Zukunft@BPhil Reise durch das imaginäre Berlin

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Zukunft@BPhil
Reise durch das imaginäre Berlin
SONGS – Coro

                    Von Martin Greve

                    Auslöser war eine poetische Metapher: 1975 hatte Luciano
                    Berio Coro für 40 Stimmen und 44 Instrumente kompo-
                    niert: 40 Sänger, jeder direkt neben einem Instrumenta-
                    listen platziert, singen Texte auf Englisch, Französisch,
                    Deutsch, Spanisch, ihrer Herkunft nach aus der ganzen
                    Welt. Nur selten sind die Stimmen als Chor zusammen-
                    gefasst, sie erklingen eher als Solisten oder in kleinen
                    Gruppen, stets verbunden mit Instrumenten. 21 Episo-
                    den verschiedenster Besetzung umfasst das Stück, vom
                    Orchester-Tutti bis zu den vielfältigsten Kammerensem-
                    bles – und doch ein untrennbares Gesamtwerk. In einer
                    Anmerkung zu seiner Komposition nun hatte Luciano            Matthew Hunter im Gespräch mit Amelia Cuni
                    Berio erklärt, Coro sei für ihn »ein offenes Projekt, das
                    ständig fortfahren könnte, verschiedene Situationen und
                    Beziehungen hervorzubringen.« Er verglich die Musik          den 1970er-Jahren? Wäre es nicht möglich, eine neue,
                    mit einem Plan für eine »imaginäre Stadt«.                   nun auch noch interkulturelle imaginäre, musikalische
                                                                                 Stadt zu entwickeln – angelehnt an die musikalischen
                    In der Education-Abteilung begann es zu gären: Sind nicht    Strukturen von Coro? Andererseits war auch klar: alle
                    die realen Städte von heute längst noch viel bunter als in   Musikkulturen Berlins zu integrieren, wäre musikalisch
                                                                                 wie logistisch kaum zu bewältigen. Die erste Entschei-
                                                                                 dung war gefallen: Lineare, einstimmige Musik sollte ein-
                                                                                 gewoben werden, Musiksprachen aus dem musikalischen
                                                                                 Großraum Vorderasien, dort wo die Kunst der Impro-
                                                                                 visation besonders hochentwickelt ist.

                                                                                 Vermittelt durch die Berliner Werkstatt der Kulturen und
                                                                                 ergänzt durch eigene Kontakte wurden zehn Berliner
                                                                                 Musiker indischer, iranischer, türkischer und arabischer
                                                                                 Herkunft eingeladen: Cymin Samawatie (Gesang), Ketan
                                                                                 Bhatti (Perkussion), Mohammed Reza Mortazavi (Tom-
                                                                                 bak-Trommel), Larry Porter (Rebab), Mohamed Askari
                                                                                 (Ney-Flöte), Khader Ahmad (Perkussion), Nasser Kilada
                                                                                 (Gesang), Farhan Sabbagh (Oud), Amelia Cuni (indi-
                                                                                 scher Dhrupad-Gesang) und Orhan Şenel (Kanun). Es
                                                                                 zeigte sich allerdings, dass die Herkunft wenig über Musik
                                                                                 aussagt: die iranisch-stämmige Cymin Samawatie etwa
                                                                                 hat in Hannover klassischen Gesang und in Berlin Jazz
                                                                                 studiert, Ketan Bhatti, geboren in Neu Delhi, in Berlin
                                                                                 Jazz-Schlagzeug. Als Spieler der afghanischen Rebab hin-
Stephan Schulze und Mohammed Reza Mortazavi                                      gegen kam der US-Amerikaner Larry Porter, der bereits

                    Alle Fotos: Monika Rittershaus
Zukunft@BPhil Reise durch das imaginäre Berlin
Berliner Philharmoniker – das magazin           November / Dezember 2010                                                                   27

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Beim ersten Treffen galt es zunächst zuzuhören,                                                                          bei der Vorstellung
und eine bis dahin mehr oder weniger unbekannte                                                                          des Projekts am
                                                                                                                         10. September 2010
Musiksprache zu entdecken.                                                                                               im Foyer der
                                                                                                                         Philharmonie

1976 Zentralasien bereiste und in Afghanistan die Rebab      Als Bausteine der neuen imaginären Stadt bildeten sich
spielen lernte.                                              zehn Duos, teilweise mit Gesang, oft aber rein instrumen-
                                                             tal. Jedes Duo, so wurde beschlossen, sollte ein kurzes
Zu ihnen gesellten sich sieben Musiker der Berliner Phil-    Musikstück von etwa 4 Minuten Dauer entwickeln. Was
harmoniker: die Geigerin Eva-Maria Tomasi (sie musste        sie spielen würden, blieb ihnen freigestellt, sie mochten
leider am Ende wegen Krankheit ausfallen), der Posau-
nist Thomas Leyendecker, der Kontrabassist Matthew
McDonald, die beiden Bratschisten Martin Stegner und
Matthew Hunter, der Geiger Stephan Schulze, der Klari-
nettist Walter Seyfarth sowie Catherine Milliken, die
Leiterin des Education-Programms, selbst Oboistin und
Komponistin.

Beim ersten Treffen galt es zunächst zuzuhören, und eine
bis dahin mehr oder weniger unbekannte Musiksprache
zu entdecken. Auch einige der Instrumente waren neu, die
afghanische Rabab etwa, eine Kurzhalslaute mit 18 Saiten
oder die Kanun, eine Art Zither türkischer oder arabi-
scher Tradition mit insgesamt 72 Saiten. Umgekehrt war
für andere ebenso überraschend, welch vielfältige Klänge
eine Orchesterposaune erzeugen kann. »Man muss viel
Respekt vor diesen Musikern und der arabischen Musik
haben«, erzählt Martin Stegner später. »Man merkt auch,
dass die westliche Musik unglaublich hochgezüchtet ist.
Unsere Instrumente haben nicht mehr diesen Charme
wie die arabischen oder iranischen.«                         Amelia Cuni im Duo mit Matthew McDonald
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                                      Walter Seyfarth und
                                      Cymin Samawatie

Khader Ahmad und Thomas Leyendecker

                                                            improvisieren oder ihre Musik vorher aufschreiben, tradi-
                                                            tionelle Stücke bearbeiten oder gänzlich Neues erfinden.

                                                            Es wurde ein Sommer denkwürdiger Begegnungen. »Es
                                                            hat sehr viel Spaß gemacht«, meinte Stephan Schulz, einer
                                                            der wenigen gebürtigen Deutschen des Projekts. »Es war
                                                            etwas ganz anderes, als das, was ich sonst mache.« Und
                                                            über ihre Zusammenarbeit mit dem Klarinettisten Walter
                                                            Seyfarth erzählt die Sängerin Cymin Samawatie: »Ich habe
                                                            viel gelernt, zugehört und beobachtet. Ich möchte be-
                                                            haupten, wir haben uns gegenseitig inspiriert. Vor allem
                                                            hat mich gereizt herauszufinden: Wo ist die Mitte?«

                                                            Andere Duos arbeiteten mit gänzlich freien Klängen. Der
                                                            Bratschist Matthew Hunter und der Perkussionist Ketan
                                                            Bhatti etwa beschlossen, Verbindungen zu Musikkultu-
Martin Stegner und Farhan Sabbagh                           ren zu vermeiden. Die Bratsche sollte zum Schlaginstru-
                                                            ment werden, der Perkussionist melodiös spielen.

                                                            Bei der ersten Gesamtprobe, eine knappe Woche vor der
                                                            Aufführung war noch immer unklar, wie aus den denk-
                                                            bar heterogenen Einzelteilen ein zusammenhängendes
                                                            Stück werden sollte. Über den Anfang bestand Einigkeit:
                                                            Der Klang des denkwürdigen Orchesters sollte allmäh-
                                                            lich aus dem Nichts aufsteigen und sich über eine Bass-
                                                            melodie, gespielt von Matthew McDonald, in einen indi-
                                                            schen Raga verwandeln. Dann setzte der Gesang von
                                                            Amelia Cuni über Texte aus Berios Coro ein. (Die gebür-
                                                            tige Mailänderin hat zehn Jahre lang in Indien gelebt
                                                            und dort bei so berühmten Meistern wie Fahimuddin
                                                            Dagar and Bidur Mallik den alten Dhrupad-Gesangsstil
                                                            gelernt.) Auch das Schluss-Stück war schnell gefunden:
                                                            Eine schnelle und mitreißende Kompositionen des aus
                                                            Syrien stammenden Wahlberliners und Oud-Spielers
                                                            Farhan Sabbagh mit eingebauten virtuosen Improvisa-
                                                            tionen. Neben Farhan Sabbagh spielte dabei der philhar-
                                                            monische Bratschist Martin Stegner, selbst ein erfahrener
                                                            Interpret von Jazz, Zigeunermusik und südamerikani-
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                                                    Larry Porter und
                                                    Nasser Kilada

                                                                            Mehrfach brachte der Wechsel zweier Duos den Über-
                                                                            gang von einem Tonsystem zum anderen mit sich und
                                                                            gerade die Intonation arabischer Intervalle wurde für die
                                                                            beteiligten Philharmoniker zur größten Herausforderung.
                                                                            Der Ägypter Mohamed Askari freilich hatte Verständnis:
                                                                            »Jahrelang sind sie nur trainiert auf saubere Töne. Für
                                                                            sie ist es ein extremer Paradigmenwechsel, außerhalb
                                                                            des temperierten Systems zu spielen.«

                                                                            Je länger das ungewöhnliche Ensemble an den Übergän-
                                                                            gen arbeitete, desto mehr wurden einzelne Instrumente
                                                                            in die ursprünglichen Duos eingearbeitet. Die imaginäre
                                                                            Stadt nahm Gestalt an. Nicht zuletzt durch die vielen
                                                                            Improvisationen blieb der Charakter eines Workshop-
                                                                            Konzerts bis zur Aufführung erhalten. »Die ganze bunte
                                                                            Mischung gibt eine einmalige Charakteristik«, erklärte
                                                                            Mohamed Askari: »Alles ad hoc: spielen, was du drauf
Mohamed Askari                                                              hast, das fand ich gut! Wir legen keinen Wert auf Perfek-
                                                                            tion – hier und jetzt.«
                 scher Musik. Der letzte Abschnitt sollte dann vom gesam-
                 ten Ensemble gemeinsam gespielt werden.                    Bei der Aufführung im Rahmen des musikfest Berlin 10
                                                                            hatte sich das gemeinsame Stück auf ganze 50 Minuten
                 Als nächstes wurde die Reihenfolge der Duos festgelegt.    ausgedehnt – angesichts der ständigen Abwechslungen,
                 In vielen gemeinsamen Versuchen verschmolzen dann          der vielen unbekannten Instrumente und Melodien,
                 die Einzelbeiträge durch dazwischen gefügte Tuttiab-       sowie der virtuosen Soli fiel dem Publikum das Zuhören
                 schnitte und Improvisationen. Der ägyptische Sänger        leicht. Am Ende gab es im überfüllten Foyer viel Jubel
                 Nasser Kilada, der ägyptische Ney-Spieler Mohamed          und Beifall.
                 Askari und Farhan Sabbagh hatten arabische Melodien
                 komponiert, die auch bei allen Improvisationen ihren       So mancher Musiker aber dürfte Blut geleckt haben.
                 Charakter behielten. Verschiedentlich erklangen überdies   Mohammad Reza Mortazawi, virtuoser Tombak-Tromm-
                 Taksim, arabische Soloimprovisationen. Ein erkennbarer     ler aus dem Iran erklärte im Anschluss: »Ich arbeite
                 arabischer Einschlag begann sich durch das Stück hin-      meist als Solist und habe wenig Gelegenheit mit anderen
                 durchzuziehen. Schon direkt nach Nasser Kiladas Ge-        Musikern zu spielen. Das hier war sehr schön und ich
                 sang aber nahm Thomas Leyendecker die gehaucht klin-       hoffe, in Zukunft weiter mit den Berliner Philharmoni-
                 gende arabische Schluss-Silbe mit seiner Posaune auf       kern musizieren zu können. Am liebsten ein Konzert
                 und führte sie weiter in eine freie Jazz-Improvisation.    für Tombak und Orchester.«
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