Religionsmonitor verstehen was verbindet - Bertelsmann Stiftung

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Religionsmonitor verstehen was verbindet - Bertelsmann Stiftung
Religionsmonitor
         verstehen was verbindet
Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland
Religionsmonitor
         verstehen was verbindet
Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Autoren
Detlef Pollack und Olaf Müller
Inhalt
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Inhalt

Vorwort                                                              7

Einleitung                                                           8

1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität                   10

2. Werte und Religiosität                                          20

3. Religiöse Vielfalt in Deutschland                               32

4. Religion und gesellschaftlicher Zusammenhalt                    46

5. Fazit                                                           54

Abstract                                                           58

Anmerkungen                                                        62

Literatur                                                          66

Die Autoren                                                        72

Impressum                                                          73

                                                                                                                5
Vorwort

6
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Vorwort

                                                             Liz Mohn
                                          stellvertretende Vorsitzende
                                                    des Vorstandes der
                                                  Bertelsmann Stiftung

Religiöse Vielfalt ist Teil unserer heutigen        sollte man aber keinesfalls vergessen, dass
Lebenswirklichkeit. Christen, Muslime, Juden,       unterschiedliche Religionen, wenn sie aufein-
Buddhisten, Hinduisten, aber auch Anhänger          anderstoßen, auch Konfliktpotenzial besitzen.
anderer, kleinerer Religionsgemeinschaften          Mit dem Religionsmonitor stellt die Bertels-
leben in Deutschland zusammen. Hinzu                mann Stiftung ein Instrument zur Verfügung,
kommen gewichtige Anteile Konfessionsloser          das dabei helfen soll, die Wechselwirkungen
und Atheisten. Es ist eine der zentralen Her-       von Religion und Gesellschaft genauer zu
ausforderungen der modernen Gesellschaft,           beleuchten. Er ist ein internationales Projekt,
ein friedliches Miteinander der Menschen mit        an dessen Entwicklung Wissenschaftler ganz
unterschiedlichen kulturellen und religiösen        unterschiedlicher Disziplinen mitgewirkt
Hintergründen zu ermöglichen.                       haben. Der hier entwickelte Fragebogen
                                                    ermöglicht die international und interreligiös
Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage,      einheitliche Anwendung und die Vergleichbar-
was Menschen verbindet und was ihnen Halt           keit der Ergebnisse.
und Orientierung gibt. Bei meinen Reisen und
Begegnungen mit Menschen ganz unter-                In die Auswertung des Religionsmonitors 2013
schiedlicher Kulturen, Religionen und persön-       sind die Antworten von 14.000 Menschen aus
licher Lebensgeschichten beeindruckt mich           13 Ländern auf rund 100 Fragen eingeflossen.
immer wieder die Vielfältigkeit menschlichen        Jeder dieser Menschen hat sich ganz persön-
Lebens. Ich habe dabei festgestellt, dass der       lich zu seinen Überzeugungen, Einstellungen
Dialog über scheinbar trennende Unterschiede        und Verhaltensweisen geäußert. Die Befragten
hinweg möglich ist und dass dafür Offenheit         stehen aber auch repräsentativ für Millionen
und Toleranz wesentliche Voraussetzungen            von Menschen rund um den Globus. Wir
sind. Gleichzeitig bedarf es geteilter Grund-       sehen: Religion ist und bleibt eine bedeutsame
werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Teilhabe         soziale Wirkkraft. Wenn wir auch zukünftig in
am gesellschaftlichen Leben und einer tiefen        Vielfalt und Freiheit miteinander leben wollen,
Menschlichkeit als Grundlage für ein gelin-         dann müssen wir die Religion und ihre Bedeu-
gendes Miteinander in der gesellschaftlichen        tung für gesellschaftliche Entwicklung besser
Vielfalt.                                           verstehen. Der Religionsmonitor der Bertels-
                                                    mann Stiftung soll uns dabei unterstützen.
Religion ist ein wesentlicher Faktor für das
Denken und Handeln der Menschen. Sie gibt
den Menschen Orientierung und Sinn. Dabei

                                                                                                                                             7
Einleitung

             Einleitung

             Der Struktur- und Wertewandel der letzten         tativ erhoben und ermöglichte erstmals den
             Jahrzehnte, oft unter die Stichworte „Plurali-    fundierten Vergleich individueller Religiosität
             sierung“ und „Individualisierung“ gefasst, hat    von Menschen aller Weltreligionen und Konti-
             auch die religiöse Landschaft in Deutschland      nente.
             verändert. Weitgehend einig sind sich die
             Wissenschaftler, dass es für die traditionellen   Mit dem überarbeiteten und ergänzten Reli-
             religiösen Institutionen immer schwieriger        gionsmonitor sind wir noch einen Schritt
             geworden ist, die Menschen zu erreichen und       weitergegangen und untersuchen die soziale
             als normsetzende Instanzen zu fungieren.          und politische Relevanz der Religion empi-
             Hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert       risch. Daher haben wir neben den bewährten
             der Religion insgesamt sind die Meinungen         Fragen zur Zentralität von Religion des ersten
             allerdings geteilt: Vertreter der Säkularisie-    Religionsmonitors auch Fragen zu Werten
             rungstheorie verweisen darauf, dass die Reli-     und Werthaltungen, zur Wahrnehmung reli-
             gion für die Menschen an Bedeutung verloren       giöser Vielfalt und zum gesellschaftlichen
             hat. Anhänger der Individualisierungstheorie      Zusammenhalt aufgenommen. Der Religions-
             hingegen konstatieren, dass Religion nach         monitor 2013 ermöglicht somit, wesentliche
             wie vor floriere und nur ihre Form gewech-         Aspekte moderner Gesellschaften genauer zu
             selt habe, eben „individueller“ und dadurch       analysieren.
             auch „unsichtbar“ (Luckmann 1991) gewor-
             den sei. Vieles deutet zudem darauf hin,          Bei der Länderauswahl haben wir den Schwer-
             dass Deutschland und Europa in religiöser         punkt auf die Vergleichbarkeit der unter-
             Hinsicht einen Weg beschreiten, der nicht         suchten Staaten gelegt. So können wir in
             typisch für andere Teile der Welt ist.            vertiefenden Analysen erfolgreiche Strategien
                                                               für den Umgang mit gesellschaftspolitischen
             Vor diesem Hintergrund initiierte die Ber-        Herausforderungen herausarbeiten. Die
             telsmann Stiftung vor einigen Jahren ein          wesentliche Vergleichsgruppe bilden daher
             neues Messinstrument für die Ausprägung           Deutschland, Großbritannien, Schweden, die
             von Religiosität, den Religionsmonitor. Dabei     Schweiz, Frankreich, Spanien, Kanada und
             wurde ein substanzieller Religionsbegriff         die USA. Darüber hinaus haben wir Daten in
             zugrunde gelegt, der sowohl für alle Religio-     Ländern erhoben, die aus deutscher Perspek-
             nen anwendbar ist als auch individualisierte      tive besonders relevant (Türkei, Israel) bzw.
             Formen der Religiosität erfasst. Der Religions-   aus globaler Perspektive besonders interes-
             monitor wurde 2007 in 21 Staaten repräsen-        sant sind (Brasilien, Indien und Südkorea).

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Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Die Ergebnisse wurden zunächst überblicks-       Auswertung und Analyse der Daten des
artig ausgewertet, in der vorliegenden Studie    Religionsmonitors 2013. Darüber hinaus gilt
für Deutschland und in einer parallel erschei-   unser besonderer Dank Stefan Huber, der
nenden Untersuchung für den internationa-        wesentlich für die Entwicklung des ersten
len Vergleich. In weiteren Veröffentlichungen    Religionsmonitors verantwortlich war und
werden wir einzelnen Fragestellungen für         den Prozess der Weiterentwicklung bera-
Deutschland jeweils vertiefend nachgehen.        tend begleitete. Außerdem gilt unser Dank
Zugleich werden zu ausgewählten Ländern          Gert Pickel, Carsten Gennerich, Richard
auch Länderberichte erstellt.                    Traunmüller und Constantin Klein, die den
                                                 Entwicklungsprozess mit ihren Hinweisen
Für die Erstauswertung der Ergebnisse in         wesentlich unterstützt haben, und José
Deutschland standen folgende Fragen im           Casanova, David Voas, Jinhyung Park, Eva
Vordergrund: Wie stellen sich Kirchlichkeit,     Hamberg, Tamar Hermann, Franz Höllinger,
Religiosität und Spiritualität in der Bevöl-     Peter Beyer und Üzeyir Ok, die uns bei der
kerung heute dar? Wie steht es vor dem           Überprüfung der verschiedenen Länderfas-
Hintergrund der Veränderungen auf dem            sungen des Fragebogens zur Seite gestanden
religiösen Feld um das allgemeine Werte-         haben. Und schließlich wäre die Umsetzung
gefüge der Gesellschaft? Was bedeutet dies       nicht ohne die zuverlässige Koordination und
alles für die Einstellungen zu aktuellen         Durchführung der Befragung durch infas und
ethisch-moralischen gesellschaftspolitischen     hier insbesondere Robert Follmer und Janina
Fragen und politischen Prinzipien? Welche        Belz sowie Matthias Kappeler von ISOPUBLIC
Rolle spielen religiöse Gemeinschaften für die   möglich gewesen.
Vermittlung von Werten? Wie gehen die Men-
schen in Deutschland mit der wachsenden
religiösen Vielfalt um? Und schließlich geht
es in diesem ersten Überblick über wichtige
Ergebnisse des Religionsmonitors 2013 auch
um die Frage, inwieweit Religionen zum           Stephan Vopel
                                                 Director
Zusammenhalt der Gesellschaft beizutragen
                                                 Programm Lebendige Werte
vermögen.
                                                 Dr. Berthold Weig
Danken möchten wir allen voran den Autoren       Senior Project Manager
Detlef Pollack und Olaf Müller für die erste     Projekt Religionsmonitor

                                                                                                                                         9
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität

                                           1. Kirchlichkeit, Religiosität
                                              und Spiritualität

                                           Dieses Kapitel soll einen Überblick über die       sierte Form) sowie „Gebetshäufigkeit“ (private
                                           wichtigsten Formen und die Intensität der          religiöse Praxis) dargestellt wird. Tabelle 1
                                           Religiosität der Bevölkerung in Deutschland        verdeutlicht eindrucksvoll die bestehende
                                           geben. Um ein möglichst umfassendes Bild           religiöse Kluft zwischen West- und Ostdeutsch-
                                           erstellen zu können, ist es dabei notwendig,       land: Während in den alten Bundesländern der
                                           neben der institutionalisierten, d.h. an die       Anteil der Befragten, die angeben, mindestens
                                           Zugehörigkeit zu einer Kirche bzw. religiö-        einmal im Monat einen Gottesdienst, einen
                                           sen Gemeinschaft gekoppelten Religiosität          Tempel oder das Freitagsgebet zu besuchen
                                           auch „private“ Formen (die sich inner- wie         bzw. an sonstigen spirituellen Ritualen oder
                                           auch außerhalb des traditionell-kirchlichen        Handlungen teilzunehmen, bei 22 % liegt, sind
                                           Spektrums bewegen können) in den Blick             es im Osten Deutschlands mit 12 % nur etwa
                                           zu nehmen. Religiosität soll demzufolge in         halb so viele. Vergleicht man die Daten von
                                           Anlehnung an Charles Glock (1954, 1962) als        2013 mit denen des Religionsmonitors von
                                           multidimensionales Phänomen verstanden             2008 (West: 23 %; Ost: 10 %), dann stellt sich
                                           werden, wobei hier Merkmale für Praxis,            die Situation in beiden Teilen Deutschlands
                                           Glauben und Identität betrachtet werden.1          nahezu unverändert dar. Was die private
                                           (Anmerkungen siehe S. 62 ff.) Dabei wird           religiöse Praxis, das Beten, anbelangt, so ist die
                                           auch über rein beschreibende Aussagen              Zahl derer, die im Westen angeben, regelmäßig
                                           hinaus nach charakteristischen Mustern und         (d.h. täglich) zu beten, ebenfalls doppelt so
                                           Bestimmungsfaktoren gefragt, wie etwa dem          hoch wie im Osten (24 % gegenüber 12 %). Der
                                           Einfluss der religiösen Sozialisation, der          Anteil derjenigen, die nach eigenem Bekunden
                                           sozialen Lage oder auch dem konfessionel-          niemals beten, ist in Westdeutschland dabei ge-
                                           len Hintergrund der Befragten. Wo es sich          nauso groß wie der der regelmäßig Betenden;
                                           anbietet, werden dabei auch Vergleiche zu          in den neuen Bundesländern sagen zwei Drit-
                                           den Ergebnissen des Religionsmonitors 2008         tel der Befragten, dass sie niemals beten. Auch
                                           gezogen.                                           hier haben sich die Zahlen im Vergleich zur
                                                                                              Befragung von 2008 praktisch nicht verändert.

                                           Religiöse Praxis
                                                                                              Religiöse Identität
                                           Beginnen wir mit der religiösen Praxis, die
                                           anhand der Merkmale „Gottesdienst-/Tempel-/        Mit Blick auf den Glauben bzw. die religiöse
                                           Freitagsgebetsbesuch/Besuch spiritueller Ritu-     Identität sind die West-Ost-Differenzen eben-
                                           ale oder religiöser Handlungen“ (institutionali-   falls gravierend (Tabelle 2). Glaubt im Westen

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Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Tabelle 1        Religiöse Praxis (Angaben in %)
                                                                                                                                                                 INFO
                          Besuch Gottesdienst/Tempel/
                        Freitagsgebet/spirituelle Rituale/                                                          Beten                                        Formen der Religiosität
                              religiöse Handlungen                                                                                                               Die starke Trennung zwischen
                              monatlich oder öfter                                         mind. täglich                                 nie                     West und Ost lässt sich so-
                          West                       Ost                                 West          Ost                    West                Ost            wohl in der institutionalisier-
   2008                     23                       10                                   29           11                      24                 67             ten als auch in der privaten
   2013                     22                       12                                   24           12                      25                 66             religiösen Praxis beobachten:
                                                                                                                                                                 Etwa doppelt so viele West-
Besuch Gottesdienst/Tempel/Freitagsgebet/spirituelle Rituale/religiöse Handlungen: 6er-Skala (mehr als einmal in der Woche – einmal in der Woche – ein-
bis dreimal im Monat – mehrmals pro Jahr – seltener – nie); Anteil derjenigen, die mindestens einmal im Monat an einer der Formen teilnehmen; Beten: 8er-Skala
                                                                                                                                                                 wie Ostdeutsche gehen re-
(mehrmals am Tag – einmal am Tag – mehr als einmal in der Woche – einmal in der Woche – ein- bis dreimal im Monat – mehrmals pro Jahr – seltener – nie);         gelmäßig in den Gottesdienst
Anteil derjenigen, die täglich bzw. nie beten
                                                                                                                                                                 und beten täglich. Einig sind
                                                                                                                                                                 sich die Menschen in West-
                                                                                                                                                                 und Ostdeutschland jedoch
                                                                                                                                                                 in der Ablehnung religiöser
                                                                                                                                                                 Mischformen. Fremde Tradi-
                                                                                                                                                                 tionen integrieren sie wenig
                                                                                                                                                                 in die eigene Glaubenspraxis,
etwa jeder Zweite „ziemlich“ bzw. „sehr“ dar-                                      Stellt der Anteil der „ziemlich“ bzw. „sehr“ an                               obgleich sie sich anderen
an, dass Gott, Gottheiten oder etwas Gottähn-                                      Gott, Götter oder etwas Göttliches Glauben-                                   Religionen gegenüber aufge-
liches existiert, tut dies im Osten nur knapp                                      den in den alten Bundesländern noch eine                                      schlossen zeigen.
jeder Vierte. Während der Anteil der eher                                          knappe Mehrheit dar, verändert sich das Bild
Gläubigen im Westen doppelt so hoch ist wie                                        bei der Frage nach der religiösen Selbstein-
der der eher nicht Gläubigen (d.h. derjeni-                                        schätzung deutlich: So sagt nur jeder Fünfte
gen, die „wenig“ oder „gar nicht“ glauben),                                        von sich selbst, dass er „ziemlich“ bzw. „sehr“
stellen Letztere im Osten mit knapp 70 %                                           religiös ist; die Zahl derjenigen dagegen, die
die übergroße Mehrheit.2 Der Vergleich mit                                         sich als „wenig“ bzw. „gar nicht“ religiös
den Daten von 2008 ergibt für den Westen                                           einschätzen, ist mit 35 % fast doppelt so hoch.
erneut das Bild einer relativen Stabilität. In                                     Im Osten verschiebt sich das Verhältnis noch
Bezug auf die neuen Bundesländer lassen die                                        deutlicher zugunsten der „wenig“ bzw. „gar
Daten des Religionsmonitors vermuten, dass                                         nicht“ Religiösen (12 % zu 72 %). Ähnlich wie
es bezüglich des Glaubens in den letzten                                           beim Glauben an Gott weisen die Daten des
fünf Jahren einen Aufschwung gegeben hat.                                          Religionsmonitors von 2008 zu 2013 hier
Angesichts der sich bisher abzeichnenden                                           allerdings auf eine Zunahme bei den Reli-
Entwicklung ist dies einigermaßen über-                                            giösen und eine Abnahme bei den wenig
raschend.3                                                                         bzw. nicht Religiösen hin.

                                                                                                                                                                                               11
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität

 INFO                                      Alternative Religiosität                                                                solche Tendenz erkennen? Sieht man sich die
                                                                                                                                   Zustimmung zur Aussage „Ich greife für mich
 Religion im Alltag der                    Wie steht es um den Bereich der „neuen“ bzw.                                            selbst auf Lehren verschiedener religiöser
 Menschen                                  „alternativen“ Religiosität, der nach Meinung                                           Traditionen zurück“ an (Tabelle 2), dann muss
 Religiöse Aspekte spielen                 mancher Beobachter in letzter Zeit stark im                                             doch bezweifelt werden, dass Religiosität
 für viele Menschen nur eine               Aufschwung begriffen ist? Die Daten deuten                                              heute vor allem synkretistisch, d. h. als Misch-
 Nebenrolle. Familie, Freunde,
                                           darauf hin, dass von einer „spirituellen Re-                                            form, daherkommt: Im Westen Deutschlands
 Freizeit sind die Bereiche,
                                           volution“ (Heelas/Woodhead 2005) nicht die                                              stimmt dieser Aussage unter den Religiösen
 denen sie mehr Bedeutung
 für ihr Leben beimessen. In               Rede sein kann: Im Vergleich mit den Werten                                             (d. h. denjenigen, die sich mindestens als
 dieser Frage tritt ein Gene-              zur Religiosität schätzen sich noch weniger                                             „wenig religiös“ bezeichnen) weniger als jeder
 rationenunterschied zutage,               Befragte als „ziemlich“ oder „sehr“ spirituell                                          Dritte (29 %) zu, im Osten tut dies nur etwa
 denn den über 60-Jährigen                 ein, nämlich 13 % (2008: 12 %) im Westen und                                            jeder Sechste (16 %). Die große Mehrheit der
 ist die Religion wichtiger als
                                           gerade einmal 6 % (2008: 4 %) im Osten. Dage-                                           Religiösen (66 % im Westen und 77 % im Os-
 den Jüngeren. Die Ergebnisse
                                           gen halten sich 59 % (2008: 62 %) im Westen                                             ten) lehnt diese Aussage ab; bezogen auf die
 des Religionsmonitors sowie
 vergleichbarer internatio-                und 77 % (2008: 81 %) im Osten für „wenig“                                              Gesamtbevölkerung sind es nur 26 % (West)
 naler Studien legen nahe,                 bzw. „gar nicht“ spirituell.                                                            bzw. 13 % (Ost), die man als religiöse Synkre-
 dass es einen schleichenden                                                                                                       tisten bezeichnen könnte.
 Bedeutungsverlust des Religi-
 ösen von der älteren zu den
                                           Trend zur Patchwork-Religiosität                                                        Freilich bedeutet der Verzicht auf eine „Patch-
 jüngeren Generationen gibt.
                                                                                                                                   work-Religiosität“ nicht, dass die Mehrheit der
 Hierbei spielt die religiöse
 Sozialisation eine große Rolle.           Im Zusammenhang mit der Art der Religiosi-                                              Konfessionsangehörigen die eigene Religion
 Fehlende religiöse Erfah-                 tät, der die Menschen heute zuneigen, wird                                              als die einzig Wahre begreift. Davon, „dass
 rungen und nicht mehr vor-                oft behauptet, dass sich viele nicht mehr strikt                                        in religiösen Fragen vor allem meine eigene
 handenes religiöses Wissen                an kirchliche bzw. durch die entsprechenden                                             Religion Recht hat und andere Religionen
 führen demnach dazu, dass
                                           religiösen Autoritäten vertretene Vorgaben                                              eher Unrecht haben“, ist gleichfalls nur eine
 Menschen ein Leben ohne
                                           halten, sondern sich ihre Religion entspre-                                             Minderheit (15 % im Westen und 23 %
 Religion als ganz selbstver-
 ständlich erscheint.                      chend ihrer persönlichen Vorlieben und                                                  im Osten) überzeugt; jeweils deutlich über
                                           Bedürfnisse „zusammenbasteln“. Dies habe                                                70 % lehnen eine solche Position eher ab.
                                           zur allmählichen Ablösung in sich geschlosse-                                           Alles in allem scheint es also so, als ob die
                                           ner Glaubenssysteme durch eine „Patchwork-                                              Menschen heutzutage anderen Religionen
                                           Religiosität“ geführt (Luckmann 1991; Barz                                              gegenüber durchaus Respekt und eine gewis-
                                           2004; Identity Foundation 2006). Lassen die                                             se Aufgeschlossenheit entgegenbringen (vgl.
                                           Daten des Religionsmonitors ebenfalls eine                                              dazu auch das Kapitel zur religiösen Vielfalt).

                                           Tabelle 2         Religiöser Glaube und religiöse Identität (Angaben in %)

                                                                                             Gottes-                                  religiöse                                  spirituelle
                                                                                             glaube                              Selbsteinschätzung                          Selbsteinschätzung
                                                                                    West                   Ost                   West           Ost                          West            Ost
                                                        ziemlich/                     52                   12                      18                    6                     12                     4
                                                        sehr
                                            2008
                                                        wenig/                        25                   73                      42                   78                     62                    81
                                                        gar nicht
                                                        ziemlich/                     54                   23                      21                   12                     13                     6
                                                        sehr
                                            2013
                                                        wenig/                        27                   68                      35                   72                     59                    77
                                                        gar nicht

                                           Gottesglaube: „Wie stark glauben Sie daran, dass Gott [Gottheiten] oder etwas Göttliches existiert?“; religiöse Selbsteinschätzung: „Als wie religiös würden Sie sich
                                           selbst bezeichnen?“; spirituelle Selbsteinschätzung: „Als wie spirituell würden Sie sich selbst bezeichnen?“; 5er-Skalen (gar nicht – wenig – mittel – ziemlich – sehr)

12
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Tabelle 3         Religiöse Grundpositionen: Synkretismus und Dogmatismus (Angaben in %)

                                                            Synkretismus*                                                 Dogmatismus**

                                                    West                            Ost                            West                             Ost
 stimme eher/voll
                                                  29 (26)                        16 (13)                             15                             23
 und ganz zu
 stimme eher nicht/
                                                  66 (70)                        77 (82)                             79                             74
 gar nicht zu

Synkretismus: „Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück.“; * nur diejenigen, die sich auf der Religiositätsskala als mindes-
tens „wenig“ religiös einschätzen (in Klammern: Gesamtbevölkerung); Dogmatismus: „Ich bin davon überzeugt, dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene
Religion recht hat und andere Religionen eher unrecht haben.“; ** nur Konfessionsangehörige; 4er-Skalen (stimme gar nicht zu – stimme eher nicht zu – stimme
eher zu – stimme voll und ganz zu)

In ihrer eigenen religiösen Praxis allerdings                                          gemeinhin in solchen Ranglisten am Ende
bewegen sie sich dann doch mehrheitlich im                                             platziert, wird von vielen als wichtiger ein-
Rahmen des Altvertrauten und lassen sich                                               geschätzt (etwa zwei Drittel). Im Westen sind
nur bedingt von „außen“ inspirieren.                                                   es 54 %, die Religion für „sehr“ oder „eher
                                                                                       wichtig“ halten, im Osten 27 %. Noch weniger
                                                                                       Menschen schätzen den Bereich der Spiri-
Stellenwert von Religion im Alltag                                                     tualität als „eher“ bzw. „sehr wichtig“ ein
                                                                                       (32 % im Westen, 23 % im Osten). Interessant
Die Daten zur religiösen Praxis, zum Glauben,                                          sind in diesem Zusammenhang die Diffe-
zur Identität sowie zum Synkretismus bzw.                                              renzen zwischen einzelnen Altersgruppen:
Dogmatismus vermitteln ein erstes Bild über                                            Während es in Bezug auf die Bereiche, die in
die Verbreitung und Art der Religiosität, wie                                          der Rangliste oben angesiedelt sind, kaum
sie die Menschen in Deutschland pflegen. Sie                                            Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren
sagen aber noch wenig darüber aus, welchen                                             gibt,5 ähnelt das Muster bei der Religion dem
Stellenwert die Menschen der Religion im                                               bei der Politik: Die Altersgruppe der 16- bis
alltäglichen Leben beimessen. Genau genom-                                             30-Jährigen schätzt die Religion für sich
men ist es aber die Verankerung religiöser                                             selbst als weniger wichtig ein (West: 42 %;
Überzeugungen in der Persönlichkeit, die erst                                          Ost: 21 %) als die Gruppe der 31- bis 60-Jäh-
genauere Einsichten hinsichtlich der tatsäch-                                          rigen (48 %; 26 %), und diese wiederum hält
lichen Bedeutung von Religion für das Denken                                           die Religion für weniger wichtig als die über
und Handeln der Menschen ermöglicht (vgl.                                              60-Jährigen dies tun (70 % gegenüber 32 %).
Bruce 2002: 3; Pollack 2009: 78f.). Fragt man
nun nach der Bedeutung, die die Menschen                                               Dahinter kann sich ein „bloßer“ Lebenszy-
verschiedenen Bereichen ihres Lebens                                                   kluseffekt verbergen (in diesem Fall wäre
beimessen, dann zeigt sich, dass religiöse                                             zu erwarten, dass für die zum Zeitpunkt der
Aspekte von vielen eher als nachrangig                                                 Befragung Jüngeren im höheren Alter Religi-
eingestuft werden (Abbildung 1). Unter allen                                           on genauso wichtig wird wie für die Älteren
im Religionsmonitor abgefragten Lebensbe-                                              heute); möglicherweise spiegelt sich hier
reichen werden Religion und Spiritualität mit                                          aber eher ein sogenannter Kohorteneffekt
Abstand als die unwichtigsten eingeschätzt.                                            wider, d.h. ein Wandel in der religiösen Ori-
Das war schon 2008 der Fall und hat sich                                               entierung unter den jüngeren Generationen.
2013 nicht geändert.4 Religion wird als sehr                                           Dies kann anhand dieser Momentaufnahme
viel weniger wichtig angesehen als Familie,                                            allein nicht entschieden werden. Die Ergeb-
Freunde, Freizeit (über 90 % halten diese Be-                                          nisse anderer, auch international verglei-
reiche für „eher wichtig“ oder „sehr wichtig“)                                         chender Untersuchungen legen jedoch nahe,
und Arbeit/Beruf (80 %); selbst die Politik,                                           dass die zuletzt genannte Interpretation

                                                                                                                                                                                                 13
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität

                                          Abbildung 1             Wichtigkeit verschiedener Lebensbereiche nach Altersgruppen (Angaben in %)
                                                                              West                                                                                 Ost
                                               gesamt              16–30               31–60                > 61                  gesamt               16–30              31–60                > 61

                          Familie                  99                 99                  99                 98                       96                  99                 99                  91

                          Freunde                  97                 99                  98                 94                       97                 100                 99                  93

                          Freizeit                 95                 96                  97                 91                       94                  96                 96                  91

                          Arbeit/Beruf             87                 92                  97                 69                       81                  92                 98                  54

                          Politik                  66                 48                  68                 74                       67                  56                 60                  67

                          Religion                 54                 42                  48                 70                       27                  21                 26                  32

                          Spiritualität            32                 31                  31                 33                       23                  25                 27                  17

                                           4er-Skalen (sehr wichtig – eher wichtig – eher nicht wichtig – überhaupt nicht wichtig); Anteil derjenigen, die den entsprechenden Bereich „sehr wichtig“ bzw.
                                           „eher wichtig“ finden

                                           wohl eher zutrifft (vgl. Sasaki/Suzuki 1987;                                         Alternative Spiritualität
                                           Chaves 1989; Hamberg 1991; Norris/Ingle-
                                           hart 2004), sodass die vorgefundenen Muster                                          Für den Bereich der Spiritualität trifft das
                                           in West und Ost durchaus als Ausdruck                                                Letztgenannte jedoch nicht zu: Im Westen
                                           eines allmählichen Bedeutungsverlustes                                               lassen sich hier keine großen Differenzen
                                           des Religiösen von Generation zu Genera-                                             zwischen den betrachteten Altersgruppen
                                           tion interpretiert werden können. Dass die                                           feststellen; im Osten scheint sich dagegen die
                                           Altersgruppendifferenzen in Ostdeutschland                                           landläufige Annahme zu bestätigen, dass es
                                           dabei weniger deutlich ausfallen als in den                                          eher die jüngeren und mittleren Altersgrup-
                                           alten Bundesländern, verweist dabei nur auf                                          pen sind, die sich der „alternativen“ Spiritu-
                                           die Tatsache, dass dieser Prozess hier bereits                                       alität zuwenden. Angesichts der insgesamt
                                           weiter fortgeschritten ist und neben den                                             geringen Zustimmung und der Tatsache,
                                           jüngeren auch schon die älteren Kohorten in                                          dass die Begeisterung dafür unter der jüngs-
                                           stärkerem Maße erfasst hat.                                                          ten Altersgruppe der 16- bis 30-Jährigen im
                                                                                                                                Osten (25 %) sogar schon wieder etwas ge-
                                                                                                                                ringer ausfällt als bei den 31- bis 60-Jährigen
                                                                                                                                (27 %), ist jedoch auch hier abzuwarten, ob
                                                                                                                                sich eine „neue“ Spiritualität als zukünftiger
                                                                                                                                Trend durchsetzen wird.6

14
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Religiöse Sozialisation                                                                 ren Hinweis darauf, dass sie deren Ausmaß
                                                                                        an Religiosität auch im Alter wahrscheinlich
Zum Schluss dieses Kapitels seien noch eini-                                            nicht erreichen werden. Abbildung 2, welche
ge wichtige Wirkmechanismen und Muster                                                  die dezidiert zustimmenden Antworten auf
aufgezeigt, die zum besseren Verständnis                                                die Frage „Sind Sie religiös erzogen worden?“
der derzeitigen Situation auf dem Feld des                                              enthält, verdeutlicht den Abbruch bei der
Religiösen in Deutschland beitragen. Neben                                              Weitergabe religiöser Traditionen von Gene-
dem West-Ost-Gefälle, das sich im Grunde bei                                            ration zu Generation eindrucksvoll: Dass der
allen Merkmalen für Religiosität in deutli-                                             Anteil der religiös Erzogenen in Ostdeutsch-
cher Weise gezeigt hat, haben die Ausführun-                                            land von Beginn an über alle Altersgruppen
gen zur Variablen „Wichtigkeit von Religion“                                            hinweg deutlich niedriger ausfällt als in
zum Teil erhebliche Differenzen zwischen                                                Westdeutschland, ist sicher zu einem nicht
verschiedenen Altersgruppen zutage ge-                                                  geringen Teil der Tatsache geschuldet, dass
fördert. Dass diese nicht mit dem Hinweis                                               die DDR-Führung jeglichen religiösen Akti-
darauf erklärt werden können, dass die                                                  vitäten über die gesamte Zeit der Existenz
Menschen im Alter „naturgemäß“ religiöser                                               des Staates hinweg mit mehr oder weniger
werden, dass die Religiosität also vor allem                                            unverhohlener Feindschaft begegnete.
davon abhängt, in welchem Lebensabschnitt                                               Zudem gelang es ihr durch ihre atheistische
sich jemand gerade befindet, wurde oben                                                  Propaganda, aber mehr noch durch eine Viel-
schon angesprochen. Im Folgenden werden                                                 zahl an Benachteiligungen und Schikanen im
die Befunde zu den teilweise dramatischen                                               Alltag recht bald, nicht nur die Religion weit-
Veränderungen der religiösen Sozialisation                                              gehend aus der Öffentlichkeit zu verbannen,
vorgestellt.                                                                            sondern auch die Weitergabe des Religiösen
                                                                                        im Rahmen der Familie als sozialer Grup-
Sie liefern eine zentrale Antwort auf die                                               pe zu schwächen (vgl. Pollack 1994).7 Im
Frage, warum die jüngeren Altersgruppen                                                 Westen, wo sich die Religion frei entfalten
heutzutage so viel weniger religiös sind als                                            konnte, verlief der Abbruch zwischen den
ihre Vorgänger, und gleichzeitig einen weite-                                           Generationen zunächst etwas langsamer,

Abbildung 2              Religiöse Sozialisation nach Altersgruppen (Angaben in %)

                                                                                                                                                             80 %

                                                                                                                                                             70 %
                   West
                                                                                                                                                             60 %

                                           Ost                                                                                                               50 %

                                                                                                                                                             40 %

                                                                                                                                                             30 %

                                                                                                                                                             20 %

                                                                                                                                                             10 %

                                                                  > 66           56–65            46–55            36–45           26–35            16–25

Frage: „Sind Sie religiös erzogen worden?“; 3er-Skala (ja – nein – teils/teils); Anteil derjenigen, die mit „ja“ antworten, in der jeweiligen Altersgruppe

                                                                                                                                                                                                    15
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität

                                           aber dennoch ebenso stetig. Während sich im                            Hallahmi/Argyle 1997: 110f.). Die Bedeutung
                                           Osten der Anteil der im Glauben Erzogenen                              der religiösen Erziehung in der Kindheit für
                                           seit einiger Zeit offenbar auf einem niedri-                           die Religiosität im Erwachsenenalter zeigt
                                           gen Niveau von etwa 10 % eingependelt hat,                             sich auch in Abbildung 3: Diejenigen, die
                                           scheint der Prozess im Westen noch nicht                               angeben, religiös erzogen worden zu sein,
                                           abgeschlossen (wobei nicht auszuschließen                              weisen im Vergleich zu denen ohne jegliche
                                           ist, dass sich der westdeutsche dem ostdeut-                           religiöse Erziehung in Bezug auf alle drei be-
                                           schen Wert in den folgenden Jahren noch                                trachteten Merkmale (Gottesdienst-/Tempel-/
                                           weiter annähern wird).                                                 Freitagsgebetsbesuch/Besuch spiritueller
                                                                                                                  Rituale/religiöser Handlungen, Gottesglaube,
                                           Die Tatsache, dass die Tendenz in den alten                            Wichtigkeit von Religion) deutlich höhere
                                           Bundesländern letztlich die gleiche ist wie                            Werte auf.
                                           in Ostdeutschland, lässt schon erahnen, dass
                                           es sich hier um einen Trend handelt, der                               Fehlende religiöse Erfahrungen und nicht
                                           allgemeiner Natur ist und sich auch unab-                              mehr vorhandenes religiöses Wissen führen
                                           hängig von bestimmten (religions-)politi-                              demnach ganz offensichtlich dazu, dass
                                           schen Begleitumständen Bahn bricht. Diese                              vielen Menschen ein Leben ohne Religion
                                           Vermutung wird durch eine Vielzahl anderer                             als ganz selbstverständlich erscheint.8 Dass
                                           religionssoziologischer Untersuchungen be-                             es vor diesem Hintergrund in nächster Zeit
                                           stätigt: Der Aspekt der Sozialisation hat sich                         zu einer Renaissance der Religion in ihrer
                                           praktisch überall als eine der bedeutendsten                           traditionellen Form kommen wird, erscheint
                                           Grundlagen für Voraussagen im Hinblick                                 somit eher unwahrscheinlich.
                                           auf die Erklärung individueller Kirchlichkeit
                                           und traditioneller Religiosität erwiesen (vgl.
                                           Sasaki/Suzuki 1987; Kelley/De Graaf 1997;                              Religiosität im säkularen Umfeld
                                           Stolz 2004; Voas/Crockett 2005; Müller 2013:
                                           216ff.). Der religiösen Sozialisation innerhalb                        Bis hierher wurde bei der Darstellung nach
                                           der Familie wurde dabei eine besonders                                 der eingangs erwähnten geografischen
                                           entscheidende Rolle bescheinigt (vgl. Beit-                            Trennlinie „West – Ost“ differenziert –

                                           Abbildung 3            Religiöse Sozialisation und Religiosität (Angaben in %)

                                                                                              66
                                                                                   West
                                                                                              20
                                           Wichtigkeit von Religion
                                                                                              58
                                                                                   Ost
                                                                                              14

                                                                                              66
                                                                                   West
                                                                                              29
                                           Gottesglaube
                                                                                              50
                                                                                   Ost
                                                                                              11

                                                                                              33
                                                                                   West
                                                                                               8
                                           Kirchgang etc. mtl.
                                                                                              27
                                                                                   Ost
                                                                                               9

                                                   religiös erzogen             nicht religiös erzogen

                                           Variablen und Ausprägungen: siehe Tabellen 1 und 2 sowie Abbildung 2

16
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

einer Trennlinie, die, wie bereits weiter                                   Im Vergleich zur „Religion light“, wie sie in                  INFO
oben ausgeführt, zu einem großen Teil die                                   der „einheimischen“ westdeutschen Bevöl-
unterschiedliche politische Vergangenheit                                   kerung zunehmend praktiziert werde (vom                        Religiöse Praxis und Identität
der beiden deutschen Staaten seit dem Ende                                  verbreiteten „Unglauben“ der Ostdeutschen                      Die Katholiken sind hier-
des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der                                     ganz zu schweigen), erscheine heute spe-                       zulande die fleißigsten
1980er-Jahre bzw. die jeweilige Religionspo-                                ziell die islamisch geprägte Religion vieler                   Gottesdienstbesucher: Ein
                                                                                                                                           Drittel von ihnen gibt an,
litik der während dieser Zeit Regierenden                                   Migranten (bzw. ihrer Nachkommen) immer
                                                                                                                                           mindestens einmal monatlich
widerspiegelt. Neben diesem Aspekt wird                                     mehr als wirklich „echte“ bzw. „harte“
                                                                                                                                           in die Kirche zu gehen. Dicht
zur Erklärung des heute vorzufindenden ge-                                   Religion, so das Fazit der Shell-Jugendstudie                  dahinter liegen die Muslime
ringen Niveaus an Religiosität in den neuen                                 von 2006 (vgl. Gensicke 2006: 221). Man                        mit 30 % regelmäßigen
Bundesländern aber auch ein anderer Faktor,                                 kann annehmen, dass diese Wahrnehmung                          Moscheebesuchern. Demge-
nämlich das „protestantische Erbe“ der DDR,                                 von einem nicht unbeträchtlichen Teil der                      genüber geht mit 18 % nicht
                                                                                                                                           einmal jeder fünfte Ange-
ins Spiel gebracht (vgl. Bruce 2000: 44). Dass                              „alteingesessenen“ Bevölkerung geteilt wird
                                                                                                                                           hörige der evangelischen
der Protestantismus aufgrund seines „ratio-                                 und möglicherweise zum „Unbehagen“ eines
                                                                                                                                           Konfession regelmäßig in den
naleren“ Charakters gegenüber Säkularisie-                                  Teils der Mehrheitsgesellschaft gegenüber                      Gottesdienst. Die stärkste
rungstendenzen generell „anfälliger“ zu sein                                dem Islam bzw. den muslimischen Mitbür-                        religiöse Identität besitzen
scheint als etwa der Katholizismus, wurde                                   gern beiträgt (vgl. das Kapitel zur religiösen                 dagegen die Muslime: Fast
schon von Max Weber herausgestellt (vgl.                                    Vielfalt).                                                     40 % von ihnen stufen sich
                                                                                                                                           als sehr religiös ein und fast
Weber 1980 (1921/22) und hat sich in Unter-                                 Verhält es sich nun aber tatsächlich so?
                                                                                                                                           90 % halten die Religion für
suchungen seither auch wiederholt bestätigt                                 Lassen sich im Sinne des eben Gesagten
                                                                                                                                           „eher“ oder „sehr“ wichtig.
(vgl. Bruce 2000: 7f.; Norris/Inglehart 2004:                               wirklich charakteristische interkonfessio-                     Bei den Katholiken sind es
20 f., 220f.; Pollack 2009: 27; Pickel 2010;                                nelle Differenzen ausmachen, kann man im                       65 % und bei den Evange-
Müller 2013).                                                               Hinblick auf die Intensität der Religiosität                   lischen halten noch 58 % die
                                                                            tatsächlich von einer Abstufung „muslimisch –                  Religion für wichtig.

Wenn heutzutage allgemein die Rede auf die                                  katholisch – evangelisch – konfessionslos“
Möglichkeit kommt, die eigene Religiosität in                               sprechen?9 Betrachtet man das Gesamt-
einer immer säkularer verfassten Umwelt zu                                  bild, dann scheint Abbildung 4 ein solches
bewahren, dann wird vor allem auch auf den                                  Szenario durchaus nahezulegen: Zum einen
Erfolg des islamischen Glaubens verwiesen.                                  weisen die katholischen Befragten bei den

Abbildung 4            Konfessionsspezifische Religiosität (Angaben in %)

                              33
  Kirchgang/Freitags-
                              18
     gebet/spirituelles
                              30
Ritual/relig. Handlung
                               4

                              26                                                                                   26
             religiöse        21                                                                                   24
                                                                                                    Synkretismus
  Selbsteinschätzung          39                                                                                   42
                               4                                                                                    3

                              64                                                                                   12
           Wichtigkeit        58                                                                    Dogmatismus    11
          von Religion        89                                                                                   39
                              10

    katholisch                     evangelisch                 muslimisch          konfessionslos

Variablen und Ausprägungen: siehe Tabellen 1 bis 3 und Abbildung 1

                                                                                                                                                                          17
1. Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität

                                           Merkmalen zur religiösen Praxis und zur           Konfessionen; der Anteil der Dogmatiker,
                                           Identität deutlich höhere Werte auf als           die davon überzeugt sind, „dass in religiösen
                                           diejenigen, die einer evangelischen Kirche        Fragen vor allem meine eigene Religion recht
                                           angehören. Die Kirchgangshäufigkeit ist            hat und andere Religionen eher unrecht
                                           mit 33 % regelmäßigen (d. h. mindestens           haben“, ist mit 39 % überdies fast viermal so
                                           monatlichen) Kirchgängern fast doppelt so         hoch. Angesichts der Tatsache, dass fast die
                                           hoch wie bei den Evangelischen (18 %); der        Hälfte der befragten Muslime der eigenen
                                           Anteil derjenigen, die sich als „ziemlich“        Religion das Wahrheitsmonopol einräumt,
                                           bzw. „sehr“ religiös einschätzen, beträgt bei     könnten sich nun diejenigen bestätigt sehen,
                                           den Katholiken ein Viertel, bei den Evange-       die dem Islam in einer zunehmend multireli-
                                           lischen ein Fünftel.                              giös oder gar säkular verfassten Gesellschaft
                                                                                             ein erhebliches Konfliktpotenzial attestieren.
                                           Der Aussage, dass Religion einen wichtigen        Allerdings muss in diesem Zusammenhang
                                           Teil ihres Lebens ausmacht, stimmen von den       auch die andere Seite gesehen werden, näm-
                                           Katholiken 64 % eher zu („eher wichtig“ bzw.      lich dass ein ebenso großer Prozentsatz an
                                           „sehr wichtig“), unter den Evangelischen sind     Muslimen angibt, sich bei anderen religiösen
                                           es 58 %. Die Befragten, die sich einer islami-    Traditionen zu bedienen. Wie weiterführen-
                                           schen Glaubensrichtung zugehörig fühlen,          de Analysen gezeigt haben, liegt der Anteil
                                           bekunden zu 30 %, mindestens einmal im            „reiner“ Dogmatiker (d. h. derjenigen, die nur
                                           Monat das Freitagsgebet zu besuchen, und          der Aussage zum Dogmatismus, aber nicht
                                           erreichen damit fast den Wert der katholischen    der zum Synkretismus zustimmen) unter
                                           Kirchgänger. Bei der religiösen Selbsteinschät-   den Muslimen „nur“ bei knapp 20 % (bei den
                                           zung und bei der Frage nach der Wichtigkeit       Katholiken und Evangelischen allerdings
                                           des Lebensbereichs Religion übertreffen die       nur bei ca. 8 %). Gleichzeitig scheint ein etwa
                                           Muslime die Katholiken jedoch deutlich: Fast      genauso großer Teil keinen Widerspruch darin
                                           40 % von ihnen stufen sich als „sehr“ bzw.        zu sehen, den selbst praktizierten Synkretis-
                                           „ziemlich“ religiös ein und fast 90 % halten      mus mit einer grundsätzlich dogmatischen
                                           Religion für „eher“ bzw. „sehr“ wichtig. Die      Haltung zu verbinden.
                                           konfessionslosen Befragten erreichen bei allen
                                           drei Merkmalen nur sehr geringe Werte, was
                                           darauf hinweist, wie stark die Religiosität in    Sozialstruktur und Religiosität
                                           Deutschland zumindest in ihrer traditionellen
                                           Form immer noch an die Institution Kirche         Die bisherigen Ausführungen sollten gezeigt
                                           gebunden ist.                                     haben, dass sich das Ausmaß und die Art der
                                                                                             Religiosität entlang der beiden Hauptdifferen-
                                                                                             zierungslinien „West – Ost“ sowie „katholisch –
                                           Synkretismus und Dogmatismus                      evangelisch – muslimisch – konfessionslos“
                                                                                             durchaus deutlich unterscheiden. Dennoch
                                           Bemerkenswert sind die Ergebnisse in              wäre es interessant zu erfahren, inwieweit
                                           Bezug auf „Synkretismus“ und „Dogmatis-           sich noch andere Bevölkerungsgruppen im
                                           mus“: Während sich hier Katholiken und            Hinblick auf ihre Kirchlichkeit, Religiosität
                                           Evangelischen sehr ähneln (jeweils ca. ein        und Spiritualität voneinander unterscheiden.
                                           Viertel Synkretisten und etwas mehr als 10        Ist Religiosität vor allem bei den Älteren, den
                                           % Dogmatiker), ist der Anteil der Synkretis-      niedrig Gebildeten, der Landbevölkerung
                                           ten („Ich greife für mich selbst auf Lehren       sowie in sozial benachteiligten Bevölkerungs-
                                           verschiedener religiöser Traditionen zurück“)     schichten verbreitet (vgl. Norris/Inglehart
                                           bei den Muslimen mit 42 % fast doppelt so         2004; Voas 2008)? Trifft dies ebenso für die
                                           hoch wie bei den beiden großen christlichen       „neue“ Spiritualität zu oder ist diese eher

18
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

unter jüngeren, sozial bessergestellten,                   höher einstufen und mit ihrer wirtschaftlichen
gebildeten Personen anzutreffen (Botvar                    Lage eher zufrieden sind, den traditionellen
2005; Knoblauch 2009)? Oder haben sich die                 Formen der Religiosität überdurchschnittlich
Konturen des Religiösen vollständig aufgelöst,             verbunden sind.10
d.h. sind überhaupt keine soziostrukturellen
Unterschiede zwischen den Religiösen, religiös             Die Tatsache, dass Religiosität und eine hohe
Indifferenten, Areligiösen etc. mehr zu finden              Lebenszufriedenheit miteinander einhergehen,
(Voll 1993; Krüggeler 1999)? Und wer genau                 muss dagegen der „Benachteiligungsthese“
sind die Synkretisten, wer die Dogmatiker?                 nicht unbedingt widersprechen: Wenn die
Zur Beantwortung dieser Fragen wurde eine                  Annahme stimmt, dass eine Funktion der
etwas kompaktere Form der Darstellung                      Religion darin besteht, mit den Unwägbarkei-
gewählt, die über die reine Beschreibung von               ten des Lebens und bestimmten Benachteili-
Häufigkeitsverteilungen hinausgeht und Aus-                 gungen besser zurechtzukommen (vgl. Norris/
sagen über das Vorliegen konkreter Zusam-                  Inglehart 2004), dann verwundert es nicht so
menhänge (Korrelationen) erlaubt.                          sehr, dass religiöse Menschen zufriedener sind
Betrachten wir zunächst die beiden Merkmale                als nicht religiöse.
für „traditionelle“ Religiosität, den Gottes-
dienst-/Freitagsgebets-/Tempelbesuch/Besuch                Im Vergleich zur „traditionellen“ Religiosität
religiöser Rituale bzw. spiritueller Handlungen            ergibt sich bei der Spiritualität ein etwas ande-
(hier umgerechnet als durchschnittlicher Be-               res Bild: Es sind nicht die Älteren, sondern die
such pro Jahr) und die religiöse Selbsteinschät-           Jüngeren, die dieser Form der „neuen“ bzw.
zung: Es zeigt sich, dass es tatsächlich die älte-         „alternativen“ Religiosität eher zuneigen. Auch
re und auf dem Land lebende Bevölkerung ist,               hier sind die Zusammenhänge zur subjektiven
die dieser Form eher zuneigt. Dass sich Frauen             Schichteinstufung und zur Lebenszufrieden-
insgesamt ebenfalls als religiöser einschätzen             heit positiv. Und auch religiöser Synkretismus,
als Männer, bestätigt ein in der Forschung                 ein weiteres Zeichen von religiöser Indivi-
immer wieder beobachtetes Muster. Die These                dualisierung, findet sich am ehesten unter
von der höheren Verbreitung traditioneller                 jüngeren, weiblichen, hochgebildeten und
Religiosität unter benachteiligten Bevölke-                sich bezüglich ihrer sozialen Position in der
rungsschichten wird allerdings insgesamt                   Gesellschaft höher einschätzenden Befragten.
nicht bestätigt. Zwar findet sich ein negativer             Dagegen scheint religiöser Dogmatismus
Zusammenhang zum Bildungsniveau (d.h.                      weitgehend unabhängig von der individuellen
niedriger Gebildete weisen höhere Religio-                 sozialen Lage zu sein. Unzutreffend ist jedoch
sitätswerte auf), gleichzeitig ist es jedoch so,           die Behauptung, dass sich heutzutage über-
dass auch diejenigen, die sich gesellschaftlich            haupt keine soziodemografischen Konturen
                                                           des Religiösen mehr erkennen lassen.

Tabelle 4    Religiosität und Sozialstruktur (bivariate Korrelationen)

                                  Gottesdienst-     religiöse      spirituelle   Synkretismus1 Dogmatismus2
                                                                                                                    Die in der Tabelle angegebenen Werte zeigen
                                   besuch etc.       Selbst-         Selbst-                                        den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen
                                                  einschätzung   einschätzung                                       Variablen an. Die Werte liegen immer zwischen
                                                                                                                    -1 (vollständig negativer Zusammenhang) und +1
Alter (aufsteigend)                    ,10              ,15           –,09           –,11            n. s.
                                                                                                                    (vollständig positiver Zusammenhang). Negativ
Geschlecht (weiblich)                  n. s.            ,16             ,11           ,06*           n. s.          bedeutet, dass der eine Wert kleiner wird, wenn
Bildung (hoch)                         n. s.           –,14             n. s.         ,10            n. s.          der damit zusammenhängende Wert anwächst;
                                                                                                                    positiv meint, dass beide Werte gemeinsam zu-
subj. Schichteinstufung (hoch)         ,09              ,07             ,11           ,08            n. s.          bzw. abnehmen. Ein Wert von 0 würde bedeuten,
Wohngegend (Stadt)                    –,16             –,14           –,06            n. s.          n. s.          dass kein Zusammenhang zwischen den beiden
                                                                                                                    Variablen existiert. „n.s.“ steht für nicht signifikant
Lebenszufriedenheit (hoch)             ,15              ,18             ,08           n. s.          n. s.          und bedeutet, dass hier kein signifikanter Zusam-
wirtschaftliche Lage (sehr gut)        ,08              ,06             n. s.         n. s.          n. s.          menhang besteht. Alle angegebenen Werte sind
                                                                                                                    mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % bedeutsam,
                                                                                                                    d.h. nicht zufällig. Bei den mit einem Stern gekenn-
                                                                                                                    zeichneten Werten beträgt die Wahrscheinlichkeit
                                                                                                                    95 %.11

                                                                                                                                                                     19
2. Werte und Religiosität

                            2. Werte und Religiosität

                            Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit        chen Wertvorstellungen dieser Bevölkerungs-
                            der Frage nach dem Ausmaß, der Verteilung        gruppe ist jedoch recht wenig bekannt.12
                            und der Herkunft bestimmter Einstellungen        Zudem wurde bisher kaum danach gefragt,
                            und Werte, wobei auch hier ein besonderes        wie wichtig die religiösen Instanzen und
                            Augenmerk auf den Zusammenhang mit der           Autoritäten für die Vermittlung von Werten
                            Religion gelegt wird. Geht man von dem aus,      heutzutage überhaupt noch sind, und auch
                            was in den religiösen Schriften und Über-        zum Zusammenhang von Werten und „neu-
                            lieferungen bzw. durch religiöse Organisa-       eren“ Formen von Religiosität ist bisher nur
                            tionen und Eliten heute gelehrt wird, dann       unzureichend geforscht worden.
                            sollten religiöse Menschen ihrem Glauben
                            gemäß besonders sozial eingestellt sein, sich    „Der Zusammenhang zwischen
                            häufiger um andere Menschen kümmern und
                            für eine gerechte Gesellschaft eintreten. Der        Werten und Religion
                            Dienst für die Mitmenschen und die Gesell-        ist heute nicht mehr selbstverständlich“
                            schaft sollte bei Religiösen stärker über dem
                            Eigeninteresse stehen als bei nicht Religiö-     Der Zusammenhang zwischen Werten wie
                            sen. Darüber hinaus wäre zu erwarten, dass       den eingangs genannten und der Religion ist
                            Erstere sich stärker an „die Moral“ halten und   in der heutigen Zeit alles andere als selbst-
                            entsprechende Normen und Vorgaben ernster        verständlich. Zum einen verweisen Beobach-
                            nehmen.                                          ter des religiösen Feldes schon seit Langem
                                                                             darauf, dass sich die Menschen in ihren
                            Einige dieser Vermutungen konnten in der         Wertvorstellungen und Lebensentscheidun-
                            Vergangenheit in der empirischen Forschung       gen immer weniger an religiösen Autoritäten
                            teilweise durchaus bestätigt werden (vgl.        orientieren. Zum anderen haben sich, so
                            Meulemann 1998; Gensicke 2006). Aller-           eine weitere Annahme, viele Werte selbst
                            dings liegen für Deutschland bisher kaum         von ihrem religiösen Ursprung emanzipiert:
                            Studien vor, die über den Vergleich zwischen     Auf das Prinzip der Nächstenliebe oder mehr
                            den christlich und den säkular orientierten      noch das Tötungstabu werden sich heute die
                            Bevölkerungsgruppen hinausgehen. In Be-          meisten Menschen sicherlich einigen können
                            zug auf einige der oben genannten Aspekte        – die Religiösen wie die nicht Religiösen. Nur
                            herrscht hinsichtlich der muslimischen           würden diese Maximen von vielen gar nicht
                            Mitbürger eine teilweise recht dezidierte        mehr als religiös fundiert, sondern als „allge-
                            öffentliche Meinung vor; über die tatsächli-     meine“, „humanistische“ Werte betrachtet.13

20
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Ob man ein solches Szenario beklagt oder         nach dem Vertrauen der Menschen zuei-
                                                                                                         INFO
begrüßt, hängt nun freilich vom persönlichen     nander sowie nach dem Ausmaß und den
Standpunkt des Betrachters ab. Was dies für      Motivationen des ehrenamtlichen Engage-
                                                                                                         Die Emanzipation der Werte
das soziale Zusammenleben bedeutet, ist          ments in der Gesellschaft im Kapitel zum                Die Menschen orientieren
dagegen eine empirische Frage mit offenem        Sozialkapital behandelt. Im Folgenden geht              sich in ihren Wertvorstel-
Ausgang: Selbst wenn es so wäre, dass sich       es zunächst einmal darum zu klären, wie das             lungen immer weniger an
die Religion auf dem Gebiet der Wertevermitt-    Wertegerüst der Bevölkerung heute aussieht,             religiösen Autoritäten, zumal
lung auf dem Rückzug befindet, muss man           ob es tatsächlich zu einem „Werteverfall“               sich viele Werte von ihrem re-
                                                                                                         ligiösen Ursprung emanzipiert
daraus nicht zwangsläufig eine pessimis-          kommt, der in der Folge die gesellschaftliche
                                                                                                         haben. So gelten Nächstenlie-
tische Prognose ableiten. Wie bereits oben an-   Integration gefährden könnte, wer eventuell             be und die Achtung vor dem
gedeutet, ist es ja gar nicht ausgemacht, dass   davon am ehesten betroffen ist, ob die Gesell-          Leben mittlerweile als allge-
der Konsens über bestimmte Grundwerte im         schaft hinsichtlich ihres Wertegefüges eher             meine humanistische Werte.
Falle des Bedeutungsverlusts der Religion        zusammenwächst oder auseinanderdriftet                  Auch durch den fortschrei-
notwendigerweise zerbrechen muss; vielmehr       und welche konkreten Konfliktfelder sich                 tenden Bedeutungsverlust
                                                                                                         der religiösen Institutionen
wäre er allenfalls von der Akzeptanz der         hier möglicherweise ausmachen lassen.
                                                                                                         ebnen sich die Unterschiede
Religion als wertsetzende Instanz weitgehend                                                             im Wertgefüge zwischen
abgekoppelt. Durch die Entflechtung der           Beginnen wir mit der Frage nach eventuellen             religiösen und nicht religiösen
Sphären der Religion und der allgemeinen         Differenzen in Bezug auf die Haltungen zu               Bevölkerungsgruppen ein.
Wertvorstellungen sowie den Bedeutungs-          grundsätzlichen ethisch-moralischen Fragen,
verlust religiöser Autoritäten werden die        wie sie in der Öffentlichkeit in den letzten
Differenzen hinsichtlich des Wertegefüges        Jahren diskutiert wurden. Dass sich an den
religiöser wie nicht religiöser Bevölkerungs-    Debatten zum Schwangerschaftsabbruch, zur
gruppen eingeebnet. Dadurch könnte sich          Gleichstellung homosexueller Paare oder zur
das Konfliktpotenzial, das der Religion auch      Sterbehilfe nicht nur Politiker, Philosophen,
immer innewohnt, sogar verringern.               Mediziner, Juristen und andere „weltliche“
                                                 Professionen, sondern auch religiöse Autori-
                                                 täten jeglicher Couleur engagiert beteiligen,
                                                 liegt in der Natur der Sache, sind dies doch
Das Wertegerüst der Bevölkerung                  Fragen, die auch die Religion unmittelbar
                                                 angehen. Der jüngste Streit um die einge-
Die Konsequenzen in Bezug auf den „sozi-         schränkten Voraussetzungen, unter denen
alen Kitt“ und das konkrete Handeln der          die Deutsche Bischofskonferenz im Falle
Menschen werden später anhand der Fragen         einer Vergewaltigung die „Pille danach“

                                                                                                                                        21
2. Werte und Religiosität

                                 gestattet, und die durchaus kritischen Reakti-                                      Abbildung 5 zeigt den Verlauf der Fronten
                                 onen vonseiten katholischer Laienverbände                                           zum Teil recht deutlich auf: Bevor wir uns
                                 haben dabei einmal mehr deutlich gemacht,                                           den konfessionellen Differenzen zuwen-
                                 dass in Bezug auf derartige Fragen nicht                                            den, ist freilich zu konstatieren, dass die
                                 nur Meinungsverschiedenheiten zwischen                                              Zustimmungswerte insgesamt zu allen drei
                                 verschiedenen religiösen Traditionen bzw.                                           aufgeführten Vorgaben beträchtlich sind.
                                 zwischen religiösen und säkularen Gruppie-                                          Dass der ausdrückliche Wunsch eines Kran-
                                 rungen existieren, sondern dass hier auch                                           ken nach Sterbehilfe akzeptiert werden soll,
                                 konfessionsintern erhebliches Konfliktpoten-                                         meinen 88 % der Ostdeutschen und 83 % der
                                 zial vorhanden ist.                                                                 Westdeutschen, dass ein homosexuelles Paar
                                                                                                                     die Möglichkeit haben sollte zu heiraten,
                                                                                                                     befürworten im Osten 78 %, im Westen 75 %
                            „West-Ost-Unterschiede spiegeln                                                          der Befragten. Das uneingeschränkte Recht
                                        konfessionelle
                              zum Teil auch                                                                          auf Schwangerschaftsabbruch stößt auf etwas

                                Differenzen wider“                                                                   weniger Akzeptanz; hier stimmen noch
                                                                                                                     knapp 70 % der Befragten in den neuen und
                                                                                                                     54 % in den alten Bundesländern zu.

                                 Abbildung 5             Einstellungen zu ethisch-moralischen Fragen (Angaben in %)
                                 Eine Schwangerschaft abzubrechen, sollte grundsätzlich erlaubt sein.

                                                              West      54
                                                               Ost      69

                                                      katholisch        46
                                                    evangelisch         62
                                                     muslimisch         35
                                                  konfessionslos        73

                                 Ein homosexuelles Paar sollte die Möglichkeit haben zu heiraten.

                                                              West      75
                                                               Ost      78

                                                      katholisch        70
                                                    evangelisch         78
                                                     muslimisch         48
                                                  konfessionslos        87

                                 Wenn ein unheilbar Kranker es ausdrücklich wünscht, sollte er das Recht haben zu sterben.

                                                              West      83
                                                               Ost      88

                                                      katholisch        86
                                                    evangelisch         83
                                                     muslimisch         42
                                                  konfessionslos        90

                                 4er-Skalen (stimme gar nicht zu – stimme eher nicht zu – stimme eher zu – stimme voll und ganz zu); Anteil derjenigen, die „eher“ bzw. „voll und ganz“
                                 zustimmen

22
Religionsmonitor | Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland

Bewertung von zentralen ethisch-                 den die Gesetzgebung in letzter Zeit hier               INFO
moralischen Fragen                               genommen hat, dürfte es interessant sein zu
                                                 verfolgen, ob sich diese Differenzen zwi-               Bewertung ethisch-
Dass die West-Ost-Unterschiede zum Teil          schen der „Mehrheitsgesellschaft“ und der               moralischer Fragen
auch konfessionelle Differenzen wider-           muslimischen Bevölkerung in Zukunft ein-                Wichtige ethisch-moralische
spiegeln, wird klar, wenn man sich die           ebnen werden oder sich womöglich sogar zu               Fragen wie die nach dem
                                                                                                         Recht auf Sterbehilfe oder
Zustimmungsraten getrennt nach der               handfesten Spannungen auswachsen. Zum
                                                                                                         der „Homo-Ehe“ werden
Religionszugehörigkeit ansieht. Beim Recht       anderen tut sich eine Kluft, das zeigen die
                                                                                                         von den konfessionslosen
auf Sterbehilfe unterscheiden sich die Mei-      Befunde ebenfalls deutlich, zwischen der offi-           Menschen liberaler bewertet,
nungen der Katholiken (86 % Zustimmung)          ziellen Haltung der katholischen Kirche und             obwohl es hier auch hohe
und Evangelischen (83 %) noch relativ wenig      den Ansichten ihrer „einfachen“ Mitglieder              Zustimmungswerte unter den
von denen der Konfessionslosen (90 %); aber      auf, indem letztere zum Großteil nicht gewillt          Katholiken und Evangelischen
                                                                                                         gibt. Deutlich ablehnender
schon hier fällt auf, dass sich die Muslime in   sind, den oft strikten Positionen der kirch-
                                                                                                         sehen das die Muslime. Bei
ihren Haltungen deutlich von den anderen         lichen Führung zu folgen. Auch hier bleibt
                                                                                                         der Bewertung solcher und
Gruppen absetzen, indem sie insgesamt eine       abzuwarten, was das für die Kirche mittel-              anderer ethisch-moralischer
stärker ablehnende Position einnehmen            und langfristig bedeutet, d. h. wie lange die           Fragen existiert ein Gra-
(42 % Zustimmung). Ähnlich verhält es            Mitglieder den Spagat zwischen persönlichen             ben zwischen der liberal
sich bei der Frage, ob homosexuelle Paare        Überzeugungen und Loyalität gegenüber der               eingestellten christlich oder
                                                                                                         säkular geprägten einheimi-
heiraten dürfen sollten. Während hier nicht      Institution noch mitzumachen bereit sind
                                                                                                         schen Bevölkerung und den
nur die große Mehrheit der Konfessionslosen      bzw. ob oder wie die Kirchenoberen auf den
                                                                                                         Muslimen, die hier deutlich
(87 %), sondern auch der Angehörigen der         Gegenwind von unten reagieren werden.                   abweichende Vorstellungen
beiden großen christlichen Konfessionen                                                                  haben.
(70 % bei den Katholiken, 78 % bei den
Evangelischen) zustimmt, findet dies unter
den Muslimen nur knapp die Hälfte der            Akzeptanz für die demokratischen
Befragten richtig. Das grundsätzliche Recht      Prinzipien
auf Schwangerschaftsabbruch findet auch bei
den Katholiken keine mehrheitliche Zustim-       Lassen sich schon die oben abgehandelten
mung (46 %), bei den Muslimen liegt die          ethisch-moralischen Grundfragen nicht ohne
Befürwortungsrate bei rund einem Drittel.        Weiteres in den Bereich des rein „Privaten“
Unter den Evangelischen ist die Akzeptanz        verbannen, wo jeder denken und tun könne,
mit 62 % dagegen auch hier deutlich höher;       was er wolle, und die Gesellschaft den Einzel-
und am stärksten fällt sie, wenig überra-        nen nicht zu bevormunden habe, weisen die
schend, bei den Konfessionslosen aus, wo         in Abbildung 6 abgebildeten Aspekte einen
etwa drei Viertel der Befragten zustimmen.       noch deutlicheren Bezug zum öffentlichen
                                                 Leben auf. Die Trennung von Religion und
Die Frage nach möglichen Konfliktlinien im        Politik und die Prinzipien der Demokratie
Bereich ethisch-moralischer Fragen lässt         gehören zu den Grundfesten unserer Ge-
sich also folgendermaßen beantworten: Zum        sellschaft. Was die Akzeptanz dieser Werte
einen verläuft hier offenbar ein Graben zwi-     anbelangt, so kann angesichts der Befunde
schen der christlich bzw. säkular geprägten      des Religionsmonitors jedoch weitgehend
Mehrheitsbevölkerung auf der einen Seite,        „Entwarnung“ gegeben werden.
die hier „liberale“ Positionen einnimmt
(eine Ausnahme bilden die Katholiken beim
Schwangerschaftsabbruch), und der Bevölke-
rungsgruppe mit muslimischem Hintergrund
auf der anderen Seite, die diesbezüglich         „In keiner der Gruppierungen findet sich eine Mehrheit,
„rigidere“ Vorstellungen erkennen lässt.              welche die Politik dem Primat der Religion
Auch vor dem Hintergrund der Entwicklung,                  unterordnen möchte“

                                                                                                                                        23
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