokraten, die mit Ehren
                       die Kategorisierung relevant werden und warum bestimmte       und Titeln belohnt wurden, sie begehrten materielle Güter,
                       Personen zu Gruppen zusammengefasst und Aussagen              Land, Anteile, Geld.
                       über deren Natur getroffen werden. Es sind die ursprüngli-    Gerade angekommen, fährt Kolumbus mit einem bewaff-
                       chen Ausgrenzungspraxen, die Ab- und Ausgrenzungen            neten Boot an Land und entfaltet dort die königliche
                       etablieren – das Wissen über die Differenz kommt erst da-     Flagge. Dann ruft er seine Begleiter zusammen, damit sie
                       nach. Dieser Zusammenhang wurde über Jahrhunderte             die Besitzergreifung bezeugen können, die mit einer ur-
                       von den unterschiedlichsten Denkern thematisiert. So          kundlichen Unterschrift besiegelt wird. Derweil haben sich
                       schrieb der Philosophen Moses Mendelssohn 1782 über           Menschen, die auf der Insel wohnen, um das Spektakel

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bis2021_0102_inhalt.indd 8                                                                                                                    21.04.21 12:14
versammelt. Sie sehen die Fahne der katholischen Könige,                                              WAS IST RASSISMUS?
         sie hören die unverständliche Verlesung der Urkunde, die
         eine seltsame Form von Einbeziehung verkündet. Das Ziel
         der Besitzergreifung ist angeblich die „Rettung“ jener Men-
         schen durch ihre Bekehrung zu „unserem Heiligen Glau-         Diese Urszene der Begegnung mit den überseeischen An-
         ben“. Er verschenkt „rote Kappen und Halsketten aus Glas      deren verdeutlicht, wie Rassismus funktioniert. Ein Dialog
         und noch andere Kleinigkeiten von geringem Wert“              soll gar nicht stattfinden. Während noch Geschenke ver-
         (a. a. O.: 25). Die Freude der Anwesenden über die friedli-   teilt werden und die „Entdecker“ Süßholz raspeln, verwan-
         che Geste zeigt ihm ihre kindliche Unbedarftheit und die      deln sich die Ansässigen im besten Fall in Untertanen der
         eigene Überlegenheit.                                         Krone, in unreife, falschgläubige Untertanen, die eigent-
         Der Akt der Besitznahme wurde ab 1513 mit einem festge-       lich noch zu Untertanen gemacht werden müssen. Im
         legten Text, dem Requerimento durchgeführt, welches von       schlimmsten Fall sind sie einfach Aussätzige, jedwede
         einem königlichen Beamten verlesen werden musste. Ei-         Grausamkeit der neuen Herren ihnen gegenüber erscheint
         gentlich sollte es übersetzt werden, aber es ist davon aus-   per se gerechtfertigt. Als sich die Bevölkerung von Amerika
         zugehen, dass das in den seltensten Fällen geschah. In den    durch Gewalt und Krankheiten schließlich dramatisch re-
         ersten Zeilen wurden die Einheimischen mit freundlichen       duziert, begannen die Spanier schwarze Sklaven aus
         Worten dazu aufgefordert, zum christlichen Glauben            Westafrika zu „importieren“ und begründen das, was der
         überzuwechseln. Im Falle der Zustimmung konnten sie freie     Historiker Immanuel Geiss als „erste moderne Rassen-Kas-
         Untertanen der kastilischen Krone werden. Wenn sie sich       ten-Gesellschaft“ bezeichnet (Geiss 1988: 121). Tatsäch-
         aber nicht äußerten, was aufgrund der Sprachbarriere          lich ist es die neue soziale Barriere, die der Hautfarbe Be-
         wahrscheinlich erschien, gab es für die Konquistadoren        deutung verleiht. Erst die Etablierung einer Gesellschaft, in
         keine Grenzen mehr: Nicht nur das Eindringen mit Gewalt       der Weiße herrschten und Schwarze als Sklaven arbeiten
         und die Unterwerfung waren dann legitim, sondern die          mussten, sorgte dafür, dass die Hautfarbe zum definitiven
         Versklavung und die Plünderung und das Antun von jedem        Kriterium der Unterscheidung wurde. Sicher hatten Perso-
         Schaden und Bösen. Der Text besagte, die Menschen hät-        nen zuvor unterschiedliches Aussehen zur Kenntnis genom-
         ten diese Behandlung selbst über sich gebracht, so dass       men, aber es gab weder die Idee, die Pigmentierung der
         „die Tötungen und Schäden, die sich daraus ergeben wer-       Haut würde eine Verbindung zwischen Menschen schaf-
         den, zu euren Schulden gehen und nicht zu denen seiner        fen, noch die Idee, die Rollen in der Gesellschaft würden
         Hoheit“ (a. a. O.: 25).                                       entlang dieser Pigmentierung verteilt werden.

         Der Kupferstich von Theodor
         de Bry (1528–1598) zeigt die
         Landung von Kolumbus auf
         Guanahani (Bahamas). Diese
         „Urszene“ der Begegnung mit
         den überseeischen Anderen
         verdeutlicht, wie Rassismus
         funktioniert. Ein Dialog soll gar
         nicht stattfinden. Die Ansässi-
         gen verwandeln sich im besten
         Fall zu unreifen und devoten
         Untertanen der Krone. Im
         schlimmsten Fall sind sie ein-
         fach Aussätzige, jedwede
         Grausamkeit der neuen Herren
         ihnen gegenüber erscheint per
         se gerechtfertigt.
                             picture alliance/dpa

                                                                                                                                        9

bis2021_0102_inhalt.indd 9                                                                                                       21.04.21 12:14
Mark Terkessidis

                                                                                                                     Öffentlicher Verkauf von Skla-
                                                                                                                     ven in den USA. Die Etablie-
                                                                                                                     rung einer „Rassen-Kasten-
                                                                                                                     Gesellschaft“ (Immanuel Geiss),
                                                                                                                     in der Weiße herrschten und
                                                                                                                     Schwarze als Sklaven arbeiten
                                                                                                                     mussten, sorgte dafür, dass die
                                                                                                                     Hautfarbe zum definitiven Kri-
                                                                                                                     terium der Unterscheidung
                                                                                                                     wurde.
                                                                                                                                   picture alliance/dpa

                       Legitimation und Erklärung                                       zeigt, dass die Migration durch globale Ungleichgewichte
                                                                                        mitbedingt wird und diese Gesellschaft von mannigfalti-
                       Das Wissen über die Anderen, das „rassistische Wissen“           gen Ausgrenzungspraxen durchzogen bleibt: Wirtschaftli-
                       folgte der Praxis nach. Ein Element der Moderne ist – zumal      che Benachteiligung, Diskriminierung bei Arbeits- und
                       mit zunehmender Demokratisierung im Westen –, dass die           Wohnungssuche, rechtliche Ungleichstellung, Zurückset-
                       Verhältnisse nicht mehr als selbstverständlich hingenom-         zung durch hegemoniale Kulturvorstellungen bilden die –
                       men wurden, sondern begründet werden mussten. Die Er-            durchaus komplizierte – materielle Grundlage der in der
                       oberungen und die Sklaverei trafen nicht nur auf erhebli-        Gesellschaft herrschenden „Vorurteile“.
                       chen Widerstand, sondern auch auf die vehemente Kritik
                       von Spaniern selbst. So diente das Wissen dazu, den Un-
                       terschied zu legitimieren, aber auch zu erklären. Die Er-        Wahrnehmungsprobleme in Deutschland
                       oberer fanden, sie erfanden Gründe, warum sie die Ande-
                       ren unterdrücken mussten, und diese Gründe lagen eben in         Die Diskussion in Deutschland beschränkt sich weiterhin
                       der „Natur“ derer, denen man Gewalt antat. Wir mussten           sehr stark auf die Dimension dieser „Vorurteile“, die materi-
                       „sie“ fesseln, weil sie so wild waren oder weil sie wie Kinder   elle und strukturelle Seite wird kaum thematisiert. Diese ist
                       waren oder weil sie nicht tätig sein wollten. „Sie“ können       auch häufig schwieriger zu erkennen, dafür aber umso
                       nicht alleine für sich sorgen, wir müssen bis zu ihrer Reife     wirkmächtiger. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: In der
                       über sie wachen und sie dabei auch zur Arbeit (auf unseren       TIMSS-Untersuchung 2019 („Trends in International Ma-
                       Plantagen) zwingen. Die Errungenschaften des Westens             thematics and Science Study“) wurde festgestellt, dass an
                       sind ein Januskopf: Auf der einen Seite entwickeln sich          deutschen Grundschulen der Lernunterschied in Mathe-
                       Fortschritt, Wohlstand, Freiheit und Demokratie, während         matik und in den naturwissenschaftlichen Fächern zwi-
                       auf der anderen Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgren-           schen armutsgefährdeten und anderen Kindern bei einem
                       zung zu Buche stehen. Rassismus lässt sich als „Apparat“         bis zwei Schuljahren liegt (Schwippert u. a. 2020: 20).
                       verstehen, in dem die Praxis der Unterdrückung mit einer         Dazu muss man wissen, dass das Armutsrisiko bei Personen
                       Wissensbildung einhergeht, welche die Unterdrückung le-          mit Migrationshintergrund signifikant höher liegt (etwa 27
                       gitimiert und erklärt.                                           Prozent) als bei Personen deutscher Herkunft (ca. 13 Pro-
                       Historisch gesehen ist die Geschichte des Rassismus, was         zent) – ein Erbe der „Unterschichtung“ in unqualifizierte In-
                       die Praxen als auch was die Wissensbildung betrifft, so-         dustriejobs im Prozess der Einwanderung ab den 1960er-
                       wohl konstant als auch äußerst variabel. Der Ausschluss          Jahren.
                       durch Einbeziehung verändert sich über die Jahrhunderte:         Nach der Veröffentlichung der Untersuchung wurde je-
                       Auf die Sklaverei folgen der Kolonialismus und die Migra-        doch nicht etwa auf diese offensichtliche Disparität einge-
                       tion. Die Verhältnisse unterscheiden sich allerdings stark,      gangen, sondern die Präsidentin der Kultusministerkonfe-
                       je nachdem um welchen Kolonialismus es geht, um den              renz und der Staatssekretär im Bildungsministerium lobten
                       englischen etwa oder um den deutschen, und auch da-              mit fast gleichem Wortlaut die Lehrerinnen und Lehrer, die
                       nach, welche Territorien und Bevölkerungen betroffen wa-         trotz „einer heterogener werdenden Schülerschaft“ das
                       ren. Zweifellos hat sich das strukturelle Element der Gewalt     Niveau aufrechterhalten konnten. Hier zeigt sich, wie die
                       nach dem Ende des Kolonialismus historisch sehr abge-            seit Jahren in jeder Untersuchung wiederkehrende struktu-
                       schwächt. Doch ein Blick auf die Migrationsgesellschaft          relle Schieflage zwischen Personen mit und ohne Migrati-

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