Das Grundgesetz - Der Bürger im Staat
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Heft 1–2019, 69. Jahrgang Thema im Folgeheft: »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Wohnen für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktor der Landeszentrale Lothar Frick Redaktion Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Inhaltsverzeichnis Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, barbara.bollinger@lpb.bwl.de Marie-Luise Recker Die Verabschiedung des Grundgesetzes ............................................... 4 Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Gert-Joachim Glaeßner Telefon: 07 11/16 40 99-44 Grundrechte und die Wertordnung des Grundgesetzes .......... .............. 13 Fax: 07 11/16 40 99-77 Manfred G. Schmidt Herstellung Schwabenverlag AG Verfassungsprinzipien und Verfassungswirklichkeit ............. .............. 24 Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Roland Sturm Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Der Föderalismus – Das Prinzip des Bundesstaates im Wandel ............ 30 Gestaltung Titel Nicolai Dose VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Das Rechtsstaatsprinzip – unter dem Schutz Gestaltung Innenteil des Bundesverfassungsgerichts? ...................................................... 38 Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Siegfried Frech Das Sozialstaatsprinzip ..................................................... .............. 50 Vertrieb Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Christoph Gusy Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Legitimität und Wandel des Grundgesetzes .......................... .............. 61 Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 www.suedvg.de Marcus Höreth Druck Das Bundesverfassungsgericht als Gericht und Verfassungsorgan ...... 69 Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Wolfgang Ullrich Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Warum heute lieber über Werte als über Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Grundrechte gesprochen wird – und warum das gefährlich ist ............. 77 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Buchbesprechungen ......................................................................... 82 dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Kundennummer an. Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: picture alliance/dpa Auflage dieses Heftes: 15.000 Exemplare Redaktionsschluss: 25.03.2019 ISSN 0007-3121 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.buergerimstaat.de bis2019_01_cover.indd u2 09.04.19 12:10
Im Mai 2019 feiern wir den 70-jährigen Geburtstag des Grundgesetzes. Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 vom Parla- mentarischen Rat beschlossen und am 23. Mai 1949 verkündet. Das Grundgesetz war die „Bauordnung“ der noch jungen Republik und wurde zur „Hausordnung“ der deutschen Demokratie. picture alliance/dpa 1 bis2019_01_inhalt.indd 1 09.04.19 09:28
Das Grundgesetz Im Mai 2019 feiern wir den 70-jährigen Geburtstag des Charakter dieser Staatsbildung und vermeidet bewusst Grundgesetzes. Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 den staatsrechtlichen Begriff „Verfassung“. Marie-Luise vom Parlamentarischen Rat beschlossen und am 23. Mai Recker beschreibt entscheidende Weichenstellungen der 1949 verkündet. Das Grundgesetz ist im Laufe der Zeit Ent stehung des Grundgesetzes. Sie zeigt die politischen eine respektierte und breit akzeptierte Verfassung gewor- Konstellationen und jene prägenden Kräfte auf, die den. Das Grundgesetz war die „Bauordnung“ der noch den Prozess der Verfassungsbildung und letztlich die jungen Republik und wurde zur „Hausordnung“ der deut- „Architektur“ des Grundgesetzes bestimmten. Der Ent- schen Demokratie. wurf und die Ausarbeitung des Grundgesetzes waren Im Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat in von dem Grundkonsens getragen, Lehren aus dem Zusam- Bonn das Grundgesetz als vorläufige verfassungsrechtli- menbruch der Weimarer Republik und den traumatischen che Grundlage für das „Provisorium Bundesrepublik“. Das Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur zu einst als „Provisorium“ entworfene Grundgesetz wurde mit ziehen. der Wiedervereinigung 1990 die Verfassung des gesam- Der unter schwierigen Bedingungen und mit einer histori- ten vereinigten Deutschlands. Am 3.10.1990 ging die DDR schen Erblast gegründete Staat sollte Schutzagentur und mit ihrem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgeset- zugleich Garant für die Achtung und Wahrung der Grund- zes in der Bundesrepublik auf. Auf die Ausarbeitung einer rechte sein. Recht, Gesetz und alles staatliche Handeln gänzlich neuen Verfassung wurde verzichtet. sollten den Normen der Grundrechte unterworfen wer- Verfassungen begründen nicht nur die Grundstrukturen den. Für den Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz eines politischen Systems, sie drücken auch die Wertvor- als „Gründungsurkunde“ einer neuen politischen Ordnung stellungen einer Gesellschaft und ihr Selbstverständnis erarbeitete, bedeutete dies, sowohl an die Traditionen aus. Trotz kritischer Stimmen ist die parlamentarische De- modernen westlichen Verfassungs- und Grundrechtsden- mokratie fest im Grundeinverständnis der Mehrheit der kens anzuknüpfen und die verfassungsrechtlichen und po- Bürgerinnen und Bürger verankert. Obwohl das Vertrauen litischen Lehren aus der Weimarer Republik und der nati- in die Demokratie in den letzten Jahren zu schwinden onalsozialistischen Diktatur zu ziehen. Es galt, die Würde scheint, vertreten viele Bürgerinnen und Bürger (immer des Menschen wieder in den Mittelpunkt allen politischen noch) verfassungspatriotische Grundwerte: eine aktive und gesellschaftlichen Handelns zu stellen, ihn gegen und partizipative Staatsbürgerrolle, gebunden an die Übergriffe staatlicher Obrigkeit so gut wie möglich zu Wertschätzung von demokratischen Institutionen und schützen und das Recht auf Unversehrtheit des Lebens, Verfahren. Ebenso haben sich die „Mechanismen“ der in auf persönliche Freiheit, Ehre und Unverletzlichkeit des Ei- der Verfassung festgelegten Institutionen bewährt, was gentums zu gewährleisten. Gert-Joachim Glaeßner disku- man nicht zu gering veranschlagen sollte. tiert die fundamentalen Grundlagen einer freiheitlichen Das 70-jährige Bestehen des Grundgesetzes ist Anlass politischen und sozialen Ordnung, so wie sie das Grund- und Grund genug, sich mit der Entstehungsgeschichte, gesetz meint. den verfassungspolitischen Weichenstellungen und der Die Bundesrepublik Deutschland gehört mit ihrer mittler- Entwicklung zentraler Verfassungsprinzipien eingehender weile 70 Jahre alten Verfassung vom Typ rechtsstaatliche zu befassen. Das Verständnis eines politischen Systems Demokratie zum 36 Länder umfassenden Kreis gefestigter wird erleichtert, wenn man nach den historischen Konstel- Demokratien mit einem Lebensalter von mehreren Jahr- lationen, dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld und zehnten. Deutschlands Staatsverfassung, das Grundge- nach den Einflussfaktoren fragt, die es prägten. Die syste- setz, regelt ein Regierungssystem, das durch hochgradige matische Betrachtung der „langen Wellen“ der Ge- horizontale und vertikale Machtaufteilung und hohe poli- schichte der Bundesrepublik Deutschland kann sich dabei tische Stabilität hervorsticht. Die politische Stabilität und an zwei Fragen orientieren: Inwieweit fanden die schmerz- die Machtaufteilung haben viele Ursachen. Eine davon vollen historischen Erfahrungen ihren Niederschlag in erörtert der vorliegende Beitrag von Manfred G. Schmidt den Leitprinzipien des Grundgesetzes? Und inwieweit be- anhand des Spielregelwerks, das die Staatsverfassung einflussen aktuelle politischen Entwicklungen das Grund- der Bundesrepublik mit ihren wichtigsten „Verfassungs- gesetz? Eine Analyse dessen, was unser demokratisches prinzipien“ dem politischen Betrieb im Lande vorschreibt. Gemeinwesen zusammenhält, darf auf eine bewertende Es sind dies – laut staatsrechtlicher Konvention – Demo- Perspektive nicht verzichten. Daraus ergibt sich eine wei- kratie, Republik, Rechtsstaat, Bundesstaat und Sozial- tere Frage: Lassen sich in den einzelnen Politikfeldern, die staat. Aus dem Blickwinkel grundlegender Weichenstel- durch die konstitutiven Weichenstellungen geprägt sind, lungen für die Staatsorganisation ist die Liste der klassi- Leistungspotenziale aber auch Mängel feststellen, erklä- schen Verfassungsprinzipien um den „offenen Staat“ zu ren und angemessen verstehen? ergänzen. Verfassungen entstehen in konkreten politischen und his- Der Föderalismus in Deutschland beruht auf der Idee der torischen Konstellationen. Ohne die ideologischen und vertikalen Gewaltenteilung zwischen den Ebenen des machtstrategischen Gegensätze zwischen den west- Bundes und der Länder in Ergänzung zur klassischen hori- lichen Siegermächten und der Sowjetunion und ohne den zontalen Gewaltenteilung. Intention des Parlamentari- Kalten Krieg wäre die Entscheidung für einen zunächst schen Rates war es, Freiraum für starke und selbstbe- auf Westdeutschland beschränkten demokratischen Teil- wusste Länder zu schaffen und diesen – wenn nötig – im staat wohl kaum denkbar gewesen. Das vom Parlamen- Bundesrat ein Gegengewicht zum Bundestag zu geben. tarischen Rat erarbeitete und am 23. Mai 1949 verkündete Eine wichtige Aufgabe dieses Verbundsystems ist nach Grundgesetz betont nachdrücklich den provisorischen heutigem Verständnis nicht zuletzt die Nivellierung der Fi- 2 bis2019_01_inhalt.indd 2 09.04.19 09:28
nanzunterschiede zwischen den Ländern und damit die gezogen hat. Andererseits hat es unabweisbaren Ände- Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Ungeach- rungsbedürfnissen keine unüberwindlichen Grenzen ent- tet der Föderalismusreformen (2006, 2009 und 2017) ge- gegengesetzt. Wichtige Motive für Verfassungsreformen hört diese Verflechtung zu den Markenzeichen des Föde- ergaben sich stets dann, wenn sich Verfassungsnormen ralismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ausgehend und gesellschaftliche Wertvorstellungen auseinanderent- von den demokratiesichernden Wurzeln des Föderalismus wickelten oder wenn Verfassungsregeln den sich verän- erläutert Roland Sturm diesen Grundpfeiler der bundesre- dernden Aufgaben staatlicher Institutionen nicht mehr ge- publikanischen Verfassung. Der Beitrag diskutiert die nügten. Der Beitrag von Christoph Gusy stellt Wegmar- Wurzeln, Entwicklungen sowie das sich wandelnde Föde- ken, Erfolge und Probleme dieser Entwicklung dar. ralismusverständnis und die wesentlichen Reformen des Das Bundesverfassungsgericht ist die „wichtigste politi- föderalen Systems. sche Innovation der Bundesrepublik Deutschland“ (Peter Die „Architekten“ des Grundgesetzes haben dem Rechts- Graf von Kielmannsegg). Die Macht des Bundesverfas- staat eine zentrale Rolle zugewiesen und damit an die eu- sungsgerichts veranlasst manche Beobachter und politi- ropäische Verfassungstheorie und -praxis angeknüpft, mit sche Kommentatoren dazu, von der „Karlsruher Republik“ denen die NS-Diktatur systematisch gebrochen hatte. Die zu sprechen. Man mag dies für übertrieben halten – es Kernelemente des Rechtsstaats betonen die Bindung der macht jedoch deutlich, dass das in Karlsruhe sitzende Staatsgewalten, der Verwaltung und Rechtsprechung an Bundesverfassungsgericht eine wichtige politische Rolle Verfassung und Gesetz sowie die Bindung an das Prinzip spielt. Dabei sind besonders vier Aspekte von Bedeutung, der Gewaltenteilung. Das Neuartige der Rechtsstaats- die Marcus Höreth diskutiert: Wie konnte das Bundesver- konstruktion besteht in der herausgehobenen Rolle der fassungsgericht so mächtig werden? Wie ist die Karlsru- Grundrechte und in der Errichtung eines Bundesverfas- her Institution als Gericht und Verfassungsorgan organi- sungsgerichts, ohne dessen Korrekturen und Rechtspre- siert, und wie behauptet es sich gegen die innerstaatliche chung der Rechtsstaat deutlich ärmer an Freiheitsrechten Konkurrenz aus Politik und gewöhnlicher „Gerichtsbar- wäre. Das Rechtsstaatsprinzip ist eine Erfolgsgeschichte, keit“? Welche Funktionen übt das Bundesverfassungs- wenngleich der deutsche Rechtsstaat immer wieder durch gericht, aus und wie beeinflussen diese das Verhalten gesetzgeberische Maßnahmen herausgefordert wurde. der politischen Akteure? Welche Probleme sind mit ei- Nicolai Dose erläutert die Kernelemente, auf denen das ner derart machtvollen Verfassungsgerichtsbarkeit ver- Rechtsstaatsprinzip beruht, und skizziert in einem zeitge- bunden? schichtlichen Längsschnitt die Herausforderungen, mit de- Hält man sich an Gesetze, so hat dies auf den ersten Blick nen der deutsche Rechtsstaat konfrontiert wurde. Vor al- wenig mit Selbstverwirklichung und Kreativität zu an. Ge- lem die letzten Etappen des Längsschnitts belegen, dass rade deshalb sind Wertediskurse so verführerisch! Werte das Bundesverfassungsgericht Hüter und zugleich Garant formulieren Vorstellungen von gesellschaftlich Wün- des Rechtsstaats ist. schenswertem. Diese Vorstellungen gehen oft Hand in Mit dem Sozialstaatsprinzip haben die Väter und Mütter Hand mit dem Glauben, moralisch-ethisches Rüstzeug des Grundgesetzes sozialpolitische Traditionen weiterge- könne durch Appelle bereitgestellt werden. Der aktuell zu führt, die in den 1880er Jahren etabliert wurden. Der Bei- beobachtende Wertediskurs passt zum Selbstbild des trag von Siegfried Frech zeichnet die Entwicklung des heutigen Menschen, der sich als kreativ und selbstbe- deutschen Sozialstaats nach. Geschildert werden Entste- stimmt erfahren will. Legt man die philosophische Mess- hung und Ausbau der sozialen Sicherungssysteme von latte an, wird jedoch deutlich, dass ein (vager) Wert erst den 1880er Jahren bis zum Ende der Weimarer Republik umgesetzt werden muss, damit er eigenständig und sicht- sowie die politische Instrumentalisierung des „bismarck- bar zur Geltung kommt. Es gibt somit einen Unterschied schen Erfolgsmodells“ durch das NS-Regime. In einem zwischen bloßem Wertebekenntnis und wertefundiertem weiteren Schritt werden der Neubeginn und die sozialpo- Handeln. Unsere Wohlstandsgesellschaft macht es mög- litischen Wegmarken nach 1949 skizziert. Präsentierte lich, eine mangelnde Wertebegabung durch Konsum und sich der Sozialstaat in Zeiten des Wirtschaftswunders „wertaufgeladene“ Produkte zu kompensieren, schafft und ökonomischen Wachstums als Erfolgsmodell, zeigten aber durch die unterschiedliche Verfügbarkeit finanzieller sich Mitte der 1970er Jahren erste Krisenanzeichen. Wirt- Ressourcen soziale Ungleichheiten. Wolfgang Ullrich schaftliche Zäsuren setzten der Ausweitung des Sozial- setzt der Verführungskraft von Werten das Grundgesetz staats ein Ende. Die deutsche Wiedervereinigung schließ- entgegen, das allen Menschen dieselben Rechte und lich stellte die sozialen Sicherungssysteme erneut vor He- Pflichten auferlegt. Gerade deshalb ist das Grundgesetz rausforderungen. Abschließend werden die Ursachen in einer „werteseligen“ Gesellschaft von unschätzbarer der seit längerem diagnostizierten Krise des Sozialstaats Bedeutung. skizziert. Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen auf- Dass die Bundesrepublik im Zentrum Europas eine histo- schlussreiche Informationen und Einsichten vermitteln, sei risch einzigartig lange Epoche von mehr als 70 Jahren an dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem Schwa- Frieden, Demokratie und Menschenrechten durchleben benverlag und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konnte, ist auch ein Verdienst ihrer Verfassung. Das der Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusam- Grundgesetz hat sich bewährt! Doch war dies historisch menarbeit. weder selbstverständlich noch gar zwingend. Einerseits Siegfried Frech ist das Grundgesetz eine relevante Verfassung, welche dem politischen Prozess wirksame Leitlinien und Grenzen 3 bis2019_01_inhalt.indd 3 09.04.19 09:28
DEMOKR ATISCHER NEUBEGINN 1949 Die Verabschiedung des Grundgesetzes Marie-Luise Recker Angesichts zunehmender ideologischer, politischer und Verfassungen entstehen in konkreten politischen und his- machtstrategischer Gegensätze unter den ehemaligen torischen Konstellationen. Ohne die ideologischen und Verbündeten war die ursprüngliche Zusammenarbeit der machtstrategischen Gegensätze zwischen den westli- Siegermächte in der Deutschlandpolitik schon bald zu- chen Siegermächten und der Sowjetunion und ohne den sammengebrochen, so dass sich die Situation in den vier Kalten Krieg wäre die Entscheidung für einen zunächst Besatzungszonen zusehends auseinanderentwickelte. Um auf Westdeutschland beschränkten demokratischen Teil- die wirtschaftliche Lage in ihrem Einflussbereich zu verbes- staat wohl kaum denkbar gewesen. Das vom Parlamen- sern, hatten die USA und Großbritannien im Januar 1947 tarischen Rat erarbeitete und am 23. Mai 1949 verkün- ihre Besatzungszonen zur Bizone zusammengelegt. Der dete Grundgesetz betont den provisorischen Charakter Beitritt der französischen Zone zu diesem Gebilde erfolgte dieser Staatsbildung nachdrücklich und vermeidet den dann im April 1949, also kurz vor Abschluss der Arbeiten staatsrechtlichen Begriff „Verfassung“. Marie-Luise Re- des Parlamentarischen Rates. Zudem hatten die USA Mitte cker beschreibt entscheidende Weichenstellungen der 1948 den nach ihrem damaligen Außenminister benannten Entstehung des Grundgesetzes. Sie zeigt die politischen Marshall-Plan initiiert, mit dem sie Europa und damit auch Konstellationen und jene prägenden Kräfte auf, die den Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine stellen Prozess der Verfassungsbildung und letztlich die „Archi- wollten. Allerdings hatte die Sowjetunion ihre osteuropäi- tektur“ des Grundgesetzes bestimmten. Der Entwurf und schen Verbündeten genötigt, das milliardenschwere Hilfs- die Ausarbeitung des Grundgesetzes waren von dem programm abzulehnen, und auch die östliche Besatzungs- Grundkonsens getragen, Lehren aus dem Zusammen- zone war nicht in das Projekt einbezogen worden. Dies bruch der Weimarer Republik und den traumatischen hatte den Riss entlang des „Eisernen Vorhangs“ vertieft. Erfahrungen mit der Herrschaft des Nationalsozialismus Für die Teilnahme der drei westlichen Zonen am Marshall- zu ziehen. Plan war eine Währungsreform unerlässlich. Sie war am 20. und 21. Juni 1948 durchgeführt worden und bildete eine wichtige Voraussetzung für den späteren wirtschaftli- chen Aufschwung. Die Sowjetunion hatte auf diesen Schritt Ein Staatsakt in skurriler Umgebung nicht nur mit einer eigenen Währungsreform in ihrer Besat- zungszone geantwortet, sondern gleichzeitig mit der Blo- Es war schon ein ungewöhnlicher Auftakt. Am 1. Septem- ckade Berlins, durch die seit dem 24. Juni 1948 die Zu- ber 1948 versammelten sich im Lichthof des Naturkunde- gangswege zu den Westsektoren der Stadt abgeriegelt museums König in Bonn die 65 Abgeordneten des Parla- mentarischen Rates, von den Landtagen nach politischem Proporz gewählt, sowie die fünf nicht stimmberechtigten Vertreter Berlins, die elf Ministerpräsidenten der Länder der drei Westzonen und die Repräsentanten der Westalli- ierten zusammen mit Gästen und Journalisten zur Eröff- nung der Arbeiten am künftigen Grundgesetz. „Wohl kaum“, so erinnert sich der Sozialdemokrat und stellvertre- tende Staatspräsident des Landes Württemberg-Hohen- zollern, Carlo Schmid, „hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, Die konstituierende Sitzung des in so skurriler Umgebung stattgefunden. In der Halle die- Parlamentarischen Rates fand ses in mächtigen Quadern hoch geführten Gebäudes am 1. September 1948 im Fest- standen wir unter den Länderfahnen – rings umgeben von saal der am Rheinufer gelege- ausgestopftem Getier aus aller Welt. Unter den Bären, nen Pädagogischen Akademie Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exoti- in Bonn statt. Zum Präsidenten scher Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor. Die des Parlamentarischen Rats bizarre Umgebung ließ trotz der Beethovenschen Musik, wurde der 72-jährige Konrad mit der die Feier eröffnet und beschlossen wurde, keine Adenauer gewählt, als lang- rechte Feierlichkeit aufkommen; gleichgültig jedoch war jähriger Oberbürgermeister keinem von uns zumute.“1 von Köln und Vorsitzender der Dass nur drei Jahre nach dem Ende des Krieges und der CDU eine politisch versierte Besetzung Deutschlands durch die Alliierten eine Ver- Persönlichkeit. Im Gegenzug sammlung von Mitgliedern der neu gegründeten politi- bestimmte man den Verfas- schen Parteien einberufen worden war, um eine Verfas- sungsexperten Carlo Schmid sung für einen künftigen westdeutschen Staat auszuarbei- (SPD) zum Vorsitzenden des ten, war schon bemerkenswert. Hauptausschusses. picture alliance/dpa 4 bis2019_01_inhalt.indd 4 09.04.19 09:28
wurden. Die USA und Großbritannien hatten hierauf mit DIE VERABSCHIEDUNG DES GRUNDGESETZES einer Luftbrücke reagiert, um so ihre dortigen Truppen so- wie die Bewohnerinnen und Bewohner Westberlins mit den notwendigen Gütern zu versorgen. Erst nach knapp einem Jahr, im Mai 1949, lenkte die Sowjetunion ein und doch die Leitlinien, an denen sich die Verfassungsberatun- hob die Absperrungen auf. Kurz vor Beginn der Blockade, gen zu orientieren hatten. Wie der amerikanische Militär- am 20. März 1948, war zudem der sowjetische Militärgou- gouverneur Joseph T. McNarney im Sommer 1946 in einer verneur aus dem Alliierten Kontrollrat in Berlin ausgezogen Presseerklärung darlegte, 2 sollten die zu schaffenden Ver- und hatte damit die Vier-Mächte-Verwaltung Deutsch- fassungen eine parteiengestützte parlamentarische De- lands auf spektakuläre Weise beendet. mokratie vorsehen, bei der die Regierung auf das Ver- trauen des Parlaments angewiesen war. Die Grundrechte des Individuums waren ebenso zu garantieren wie die Die Verfassungsberatungen in den Ländern Rechtsstaatlichkeit, die Pressefreiheit und die Unabhän- gigkeit der Medien. Damit waren Leitlinien vorgegeben, Anders als zu Beginn der Weimarer Republik entwickelte die mit den Vorstellungen der deutschen Seite durchaus sich nach dem Ende des „Dritten Reiches“ in den drei west- korrespondierten. lichen Zonen keine eingehende, kontroverse, auf unter- Den von den Alliierten vorgegebenen Rahmen hat die schiedliche Grundkonzeptionen zielende Debatte um die deutsche Seite relativ eigenständig ausgefüllt. Auch wenn künftige politische Ordnung, vielmehr war klar, dass alle in der Ausgestaltung des Verfassungsrahmens durchaus relevanten politischen Kräfte nach der nationalsozialisti- Unterschiede im Detail erkennbar sind, spiegeln die in den schen Diktatur eine sich an westlichen Vorbildern orientie- Jahren 1946 bis 1950 erarbeiteten Verfassungen in den elf rende parlamentarische Demokratie schaffen wollten. Ländern der drei Westzonen und in Berlin diese Grund- Auch wenn sich in den Verfassungskonzeptionen etwa des sätze klar wider. Bezugspunkt war immer wieder die Wei- bürgerlichen oder des konservativen Widerstands gegen marer Reichsverfassung, deren Schwächen umgangen und den Nationalsozialismus hier und da Vorbehalte gegen durch funktionstüchtigere Maßregeln ersetzt werden soll- das Prinzip des Parteienstaates und der Volkssouveränität ten. Ausländische Vorbilder spielten kaum eine Rolle, widergespiegelt hatten, blieben diese Vorstellungen in ebenso wenig Rückbesinnungen auf die Landesverfassun- den Verfassungsberatungen auf Länderebene oder später gen vor 1933. Das übergreifende Ziel war, ein stabiles, ar- im Parlamentarischen Rat ohne Relevanz. Bei allen Unter- beitsfähiges parlamentarisches Regierungssystem mit ei- schieden im Einzelnen standen die Väter und Mütter der ner starken Exekutive zu schaffen. Dies war die Folie, vor neuen Verfassungen klar zum Konzept der repräsentativen der sich die Beratungen des Parlamentarischen Rates voll- Demokratie westlicher Prägung. zogen. Hierbei steckten die Besatzungsmächte den Rahmen für die Verfassungsberatungen ab. Auch wenn der politische Wiederaufbau in den Westzonen in keiner Weise als Okt- Die „Frankfurter Dokumente“ roi der Sieger interpretiert werden kann, so definierten sie Nachdem sich die Zusammenarbeit aller vier Sieger- mächte in der Deutschlandpolitik als zunehmend schwieri- ger herausgestellt hatte, arbeiteten die USA, Großbritan- nien und auch Frankreich verstärkt auf eine wirtschaftliche und politische Konsolidierung der drei westlichen Besat- zungszonen hin. Auf einer Sechs-Mächte-Konferenz in Lon- don im Frühjahr und Frühsommer 1948, 3 an der neben den Westalliierten auch die Benelux-Staaten teilnahmen, ver- ständigte man sich darauf, als nächsten Schritt die Länder der drei Zonen zu einem Bundesstaat zu vereinen, wobei dieser westdeutsche Staat weiterhin alliierter Kontrolle un- terworfen sein sollte. Die Verhandlungen der Sechs-Mächte-Konferenz fanden ihren Niederschlag in den „Londoner Empfehlungen“ vom Juni 1948. Sie enthielten das Angebot, einen westdeut- schen Staat zu errichten, sowie Grundsätze für dessen Verfassung. In einem ersten Dokument wurden die Mi- nisterpräsidenten der Länder der drei Westzonen ermäch- tigt, zum 1. September 1948 eine Verfassunggebende Ver- sammlung einzuberufen, deren Mitglieder von den Land- tagen bestimmt werden sollten. Diese Verfassunggebende Versammlung sollte „eine demokratische Verfassung aus- arbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungs- form des föderalistischen Typs schafft, die am besten ge- eignet ist, die gegenwärtig zerrissene Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und Ga- rantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“. 4 5 bis2019_01_inhalt.indd 5 09.04.19 09:28
Marie-Luise Recker Dieser Verfassungsentwurf sollte anschließend von der Be- völkerung der drei Westzonen in einer Volksabstimmung gebilligt werden. In einem zweiten Dokument wurden die Regierungschefs der elf Länder aufgefordert, Vorschläge für etwaige Änderungen der Ländergrenzen innerhalb der Westzonen vorzulegen. In einem dritten Dokument erhiel- ten sie schließlich allgemeine Richtlinien über das Verhält- nis der zukünftigen deutschen Regierung zu den Besat- zungsmächten übermittelt, wobei ein in Aussicht gestelltes, von den drei Westalliierten zu erlassendes Besatzungssta- tut die Abgrenzung deutscher und alliierter Kompetenzen vornehmen würde. Diese drei Dokumente waren als Kompromiss der in London Versammelten entstanden. Vor allem die französische Re- gierung hatte sich lange gesträubt, mehr als nur eine lose Konföderation der westdeutschen Länder ins Auge zu fas- sen, hatte aber schließlich vor allem amerikanischem Drän- gen auf eine bundesstaatliche Lösung nachgeben müssen. Am 1. Juli 1948 informierten die Militärgouverneure Lucius D. Clay (USA), Brian H. Robertson (Großbritannien) und Pierre M. Koenig (Frankreich) die westdeutschen Minister- präsidenten im amerikanischen Hauptquartier in Frankfurt am Main, dem ehemaligen IG-Farben-Hauptgebäude, über die Empfehlungen der Londoner Konferenz und über- gaben ihnen die drei „Frankfurter Dokumente“. Damit war es nun an der deutschen Seite, zu entscheiden, wie sie die- sem Auftrag nachkommen wollte. Berliner verfolgen die Landung einer US-Militärmaschine auf dem Flughafen Tempelhof. Westberlin wurde während der Berliner Blockade (24. Juni 1948–12. Mai 1949) von den Die Konferenz auf dem Rittersturz bei Koblenz Westmächten über die Luftbrücke versorgt. Im Rahmen der Konferenz auf dem Rittersturz bei Koblenz warb die amtie- Die ersten Tage nach der Zusammenkunft der Ministerprä- rende Oberbürgermeisterin Berlins angesichts der sowjeti- sidenten mit den Militärgouverneuren vergingen mit inten- schen Blockade nachdrücklich dafür, nichts zu beschließen, siven Beratungen in den Länderkabinetten, den Landtagen was die Lage der Stadt zusätzlich erschweren würde. und den Leitungsgremien der politischen Parteien. Deutlich picture alliance/dpa wurde schon hier, dass es auf deutscher Seite erhebliche Bedenken gab, ob nicht die von den Westalliierten ange- stoßenen Schritte letztlich zur Schaffung eines westdeut- gemeinsam den Staat aller Deutschen zu errichten. Heute schen Teilstaates und damit zur Vertiefung der Spaltung können wir kein endgültiges ‚Deutsches Haus’ bauen, son- Deutschlands führen würden. Stattdessen befürwortete dern nur ein Notdach, das uns für die Zeit des Übergangs man, lediglich ein „Verwaltungsstatut“ oder „vorläufiges Schutz gewährt.“ 5 Grundgesetz“ auszuarbeiten, um so den Provisoriumscha- Es gab auch Gegenstimmen, die die Chancen des alliier- rakter des künftigen staatlichen Gebildes im Westen ten Angebots herausstrichen und betonten, dass durch Deutschlands zu unterstreichen. den Provisoriumsvorbehalt möglicherweise eine Gelegen- Dies war auch der Tenor bei den Beratungen der Minister- heit übergangen werde, um politischer Handlungsfähig- präsidenten vom 8. bis 10. Juli 1948 auf dem Rittersturz bei keit und Souveränität einen Schritt näher zu kommen. Ins- Koblenz. Zwar waren sie bereit, den in den „Frankfurter gesamt jedoch überwogen die skeptischen Stimmen. Hier- Dokumenten“ umschriebenen Auftrag anzunehmen, doch bei war nicht zuletzt das eindringliche Plädoyer Louise wurde ebenso deutlich, dass sie keine „definitive Staatsbil- Schroeders ausschlaggebend, mit Rücksicht auf die Lage dung“, sondern die Schaffung eines „Zweckverbandes ad- in Berlin keine Schritte zu unternehmen, die die Kluft zwi- ministrativer Qualität“ wünschten. Eine Nationalversamm- schen dem westlichen und dem östlichen Teil Deutschlands lung nach dem Vorbild Weimars lehnten sie ab, weil dies vertiefen würde. Angesichts der sowjetischen Blockade den Staatscharakter des zu schaffenden Zusammenschlus- gegen die drei Westsektoren und der soeben angelaufe- ses der elf Länder unterstreichen und damit die Spaltung nen westlichen Hilfsmaßnahmen im Rahmen der Luftbrücke Deutschlands entlang des „Eisernen Vorhangs“ vertiefen warb die amtierende Oberbürgermeisterin Berlins nach- würde. Insbesondere der bereits zitierte Carlo Schmid be- drücklich dafür, nichts zu beschließen, was die Lage der fürwortete dieses Provisoriumskonzept: „Das deutsche Volk Stadt zusätzlich erschweren würde. Eingedenk dieser ein- aller Besatzungszonen habe den Willen, in Eintracht, Recht dringlichen Worte war die in Koblenz formulierte Antwort und Freiheit in einem gemeinsamen Hause zu leben“ – um der Ministerpräsidenten dann auch stärker von Vorbehal- diese Option offenzuhalten, dürfe somit der Status quo ten und Bedenken geprägt, als dies ihrer grundsätzlichen nicht juristisch verfestigt werden. „Auf jeden Fall aber Bereitschaft entsprach, den alliierten Auftrag anzuneh- müsse, was immer wir schaffen, den Charakter eines Provi- men. soriums haben, das nur so lange in Geltung bleiben solle, Der Terminus „Grundgesetz“ anstatt „Verfassung“, offen- als nicht das ganze deutsche Volk die Möglichkeit habe, bar vom Hamburger Bürgermeister Max Brauer in die 6 bis2019_01_inhalt.indd 6 09.04.19 09:28
DIE VERABSCHIEDUNG DES GRUNDGESETZES wie vor auf dem Verfassungsbegriff und auf der Ratifizie- rung dieses Dokumentes durch ein Referendum. Entscheidend wurde somit die erneute Zusammenkunft der Ministerpräsidenten am 21. Juli 1948 im Jagdschloss Nie- derwald bei Rüdesheim. Zwar bekräftigten sie noch einmal die Koblenzer Beschlüsse, die nun als „Empfehlung“ Grund- lage der Diskussion sein sollten, doch wurden die Stimmen derjenigen lauter, die auf die alliierte Seite zugehen woll- ten. Hierzu trug auch die Rede des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter bei, der für die erkrankte Louise Schroe der nach Rüdesheim gekommen war. Aus seiner Sicht war ein Fortbestehen der derzeitigen politischen Verhältnisse in Westdeutschland für die Berliner und die Deutschen im Osten unerträglich. Stattdessen sei „die politische und ökonomische Konsolidierung des Westens eine elemen- tare Voraussetzung für die Gesundung auch unserer Ver- hältnisse und für die Rückkehr des Ostens zum gemeinsa- men Mutterland“. 7 Dies war ein deutliches Votum des noch immer von der sowjetischen Blockade strangulierten West- berlins zugunsten der Weststaatslösung. In parallelen Gesprächen mit Vertretern der Militärgouver- neure zeichnete sich zudem ab, dass sich diese den Vorbe- halten der Ministerpräsidenten aufgeschlossener zeigten als zuvor. Sowohl in der Referendumsfrage als auch hin- Debatte eingeführt, fand breiten Zuspruch, da er den sichtlich der Bezeichnung des auszuarbeitenden Doku- Provisoriumscharakter des zu schaffenden staatlichen ments schienen sie die Bedenken der deutschen Seite ernst Gebildes unterstreichen würde. In ihrer Stellungnahme zu zu nehmen und nach Kompromissformeln zu suchen. Die den „Frankfurter Dokumenten“ vermieden die Minister- Entscheidung fiel auf einer Unterredung zwischen den Mi- präsidenten dann auch die Begriffe „Nationalversamm- nisterpräsidenten und den Militärgouverneuren am 26. Juli lung“ und „Verfassung“ und schlugen vor, dass ein von den 1948. Nach erneuten Debatten war dann eine Einigung ge- Parlamenten der westdeutschen Länder zu beschickender funden: die Militärgouverneure erklärten ihr Einverständ- „Parlamentarischer Rat“ ein „Grundgesetz“ ausarbeiten nis, die Bezeichnung „Verfassung“ zugunsten des Terminus sollte. Auf diese Weise hofften sie, alles zu vermeiden, „Grundgesetz“ mit dem erläuternden Zusatz „vorläufige „was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Verfassung“ fallen zu lassen und auch in der Referendums- Staates verleihen würde“. 6 Auch gegen die Ratifizierung frage den Ministerpräsidenten entgegenzukommen. Sie durch eine Volksabstimmung gab es erhebliche Vorbe- zeigten sich ebenso bereit, der Einberufung eines Parla- halte. mentarischen Rates anstelle einer Verfassunggebenden Versammlung zuzustimmen. An die Ministerpräsidenten ge- wandt, gab dann der französische General Pierre M. Koe- Die Konferenz in Niederwald bei Rüdesheim nig, bisher der zögerlichste der drei Militärgouverneure, den Startschuss: „Wenn Sie akzeptieren, die volle Verant- Dieses Provisoriumskonzept stieß bei den Militärgouver- wortung zu übernehmen, können wir Ihnen sagen: En neuren auf massive Vorbehalte. Insbesondere Clay zeigte avant!“ 8 Damit war der Weg zum Grundgesetz frei. sich enttäuscht und verärgert, hatte er sich doch beson- ders für den alliierten Auftrag an die deutsche Seite einge- setzt. In einer Zusammenkunft mit den Ministerpräsidenten Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee der amerikanischen Zone warf er ihnen deshalb vor, ihre wirklichen Freunde und Helfer nicht zu kennen und die Be- Bereits unmittelbar nach der Übergabe der „Frankfurter mühungen der Amerikaner um eine Konsolidierung der Dokumente“ hatte der hessische Ministerpräsident Chri- westdeutschen Zonen zu vereiteln. In der Tat wurden auf stian Stock vorgeschlagen, einen Ausschuss von Sachver- französischer Seite Stimmen laut, die erneute Verhandlun- ständigen einzuberufen, der Vorarbeiten für eine künftige gen der Westalliierten über ihre Deutschlandpolitik und Verfassung leisten sollte. Dies hatten seine Kollegen auf- ein Überdenken des in den „Frankfurter Dokumenten“ for- gegriffen. Ab dem 10. August 1948 tagte ein solches Gre- mulierten Angebots in Erwägung zogen. mium im Klostertrakt des ehemaligen Augustiner-Chorher- In weiteren Gesprächen der Ministerpräsidenten unterein- renstiftes auf der Herreninsel im Chiemsee. Am 30. August ander sowie zwischen ihnen und den Militärgouverneuren erhielten die Ministerpräsidenten dessen Abschlussbe- näherten sich die Standpunkte nur unmerklich an. Zwar richt, gerade noch rechtzeitig, um ihn an den Parlamentari- sollte der Modus für die Wahl der Abgeordneten der Ver- schen Rat weiterzuleiten. Dessen Mitglieder versuchten fassunggebenden Versammlung den Ministerpräsidenten zwar, diese Überlegungen als unverbindlichen Vorschlag überlassen werden, doch bestand die alliierte Seite nach hinzustellen, um so den eigenen Entscheidungsspielraum 7 bis2019_01_inhalt.indd 7 09.04.19 09:28
Marie-Luise Recker Der Parlamentarische Rat machte die individuellen Frei- heits- und politischen Mitwir- kungsrechte zum Herzstück des neuen Verfassungsstaates. Sie wurden an den Anfang des Grundgesetzes gerückt, und der klassische Katalog der Freiheits- und Gleichheits- rechte wurde um spezifische neue Rechte erweitert: Verbot rassischer Diskriminierung, Asylrecht, Schutz vor Ausbür- gerung, Recht zur Kriegsdienst- verweigerung. picture alliance/dpa herauszustreichen, dennoch dienten die Anregungen des Abgeordneten ebenso wenig gab wie die Unterstützung Herrenchiemseer Konvents den Fachausschüssen des Par- durch einen eigenen wissenschaftlichen Apparat. Das lamentarischen Rates vielfach als Beratungsgrundlage „Zoologische Forschungsinstitut Museum Alexander Kö- und fanden so Eingang in das Grundgesetz. Als Ergebnis nig“ wurde zum Amtssitz des Präsidenten des Parlamenta- ihrer Beratungen legten die auf der Herreninsel Versam- rischen Rates bestimmt; dort fand am 1. September 1948 melten einen vollständigen Grundgesetzentwurf von nicht der eingangs beschriebene Festakt statt, der der eigentli- weniger als 149 Artikeln vor. In strittigen Fragen präsen- chen Eröffnungssitzung des Parlamentarischen Rates in der tierten sie meist mehrere Alternativvorschläge, um so dem Pädagogischen Akademie vorausging. Parlamentarischen Rat Diskussion und Entscheidung zu er- Die 65 Abgeordneten, die sich am 1. September 1948 in möglichen. Hierbei gingen sie von einem föderalen Staats- Bonn versammelten, waren angesehene Persönlichkeiten, aufbau mit erheblichen Rechten der Länder aus, was den die in den vergangenen Jahren den politischen Neuan- Intentionen der Ministerpräsidenten in hohem Maße ent- fang in Deutschland geprägt hatten. Für die CDU waren sprach. An seiner Spitze sollte ein mit nur geringen Rechten dies u. a. Konrad Adenauer, Vorsitzender der Partei in der ausgestattetes Staatsoberhaupt stehen. Für den neuen britischen Zone und Vorsitzender der Unionsfraktion im Staat sahen sie ein parlamentarisches System vor mit einer nordrhein-westfälischen Landtag, der Gewerkschaftsfüh- Regierung, die vom Vertrauen einer „arbeitsfähigen Mehr- rer Jakob Kaiser, die Juristen Robert Lehr, Hermann von heit“ im Parlament abhängig sein würde. Diese „arbeitsfä- Mangoldt und Heinrich von Brentano, der Justiz- und Kul- hige Mehrheit“ sollte nicht nur die Regierung stützen, es tusminister von Rheinland-Pfalz Adolf Süsterhenn und der sollte ihr auch nicht möglich sein, eine noch bestehende Gewerkschaftler Theophil Kaufmann. Die SPD entsandte Regierung zu stürzen. Plebiszitäre Elemente wurden dezi- u. a. ihre Verfassungsexperten Carlo Schmid und Walter diert abgelehnt. Insbesondere sollte die neue Staatsform Menzel, den hessischen Justizminister Georg August Zinn, als „wehrhafte“ Demokratie gestaltet werden, in der der den stellvertretenden Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer, Kern der Verfassung nicht durch den Gesetzgeber verän- den Regierungspräsidenten Ludwig Bergsträsser und die dert werden konnte. Damit waren zentrale Wesenszüge Juristen Otto Heinrich Grewe und Rudolf Katz. Die führen- des späteren Grundgesetzes im Herrenchiemseer Verfas- den Köpfe der FDP-Parlamentarier waren der Publizist und sungsentwurf bereits vorweggenommen. Vorsitzende der FDP in der amerikanischen Zone Theodor Heuss sowie die Juristen Thomas Dehler und Hermann Höpker-Aschoff, die der CSU-Abgeordneten der schon Die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Herrenchiemseer Konvent prägende Anton Pfeiffer und der Jurist Wilhelm Laforet. Auch vier „Verfassungsmüt- Die Entscheidung für Bonn als Tagungsort des Parlamenta- ter“ waren unter den in Bonn Versammelten: Helene We- rischen Rates war in der Runde der Ministerpräsidenten ber (CDU), Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SPD) gefallen. Das Tagungslokal, in das man nach der Eröff- und Helene Wessel (Zentrum). Die CDU stellte 27 Vertreter, nungsfeier im Museum König umzog, die Pädagogische die SPD ebenfalls 27 Abgeordnete, die FDP fünf, die Deut- Akademie am Rhein, vom preußischen Regierungsbau- sche Partei zwei, das Zentrum zwei und die KPD ebenfalls meister Martin Witte im Bauhaus-Stil entworfen und in den zwei Delegierte. Hinzu kamen fünf nicht stimmberechtigte Jahren 1930 bis 1933 am südlichen Stadtrand Bonns er- Abgeordnete aus Berlin, von denen drei der SPD sowie je richtet, bot mit seinen Hörsälen und anderen Räumlichkei- einer der CDU und der FDP angehörten. ten eher spärliche Arbeitsbedingungen. Der Festsaal der Etliche Abgeordnete des Parlamentarischen Rates hatten Akademie sollte als Sitzungsraum für die Abgeordneten lange Parlamentserfahrungen. Drei waren bereits Mitglie- dienen, für die Ausschussberatungen und die Zusammen- der der Weimarer Nationalversammlung, elf Mitglieder künfte der einzelnen Fraktionen waren jeweils Seminar- des Reichstags in Berlin gewesen, 22 hatten in der Weima- räume vorgesehen, während es Büros für die einzelnen rer Republik einem Landtag oder Provinziallandtag ange- 8 bis2019_01_inhalt.indd 8 09.04.19 09:28
hört, zudem konnten nahezu alle auf Erfahrungen als DIE VERABSCHIEDUNG DES GRUNDGESETZES Volksvertreter in Landtagen nach 1945 oder in zonalen Gremien zurückblicken und hatten dort zum Teil an Verfas- sungsberatungen mitgewirkt. Dem Nationalsozialismus hatten sie ablehnend oder feindlich gegenübergestan- duellen Freiheits- und politischen Mitwirkungsrechte, die den, viele waren im Dritten Reich aus politischen Gründen schon in der Paulskirchenverfassung und in der Weimarer oder aufgrund der Rassenideologie der Nazis verfolgt Reichsverfassung verankert gewesen waren, zum Herz- worden, mancher war in ein Konzentrationslager gebracht stück des neuen Verfassungsstaates. Nicht nur wurden sie worden oder ins Ausland geflohen. Diese Vorprägungen an den Anfang des Grundgesetzes gerückt und der klassi- brachten sie in die Arbeit des Parlamentarischen Rates ein. sche Katalog der Freiheits- und Gleichheitsrechte um spe- Nach der Eröffnungsfeier im Naturkundemuseum König zifische neue Rechte – Verbot rassischer Diskriminierung, trat der Parlamentarische Rat noch am selben Tag zu seiner Asylrecht, Schutz vor Ausbürgerung, Recht zur Kriegs- konstituierenden Sitzung in der nur wenige hundert Meter dienstverweigerung – erweitert, sondern die Grundrechte entfernten Pädagogischen Akademie am Rheinufer zusam- wurden auch auf eine neue Basis gestellt. men. Zum Präsidenten wurde der 72-jährige Konrad Ade- Sah die bisher in Deutschland vorherrschende Tradition nauer gewählt, als langjähriger Oberbürgermeister von die Grundrechte als vom Staat ausgehend und durch den Köln und Vorsitzender der CDU in der britischen Zone eine Staat gewährt an, so orientierte sich das Grundrechtsver- bekannte und politisch versierte Persönlichkeit. Im Gegen- ständnis des Parlamentarischen Rates an der Idee natur- zug bestimmte man Carlo Schmid zum Vorsitzenden des gegebener vorstaatlicher Menschenrechte im Sinne der Hauptausschusses, der mit seinen 21 Mitgliedern als größ- amerikanischen Verfassungsväter. Der Gedanke, dass der tes und zugleich wichtigstes Gremium des Verfassungskon- Mensch von Geburt an unmittelbare und unveräußerliche vents galt. Ein Ältestenrat und ein Geschäftsausschuss soll- Rechte besitze, sollte nun, wie es der CDU-Abgeordnete ten den reibungslosen Parlamentsbetrieb sicherstellen. Adolf Süsterhenn in der entsprechenden Debatte im Ple- Der Hauptausschuss und ein Redaktionsausschuss hatten num unterstrich, zum Kern der neuen Verfassung werden: die von verschiedenen Fachausschüssen erarbeiteten Ab- „Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der schnitte zu prüfen und zu einem homogenen Gesetzent- menschlichen Persönlichkeit. Ihnen hat der Staat zu dienen wurf zusammenzufügen. Damit hatte sich der Parlamenta- […]. Der Staat ist für uns nicht die Quelle allen Rechts, son- rische Rat Strukturen geschaffen, die denen eines eigentli- dern selbst dem Recht unterworfen. Es gibt […] vor- und chen Parlaments recht nahekamen. überstaatliche Rechte, die sich aus der Natur und dem We- sen des Menschen […] ergeben […]. Jede Staatsgewalt findet ihre Begrenzung an diesen natürlichen, gottgewoll- Die Grundrechtsdiskussion ten Rechten des Einzelnen.“ 9 Demgemäß wurde in Artikel 1 des Grundgesetzes der Gedanke der „unantastbaren In den staatsrechtlichen, historischen und po li tik wis sen- Würde des Menschen“ in den Mittelpunkt der gesamten schaft lichen Untersuchungen zum Grundgesetz werden Verfassungsgestaltung gerückt und Gesetzgebung, Ver- vor allem drei zentrale Strukturelemente herausgearbeitet, waltung und Rechtsordnung angewiesen, sie als unmittel- die seinen Kern ausmachen: bar geltendes Recht zu beachten. Ebenso wurden die l die Etablierung des Rechtsstaats und die neue Rolle der Grundrechte unter den Schutz einer Verfassungsgerichts- Grundrechte; barkeit gestellt und dieses Gericht zum „Hüter der Verfas- l die Schaffung einer „wehrhaften“ Demokratie; sung“ gemacht. l die Weichenstellungen für eine stabile parlamentari- Diskutiert wurde im Parlamentarischen Rat auch die Frage, sche Demokratie. ob über die „klassischen“ Freiheits- und Gleichheitsrechte hinaus auch Bestimmungen über die Wirtschafts- und So- Hierbei wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die zialordnung oder über kulturelle Fragen Eingang in den Verfassungsschöpfer in Bonn „Lehren“ aus den Struktur- Grundrechtskatalog finden sollten. Dennoch hat man hier- problemen der Weimarer Republik gezogen hätten und von Abstand genommen, um den künftigen Gesetzgeber in gerade in der Festlegung des Grundcharakters des künfti- seiner politischen Gestaltungsfreiheit nicht zu beeinträch- gen Grundgesetzes darum bemüht waren, das Gespenst tigen. Zudem kam ein solcher Verzicht auf wirtschaftliche von Weimar zu bannen. Aber auch der scharfe Ost-West- oder soziale Grundrechte sowie auf die Benennung ent- Konflikt sowie die politisch-ideologischen Systemgegen- sprechender Staatsziele auch dem Provisoriumskonzept sätze dieser Jahre prägten die Arbeit des Parlamentari- der Verfassungsväter entgegen, so dass diese Entschei- schen Rates in hohem Maße. dung breites Einverständnis fand. Einig waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes War die Verankerung des Rechtsstaats eine Antwort auf darin, nun nach dem Ende der nationalsozialistischen Dik- die nationalsozialistische Diktatur gewesen, so zielte das tatur Staat und Recht auf das engste miteinander zu ver- Vorhaben, den Kern der Verfassung gegen grundlegende binden und den Rechtsstaat zum Angelpunkt der neuen Veränderung oder gar Abschaffung zu sichern, auf die Verfassung zu machen. In dieser Absicht zeigten sie sich Schwächen der Weimarer Republik. Die erste deutsche dem Erbe des Widerstandes gegen den Nationalsozialis- Demokratie war nicht nur wehrlos gewesen gegen ihre mus am eindeutigsten verpflichtet. Sowohl für die Wider- Feinde auf der Linken wie auf der Rechten, nach ihrem standsgruppen innerhalb des „Dritten Reiches“ als auch für Selbstverständnis konnten tragende Verfassungsprinzi- die ins Exil Geflohenen war dies eine zentrale Prämisse für pien durch den Gesetzgeber geändert oder gar aufgeho- ihre Vision eines nach-nationalsozialistischen Deutsch- ben werden. Von einem solchen Rechtsverständnis nah- land gewesen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Ra- men die Väter und Mütter des Grundgesetzes entschlossen tes griffen diese Vorstellungen auf und machten die indivi- Abschied zugunsten einer „wehrhaften“ Demokratie, nach 9 bis2019_01_inhalt.indd 9 09.04.19 09:28
Marie-Luise Recker der der innerste Kern der Verfassung, die freiheitlich-de- sein Gewicht – wenn auch im Rahmen der Machtstrukturen mokratische Grundordnung, in ihren wesentlichen Elemen- und Mehrheitsverhältnisse im Parlament – deutlich gefes- ten vor Angriffen verfassungsfeindlicher Kräfte geschützt tigt und seine politische Verantwortung hervorgehoben. werden sollte. Auch hier wurde das Bundesverfassungsge- Die Bestimmungen des konstruktiven Misstrauensvotums richt als „Hüter der Verfassung“ eingesetzt und ihm ein untermauerten zudem seine politische Stellung, da sie ihm breiter Katalog von Sanktionsmaßnahmen zur Verfügung auch gegenüber dem Parlament Unabhängigkeit und Au- gestellt, um derartige Bestrebungen abzuwehren und den tonomie gewährten. Verfassungskern zu schützen. Demgegenüber wurde die Rolle des Staatsoberhauptes deutlich gemindert. Zeitweise hatten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ein Bundespräsidium favorisiert, Eine parlamentarische und welches aus den Präsidenten des Bundestages und des parteienstaatliche Demokratie Bundesrates sowie dem Bundeskanzler bestehen sollte, sich dann aber doch für die Schaffung des Amtes eines Nicht strittig war für die Mitglieder des Parlamentarischen Bundespräsidenten entschieden. Allerdings sollte er nicht Rates die Entscheidung für eine repräsentative Demokra- direkt durch das Volk, sondern durch eine Bundesversamm- tie, für eine parlamentarische und parteienstaatliche Ord- lung gewählt werden, die aus Mitgliedern des Bundesta- nung. Wie erwähnt, waren bereits die Länderverfassun- ges und der Länderparlamente bestand. Damit wollte man gen in den westlichen Besatzungszonen diesem Modell die „dualistische Konstruktion“ der Weimarer Demokratie gefolgt. Auch die Empfehlungen des Verfassungskonvents verhindern, in der der Reichspräsident und der Reichstag, auf Herrenchiemsee basierten auf diesem Prinzip. Und beide über unmittelbare Volkswahl gewählt, über dieselbe nicht zuletzt wiesen die Verfassungsentwürfe einzelner demokratische Legitimität zu verfügen schienen. Um einer politischer Parteien, die im Sommer 1948 Gestalt annah- Übermacht der Präsidialgewalt vorzubeugen, wurde auch men, in diese Richtung. Zwar gab es im Parlamentarischen die Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbil- Rat über die Organisation des Bundes und seiner Organe dung und bei der Auflösung des Parlaments verändert. Ihm durchaus Beratungsbedarf, doch konnte – außer bei der wurde nur noch ein formelles Ernennungs- und Entlas- Frage der Ländervertretung und ihrer Finanz- und Geset- sungsrecht gegenüber dem Bundeskanzler zugestanden, zeszuständigkeiten – ohne größere Kontroversen eine während materiell in Zukunft der Bundestag über Ernen- breite Einigung erzielt werden. nung und Amtsdauer des Regierungschefs entscheiden Der Bundestag wurde in seiner Stellung gegenüber den würde. Auch die vorzeitige Auflösung der Volksvertretung anderen Verfassungsorganen deutlich aufgewertet. Nicht und die Ausschreibung von Neuwahlen, in der Weimarer nur Repräsentant des Wahlvolkes, Gesetzgeber und Kon- Republik zum Nachteil politischer Stabilität häufig prakti- trolleur der Regierung sollte er sein, sondern auch das ziert, wurden nun engstens für den Ausnahmefall einge- Wahlorgan für den Regierungschef, der somit von einer schränkt. Und schließlich wurden dem Bundespräsidenten Mehrheit im Parlament getragen werden würde. Diese Ent- keine Notverordnungsvollmachten zugestanden, so dass scheidung des Parlamentarischen Rates, die Wahl und die er als Ersatzgesetzgeber nicht infrage kam. Seine Stellung politische Unterstützung des Bundeskanzlers zu einer her- beschränkte sich mehr oder weniger auf repräsentative ausragenden Aufgabe des Bundestages zu machen, war Funktionen und auf die Rolle eines „Staatsnotars“. ein deutlicher Bruch mit der deutschen Verfassungsge- Ohnehin entschlossen sich die Verfassungsväter und -müt- schichte. Gleichzeitig konnte der Bundestag im Sinne des ter bewusst, auf die Aufnahme plebiszitärer Elemente, also sogenannten konstruktiven Misstrauensvotums den Kanz- von Volksbegehren und Volksentscheid, in die Verfassung ler und damit die Regierung während einer Legislaturperi- zu verzichten. Mit diesem Votum für die repräsentative Wil- ode nur dann stürzen, wenn eine Parlamentsmehrheit sich lensbildung wollten sie alle politischen Entscheidungen in gleichzeitig auf einen neuen Kanzler verständigte. Damit das Plenum des Bundestages verweisen und ihn zwingen, sollte die besondere Verantwortung des Bundestages für seiner Verantwortung als Legislative nachzukommen. Auf die Regierungsfähigkeit des Staates hervorgehoben, ein der anderen Seite wurden die Parteien als Träger der poli- Kanzlersturz durch eine negative Mehrheit verhindert, viel- tischen Willensbildung ausdrücklich in die Verfassung auf- mehr eine positive Mehrheitspflege innerhalb der Volks- genommen. Dies war nicht nur die Anerkennung längst vertretung erzwungen und die politische Aktionsfähigkeit bestehender Verhältnisse und die Konkretisierung des von Kanzler und Regierung sichergestellt werden. Wie der grundgesetzlichen Demokratieprinzips, sondern ein not- Verfassungsexperte der SPD, Walter Menzel, in der Gene- wendiges Korrelat zur vollen Parlamentarisierung der Re- raldebatte des Parlamentarischen Rates zu dieser Frage gierung. Konkurrenz um Macht und politische Gestaltungs- betonte, wollte man „das Mißbrauchsvotum wieder aus möglichkeiten als zentrales Element der modernen Demo- dem früheren Mißbrauch eines politisch-destruktiven Mit- kratie wurden hiermit im Grundgesetz verankert. Mit dieser tels verwandeln zu dem Kampfmittel eines auf das Positive „Proklamation des Parteienstaates“ gewannen die Par- eingestellten demokratischen Parlamentarismus“.10 teien eine zentrale Stellung im Regierungssystem und eine Ebenso eindeutig und beabsichtigt war die Stärkung der Gesamtverantwortung für das Gemeinwesen. Gleichzei- Regierung. Schon in den Länderverfassungen war man be- tig sollten im Sinne einer „wehrhaften Demokratie“ Par- strebt gewesen, die Führungsrolle des Ministerpräsidenten teien, die sich nach Art ihrer Tätigkeit die Beseitigung der stärker herauszustellen als zuvor. Der Parlamentarische Rat freiheitlichen und demokratischen Grundordnung zum Ziel verwirklichte dann das „Kanzlerprinzip“ in vollem Umfang, gesetzt haben, vom Bundesverfassungsgericht als verfas- indem er dem Regierungschef die alleinige Entscheidung sungswidrig erklärt und verboten werden. über die Berufung und Entlassung der Kabinettsmitglieder Die langwierigste Kontroverse im Parlamentarischen Rat zusprach und das Kabinett über die Richtlinienkompetenz gab es um Funktion, Aufgabenbereich und Zusammenset- an die vom Kanzler vorgegebene Linie band. Damit war zung der Länderkammer. Die Frage, ob man nun das Se- 10 bis2019_01_inhalt.indd 10 09.04.19 09:28
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