Religionsmonitor verstehen was verbindet - Bertelsmann Stiftung
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Religionsmonitor verstehen was verbindet Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Autoren Detlef Pollack und Olaf Müller
Inhalt
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Inhalt Vorwort 7 Einleitung 8 1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität 10 2. Werte und Religiosität 20 3. Religiöse Vielfalt in Deutschland 32 4. Religion und gesellschaftlicher Zusammenhalt 46 5. Fazit 54 Abstract 58 Anmerkungen 62 Literatur 66 Die Autoren 72 Impressum 73 5
Vorwort 6
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Vorwort Liz Mohn stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung Religiöse Vielfalt ist Teil unserer heutigen sollte man aber keinesfalls vergessen, dass Lebenswirklichkeit. Christen, Muslime, Juden, unterschiedliche Religionen, wenn sie aufein- Buddhisten, Hinduisten, aber auch Anhänger anderstoßen, auch Konfliktpotenzial besitzen. anderer, kleinerer Religionsgemeinschaften Mit dem Religionsmonitor stellt die Bertels- leben in Deutschland zusammen. Hinzu mann Stiftung ein Instrument zur Verfügung, kommen gewichtige Anteile Konfessionsloser das dabei helfen soll, die Wechselwirkungen und Atheisten. Es ist eine der zentralen Her- von Religion und Gesellschaft genauer zu ausforderungen der modernen Gesellschaft, beleuchten. Er ist ein internationales Projekt, ein friedliches Miteinander der Menschen mit an dessen Entwicklung Wissenschaftler ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen unterschiedlicher Disziplinen mitgewirkt Hintergründen zu ermöglichen. haben. Der hier entwickelte Fragebogen ermöglicht die international und interreligiös Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage, einheitliche Anwendung und die Vergleichbar- was Menschen verbindet und was ihnen Halt keit der Ergebnisse. und Orientierung gibt. Bei meinen Reisen und Begegnungen mit Menschen ganz unter- In die Auswertung des Religionsmonitors 2013 schiedlicher Kulturen, Religionen und persön- sind die Antworten von 14.000 Menschen aus licher Lebensgeschichten beeindruckt mich 13 Ländern auf rund 100 Fragen eingeflossen. immer wieder die Vielfältigkeit menschlichen Jeder dieser Menschen hat sich ganz persön- Lebens. Ich habe dabei festgestellt, dass der lich zu seinen Überzeugungen, Einstellungen Dialog über scheinbar trennende Unterschiede und Verhaltensweisen geäußert. Die Befragten hinweg möglich ist und dass dafür Offenheit stehen aber auch repräsentativ für Millionen und Toleranz wesentliche Voraussetzungen von Menschen rund um den Globus. Wir sind. Gleichzeitig bedarf es geteilter Grund- sehen: Religion ist und bleibt eine bedeutsame werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Teilhabe soziale Wirkkraft. Wenn wir auch zukünftig in am gesellschaftlichen Leben und einer tiefen Vielfalt und Freiheit miteinander leben wollen, Menschlichkeit als Grundlage für ein gelin- dann müssen wir die Religion und ihre Bedeu- gendes Miteinander in der gesellschaftlichen tung für gesellschaftliche Entwicklung besser Vielfalt. verstehen. Der Religionsmonitor der Bertels- mann Stiftung soll uns dabei unterstützen. Religion ist ein wesentlicher Faktor für das Denken und Handeln der Menschen. Sie gibt den Menschen Orientierung und Sinn. Dabei 7
Einleitung Einleitung Der Struktur- und Wertewandel der letzten tativ erhoben und ermöglichte erstmals den Jahrzehnte, oft unter die Stichworte „Plurali- fundierten Vergleich individueller Religiosität sierung“ und „Individualisierung“ gefasst, hat von Menschen aller Weltreligionen und Konti- auch die religiöse Landschaft in Deutschland nente. verändert. Weitgehend einig sind sich die Wissenschaftler, dass es für die traditionellen Mit dem überarbeiteten und ergänzten Reli- religiösen Institutionen immer schwieriger gionsmonitor sind wir noch einen Schritt geworden ist, die Menschen zu erreichen und weitergegangen und untersuchen die soziale als normsetzende Instanzen zu fungieren. und politische Relevanz der Religion empi- Hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert risch. Daher haben wir neben den bewährten der Religion insgesamt sind die Meinungen Fragen zur Zentralität von Religion des ersten allerdings geteilt: Vertreter der Säkularisie- Religionsmonitors auch Fragen zu Werten rungstheorie verweisen darauf, dass die Reli- und Werthaltungen, zur Wahrnehmung reli- gion für die Menschen an Bedeutung verloren giöser Vielfalt und zum gesellschaftlichen hat. Anhänger der Individualisierungstheorie Zusammenhalt aufgenommen. Der Religions- hingegen konstatieren, dass Religion nach monitor 2013 ermöglicht somit, wesentliche wie vor floriere und nur ihre Form gewech- Aspekte moderner Gesellschaften genauer zu selt habe, eben „individueller“ und dadurch analysieren. auch „unsichtbar“ (Luckmann 1991) gewor- den sei. Vieles deutet zudem darauf hin, Bei der Länderauswahl haben wir den Schwer- dass Deutschland und Europa in religiöser punkt auf die Vergleichbarkeit der unter- Hinsicht einen Weg beschreiten, der nicht suchten Staaten gelegt. So können wir in typisch für andere Teile der Welt ist. vertiefenden Analysen erfolgreiche Strategien für den Umgang mit gesellschaftspolitischen Vor diesem Hintergrund initiierte die Ber- Herausforderungen herausarbeiten. Die telsmann Stiftung vor einigen Jahren ein wesentliche Vergleichsgruppe bilden daher neues Messinstrument für die Ausprägung Deutschland, Großbritannien, Schweden, die von Religiosität, den Religionsmonitor. Dabei Schweiz, Frankreich, Spanien, Kanada und wurde ein substanzieller Religionsbegriff die USA. Darüber hinaus haben wir Daten in zugrunde gelegt, der sowohl für alle Religio- Ländern erhoben, die aus deutscher Perspek- nen anwendbar ist als auch individualisierte tive besonders relevant (Türkei, Israel) bzw. Formen der Religiosität erfasst. Der Religions- aus globaler Perspektive besonders interes- monitor wurde 2007 in 21 Staaten repräsen- sant sind (Brasilien, Indien und Südkorea). 8
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Die Ergebnisse wurden zunächst überblicks- Auswertung und Analyse der Daten des artig ausgewertet, in der vorliegenden Studie Religionsmonitors 2013. Darüber hinaus gilt für Deutschland und in einer parallel erschei- unser besonderer Dank Stefan Huber, der nenden Untersuchung für den internationa- wesentlich für die Entwicklung des ersten len Vergleich. In weiteren Veröffentlichungen Religionsmonitors verantwortlich war und werden wir einzelnen Fragestellungen für den Prozess der Weiterentwicklung bera- Deutschland jeweils vertiefend nachgehen. tend begleitete. Außerdem gilt unser Dank Zugleich werden zu ausgewählten Ländern Gert Pickel, Carsten Gennerich, Richard auch Länderberichte erstellt. Traunmüller und Constantin Klein, die den Entwicklungsprozess mit ihren Hinweisen Für die Erstauswertung der Ergebnisse in wesentlich unterstützt haben, und José Deutschland standen folgende Fragen im Casanova, David Voas, Jinhyung Park, Eva Vordergrund: Wie stellen sich Kirchlichkeit, Hamberg, Tamar Hermann, Franz Höllinger, Religiosität und Spiritualität in der Bevöl- Peter Beyer und Üzeyir Ok, die uns bei der kerung heute dar? Wie steht es vor dem Überprüfung der verschiedenen Länderfas- Hintergrund der Veränderungen auf dem sungen des Fragebogens zur Seite gestanden religiösen Feld um das allgemeine Werte- haben. Und schließlich wäre die Umsetzung gefüge der Gesellschaft? Was bedeutet dies nicht ohne die zuverlässige Koordination und alles für die Einstellungen zu aktuellen Durchführung der Befragung durch infas und ethisch-moralischen gesellschaftspolitischen hier insbesondere Robert Follmer und Janina Fragen und politischen Prinzipien? Welche Belz sowie Matthias Kappeler von ISOPUBLIC Rolle spielen religiöse Gemeinschaften für die möglich gewesen. Vermittlung von Werten? Wie gehen die Men- schen in Deutschland mit der wachsenden religiösen Vielfalt um? Und schließlich geht es in diesem ersten Überblick über wichtige Ergebnisse des Religionsmonitors 2013 auch um die Frage, inwieweit Religionen zum Stephan Vopel Director Zusammenhalt der Gesellschaft beizutragen Programm Lebendige Werte vermögen. Dr. Berthold Weig Danken möchten wir allen voran den Autoren Senior Project Manager Detlef Pollack und Olaf Müller für die erste Projekt Religionsmonitor 9
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität 1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität Dieses Kapitel soll einen Überblick über die sierte Form) sowie „Gebetshäufigkeit“ (private wichtigsten Formen und die Intensität der religiöse Praxis) dargestellt wird. Tabelle 1 Religiosität der Bevölkerung in Deutschland verdeutlicht eindrucksvoll die bestehende geben. Um ein möglichst umfassendes Bild religiöse Kluft zwischen West- und Ostdeutsch- erstellen zu können, ist es dabei notwendig, land: Während in den alten Bundesländern der neben der institutionalisierten, d.h. an die Anteil der Befragten, die angeben, mindestens Zugehörigkeit zu einer Kirche bzw. religiö- einmal im Monat einen Gottesdienst, einen sen Gemeinschaft gekoppelten Religiosität Tempel oder das Freitagsgebet zu besuchen auch „private“ Formen (die sich inner- wie bzw. an sonstigen spirituellen Ritualen oder auch außerhalb des traditionell-kirchlichen Handlungen teilzunehmen, bei 22 % liegt, sind Spektrums bewegen können) in den Blick es im Osten Deutschlands mit 12 % nur etwa zu nehmen. Religiosität soll demzufolge in halb so viele. Vergleicht man die Daten von Anlehnung an Charles Glock (1954, 1962) als 2013 mit denen des Religionsmonitors von multidimensionales Phänomen verstanden 2008 (West: 23 %; Ost: 10 %), dann stellt sich werden, wobei hier Merkmale für Praxis, die Situation in beiden Teilen Deutschlands Glauben und Identität betrachtet werden.1 nahezu unverändert dar. Was die private (Anmerkungen siehe S. 62 ff.) Dabei wird religiöse Praxis, das Beten, anbelangt, so ist die auch über rein beschreibende Aussagen Zahl derer, die im Westen angeben, regelmäßig hinaus nach charakteristischen Mustern und (d.h. täglich) zu beten, ebenfalls doppelt so Bestimmungsfaktoren gefragt, wie etwa dem hoch wie im Osten (24 % gegenüber 12 %). Der Einfluss der religiösen Sozialisation, der Anteil derjenigen, die nach eigenem Bekunden sozialen Lage oder auch dem konfessionel- niemals beten, ist in Westdeutschland dabei ge- len Hintergrund der Befragten. Wo es sich nauso groß wie der der regelmäßig Betenden; anbietet, werden dabei auch Vergleiche zu in den neuen Bundesländern sagen zwei Drit- den Ergebnissen des Religionsmonitors 2008 tel der Befragten, dass sie niemals beten. Auch gezogen. hier haben sich die Zahlen im Vergleich zur Befragung von 2008 praktisch nicht verändert. Religiöse Praxis Religiöse Identität Beginnen wir mit der religiösen Praxis, die anhand der Merkmale „Gottesdienst-/Tempel-/ Mit Blick auf den Glauben bzw. die religiöse Freitagsgebetsbesuch/Besuch spiritueller Ritu- Identität sind die West-Ost-Differenzen eben- ale oder religiöser Handlungen“ (institutionali- falls gravierend (Tabelle 2). Glaubt im Westen 10
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Tabelle 1 Religiöse Praxis (Angaben in %) INFO Besuch Gottesdienst/Tempel/ Freitagsgebet/spirituelle Rituale/ Beten Formen der Religiosität religiöse Handlungen Die starke Trennung zwischen monatlich oder öfter mind. täglich nie West und Ost lässt sich so- West Ost West Ost West Ost wohl in der institutionalisier- 2008 23 10 29 11 24 67 ten als auch in der privaten 2013 22 12 24 12 25 66 religiösen Praxis beobachten: Etwa doppelt so viele West- Besuch Gottesdienst/Tempel/Freitagsgebet/spirituelle Rituale/religiöse Handlungen: 6er-Skala (mehr als einmal in der Woche – einmal in der Woche – ein- bis dreimal im Monat – mehrmals pro Jahr – seltener – nie); Anteil derjenigen, die mindestens einmal im Monat an einer der Formen teilnehmen; Beten: 8er-Skala wie Ostdeutsche gehen re- (mehrmals am Tag – einmal am Tag – mehr als einmal in der Woche – einmal in der Woche – ein- bis dreimal im Monat – mehrmals pro Jahr – seltener – nie); gelmäßig in den Gottesdienst Anteil derjenigen, die täglich bzw. nie beten und beten täglich. Einig sind sich die Menschen in West- und Ostdeutschland jedoch in der Ablehnung religiöser Mischformen. Fremde Tradi- tionen integrieren sie wenig in die eigene Glaubenspraxis, etwa jeder Zweite „ziemlich“ bzw. „sehr“ dar- Stellt der Anteil der „ziemlich“ bzw. „sehr“ an obgleich sie sich anderen an, dass Gott, Gottheiten oder etwas Gottähn- Gott, Götter oder etwas Göttliches Glauben- Religionen gegenüber aufge- liches existiert, tut dies im Osten nur knapp den in den alten Bundesländern noch eine schlossen zeigen. jeder Vierte. Während der Anteil der eher knappe Mehrheit dar, verändert sich das Bild Gläubigen im Westen doppelt so hoch ist wie bei der Frage nach der religiösen Selbstein- der der eher nicht Gläubigen (d.h. derjeni- schätzung deutlich: So sagt nur jeder Fünfte gen, die „wenig“ oder „gar nicht“ glauben), von sich selbst, dass er „ziemlich“ bzw. „sehr“ stellen Letztere im Osten mit knapp 70 % religiös ist; die Zahl derjenigen dagegen, die die übergroße Mehrheit.2 Der Vergleich mit sich als „wenig“ bzw. „gar nicht“ religiös den Daten von 2008 ergibt für den Westen einschätzen, ist mit 35 % fast doppelt so hoch. erneut das Bild einer relativen Stabilität. In Im Osten verschiebt sich das Verhältnis noch Bezug auf die neuen Bundesländer lassen die deutlicher zugunsten der „wenig“ bzw. „gar Daten des Religionsmonitors vermuten, dass nicht“ Religiösen (12 % zu 72 %). Ähnlich wie es bezüglich des Glaubens in den letzten beim Glauben an Gott weisen die Daten des fünf Jahren einen Aufschwung gegeben hat. Religionsmonitors von 2008 zu 2013 hier Angesichts der sich bisher abzeichnenden allerdings auf eine Zunahme bei den Reli- Entwicklung ist dies einigermaßen über- giösen und eine Abnahme bei den wenig raschend.3 bzw. nicht Religiösen hin. 11
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität INFO Alternative Religiosität solche Tendenz erkennen? Sieht man sich die Zustimmung zur Aussage „Ich greife für mich Religion im Alltag der Wie steht es um den Bereich der „neuen“ bzw. selbst auf Lehren verschiedener religiöser Menschen „alternativen“ Religiosität, der nach Meinung Traditionen zurück“ an (Tabelle 2), dann muss Religiöse Aspekte spielen mancher Beobachter in letzter Zeit stark im doch bezweifelt werden, dass Religiosität für viele Menschen nur eine Aufschwung begriffen ist? Die Daten deuten heute vor allem synkretistisch, d. h. als Misch- Nebenrolle. Familie, Freunde, darauf hin, dass von einer „spirituellen Re- form, daherkommt: Im Westen Deutschlands Freizeit sind die Bereiche, volution“ (Heelas/Woodhead 2005) nicht die stimmt dieser Aussage unter den Religiösen denen sie mehr Bedeutung für ihr Leben beimessen. In Rede sein kann: Im Vergleich mit den Werten (d. h. denjenigen, die sich mindestens als dieser Frage tritt ein Gene- zur Religiosität schätzen sich noch weniger „wenig religiös“ bezeichnen) weniger als jeder rationenunterschied zutage, Befragte als „ziemlich“ oder „sehr“ spirituell Dritte (29 %) zu, im Osten tut dies nur etwa denn den über 60-Jährigen ein, nämlich 13 % (2008: 12 %) im Westen und jeder Sechste (16 %). Die große Mehrheit der ist die Religion wichtiger als gerade einmal 6 % (2008: 4 %) im Osten. Dage- Religiösen (66 % im Westen und 77 % im Os- den Jüngeren. Die Ergebnisse gen halten sich 59 % (2008: 62 %) im Westen ten) lehnt diese Aussage ab; bezogen auf die des Religionsmonitors sowie vergleichbarer internatio- und 77 % (2008: 81 %) im Osten für „wenig“ Gesamtbevölkerung sind es nur 26 % (West) naler Studien legen nahe, bzw. „gar nicht“ spirituell. bzw. 13 % (Ost), die man als religiöse Synkre- dass es einen schleichenden tisten bezeichnen könnte. Bedeutungsverlust des Religi- ösen von der älteren zu den Trend zur Patchwork-Religiosität Freilich bedeutet der Verzicht auf eine „Patch- jüngeren Generationen gibt. work-Religiosität“ nicht, dass die Mehrheit der Hierbei spielt die religiöse Sozialisation eine große Rolle. Im Zusammenhang mit der Art der Religiosi- Konfessionsangehörigen die eigene Religion Fehlende religiöse Erfah- tät, der die Menschen heute zuneigen, wird als die einzig Wahre begreift. Davon, „dass rungen und nicht mehr vor- oft behauptet, dass sich viele nicht mehr strikt in religiösen Fragen vor allem meine eigene handenes religiöses Wissen an kirchliche bzw. durch die entsprechenden Religion Recht hat und andere Religionen führen demnach dazu, dass religiösen Autoritäten vertretene Vorgaben eher Unrecht haben“, ist gleichfalls nur eine Menschen ein Leben ohne halten, sondern sich ihre Religion entspre- Minderheit (15 % im Westen und 23 % Religion als ganz selbstver- ständlich erscheint. chend ihrer persönlichen Vorlieben und im Osten) überzeugt; jeweils deutlich über Bedürfnisse „zusammenbasteln“. Dies habe 70 % lehnen eine solche Position eher ab. zur allmählichen Ablösung in sich geschlosse- Alles in allem scheint es also so, als ob die ner Glaubenssysteme durch eine „Patchwork- Menschen heutzutage anderen Religionen Religiosität“ geführt (Luckmann 1991; Barz gegenüber durchaus Respekt und eine gewis- 2004; Identity Foundation 2006). Lassen die se Aufgeschlossenheit entgegenbringen (vgl. Daten des Religionsmonitors ebenfalls eine dazu auch das Kapitel zur religiösen Vielfalt). Tabelle 2 Religiöser Glaube und religiöse Identität (Angaben in %) Gottes- religiöse spirituelle glaube Selbsteinschätzung Selbsteinschätzung West Ost West Ost West Ost ziemlich/ 52 12 18 6 12 4 sehr 2008 wenig/ 25 73 42 78 62 81 gar nicht ziemlich/ 54 23 21 12 13 6 sehr 2013 wenig/ 27 68 35 72 59 77 gar nicht Gottesglaube: „Wie stark glauben Sie daran, dass Gott [Gottheiten] oder etwas Göttliches existiert?“; religiöse Selbsteinschätzung: „Als wie religiös würden Sie sich selbst bezeichnen?“; spirituelle Selbsteinschätzung: „Als wie spirituell würden Sie sich selbst bezeichnen?“; 5er-Skalen (gar nicht – wenig – mittel – ziemlich – sehr) 12
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Tabelle 3 Religiöse Grundpositionen: Synkretismus und Dogmatismus (Angaben in %) Synkretismus* Dogmatismus** West Ost West Ost stimme eher/voll 29 (26) 16 (13) 15 23 und ganz zu stimme eher nicht/ 66 (70) 77 (82) 79 74 gar nicht zu Synkretismus: „Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück.“; * nur diejenigen, die sich auf der Religiositätsskala als mindes- tens „wenig“ religiös einschätzen (in Klammern: Gesamtbevölkerung); Dogmatismus: „Ich bin davon überzeugt, dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene Religion recht hat und andere Religionen eher unrecht haben.“; ** nur Konfessionsangehörige; 4er-Skalen (stimme gar nicht zu – stimme eher nicht zu – stimme eher zu – stimme voll und ganz zu) In ihrer eigenen religiösen Praxis allerdings gemeinhin in solchen Ranglisten am Ende bewegen sie sich dann doch mehrheitlich im platziert, wird von vielen als wichtiger ein- Rahmen des Altvertrauten und lassen sich geschätzt (etwa zwei Drittel). Im Westen sind nur bedingt von „außen“ inspirieren. es 54 %, die Religion für „sehr“ oder „eher wichtig“ halten, im Osten 27 %. Noch weniger Menschen schätzen den Bereich der Spiri- Stellenwert von Religion im Alltag tualität als „eher“ bzw. „sehr wichtig“ ein (32 % im Westen, 23 % im Osten). Interessant Die Daten zur religiösen Praxis, zum Glauben, sind in diesem Zusammenhang die Diffe- zur Identität sowie zum Synkretismus bzw. renzen zwischen einzelnen Altersgruppen: Dogmatismus vermitteln ein erstes Bild über Während es in Bezug auf die Bereiche, die in die Verbreitung und Art der Religiosität, wie der Rangliste oben angesiedelt sind, kaum sie die Menschen in Deutschland pflegen. Sie Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren sagen aber noch wenig darüber aus, welchen gibt,5 ähnelt das Muster bei der Religion dem Stellenwert die Menschen der Religion im bei der Politik: Die Altersgruppe der 16- bis alltäglichen Leben beimessen. Genau genom- 30-Jährigen schätzt die Religion für sich men ist es aber die Verankerung religiöser selbst als weniger wichtig ein (West: 42 %; Überzeugungen in der Persönlichkeit, die erst Ost: 21 %) als die Gruppe der 31- bis 60-Jäh- genauere Einsichten hinsichtlich der tatsäch- rigen (48 %; 26 %), und diese wiederum hält lichen Bedeutung von Religion für das Denken die Religion für weniger wichtig als die über und Handeln der Menschen ermöglicht (vgl. 60-Jährigen dies tun (70 % gegenüber 32 %). Bruce 2002: 3; Pollack 2009: 78f.). Fragt man nun nach der Bedeutung, die die Menschen Dahinter kann sich ein „bloßer“ Lebenszy- verschiedenen Bereichen ihres Lebens kluseffekt verbergen (in diesem Fall wäre beimessen, dann zeigt sich, dass religiöse zu erwarten, dass für die zum Zeitpunkt der Aspekte von vielen eher als nachrangig Befragung Jüngeren im höheren Alter Religi- eingestuft werden (Abbildung 1). Unter allen on genauso wichtig wird wie für die Älteren im Religionsmonitor abgefragten Lebensbe- heute); möglicherweise spiegelt sich hier reichen werden Religion und Spiritualität mit aber eher ein sogenannter Kohorteneffekt Abstand als die unwichtigsten eingeschätzt. wider, d.h. ein Wandel in der religiösen Ori- Das war schon 2008 der Fall und hat sich entierung unter den jüngeren Generationen. 2013 nicht geändert.4 Religion wird als sehr Dies kann anhand dieser Momentaufnahme viel weniger wichtig angesehen als Familie, allein nicht entschieden werden. Die Ergeb- Freunde, Freizeit (über 90 % halten diese Be- nisse anderer, auch international verglei- reiche für „eher wichtig“ oder „sehr wichtig“) chender Untersuchungen legen jedoch nahe, und Arbeit/Beruf (80 %); selbst die Politik, dass die zuletzt genannte Interpretation 13
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität Abbildung 1 Wichtigkeit verschiedener Lebensbereiche nach Altersgruppen (Angaben in %) West Ost gesamt 16–30 31–60 > 61 gesamt 16–30 31–60 > 61 Familie 99 99 99 98 96 99 99 91 Freunde 97 99 98 94 97 100 99 93 Freizeit 95 96 97 91 94 96 96 91 Arbeit/Beruf 87 92 97 69 81 92 98 54 Politik 66 48 68 74 67 56 60 67 Religion 54 42 48 70 27 21 26 32 Spiritualität 32 31 31 33 23 25 27 17 4er-Skalen (sehr wichtig – eher wichtig – eher nicht wichtig – überhaupt nicht wichtig); Anteil derjenigen, die den entsprechenden Bereich „sehr wichtig“ bzw. „eher wichtig“ finden wohl eher zutrifft (vgl. Sasaki/Suzuki 1987; Alternative Spiritualität Chaves 1989; Hamberg 1991; Norris/Ingle- hart 2004), sodass die vorgefundenen Muster Für den Bereich der Spiritualität trifft das in West und Ost durchaus als Ausdruck Letztgenannte jedoch nicht zu: Im Westen eines allmählichen Bedeutungsverlustes lassen sich hier keine großen Differenzen des Religiösen von Generation zu Genera- zwischen den betrachteten Altersgruppen tion interpretiert werden können. Dass die feststellen; im Osten scheint sich dagegen die Altersgruppendifferenzen in Ostdeutschland landläufige Annahme zu bestätigen, dass es dabei weniger deutlich ausfallen als in den eher die jüngeren und mittleren Altersgrup- alten Bundesländern, verweist dabei nur auf pen sind, die sich der „alternativen“ Spiritu- die Tatsache, dass dieser Prozess hier bereits alität zuwenden. Angesichts der insgesamt weiter fortgeschritten ist und neben den geringen Zustimmung und der Tatsache, jüngeren auch schon die älteren Kohorten in dass die Begeisterung dafür unter der jüngs- stärkerem Maße erfasst hat. ten Altersgruppe der 16- bis 30-Jährigen im Osten (25 %) sogar schon wieder etwas ge- ringer ausfällt als bei den 31- bis 60-Jährigen (27 %), ist jedoch auch hier abzuwarten, ob sich eine „neue“ Spiritualität als zukünftiger Trend durchsetzen wird.6 14
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Religiöse Sozialisation ren Hinweis darauf, dass sie deren Ausmaß an Religiosität auch im Alter wahrscheinlich Zum Schluss dieses Kapitels seien noch eini- nicht erreichen werden. Abbildung 2, welche ge wichtige Wirkmechanismen und Muster die dezidiert zustimmenden Antworten auf aufgezeigt, die zum besseren Verständnis die Frage „Sind Sie religiös erzogen worden?“ der derzeitigen Situation auf dem Feld des enthält, verdeutlicht den Abbruch bei der Religiösen in Deutschland beitragen. Neben Weitergabe religiöser Traditionen von Gene- dem West-Ost-Gefälle, das sich im Grunde bei ration zu Generation eindrucksvoll: Dass der allen Merkmalen für Religiosität in deutli- Anteil der religiös Erzogenen in Ostdeutsch- cher Weise gezeigt hat, haben die Ausführun- land von Beginn an über alle Altersgruppen gen zur Variablen „Wichtigkeit von Religion“ hinweg deutlich niedriger ausfällt als in zum Teil erhebliche Differenzen zwischen Westdeutschland, ist sicher zu einem nicht verschiedenen Altersgruppen zutage ge- geringen Teil der Tatsache geschuldet, dass fördert. Dass diese nicht mit dem Hinweis die DDR-Führung jeglichen religiösen Akti- darauf erklärt werden können, dass die vitäten über die gesamte Zeit der Existenz Menschen im Alter „naturgemäß“ religiöser des Staates hinweg mit mehr oder weniger werden, dass die Religiosität also vor allem unverhohlener Feindschaft begegnete. davon abhängt, in welchem Lebensabschnitt Zudem gelang es ihr durch ihre atheistische sich jemand gerade befindet, wurde oben Propaganda, aber mehr noch durch eine Viel- schon angesprochen. Im Folgenden werden zahl an Benachteiligungen und Schikanen im die Befunde zu den teilweise dramatischen Alltag recht bald, nicht nur die Religion weit- Veränderungen der religiösen Sozialisation gehend aus der Öffentlichkeit zu verbannen, vorgestellt. sondern auch die Weitergabe des Religiösen im Rahmen der Familie als sozialer Grup- Sie liefern eine zentrale Antwort auf die pe zu schwächen (vgl. Pollack 1994).7 Im Frage, warum die jüngeren Altersgruppen Westen, wo sich die Religion frei entfalten heutzutage so viel weniger religiös sind als konnte, verlief der Abbruch zwischen den ihre Vorgänger, und gleichzeitig einen weite- Generationen zunächst etwas langsamer, Abbildung 2 Religiöse Sozialisation nach Altersgruppen (Angaben in %) 80 % 70 % West 60 % Ost 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % > 66 56–65 46–55 36–45 26–35 16–25 Frage: „Sind Sie religiös erzogen worden?“; 3er-Skala (ja – nein – teils/teils); Anteil derjenigen, die mit „ja“ antworten, in der jeweiligen Altersgruppe 15
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität aber dennoch ebenso stetig. Während sich im Hallahmi/Argyle 1997: 110f.). Die Bedeutung Osten der Anteil der im Glauben Erzogenen der religiösen Erziehung in der Kindheit für seit einiger Zeit offenbar auf einem niedri- die Religiosität im Erwachsenenalter zeigt gen Niveau von etwa 10 % eingependelt hat, sich auch in Abbildung 3: Diejenigen, die scheint der Prozess im Westen noch nicht angeben, religiös erzogen worden zu sein, abgeschlossen (wobei nicht auszuschließen weisen im Vergleich zu denen ohne jegliche ist, dass sich der westdeutsche dem ostdeut- religiöse Erziehung in Bezug auf alle drei be- schen Wert in den folgenden Jahren noch trachteten Merkmale (Gottesdienst-/Tempel-/ weiter annähern wird). Freitagsgebetsbesuch/Besuch spiritueller Rituale/religiöser Handlungen, Gottesglaube, Die Tatsache, dass die Tendenz in den alten Wichtigkeit von Religion) deutlich höhere Bundesländern letztlich die gleiche ist wie Werte auf. in Ostdeutschland, lässt schon erahnen, dass es sich hier um einen Trend handelt, der Fehlende religiöse Erfahrungen und nicht allgemeiner Natur ist und sich auch unab- mehr vorhandenes religiöses Wissen führen hängig von bestimmten (religions-)politi- demnach ganz offensichtlich dazu, dass schen Begleitumständen Bahn bricht. Diese vielen Menschen ein Leben ohne Religion Vermutung wird durch eine Vielzahl anderer als ganz selbstverständlich erscheint.8 Dass religionssoziologischer Untersuchungen be- es vor diesem Hintergrund in nächster Zeit stätigt: Der Aspekt der Sozialisation hat sich zu einer Renaissance der Religion in ihrer praktisch überall als eine der bedeutendsten traditionellen Form kommen wird, erscheint Grundlagen für Voraussagen im Hinblick somit eher unwahrscheinlich. auf die Erklärung individueller Kirchlichkeit und traditioneller Religiosität erwiesen (vgl. Sasaki/Suzuki 1987; Kelley/De Graaf 1997; Religiosität im säkularen Umfeld Stolz 2004; Voas/Crockett 2005; Müller 2013: 216ff.). Der religiösen Sozialisation innerhalb Bis hierher wurde bei der Darstellung nach der Familie wurde dabei eine besonders der eingangs erwähnten geografischen entscheidende Rolle bescheinigt (vgl. Beit- Trennlinie „West – Ost“ differenziert – Abbildung 3 Religiöse Sozialisation und Religiosität (Angaben in %) 66 West 20 Wichtigkeit von Religion 58 Ost 14 66 West 29 Gottesglaube 50 Ost 11 33 West 8 Kirchgang etc. mtl. 27 Ost 9 religiös erzogen nicht religiös erzogen Variablen und Ausprägungen: siehe Tabellen 1 und 2 sowie Abbildung 2 16
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland einer Trennlinie, die, wie bereits weiter Im Vergleich zur „Religion light“, wie sie in INFO oben ausgeführt, zu einem großen Teil die der „einheimischen“ westdeutschen Bevöl- unterschiedliche politische Vergangenheit kerung zunehmend praktiziert werde (vom Religiöse Praxis und Identität der beiden deutschen Staaten seit dem Ende verbreiteten „Unglauben“ der Ostdeutschen Die Katholiken sind hier- des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der ganz zu schweigen), erscheine heute spe- zulande die fleißigsten 1980er-Jahre bzw. die jeweilige Religionspo- ziell die islamisch geprägte Religion vieler Gottesdienstbesucher: Ein Drittel von ihnen gibt an, litik der während dieser Zeit Regierenden Migranten (bzw. ihrer Nachkommen) immer mindestens einmal monatlich widerspiegelt. Neben diesem Aspekt wird mehr als wirklich „echte“ bzw. „harte“ in die Kirche zu gehen. Dicht zur Erklärung des heute vorzufindenden ge- Religion, so das Fazit der Shell-Jugendstudie dahinter liegen die Muslime ringen Niveaus an Religiosität in den neuen von 2006 (vgl. Gensicke 2006: 221). Man mit 30 % regelmäßigen Bundesländern aber auch ein anderer Faktor, kann annehmen, dass diese Wahrnehmung Moscheebesuchern. Demge- nämlich das „protestantische Erbe“ der DDR, von einem nicht unbeträchtlichen Teil der genüber geht mit 18 % nicht einmal jeder fünfte Ange- ins Spiel gebracht (vgl. Bruce 2000: 44). Dass „alteingesessenen“ Bevölkerung geteilt wird hörige der evangelischen der Protestantismus aufgrund seines „ratio- und möglicherweise zum „Unbehagen“ eines Konfession regelmäßig in den naleren“ Charakters gegenüber Säkularisie- Teils der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Gottesdienst. Die stärkste rungstendenzen generell „anfälliger“ zu sein dem Islam bzw. den muslimischen Mitbür- religiöse Identität besitzen scheint als etwa der Katholizismus, wurde gern beiträgt (vgl. das Kapitel zur religiösen dagegen die Muslime: Fast schon von Max Weber herausgestellt (vgl. Vielfalt). 40 % von ihnen stufen sich als sehr religiös ein und fast Weber 1980 (1921/22) und hat sich in Unter- Verhält es sich nun aber tatsächlich so? 90 % halten die Religion für suchungen seither auch wiederholt bestätigt Lassen sich im Sinne des eben Gesagten „eher“ oder „sehr“ wichtig. (vgl. Bruce 2000: 7f.; Norris/Inglehart 2004: wirklich charakteristische interkonfessio- Bei den Katholiken sind es 20 f., 220f.; Pollack 2009: 27; Pickel 2010; nelle Differenzen ausmachen, kann man im 65 % und bei den Evange- Müller 2013). Hinblick auf die Intensität der Religiosität lischen halten noch 58 % die tatsächlich von einer Abstufung „muslimisch – Religion für wichtig. Wenn heutzutage allgemein die Rede auf die katholisch – evangelisch – konfessionslos“ Möglichkeit kommt, die eigene Religiosität in sprechen?9 Betrachtet man das Gesamt- einer immer säkularer verfassten Umwelt zu bild, dann scheint Abbildung 4 ein solches bewahren, dann wird vor allem auch auf den Szenario durchaus nahezulegen: Zum einen Erfolg des islamischen Glaubens verwiesen. weisen die katholischen Befragten bei den Abbildung 4 Konfessionsspezifische Religiosität (Angaben in %) 33 Kirchgang/Freitags- 18 gebet/spirituelles 30 Ritual/relig. Handlung 4 26 26 religiöse 21 24 Synkretismus Selbsteinschätzung 39 42 4 3 64 12 Wichtigkeit 58 Dogmatismus 11 von Religion 89 39 10 katholisch evangelisch muslimisch konfessionslos Variablen und Ausprägungen: siehe Tabellen 1 bis 3 und Abbildung 1 17
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität Merkmalen zur religiösen Praxis und zur Konfessionen; der Anteil der Dogmatiker, Identität deutlich höhere Werte auf als die davon überzeugt sind, „dass in religiösen diejenigen, die einer evangelischen Kirche Fragen vor allem meine eigene Religion recht angehören. Die Kirchgangshäufigkeit ist hat und andere Religionen eher unrecht mit 33 % regelmäßigen (d. h. mindestens haben“, ist mit 39 % überdies fast viermal so monatlichen) Kirchgängern fast doppelt so hoch. Angesichts der Tatsache, dass fast die hoch wie bei den Evangelischen (18 %); der Hälfte der befragten Muslime der eigenen Anteil derjenigen, die sich als „ziemlich“ Religion das Wahrheitsmonopol einräumt, bzw. „sehr“ religiös einschätzen, beträgt bei könnten sich nun diejenigen bestätigt sehen, den Katholiken ein Viertel, bei den Evange- die dem Islam in einer zunehmend multireli- lischen ein Fünftel. giös oder gar säkular verfassten Gesellschaft ein erhebliches Konfliktpotenzial attestieren. Der Aussage, dass Religion einen wichtigen Allerdings muss in diesem Zusammenhang Teil ihres Lebens ausmacht, stimmen von den auch die andere Seite gesehen werden, näm- Katholiken 64 % eher zu („eher wichtig“ bzw. lich dass ein ebenso großer Prozentsatz an „sehr wichtig“), unter den Evangelischen sind Muslimen angibt, sich bei anderen religiösen es 58 %. Die Befragten, die sich einer islami- Traditionen zu bedienen. Wie weiterführen- schen Glaubensrichtung zugehörig fühlen, de Analysen gezeigt haben, liegt der Anteil bekunden zu 30 %, mindestens einmal im „reiner“ Dogmatiker (d. h. derjenigen, die nur Monat das Freitagsgebet zu besuchen, und der Aussage zum Dogmatismus, aber nicht erreichen damit fast den Wert der katholischen der zum Synkretismus zustimmen) unter Kirchgänger. Bei der religiösen Selbsteinschät- den Muslimen „nur“ bei knapp 20 % (bei den zung und bei der Frage nach der Wichtigkeit Katholiken und Evangelischen allerdings des Lebensbereichs Religion übertreffen die nur bei ca. 8 %). Gleichzeitig scheint ein etwa Muslime die Katholiken jedoch deutlich: Fast genauso großer Teil keinen Widerspruch darin 40 % von ihnen stufen sich als „sehr“ bzw. zu sehen, den selbst praktizierten Synkretis- „ziemlich“ religiös ein und fast 90 % halten mus mit einer grundsätzlich dogmatischen Religion für „eher“ bzw. „sehr“ wichtig. Die Haltung zu verbinden. konfessionslosen Befragten erreichen bei allen drei Merkmalen nur sehr geringe Werte, was darauf hinweist, wie stark die Religiosität in Sozialstruktur und Religiosität Deutschland zumindest in ihrer traditionellen Form immer noch an die Institution Kirche Die bisherigen Ausführungen sollten gezeigt gebunden ist. haben, dass sich das Ausmaß und die Art der Religiosität entlang der beiden Hauptdifferen- zierungslinien „West – Ost“ sowie „katholisch – Synkretismus und Dogmatismus evangelisch – muslimisch – konfessionslos“ durchaus deutlich unterscheiden. Dennoch Bemerkenswert sind die Ergebnisse in wäre es interessant zu erfahren, inwieweit Bezug auf „Synkretismus“ und „Dogmatis- sich noch andere Bevölkerungsgruppen im mus“: Während sich hier Katholiken und Hinblick auf ihre Kirchlichkeit, Religiosität Evangelischen sehr ähneln (jeweils ca. ein und Spiritualität voneinander unterscheiden. Viertel Synkretisten und etwas mehr als 10 Ist Religiosität vor allem bei den Älteren, den % Dogmatiker), ist der Anteil der Synkretis- niedrig Gebildeten, der Landbevölkerung ten („Ich greife für mich selbst auf Lehren sowie in sozial benachteiligten Bevölkerungs- verschiedener religiöser Traditionen zurück“) schichten verbreitet (vgl. Norris/Inglehart bei den Muslimen mit 42 % fast doppelt so 2004; Voas 2008)? Trifft dies ebenso für die hoch wie bei den beiden großen christlichen „neue“ Spiritualität zu oder ist diese eher 18
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland unter jüngeren, sozial bessergestellten, höher einstufen und mit ihrer wirtschaftlichen gebildeten Personen anzutreffen (Botvar Lage eher zufrieden sind, den traditionellen 2005; Knoblauch 2009)? Oder haben sich die Formen der Religiosität überdurchschnittlich Konturen des Religiösen vollständig aufgelöst, verbunden sind.10 d.h. sind überhaupt keine soziostrukturellen Unterschiede zwischen den Religiösen, religiös Die Tatsache, dass Religiosität und eine hohe Indifferenten, Areligiösen etc. mehr zu finden Lebenszufriedenheit miteinander einhergehen, (Voll 1993; Krüggeler 1999)? Und wer genau muss dagegen der „Benachteiligungsthese“ sind die Synkretisten, wer die Dogmatiker? nicht unbedingt widersprechen: Wenn die Zur Beantwortung dieser Fragen wurde eine Annahme stimmt, dass eine Funktion der etwas kompaktere Form der Darstellung Religion darin besteht, mit den Unwägbarkei- gewählt, die über die reine Beschreibung von ten des Lebens und bestimmten Benachteili- Häufigkeitsverteilungen hinausgeht und Aus- gungen besser zurechtzukommen (vgl. Norris/ sagen über das Vorliegen konkreter Zusam- Inglehart 2004), dann verwundert es nicht so menhänge (Korrelationen) erlaubt. sehr, dass religiöse Menschen zufriedener sind Betrachten wir zunächst die beiden Merkmale als nicht religiöse. für „traditionelle“ Religiosität, den Gottes- dienst-/Freitagsgebets-/Tempelbesuch/Besuch Im Vergleich zur „traditionellen“ Religiosität religiöser Rituale bzw. spiritueller Handlungen ergibt sich bei der Spiritualität ein etwas ande- (hier umgerechnet als durchschnittlicher Be- res Bild: Es sind nicht die Älteren, sondern die such pro Jahr) und die religiöse Selbsteinschät- Jüngeren, die dieser Form der „neuen“ bzw. zung: Es zeigt sich, dass es tatsächlich die älte- „alternativen“ Religiosität eher zuneigen. Auch re und auf dem Land lebende Bevölkerung ist, hier sind die Zusammenhänge zur subjektiven die dieser Form eher zuneigt. Dass sich Frauen Schichteinstufung und zur Lebenszufrieden- insgesamt ebenfalls als religiöser einschätzen heit positiv. Und auch religiöser Synkretismus, als Männer, bestätigt ein in der Forschung ein weiteres Zeichen von religiöser Indivi- immer wieder beobachtetes Muster. Die These dualisierung, findet sich am ehesten unter von der höheren Verbreitung traditioneller jüngeren, weiblichen, hochgebildeten und Religiosität unter benachteiligten Bevölke- sich bezüglich ihrer sozialen Position in der rungsschichten wird allerdings insgesamt Gesellschaft höher einschätzenden Befragten. nicht bestätigt. Zwar findet sich ein negativer Dagegen scheint religiöser Dogmatismus Zusammenhang zum Bildungsniveau (d.h. weitgehend unabhängig von der individuellen niedriger Gebildete weisen höhere Religio- sozialen Lage zu sein. Unzutreffend ist jedoch sitätswerte auf), gleichzeitig ist es jedoch so, die Behauptung, dass sich heutzutage über- dass auch diejenigen, die sich gesellschaftlich haupt keine soziodemografischen Konturen des Religiösen mehr erkennen lassen. Tabelle 4 Religiosität und Sozialstruktur (bivariate Korrelationen) Gottesdienst- religiöse spirituelle Synkretismus1 Dogmatismus2 Die in der Tabelle angegebenen Werte zeigen besuch etc. Selbst- Selbst- den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen einschätzung einschätzung Variablen an. Die Werte liegen immer zwischen -1 (vollständig negativer Zusammenhang) und +1 Alter (aufsteigend) ,10 ,15 –,09 –,11 n. s. (vollständig positiver Zusammenhang). Negativ Geschlecht (weiblich) n. s. ,16 ,11 ,06* n. s. bedeutet, dass der eine Wert kleiner wird, wenn Bildung (hoch) n. s. –,14 n. s. ,10 n. s. der damit zusammenhängende Wert anwächst; positiv meint, dass beide Werte gemeinsam zu- subj. Schichteinstufung (hoch) ,09 ,07 ,11 ,08 n. s. bzw. abnehmen. Ein Wert von 0 würde bedeuten, Wohngegend (Stadt) –,16 –,14 –,06 n. s. n. s. dass kein Zusammenhang zwischen den beiden Variablen existiert. „n.s.“ steht für nicht signifikant Lebenszufriedenheit (hoch) ,15 ,18 ,08 n. s. n. s. und bedeutet, dass hier kein signifikanter Zusam- wirtschaftliche Lage (sehr gut) ,08 ,06 n. s. n. s. n. s. menhang besteht. Alle angegebenen Werte sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % bedeutsam, d.h. nicht zufällig. Bei den mit einem Stern gekenn- zeichneten Werten beträgt die Wahrscheinlichkeit 95 %.11 19
2. Werte und Religiosität 2. Werte und Religiosität Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit chen Wertvorstellungen dieser Bevölkerungs- der Frage nach dem Ausmaß, der Verteilung gruppe ist jedoch recht wenig bekannt.12 und der Herkunft bestimmter Einstellungen Zudem wurde bisher kaum danach gefragt, und Werte, wobei auch hier ein besonderes wie wichtig die religiösen Instanzen und Augenmerk auf den Zusammenhang mit der Autoritäten für die Vermittlung von Werten Religion gelegt wird. Geht man von dem aus, heutzutage überhaupt noch sind, und auch was in den religiösen Schriften und Über- zum Zusammenhang von Werten und „neu- lieferungen bzw. durch religiöse Organisa- eren“ Formen von Religiosität ist bisher nur tionen und Eliten heute gelehrt wird, dann unzureichend geforscht worden. sollten religiöse Menschen ihrem Glauben gemäß besonders sozial eingestellt sein, sich „Der Zusammenhang zwischen häufiger um andere Menschen kümmern und für eine gerechte Gesellschaft eintreten. Der Werten und Religion Dienst für die Mitmenschen und die Gesell- ist heute nicht mehr selbstverständlich“ schaft sollte bei Religiösen stärker über dem Eigeninteresse stehen als bei nicht Religiö- Der Zusammenhang zwischen Werten wie sen. Darüber hinaus wäre zu erwarten, dass den eingangs genannten und der Religion ist Erstere sich stärker an „die Moral“ halten und in der heutigen Zeit alles andere als selbst- entsprechende Normen und Vorgaben ernster verständlich. Zum einen verweisen Beobach- nehmen. ter des religiösen Feldes schon seit Langem darauf, dass sich die Menschen in ihren Einige dieser Vermutungen konnten in der Wertvorstellungen und Lebensentscheidun- Vergangenheit in der empirischen Forschung gen immer weniger an religiösen Autoritäten teilweise durchaus bestätigt werden (vgl. orientieren. Zum anderen haben sich, so Meulemann 1998; Gensicke 2006). Aller- eine weitere Annahme, viele Werte selbst dings liegen für Deutschland bisher kaum von ihrem religiösen Ursprung emanzipiert: Studien vor, die über den Vergleich zwischen Auf das Prinzip der Nächstenliebe oder mehr den christlich und den säkular orientierten noch das Tötungstabu werden sich heute die Bevölkerungsgruppen hinausgehen. In Be- meisten Menschen sicherlich einigen können zug auf einige der oben genannten Aspekte – die Religiösen wie die nicht Religiösen. Nur herrscht hinsichtlich der muslimischen würden diese Maximen von vielen gar nicht Mitbürger eine teilweise recht dezidierte mehr als religiös fundiert, sondern als „allge- öffentliche Meinung vor; über die tatsächli- meine“, „humanistische“ Werte betrachtet.13 20
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Ob man ein solches Szenario beklagt oder nach dem Vertrauen der Menschen zuei- INFO begrüßt, hängt nun freilich vom persönlichen nander sowie nach dem Ausmaß und den Standpunkt des Betrachters ab. Was dies für Motivationen des ehrenamtlichen Engage- Die Emanzipation der Werte das soziale Zusammenleben bedeutet, ist ments in der Gesellschaft im Kapitel zum Die Menschen orientieren dagegen eine empirische Frage mit offenem Sozialkapital behandelt. Im Folgenden geht sich in ihren Wertvorstel- Ausgang: Selbst wenn es so wäre, dass sich es zunächst einmal darum zu klären, wie das lungen immer weniger an die Religion auf dem Gebiet der Wertevermitt- Wertegerüst der Bevölkerung heute aussieht, religiösen Autoritäten, zumal lung auf dem Rückzug befindet, muss man ob es tatsächlich zu einem „Werteverfall“ sich viele Werte von ihrem re- ligiösen Ursprung emanzipiert daraus nicht zwangsläufig eine pessimis- kommt, der in der Folge die gesellschaftliche haben. So gelten Nächstenlie- tische Prognose ableiten. Wie bereits oben an- Integration gefährden könnte, wer eventuell be und die Achtung vor dem gedeutet, ist es ja gar nicht ausgemacht, dass davon am ehesten betroffen ist, ob die Gesell- Leben mittlerweile als allge- der Konsens über bestimmte Grundwerte im schaft hinsichtlich ihres Wertegefüges eher meine humanistische Werte. Falle des Bedeutungsverlusts der Religion zusammenwächst oder auseinanderdriftet Auch durch den fortschrei- notwendigerweise zerbrechen muss; vielmehr und welche konkreten Konfliktfelder sich tenden Bedeutungsverlust der religiösen Institutionen wäre er allenfalls von der Akzeptanz der hier möglicherweise ausmachen lassen. ebnen sich die Unterschiede Religion als wertsetzende Instanz weitgehend im Wertgefüge zwischen abgekoppelt. Durch die Entflechtung der Beginnen wir mit der Frage nach eventuellen religiösen und nicht religiösen Sphären der Religion und der allgemeinen Differenzen in Bezug auf die Haltungen zu Bevölkerungsgruppen ein. Wertvorstellungen sowie den Bedeutungs- grundsätzlichen ethisch-moralischen Fragen, verlust religiöser Autoritäten werden die wie sie in der Öffentlichkeit in den letzten Differenzen hinsichtlich des Wertegefüges Jahren diskutiert wurden. Dass sich an den religiöser wie nicht religiöser Bevölkerungs- Debatten zum Schwangerschaftsabbruch, zur gruppen eingeebnet. Dadurch könnte sich Gleichstellung homosexueller Paare oder zur das Konfliktpotenzial, das der Religion auch Sterbehilfe nicht nur Politiker, Philosophen, immer innewohnt, sogar verringern. Mediziner, Juristen und andere „weltliche“ Professionen, sondern auch religiöse Autori- täten jeglicher Couleur engagiert beteiligen, liegt in der Natur der Sache, sind dies doch Das Wertegerüst der Bevölkerung Fragen, die auch die Religion unmittelbar angehen. Der jüngste Streit um die einge- Die Konsequenzen in Bezug auf den „sozi- schränkten Voraussetzungen, unter denen alen Kitt“ und das konkrete Handeln der die Deutsche Bischofskonferenz im Falle Menschen werden später anhand der Fragen einer Vergewaltigung die „Pille danach“ 21
2. Werte und Religiosität gestattet, und die durchaus kritischen Reakti- Abbildung 5 zeigt den Verlauf der Fronten onen vonseiten katholischer Laienverbände zum Teil recht deutlich auf: Bevor wir uns haben dabei einmal mehr deutlich gemacht, den konfessionellen Differenzen zuwen- dass in Bezug auf derartige Fragen nicht den, ist freilich zu konstatieren, dass die nur Meinungsverschiedenheiten zwischen Zustimmungswerte insgesamt zu allen drei verschiedenen religiösen Traditionen bzw. aufgeführten Vorgaben beträchtlich sind. zwischen religiösen und säkularen Gruppie- Dass der ausdrückliche Wunsch eines Kran- rungen existieren, sondern dass hier auch ken nach Sterbehilfe akzeptiert werden soll, konfessionsintern erhebliches Konfliktpoten- meinen 88 % der Ostdeutschen und 83 % der zial vorhanden ist. Westdeutschen, dass ein homosexuelles Paar die Möglichkeit haben sollte zu heiraten, befürworten im Osten 78 %, im Westen 75 % „West-Ost-Unterschiede spiegeln der Befragten. Das uneingeschränkte Recht konfessionelle zum Teil auch auf Schwangerschaftsabbruch stößt auf etwas Differenzen wider“ weniger Akzeptanz; hier stimmen noch knapp 70 % der Befragten in den neuen und 54 % in den alten Bundesländern zu. Abbildung 5 Einstellungen zu ethisch-moralischen Fragen (Angaben in %) Eine Schwangerschaft abzubrechen, sollte grundsätzlich erlaubt sein. West 54 Ost 69 katholisch 46 evangelisch 62 muslimisch 35 konfessionslos 73 Ein homosexuelles Paar sollte die Möglichkeit haben zu heiraten. West 75 Ost 78 katholisch 70 evangelisch 78 muslimisch 48 konfessionslos 87 Wenn ein unheilbar Kranker es ausdrücklich wünscht, sollte er das Recht haben zu sterben. West 83 Ost 88 katholisch 86 evangelisch 83 muslimisch 42 konfessionslos 90 4er-Skalen (stimme gar nicht zu – stimme eher nicht zu – stimme eher zu – stimme voll und ganz zu); Anteil derjenigen, die „eher“ bzw. „voll und ganz“ zustimmen 22
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland Bewertung von zentralen ethisch- den die Gesetzgebung in letzter Zeit hier INFO moralischen Fragen genommen hat, dürfte es interessant sein zu verfolgen, ob sich diese Differenzen zwi- Bewertung ethisch- Dass die West-Ost-Unterschiede zum Teil schen der „Mehrheitsgesellschaft“ und der moralischer Fragen auch konfessionelle Differenzen wider- muslimischen Bevölkerung in Zukunft ein- Wichtige ethisch-moralische spiegeln, wird klar, wenn man sich die ebnen werden oder sich womöglich sogar zu Fragen wie die nach dem Recht auf Sterbehilfe oder Zustimmungsraten getrennt nach der handfesten Spannungen auswachsen. Zum der „Homo-Ehe“ werden Religionszugehörigkeit ansieht. Beim Recht anderen tut sich eine Kluft, das zeigen die von den konfessionslosen auf Sterbehilfe unterscheiden sich die Mei- Befunde ebenfalls deutlich, zwischen der offi- Menschen liberaler bewertet, nungen der Katholiken (86 % Zustimmung) ziellen Haltung der katholischen Kirche und obwohl es hier auch hohe und Evangelischen (83 %) noch relativ wenig den Ansichten ihrer „einfachen“ Mitglieder Zustimmungswerte unter den von denen der Konfessionslosen (90 %); aber auf, indem letztere zum Großteil nicht gewillt Katholiken und Evangelischen gibt. Deutlich ablehnender schon hier fällt auf, dass sich die Muslime in sind, den oft strikten Positionen der kirch- sehen das die Muslime. Bei ihren Haltungen deutlich von den anderen lichen Führung zu folgen. Auch hier bleibt der Bewertung solcher und Gruppen absetzen, indem sie insgesamt eine abzuwarten, was das für die Kirche mittel- anderer ethisch-moralischer stärker ablehnende Position einnehmen und langfristig bedeutet, d. h. wie lange die Fragen existiert ein Gra- (42 % Zustimmung). Ähnlich verhält es Mitglieder den Spagat zwischen persönlichen ben zwischen der liberal sich bei der Frage, ob homosexuelle Paare Überzeugungen und Loyalität gegenüber der eingestellten christlich oder säkular geprägten einheimi- heiraten dürfen sollten. Während hier nicht Institution noch mitzumachen bereit sind schen Bevölkerung und den nur die große Mehrheit der Konfessionslosen bzw. ob oder wie die Kirchenoberen auf den Muslimen, die hier deutlich (87 %), sondern auch der Angehörigen der Gegenwind von unten reagieren werden. abweichende Vorstellungen beiden großen christlichen Konfessionen haben. (70 % bei den Katholiken, 78 % bei den Evangelischen) zustimmt, findet dies unter den Muslimen nur knapp die Hälfte der Akzeptanz für die demokratischen Befragten richtig. Das grundsätzliche Recht Prinzipien auf Schwangerschaftsabbruch findet auch bei den Katholiken keine mehrheitliche Zustim- Lassen sich schon die oben abgehandelten mung (46 %), bei den Muslimen liegt die ethisch-moralischen Grundfragen nicht ohne Befürwortungsrate bei rund einem Drittel. Weiteres in den Bereich des rein „Privaten“ Unter den Evangelischen ist die Akzeptanz verbannen, wo jeder denken und tun könne, mit 62 % dagegen auch hier deutlich höher; was er wolle, und die Gesellschaft den Einzel- und am stärksten fällt sie, wenig überra- nen nicht zu bevormunden habe, weisen die schend, bei den Konfessionslosen aus, wo in Abbildung 6 abgebildeten Aspekte einen etwa drei Viertel der Befragten zustimmen. noch deutlicheren Bezug zum öffentlichen Leben auf. Die Trennung von Religion und Die Frage nach möglichen Konfliktlinien im Politik und die Prinzipien der Demokratie Bereich ethisch-moralischer Fragen lässt gehören zu den Grundfesten unserer Ge- sich also folgendermaßen beantworten: Zum sellschaft. Was die Akzeptanz dieser Werte einen verläuft hier offenbar ein Graben zwi- anbelangt, so kann angesichts der Befunde schen der christlich bzw. säkular geprägten des Religionsmonitors jedoch weitgehend Mehrheitsbevölkerung auf der einen Seite, „Entwarnung“ gegeben werden. die hier „liberale“ Positionen einnimmt (eine Ausnahme bilden die Katholiken beim Schwangerschaftsabbruch), und der Bevölke- rungsgruppe mit muslimischem Hintergrund auf der anderen Seite, die diesbezüglich „In keiner der Gruppierungen findet sich eine Mehrheit, „rigidere“ Vorstellungen erkennen lässt. welche die Politik dem Primat der Religion Auch vor dem Hintergrund der Entwicklung, unterordnen möchte“ 23
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