POLIS 38 - Religion und Migration Hessische Landeszentrale für politische Bildung - Hessische Landeszentrale für politische Bildung

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Hessische

                            POLIS:Analysen–Meinungen–Debatten
                                   analysen – meinungen – debatten
Landeszentrale
für politische
Bildung

Mechtild M. Jansen
Susanna Keval (Hg.)

Religion und
Migration
Die Bedeutung vom
Glauben in der Migration

                           POLIS:

POLIS 38
POLIS soll ein Forum für Analysen,
Meinungen und Debatten aus der
Arbeit der Hessischen Landeszentrale
für politische Bildung (HLZ) sein.
POLIS möchte zum demokratischen
Diskurs in Hessen beitragen, d.h.
Anregungen dazu geben, wie heute
möglichst umfassend Demokratie bei
uns verwirklicht werden kann. Der
Name POLIS erinnert an die große
geschichtliche Tradition dieses
Problems, das sich unter veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen
immer wieder neu stellt.

Politische Bildung hat den Auftrag,
mit ihren bescheidenen Mitteln dazu
einen Beitrag zu leisten, indem sie
das demokratische Bewusstsein der
Bürgerinnen und Bürger gegen
drohende Gefahren stärkt und
für neue Herausforderungen
sensibilisiert. POLIS soll kein
behäbiges Publikationsorgan für
ausgereifte akademische Arbeiten
sein, sondern ohne große Zeitver-
zögerung Materialien für aktuelle
Diskussionen oder Hilfestellungen
bei konkreten gesellschaftlichen
Problemen bieten.

Das schließt auch mit ein, dass
Autorinnen und Autoren zu Wort
kommen, die nicht unbedingt die
Meinung der HLZ widerspiegeln.
Religion und Migration                                                                 Mechtild M. Jansen / Susanna Keval (Hg.)

Inhalt

Vorwort: Mechtild M. Jansen                                                                   3
Grußworte:
– Stadtrat Dr. Albrecht Magen                                                                 4
– Jean Claude Diallo                                                                          5
Mechtild M. Jansen: Einleitung                                                                7
Stefan Rech: Frankfurt am Main als Beispiel für eine multireligiöse Stadt                    10
Karsten Lehmann: Religion und Integration. Spezifika der politischen Debatte und
Perspektiven der Forschung                                                                   24
Podiumsgespräch:
Biografie und Identität. Persönliche Erfahrungsberichte.
TeilnehmerInnen:
Rina Otterbach, Lehrerin an der Jüdischen Oberschule Berlin                                  38
Giovanni di Florian, katholischer Seelsorger, Frankfurt am Main                              40
Dr. Mounira Daoud-Harms, pädagogische Mitarbeiterin am HeLP, Frankfurt am Main               44
Tich Thien Son, buddhistischer Mönch, Zenlehrer, Frankfurt am Main                           46
Die Bedeutung von Religion in der Migration.
Theoretische und empirische Reflexionen am Beispiel von
– Biographien (Dr. Susanna Keval)                                                            49
– türkischen Frauen unterschiedlicher Generationen (Dr. Nevâl Gültekin)                      56
– der russisch-jüdischen Zuwanderung (Dalia Moneta)                                          64
Dietmar Will: Unruhige Geschwister – bereichernde Gäste.
Integration – wo und wie fängt sie an?                                                       69
Podiumsgespräch:
Glauben in Frankfurt. VertreterInnen einzelner Gemeinden
stellen sich und ihre Gemeinden vor.                                                         74
TeilnehmerInnen:
Franjo Akmazda, Kroatische Gemeinde
Ünal Kaymakci, Verein der Hazrat Fatima Moschee e.V.
Ghebrehiwet Kidane, Orthodoxe Gemeinde eritreischer Flüchtlinge
                                                                                                                           Polis 38

Dr. Hüseyin Kurt, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. Merkez Moschee
Han-Na Lee, Koreanische Evangelische Gemeinde im Rhein-Main-Gebiet
Elina Oldenbourg, Finnische Gemeinde
Dr. Smritindu Roy, Rhein-Main-Bengali Cultural Association e.V.
Interreligiöse Feier                                                                         87
Autorenverzeichnis                                                                           90
                                                                                                                               1
Heiner Bielefeldt                                                                                      Religion und Migration

                                       Die Religionsfreiheit stellt als allgemeines Menschenrecht einen Anspruch, der
                                       über die Toleranzpolitik der Staaten, wie eng oder pragmatisch, demütigend oder
                                       großherzig diese auch angelegt sein mochte, konzeptionell hinausgeht. Sie zielt
                                       nicht auf eine graduelle Erweiterung der Toleranz, sondern formuliert ein neues
                                       Grundprinzip, das erstmals in der Zeit der großen demokratischen Revolutionen
                                       politisch zum Durchbruch gelangt ist.

           Das Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikation trägt eine
           Spannung in sich: Mit Verweis auf den gebotenen Respekt vor der
           Würde und Freiheit des Menschen wird dem Staat gewissermaßen
           etwas „Negatives“ abverlangt, nämlich ein prinzipieller Verzicht
           auf staatliche Handlungskompetenz in Fragen umfassender Sinn-
           orientierung. Ein affirmatives Anliegen führt somit paradoxerweise
           zu einer negativen Konsequenz, zu einer staatlichen Nicht-Kom-
           petenz. Diese Spannung steht stets in Gefahr, nach der einen oder
           anderen Seite hinaufgelöst zu werden: entweder in Richtung einer
           Leugnung des im Respekt vor der Freiheit begründeten normativen
           Gehaltes der staatlichen Säkularität zu einer umfassenden politi-
           schen Weltanschauung quasi-religiöser oder postreligiöser Art, in
           der das Prinzip der Nicht-Identifikation aufgehoben wäre. Durch
           beide Auflösungen gerät der spezifische Anspruch des säkularen
           Rechtsstaates aus dem Blick.                                             Die Religionsfreiheit als Menschenrecht
                                                                                    bricht aber nicht nur mit der konfes-
                                                                                    sionsstaatlichen Form von Toleranz;
                                                                                    sie geht auch – was oft übersehen
                                                                                    wird – über eine skeptisch motivierte
                                                                                    Toleranz hinaus, für die Aufklärer wie
                                                                                    Montaigne, Voltaire oder Lessing mit
                                                                                    ihrer Kritik an religiösem Dogmatismus
                                                                                    stehen.
Polis 38

                                                        Die unterlegten Zitate wurden entnommen aus:
                                                        Heiner Bielefeldt: Muslime im säkularen Rechtsstaat.
                                                        Integrationschancen durch Religionsfreiheit.
                                                        transcript Verlag, Bielefeld 2003.
 2
Vorwort                                                                               Mechtild M. Jansen

Die Migration hat viele Facetten.
„Religion und Migration“ war der Titel     Neben Vorträgen und Diskussionen
einer Fachtagung, die das Amt für mul-     wurde eine interreligiöse Feier in die
tikulturelle Angelegenheiten der Stadt     Tagung integriert, um so einen – wenn
Frankfurt am Main, die Evangelische        auch kleinen – „sinnlichen Eindruck“
Stadtakademie Frankfurt am Main,           von der Vielfalt der Religionen und
das Bildungswerk der Katholischen Er-      Konfessionen zu vermitteln.
wachsenenbildung Frankfurt am Main         Die Tagung wurde konzipiert und
und die Hessische Landeszentrale für       durchgeführt von:
politische Bildung am 1. und 2. No-        Dr. Eva Maria Blum, Mechtild M.
vember 2002 in der Heiliggeistkirche       Jansen, Dr. Susanna Keval, Dr. In-
des Frankfurter Dominikanerklosters        geborg Nordmann und Dr. Kornelia
veranstalteten.                            Siedlaczek.
Dabei haben die Veranstalterinnen          Die Konferenz wurde dankenswerter-
den Versuch unternommen, sich dem          weise durch das Hessische Sozialmi-
Thema „Religion und Migration“ unter       nisterium gefördert.
der Fragestellung, welche Bedeutung
Glauben und Religion für den Mig-          Wir hoffen, dass mit der Veröffentli-
rationsprozess und das Leben von           chung der folgenden Texte nicht nur
Migrantinnen und Migranten haben,          die Akzeptanz gegenüber Migran-
zu nähern. Ein weiterer Gesichtspunkt      tengemeinden steigt, sondern dass
war, inwieweit Religion ein integrie-      auch ein interreligiöser Dialog unterei-
render Faktor im Migrationsprozess         nander und mit der Stadtgesellschaft
sein kann.                                 wächst und selbstverständlicher wird.
Nicht falsch verstandene Toleranz
und Rücksichtnahme, sondern Re-
spekt gegenüber anderen Religionen
und Denktraditionen leiteten uns bei       Mechtild M. Jansen
der Auseinandersetzung mit diesem
Thema.                                     Hessische Landeszentrale
                                           für politische Bildung
Frankfurt ist eine multireligiöse Stadt,
das wollten wir auf dieser Tagung
sichtbar machen. Darüber hinaus woll-
ten wir den Teilnehmerinnen und Teil-
nehmern die Möglichkeit bieten, den
jeweils „Anderen“ zuzuhören, sich auf
deren Realität und Glauben einzulas-
                                                                                                    Polis 38

sen. Wir denken, dass so Neugier und
Erkenntnisinteresse geweckt werden
und damit die Möglichkeit entsteht, ein
differenziertes Bild von Religionen und
Konfessionen zu entwickeln.

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Albrecht Magen                                                                             Grußwort

                  Grußwort: Dr. Albrecht Magen
                  Nahezu unbemerkt von der breiten           Die Gemeinden der Migranten tra-
                  Öffentlichkeit hat sich in Frankfurt am    gen zunehmend ihre Anliegen an
                  Main in den letzten Dekaden eine au-       Politik und Verwaltung heran, so dass
                  ßerordentliche religiöse Vielfalt entwi-   gemeinsam an der zunehmenden
                  ckelt: Jede der großen Weltreligionen      Integration der Menschen anderer
                  ist mittlerweile in der Stadt vertreten,   Herkunft gearbeitet werden kann. So
                  und mit mehr als 130 unterschiedli-        dienen die Bemühungen um ein fried-
                  chen Religionsgemeinschaften der           liches Zusammenleben genau wie
                  Zuwanderer findet in Frankfurt am          die Geborgenheit, die die Menschen
                  Main ein vielfältiges religiöses Leben     anderer Herkunft in ihren Glaubens-
                  statt.                                     gemeinschaften finden, dem Zusam-
                  Während die großen christlichen            menleben und Zusammenwachsen
                  Kirchen seit langem einen Rückgang         in unserer pluralen Gesellschaft, die
                  der Mitgliederzahlen und ein wach-         sich gerade auch in Frankfurt am
                  sendes Desinteresse an der religiösen      Main dadurch auszeichnet, dass die
                  Praxis beklagen, zeigt sich bei den        unterschiedlichen Überzeugungen im
                  Zuwanderergemeinden ein völlig an-         Glauben nicht zu gewalttätigen Kon-
                  deres Bild: Überfüllte Gottesdienste       flikten führen.
                  und eine innige Teilnahme an den           Wir bemühen uns verstärkt um den in-
                  religiösen Zeremonien kennzeichnen         terkulturellen Dialog. Für das Gelingen
                  das Gemeindeleben der meisten Reli-        dieses Dialoges ist es entscheidend,
                  gionsgemeinschaften.                       dass wir die Verschiedenheit unserer
                  Ein Grund für den engen Zusammen-          Glaubensüberzeugungen nicht igno-
                  schluss der Gemeinschaften ist sicher-     rieren und verwischen, sondern im
                  lich das Streben nach Zusammenhalt         Gegenteil sehen und respektieren.
                  in der Diasporasituation. Durch den
                  Kontakt mit den Zuwandergemeinden
                  wissen wir aber auch, dass die über-
                  wiegende Mehrheit von ihnen eine           Stadtrat Dr. Albrecht Magen
                  Integration ihres Glaubens mit den         Dezernent für Integration
                  Anforderungen des Lebens in der mo-
                  dernen Stadtgesellschaft anstrebt.
                  Unser Grundgesetz garantiert allen
                  religiösen Gruppen Glaubensfreiheit.
                  Voraussetzung ist, dass die Gemein-
                  schaften und ihre einzelnen Mitglieder
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                  sich an die vorgegebenen Rahmenbe-
                  dingungen unserer Verfassungsord-
                  nung halten. Der Staat wie auch die
                  Kommunen haben dies zu beachten,
                  ohne sich in die religiösen Fragen ein-
                  mischen zu dürfen.

 4
Grußwort                                                                                     Jean Claude Diallo

Jean Claude Diallo:
Die Religion ist ein Boden,
der in der Fremde trägt.
Es freut mich sehr, Sie in unserer Hei-   schaften, Migrantenvereine und reli-
liggeistkirche im Dominikanerkloster,     giöse Gemeinschaften sehr wichtig
dem Sitz des Evangelischen Regio-         werden. Ich will Ihnen ein besonders
nalverbandes Frankfurt am Main, be-       prägnantes Beispiel schildern: Der
grüßen zu dürfen. Ich bedanke mich        Evangelische Regionalverband und
bei den Veranstaltern, dass ich ein       der Caritasverband Frankfurt sind
Grußwort an die Teilnehmerinnen und       Träger der Flüchtlingsunterkunft am
Teilnehmer der Tagung richten darf.       Flughafen Frankfurt. Die Verweildau-
Ich will sehr kurz auf einige Fragen      er in dieser Unterkunft beträgt für ca.
eingehen, mit denen Sie sich in diesen    75% der Flüchtlinge zwei bis drei
beiden Tagen beschäftigen werden:         Wochen; für etwa ein Viertel der
                                          Menschen kann sich der Aufenthalt         „Je länger Menschen fernab
– Werden Glaube und religiöse
                                          über mehrere Monate hinziehen. Die        von ihrer Heimat leben, umso
    Gemeinschaft in der Migration
                                          Männer, Frauen und Kinder leben in        mehr hängen sie an Sitten,
    wichtiger?
                                          dieser Zeit im „Niemandsland“.            Riten und Gebräuchen.“
– Stärkt Religion das Zusammenge-
                                          Die Wartezeit ist bestimmt durch
    hörigkeitsgefühl und führt sie zur
                                          Unruhe und Angst vor der Zurückwei-
    Integration oder im Gegenteil zur
                                          sung. Die Menschen gehören unter-
    Abgrenzung?
                                          schiedlichen Nationalitäten und Reli-
– Welche Bedeutung hat der Glau-          gionen an. Sie sind entwurzelt, reisen
    be für einzelne Migranten, aber       oft alleine, und in manchen Fällen
    auch für die Stadtgesellschaft?       spricht kein anderer ihre Sprache.
Das, was ich Ihnen im folgenden           In dieser Lebenssituation haben wir
sagen will, beruht auf ganz persönli-     beobachtet, dass die Religion ein
chen Erfahrungen.                         Boden ist, der in der Fremde trägt.
Zur ersten Frage: Ich persönlich un-      Muslime halten ihre Gebetszeiten
terscheide zwischen Glauben und           peinlich genau ein. Christen finden
religiöser Gemeinschaft. Ich bin der      sich zu Gebetskreisen zusammen
Meinung, dass ein Mensch glaubt           und nehmen am wöchentlichen Got-
oder nicht. Ich glaube an Gott oder       tesdienst teil.
ich glaube nicht an Gott. Ob ich in       Würden diese Menschen sich in einer
die Moschee bzw. die Kirche gehe          anderen Situation genau so verhal-
oder nicht, das ist eine andere Frage.
                                                                                                             Polis 38

                                          ten? Ich weiß es nicht! Aber ich weiß,
Insofern wird der Glauben in der          dass viele Menschen, je länger sie
Migration nicht wichtiger, sondern        fernab von ihrer Heimat leben (was
wichtiger können die Riten und die        immer auch Heimat heißen mag),
Frömmigkeit, mit denen ich mich zu        umso mehr an Sitten, Riten und Ge-
meinem Glauben bekenne, werden.           bräuchen hängen, die nicht mehr so
Aus meiner beruflichen Erfahrung          streng ausgeübt werden, wie sie es
weiß ich, dass Flüchtlingsgemein-         ursprünglich kannten. Das ist häufig
                                                                                                                 5
Jean Claude Diallo                                                                                             Grußwort

                                     eine Quelle von Generations- und           Marmorbalustrade, die von barocken
                                     Familienkonflikten.                        Skulpturen gekrönt ist.
                                     Zur meiner zweiten Frage, ob Reli-         Diese vielseitige, monumentale Kirche
                                     gion das Zusammengehörigkeitsge-           ist beeindruckend, weil sie gleichzeitig
                                     fühl stärkt und zur Integration oder       arabische, normannische, gotische
                                     zur Abgrenzung führt.                      und barocke Strukturen in sich vereint,
                                     Zum einen sagt der Volksmund: Zu-          die aber dem Ganzen einen un-
                                     sammen sind wir stark. Zusammen            schätzbaren architektonischen Wert
                                     können wir aber auch unangenehm            verleihen. Palermo ist auch die einzige
                                     werden. Die Frage ist nur: Gegen wen       Stadt der Welt, behauptet der Bürger-
                                     müssen wir stark sein? Für wen können      meister, in der Katz, Maus und Hund
                                     wir unangenehm werden?                     Hand in Hand spazieren gehen!
   „Die Geschichte der Mensch-       Zum anderen dürfen wir nicht die           Und wenn ich die Formulierung in
  heit ist voller guter Beispiele,   Probleme vermengen: Nicht Religion         Ihrer Einladung aufgreife, dass die-
         wie ein Miteinander der     führt zur Integration oder Abgren-         se Tagung betrachten will, welche
    verschiedenen Religionsge-       zung, sondern ein fehlender Rahmen         Bedeutung die 130 religiösen Ge-
   meinschaften zum Aufblühen        für eine vernünftige Integration. Ich      meinden für die einzelnen Migranten
        einer Gesellschaft führt.“   weiß nicht mehr, wer gesagt hat, dass      haben oder auch für die Stadtgesell-
                                     eine Gesellschaft an dem gemessen          schaft, dann erzähle ich Ihnen gern
                                     wird, wie sie mit ihren Minderheiten       zum Schluss, was ich von meinem
                                     umgeht. Die aufnehmende Gesell-            Freund, dem Theologen Dr. Gerhard
                                     schaft hat Bedingungen zu schaffen,        Hoffmann, kenne. Das ist eine Ge-
                                     die es Menschen ermöglichen, sich          schichte Gottes mit seinen Menschen,
                                     zu integrieren. Wenn die Gesellschaft      wie wir sie in der hebräischen und
                                     diese Chance verpasst, dann – und          in der griechischen Bibel vorgezeigt
                                     erst dann – können religiöse Gemein-       finden: Die Flucht begann mit der
                                     schaften, Migrationsvereine oder gar       Vertreibung der ersten Menschen aus
                                     politische Gruppierungen Zufluchtsor-      einem Garten. Und nach biblischem
                                     te für Menschen sein, weil sie sich dort   Befund gibt es offenbar keine nostal-
                                     besser aufgehoben fühlen.                  gische Rückkehr in den Garten. Das
                                                                                letzte Buch der griechischen Bibel
        „Eine Gesellschaft wird an   Aber ich betone eines: Die Geschich-       geht von der Vision einer Stadt aus, in
       dem gemessen, wie sie mit     te der Menschheit ist voller guter         der Gott selbst bei seinen Menschen
     ihren Minderheiten umgeht.“     Beispiele, wie ein Miteinander der         wohnt, und wo deshalb Tempel,
                                     verschiedenen Religionsgemeinschaf-        Kirchen, Moscheen und Kultstätten
                                     ten zum Aufblühen einer Gesellschaft       überflüssig werden.
                                     führt.
                                                                                Wenn wir uns einzeln an dieser Visi-
                                     Zu meiner dritten Frage nach der           on orientieren, dann brauche ich mir
                                     Bedeutung des Glaubens für einzelne        keine Sorgen mehr um die Zukunft zu
                                     Migranten und die Stadtgesellschaft.       machen.
Polis 38

                                     Ich war neulich in Palermo in Sizilien.    Möge diese Tagung ein paar Hinwei-
                                     Ich habe die Kathedrale besichtigt.        se in diesem Sinne geben.
                                     Das majestätische Gebäude beein-
                                     druckt durch die effektvolle Wucht
                                     seiner architektonischen Linien. Es ist
                                     auf einem Friedhof der Ureinwohner
                                     Siziliens gebaut, umgeben von einer
 6
Einleitung                                                                                  Mechtild M. Jansen

Mechtild M. Jansen: Einleitung
Die Tagung „Die Bedeutung von             aus mehr als 180 Ländern der Welt,
Glauben in der Migration“ wurde           es gibt hier 130 muttersprachliche
von zwei säkularen Institutionen, dem     religiöse Gemeinden, die Zugehörig-
Amt für multikulturelle Angelegenhei-     keitsgefühl und Gemeinschaft vermit-
ten der Stadt Frankfurt am Main und       teln. Religion wird oft als ein Stück
der Hessischen Landeszentrale für         „portable Heimat“ erlebt, die man
politische Bildung, sowie zwei kirchli-   mitbringen und an die man sich halten
chen Institutionen, der Evangelischen     kann, die ein Stück Orientierung bie-
Stadtakademie und dem Katholischen        tet, wenn man sich fremd, nicht immer
Bildungswerk Frankfurt, gemeinsam         willkommen und entwurzelt fühlt.
konzipiert und veranstaltet.              Religion, religiöse Riten und Bräuche
Über Migration und in diesem Zusam-       werden schon in der frühen Kindheit
menhang auch über Integration ist in      vermittelt und haben daher eine oft
den letzten Jahren viel und heftig        prägende Wirkung auf unser Leben,
diskutiert worden. Viele Facetten und     selbst wenn man sich von der Religi-
Probleme, die mit dem Prozess der         on abwendet. Religiöse Erfahrungen
Migration einhergehen, sind betrach-      sind verbunden mit unterschiedlichen
tet und oft sehr kontrovers diskutiert    sinnlichen Eindrücken, mit bestimmten     „Für einen großen Teil der
worden. Die Frage, welchen Einfluss       Räumen, Gerüchen, Klängen, Symbo-         hier lebenden Menschen hat
die religiöse Orientierung auf die        len, Gesängen, Gebeten und auch           Religion an Bedeutung und
Migranten hat und wie sie ihre Be-        mit Stille.                               Sinnstiftung verloren.“
reitschaft zur Integration beeinflusst,
                                          Religiöse Riten strukturieren das Leben
wurde immer wieder gestellt.
                                          vieler Menschen. Sie gliedern das
Durch die Ereignisse des 11. Septem-      Jahr durch Feste und die Lebenspha-
ber 2001 ist die Bedeutung von Reli-      sen eines Menschen durch herausge-
gion und das Interesse an uns nicht       hobene Lebenslaufrituale, wie z.B.
so bekannten Religionen in dem Mit-       Taufe, Konfirmation oder Hochzeit.
telpunkt gerückt. Es wurden in diesem
Zusammenhang Fragen diskutiert, ob        Über Religion und religiöse Praxis
zum Beispiel Religion benutzt und         wurde in den letzten Jahrhunderten
missbraucht werden kann, um Fana-         viel gestritten. Viele Kriege sind
tismus und Zerstörung zu legitimieren     im Namen von Religionen geführt
– oder – ob Religion den Menschen         worden. Neben Epochen großer
Schutz und Sinnstiftung bei schwer        Toleranz gab und gibt es noch heute
fassbaren Ereignissen oder ange-          Länder, die von Hass und Missach-
sichts des Todes bieten kann.             tung durch religiöse Indoktrination
                                          geprägt sind und nicht durch Respekt
                                                                                                            Polis 38

Unser Interesse, über die Bedeutung
                                          gegenüber Andersdenkenden und
von Glauben in der Migration zu
                                          Anderslebenden.
reden, ist bereits lange vor dem 11.
September 2001 entstanden. Was            Auch heute noch müssen Menschen
bedeutet Religion und religiöses          auf Grund ihrer religiösen Überzeu-
Leben für Menschen in einer multikul-     gung aus ihren Heimatländern fliehen
turellen Stadt? Allein in Frankfurt am    und suchen bei uns Asyl. Viele aber,
Main wohnen und arbeiten Menschen         die hier wohnen, sind aus anderen
                                                                                                                 7
Mechtild M. Jansen                                                                                      Einleitung

                                 Gründen gekommen: um hier zu ar-          zugänglich ist. Auf „Nichtgläubige“
                                 beiten, um hier zu leben oder auch        kann dies unheimlich wirken, weil
                                 der Liebe wegen. Viele von ihnen          es um Gefühle, Mystik und Glauben
                                 bringen ihre religiösen Werte und         geht.
                                 Vorstellungen mit. Sie wollen diese       Religion und religiöse Erfahrungen
                                 hier ungehindert leben können.            in Vernunft und Wissenschaft auf-
                                 Für einen großen Teil der hier le-        zulösen, ist nicht möglich. Religion
                                 benden Menschen hat Religion an           bietet offensichtlich mehr als nur
                                 Bedeutung und Sinnstiftung verloren,      „Opium für’s Volk“ und mehr als nur
                                 trotzdem bleibt sie Thema in einer        „der Seufzer der bedrängten Kreatur
                                 multikulturellen und multireligiösen      in einer herzlosen Welt“1. Religion
                                 Stadt. Es wird darüber gestritten, wie    bietet für Menschen Orientierung,
                                 sehr Religion öffentlich sein darf, wer   Schutzräume und Visionen, mit denen
                                 wie seine religiösen Bräuche offen        man sich durchaus kritisch auseinan-
                                 zeigen kann.                              der setzen sollte.
                                 Wo liegt bei uns die Grenze zwi-          Ich möchte hier Herbert Marcuse
              „Ungläubig sind    schen säkularem Staat, Menschen-          zitieren, der zum Verhältnis von Reli-
           immer die Anderen.“   rechten und unterschiedlichen reli-       gion und Wissenschaft bemerkt:
                                 giösen Vorschriften und Praktiken?
                                 Erinnert sei nur exemplarisch an          „Wo die Religion weiterhin das kom-
                                 die Auseinandersetzungen, wenn            promisslose Streben nach Frieden
                                 es um den Bau von Moscheen und            und Glück bewahrt, haben ihre ‚Illu-
                                 Tempeln, Schächtungsregeln und            sionen´ doch einen höheren Wahr-
                                 religiöser Bekleidung im öffentlichen     heitsgehalt als die Wissenschaft, die
                                 Raum geht.                                an der Ausschaltung dieser Ziele
                                                                           arbeitet. Der verdrängte und umge-
                                 Hier ist es wichtig, immer wieder         formte Inhalt der Religion kann nicht
                                 hervorzuheben, dass gerade der            dadurch befreit werden, dass man
                                 säkulare Staat ein Garant für Re-         ihn der wissenschaftlichen Haltung
                                 ligionsfreiheit ist und diesen Streit     ausliefert.“2
                                 zulässt. Es geht hier um einen Aus-
                                 handlungsprozess, was im Rahmen           Wir wollen während dieser Tagung
                                 unserer Verfassung möglich und ga-        Erfahrungen mit und über die un-
                                 rantiert ist. Manche dieser Diskussio-    terschiedlichen Religionen, Konfes-
                                 nen ließen sich entschärfen, wenn mit     sionen und Gemeinden machen,
                                 weniger Aufgeregtheit, vorurteilsfrei,    über die Menschen, die in diesen
                                 mit Respekt und Wissen dem Ande-          Gemeinden leben und wie sie ihren
                                 ren gegenüber begegnet würde. Das         Alltag und ihre Identität gestalten,
                                 bedeutet aber auch, keine falsch          mehr erfahren.
                                 verstandene Toleranz an den Tag zu        Es geht aber auch um die Frage, ob
                                 legen, kritische Fragen zu stellen und    der Prozess der Migration die Suche
Polis 38

                                 eindeutig Position zu beziehen.           nach den Wurzeln verstärken kann,
                                 Eine säkulare Welt benötigt Religion      weil die Realität hier manchmal zu
                                 und religiöse Gemeinschaften. Trotz-      fremd und zu unwirtlich ist, und ob
                                 dem ist für viele Menschen offen          religiöse Gemeinschaften dabei ein
                                 gelebte Religion zunehmend fremd          Stück Heimat bieten. Oder sind Mi-
                                 und schwer zu verstehen, weil sie         granten eher Grenzgänger zwischen
                                 dem rationalen Diskurs nicht immer        zwei Welten?
 8
Einleitung                                                                             Mechtild M. Jansen

Die Tagung fand in einem sakralen         der in den verschiedenen Religionen
Raum, in einer Kirche statt, die eine     auf verschiedenen Weise gesucht und
wechselvolle Geschichte hat: früher       mit verschiedenen Namen genannt
Klosterkirche der Dominikanermönche,      wird, weil du bleibst, wie du bist,
gehört sie heute der evangelischen        allein unerkannt und unaussprechlich.
Kirche Frankfurt und wird nicht nur für   (...) So verbirg dich nicht länger, oh
Gottesdienste, sondern auch für Kon-      Herr! Sei gnädig und zeige dein Ant-
zerte und kulturelle Veranstaltungen      litz. (...) Wenn du gnädig so tun wirst,
genutzt. Es ist also ein offener Raum,    dann werden aufhören das Schwert
der hier einlädt und Zuflucht vor der     und der neidvolle Hass und alles
Hektik der Stadt gewährt. Ich möch-       Übel, und alle werden erkennen, wie
te daran erinnern, dass sich hier im      nur eine Religion ist in der Mannigfal-
Mittelalter in unmittelbarer Nachbar-     tigkeit religiöser Bräuche.“3
schaft das jüdische Ghetto und bis zur
Pogromnacht vom 9. November 1938
auch mehrere Synagogen befanden.
                                          Anmerkungen:
Der heutige Börneplatz war bereits in
den letzten Jahrhunderten eine durch-     1    Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen
aus multireligiöse Gegend in unserer           Rechtsphilosophie. In: MEW 1, S.
Stadt Frankfurt mit einer wechselvollen        378.
und auch leidvollen Vergangenheit.        2    Herbert Marcuse: Triebstruktur und
                                               Gesellschaft. Frankfurt am Main 1965,
Die Tagung fand am 1. und 2. No-
                                               S. 75.
vember 2002 statt: die Katholiken be-     3    Zitiert nach Gerhard Schweizer:
gehen in diesen Tagen Allerheiligen            Ungläubig sind immer die anderen.
und Allerseelen. Es sind Feste, die            Weltreligionen zwischen Toleranz und
den Heiligen, dem Totengedenken                Fanatismus. Stuttgart 2002, S. 96.
gewidmet sind und dazu einladen,
über den Sinn und die Endlichkeit
des irdischen Lebens nachzudenken.
Sicher ein passendes Datum, um über
Religion zu reden, aber auch ange-
messen zu feiern, bildet doch das
Feiern von Festen einen wichtigen
Bestandteil jeder Religion.
Mit einem Zitat des berühmten
Philosophen und Theologen an der
Schnittstelle des ausgehenden Mittel-
alters zur Neuzeit, Nikolaus von Kues
(1401-1464), will ich schließen. Das
Zitat macht deutlich, dass ungläubig          Die Religionsfreiheit als
                                                                                                     Polis 38

nicht immer die Anderen sind und              Menschenrecht ist eine moderne Idee,
sagt viel ermutigendes für den inter-         die gegenüber der vormodernen
religiösen Dialog.
                                              Toleranzpolitik christlicher oder
Gebet an Gott der monotheistischen            islamischer Prägung einen grundlegend
Religionen
                                              anderen Ansatz bedeutet.
„Du also, der du der Spender des
Seins und des Lebens bist, du bist es,                                                                   9
Stefan Rech                                                               Religion und Migration

               Stefan Rech: Frankfurt am Main als
               Beispiel für eine multireligiöse Stadt
               Die Frankfurter Hauptwache               terplatz in Richtung Hauptwache. Das
               an einem Samstagmittag im                Glaubensbekenntnis prangt in arabi-
               Mai 2002                                 scher Schrift auf grünem Transparent,
                                                        ab und an werden Lobeshymnen in
               Ein buddhistischer Tempelverein feiert   Urdu skandiert. Die Gläubigen wer-
               den Geburtstag des Buddha Shakya-        den von Polizeibeamten begleitet, die
               muni: Gläubige, vorwiegend aus Tai-      den Verkehr regeln. Junge Männer
               wan, China und Vietnam, haben sich       verteilen Flugblätter an Passanten
               in einer Reihe aufgestellt, um nach-     und Interessierte, die Anlass und Hin-
               einander eine weiße Keramikfigur         tergrund des Festzuges erläutern.
               vorsichtig mit Wasser zu begießen.       Als der muslimische Umzug an der
               Danach verbeugen sie sich in einem       Buddhafeier vorbei kommt, finden ver-
               innigen Moment und legen die Hän-        einzelt Gespräche zwischen beiden
               de zum Gebet zusammen. Die kleine        Gruppen statt. Die Lieder der Buddhis-
               stehende Buddhafigur, deren rechter      ten und die Rufe der Muslime durch-
               Zeigefinger zum Himmel zeigt, stellt     dringen einander. Auf der anderen
               den neugeborenen künftigen Buddha        Seite der Hauptwache singt ein leicht
               dar. Die „Badezeremonie“ steht sym-      bekleideter Cowboy zur Gitarre. Die
               bolisch für die Reinigung der mensch-    PR-Aktion eines Handyherstellers zieht
               lichen Seele, die Entfernung des Un-     ebenso viele Passanten an wie die bei-
               heilsamen und für die Wiedergeburt       den religiösen Demonstrationen.
               mit neuer Hoffnung.                      Als urbanes Zentrum hat Frankfurt
               Der zentrale Platz, in dessen Nähe       am Main schon immer Fremde ange-
               sich die Hochhaustürme der interna-      zogen, die auch ihre Religionen mit-
               tionalen Finanzwelt in den Himmel        brachten. Aus den verschiedensten
               schrauben und die Kirchtürme über-       Gründen kommen immer mehr Men-
               ragen, ist normalerweise umspült         schen aus immer unterschiedlicheren
               von regem Autoverkehr. Gläubige,         Regionen der Welt nach Frankfurt
               Angehörige, Freunde und Passanten        am Main – temporär oder bleibend.
               tummeln sich auf der Verkehrsinsel. Es   Die Welt rückt näher zusammen und
               wird gesungen, Essensstände versor-      ist gleichzeitig Schauplatz pluraler
               gen die Hungrigen und Neugierigen        Lebensstile und Weltanschauungen.
               mit asiatischen Speisen.                 Das Nahe und das Ferne, die fremde
               Vom Frankfurter Hauptbahnhof startet     und die eigene Religion berühren und
Polis 38

               eine andere Zeremonie anlässlich         überkreuzen sich, die Koordinaten ge-
               des Geburtstags von Muhammad. Ein        genseitiger Wahrnehmungen sind fle-
               pakistanischer Moscheeverein hat die     xibler und austauschbarer geworden.
               Demonstration zu Ehren des Prophe-       Für einen Moment verwandelte sich
               ten organisiert. Ein Zug – vorwiegend    die Hauptwache in dem beschriebe-
               Männer in festlicher weißer Kleidung     nen Bild zur Schaubühne religiöser
               – schiebt sich langsam durch die         Welten. Vom Standpunkt der intensiv
               Münchener Straße, vorbei am Thea-        erlebten Nähe im Kreis der religiösen
 10
Religion und Migration                                                                            Stefan Rech

Zeremonie wirkte das hektische Trei-      Frankfurter Juden, deren Geschichte
ben ringsherum befremdlich.               untrennbar mit der Stadtgeschichte
Nur wenige Gemeinden tragen ihre          verbunden ist und die jeden Bereich
Religion in der geschilderter Weise       der städtischen Kultur mitprägten, er-
nach außen. Und auch die sozial-          lebten mehrfach Gemeindegründun-
integrativen Funktionen der Gemein-       gen, Ausschlüsse und Vernichtung.
den bleiben vielfach im Verborge-         Die Zuwanderer anderer Glaubens-         „Als urbanes Zentrum hat
nen. Gleichwohl ist zu beobachten,        richtungen, ob katholische Bediens-      Frankfurt am Main schon
dass es eine Entwicklung gibt, die        tete aus dem Frankfurter Umland,         immer Fremde angezogen,
eigene Religion selbstbewusster und       Glaubensflüchtlinge aus Frankreich       die auch ihre Religionen
sichtbarer im öffentlichen Raum zu        oder Händler aus Italien oder Grie-      mitbrachten.“
etablieren. Deutlich wahrnehmbar          chenland, brachten immer auch ihre
nehmen z.B. auch Planungsvorhaben         religiösen Überzeugungen mit und
religiöser    Einwanderergemeinden        übten sie aus.
für repräsentative Bauten zu. Die         Heute macht sich die dauerhafte Prä-
Realisierung dieser Vorhaben ge-          senz der Arbeitsmigranten und ihrer
schieht nicht immer reibungslos, gibt     Familien aus den verschiedensten eu-
aber den Beteiligten im städtischen       ropäischen und außereuropäischen
und nachbarschaftlichen Umfeld im         Ländern bemerkbar. Flüchtlinge aus
besten Fall auch Anlass zur konstruk-     den Kriegs- und Krisengebieten der
tiven Auseinandersetzung mit bisher       ganzen Welt leben in der Stadt. Der
unbekannten religiösen Glaubens-          internationale    Wirtschaftsstandort
vorstellungen.                            Frankfurt am Main zieht rotierende
Diese Auseinandersetzungen finden         Fachkräfte aus Banken, Handel und
inmitten unserer Gesellschaft statt und   dem Dienstleistungssektor nach sich.
sollten weder einem engen Zirkel von      Und auch heute bringt jeder einzel-
religionswissenschaftlich Interessier-    ne Zuwanderer in seinem kulturellen
ten oder Migrationsspezialisten vor-      Gepäck auch seine Glaubensüber-
behalten bleiben, noch ausschließ-        zeugungen mit. Manche entdeckten
lich medialer Vermittlung überlassen      die eigene Religion sozusagen beim
werden. Die religiösen Gemeinden          „Auspacken“, auf dem Weg des
möchten wahrgenommen, erkannt             Ankommens. Für manche gehörte
und anerkannt werden.                     sie wie das Zähneputzen zur Alltags-
                                          routine. Wiederum andere zogen es
Religion und Migration –                  vor, die negative Religionsfreiheit in
eine Herausforderung für die              Anspruch zu nehmen und ignorierten
Stadtgesellschaft                         ihren Glauben. Alle waren heraus-
                                          gefordert, ihr Verhältnis zur Religion
                                          angesichts der Ankunft in einem frem-
Ohne Einwanderung keine Stadtge-          den Land und säkularen Rechtsstaat
                                                                                                          Polis 38

schichte, der Zuzug von Neuankömm-        neu zu bestimmen.
lingen war und ist Bedingungsfaktor
der Stadtentwicklung. Dabei gestal-       Religion und Migration
teten sich ökonomische, soziale und       in Zahlen
rechtliche Bedingungen der Einwan-
derung und Integration sowie Auf-
nahmebereitschaft im Laufe der Ge-        Wie stellt sich das religiöse Leben
schichte höchst unterschiedlich. Die      und die Zusammensetzung von Mig-                                    11
Stefan Rech                                                                   Religion und Migration

               ranten nach Religionszugehörigkeit in       großen christlichen Konfessionen
               der Stadt Frankfurt am Main quanti-         dennoch einen erheblichen Rückgang
               tativ dar?                                  ihrer Mitgliederzahlen. Die Gründe
               Die meisten der großen Weltreligio-         hierfür sind vielfältig. Derzeit gehören
               nen sind in Frankfurt am Main anzu-         etwa je ein Viertel der in Frankfurt am
               treffen. Die zahlenmäßige Präsenz der       Main Wohnenden einer der beiden
               religiösen Gemeinden von Migranten          großen Kirchen an.4
               und deren organisatorische Ausdif-          Keine statistischen Angaben im Be-
               ferenzierung innerhalb der Stadt            reich der evangelischen Konfession
               hängen mit dem Herkunftsland, der           gibt es für die fremdsprachigen Ge-
               Einwanderungsgeschichte und dem             meinden von Einwanderern, die über-
               Eingliederungsprozess zusammen.             wiegend als eigenständige Partner-
               Neben der Jüdischen Gemeinde gibt           kirchen oder assoziierte Gemeinden
               es derzeit 50 evangelische und frei-        organisiert sind.
               kirchliche, 20 katholische, 14 ortho-       Die Kirchenstatistik der römisch-ka-
               doxe, 32 islamische, 8 buddhistische,       tholischen Kirche gibt eine Zahl von
               5 hinduistische und jeweils eine Sikh-      fast einem Drittel Katholiken anderer
               und eine Bahá’í-Gemeinde sowie              Muttersprachen (31%) für Frankfurt
               14 weitere Einrichtungen, Informa-          am Main an. Der größte Anteil der
               tionsstellen und Interessenverbände         fremdsprachigen Katholiken sind die
               in Frankfurt am Main. Der religiöse         in Frankfurt am Main lebenden Ita-
               Bereich der Stadtgesellschaft zeich-        liener, gefolgt von den Kroaten und
               net sich allerdings durch ständige          anderen aus dem ehemaligen Jugosla-
               Veränderungen aus. Neue Gemein-             wien kommenden Gläubigen, Spani-
               den entstehen dadurch, dass bereits         ern, Polen und Portugiesen. Auch die
               bestehende Gemeinden sich teilen            römisch-katholische Kirche weist einen
               oder neue Zuwanderergruppen ei-             großen Anteil an „Sonstigen“ auf, was
               genständige Gemeinden gründen.              der Vielfalt der in Frankfurt am Main
               Angaben zur Religionszugehörigkeit          lebenden Menschen anderer Herkunft
               werden prinzipiell nicht erfasst.2 Nur      entspricht. Durch die Zuwanderung rö-
               für die katholische und evangelische        misch-katholischer Christen wurde der
               Kirche sowie für die Jüdische Gemein-       zahlenmäßige Mitgliederrückgang in-
               de gibt es aufgrund der Erhebung der        nerhalb der römisch-katholischen Kir-
               Kirchensteuer verlässliche Daten.           che abgeschwächt bzw. aufgefangen.
                                                           Dieses Phänomen ist für die evangeli-
               Alle anderen Gläubigen sind in den          sche Kirche aufgrund der verfügbaren
               Statistiken unter der Kategorie „Sons-      Zahlen nicht festzustellen.5
               tige“3 erfasst, die mittlerweile fast die
               Hälfte aller Frankfurter ausmacht. Die      Die orthodoxen Kirchen sind in einer
               nicht christlichen Religionen können        Vielzahl jeweils eigenständiger Kir-
                                                           chen in Frankfurt am Main vertreten.
Polis 38

               einen Teilbereich dieser wenig aussa-
               gekräftigen Kategorie erklären.             Die Gemeinden selbst zählen meist
                                                           alle im Einzugsgebiet lebenden
               Die religiösen Zuwandergemeinden            Migranten aus den jeweiligen Her-
               bringen eine zum Teil reiche und            kunftsländern zu ihren Mitgliedern.
               vielfältige Glaubenstradition mit. Sie      Auf Grundlage der in Frankfurt am
               erweiterten auch das innerchristliche       Main gemeldeten Angehörigen von
               Spektrum – national und konfessio-          Staaten mit überwiegend orthodo-
 12            nell. Insgesamt erleben die beiden
Religion und Migration                                                                                     Stefan Rech

xer Prägung ergibt sich eine Zahl          weil sich die Zugehörigkeit der Mit-
von etwa 30.000 Orthodoxen.6 Dies          glieder über die Statistik der Staats-
entspricht einem Anteil von ca. 6%         angehörigkeit / Nationalität schlecht
an der Gesamtbevölkerung und von           erfassen lässt bzw. wenig aussage-
17% gemessen an der ausländischen          kräftig ist. (...)
Bevölkerung. Zum Teil gehen die An-        Es ist also nicht zu bestreiten, dass          „Jeder einzelne Zuwanderer
gaben der Gemeinden aufgrund des           Frankfurt am Main eine multireligiöse          bringt in seinem kulturellen
häufig weiteren Einzugsgebietes um         Stadt ist. Ist deshalb die Religiosität, die   Gepäck auch seine Glaubens-
ein Vielfaches darüber hinaus.             ja in (messbaren) Zahlen deutlich we-          überzeugungen mit. Manche
Die Jüdische Gemeinde macht, ge-           niger geworden ist, durch das Element          entdecken die eigene Religion
messen an ihrer Mitgliederzahl, gut        der „Anderen“, „Sonstigen“, „Nicht-Er-         beim »Auspacken«, auf dem
1% der Gesamtbevölkerung aus. Der-         fassten“ sozusagen durch die Hintertür         Weg des Ankommens. Für
zeit zählt sie knapp 7.000 Mitglieder,     in die Stadt eingekehrt? So einfach ist        manche gehört sie zur All-
davon etwa ein Drittel Kontingent-         die Gleichung nicht, denn: Auch bei            tagsroutine. Wiederum andere
flüchtlinge aus den Nachfolgestaaten       Migranten – nicht anders als bei der           ziehen es vor, die negative
der Sowjetunion.                           Mehrheitsgesellschaft – wirkt sich ein         Religionsfreiheit in Anspruch
In der Wahrnehmung der säkulari-           gewisser Säkularisierungsprozess aus.          zu nehmen und ignorieren
sierten Öffentlichkeit dominiert der Is-   Viele fühlen sich einer Religion zuge-         ihren Glauben. Alle aber sind
lam oft als einheitlicher Block. Dieser    hörig, aber praktizieren diese nicht,          herausgefordert, ihr Verhält-
erste Eindruck täuscht jedoch, denn        nicht öffentlich, nicht gemeinschaftlich       nis zur Religion angesichts der
die unterschiedlichen muslimischen         oder nicht regelmäßig. Andere haben            Ankunft in einem fremden
Vereine zeigen, dass der Islam in          der Religion den Rücken gekehrt oder           Land und säkularen Rechts-
Frankfurt am Main nicht nur national,      konvertieren. Und dennoch: Religiös            staat neu zu bestimmen.“
sondern auch in seinen religiösen Äu-      gefärbte Weltbilder und Vorstellungen
ßerungs- und Organisationsformen           erhalten gerade in der Migration
inzwischen ein heterogenes Bild bie-       besondere Bedeutung. Glaubensüber-
tet. Nach Berechnungen, die auf An-        zeugungen können nicht einfach »ab-
gaben zur Staatsangehörigkeit der          geschüttelt« werden, als seien sie der
ausländischen Bevölkerung Frankfurts       Tau einer vergangenen »verzauberten
basieren, kann von etwa 60.000             Welt«. Glaubensvorstellungen reichen
Muslimen ausgegangen werden. Das           meist weit in die Einzelbiographie
ergibt einen Anteil von 35% Muslime        zurück, sie sind – bewusst oder un-
gemessen an der ausländischen              bewusst – tief in der Persönlichkeits-
Bevölkerung und von knapp 10% ge-          struktur verankert. Das Leben in der
messen an der Gesamtbevölkerung            Migration stellt mitgebrachte Regeln
Frankfurts. Die hohen Einbürgerungs-       und Erwartungen oftmals infrage.
quoten insbesondere von Türken sind        Religiöse (Re)Orientierung gibt auf
dabei nicht berücksichtigt.                diese Infragestellung verschiedene
                                           Antworten. Gerade durch die Migra-
Für ausländische Buddhisten und Hin-       tion rückt die eigene Religion in den
dus kann jeweils etwa 1% gemessen
                                                                                                                     Polis 38

                                           Mittelpunkt des Interesses. In der Frem-
an der Gesamtbevölkerung angege-           de wird die eigene Religion bewusster
ben werden. Wobei auch hier die            erlebt, ja (wieder)entdeckt. Sie ist
Einbürgerungsquote und die großen          Schutz(raum), Grenze, markiert und
Einzugsgebiete der Vereine berück-         signalisiert das Andere, sichert und
sichtigt werden müssen.                    schafft Zugehörigkeit und ist (H)Ort
Zu den Sikhs und den Bahá’í können         des Selbstgefühls und Selbstwerts.
keine Angaben gemacht werden,                                                                                         13
Stefan Rech                                                                Religion und Migration

               Wie aber verändert sich Religion         Konfessionen zugeordnet werden.
               in der Migration? Welche Funktio-        Die Frankfurter Juden blieben bis
               nen werden von ihr übernommen?           zur Emanzipation und Gleichbe-
               Inwiefern dient sie der Integrati-       rechtigung ausgegrenzt, obwohl sie
               on? Schließen sich fremdreligiöse        dauerhaft in Frankfurt lebten.8
               Betätigung und Teilnahme an der          Man kann von einer abgestuften
               (Stadt)Gesellschaft aus? Wie äu-         Hierarchie sprechen, bei der seit
               ßert sich das „Pendeln“ zwischen         der Reformation die politischen
               vorgestellter Herkunftsreligion und      Mitspracherechte den Lutheranern
               gelebtem Glauben in der Wahlge-          vorbehalten blieben, während sich
               sellschaft im Selbstverständnis der      die beiden anderen christlichen Kon-
               Migranten? Welchen Beitrag leistet       fessionen (Katholiken, Reformierte)
               Religion und welchen könnte sie im       in unterschiedlicher Gewichtung in
               zivilgesellschaftlichen  Miteinander     Bürger, Beisassen und Fremde aufteil-
               leisten? Jede Gemeinde ist ein „ei-      ten. Eine in Frankfurt weit verbreitete
               gener Kosmos“ mit einer eigenen „Le-     Redensart der frühen Neuzeit drückt
               bensgeschichte“ – und damit gelebte      es drastischer so aus: „Die Katholiken
               Antwort auf diese Fragen.                besitzen die Kirchen, die Lutheraner
                                                        die Macht und die Calvinisten das
               Religion und Migration                   Geld“9. Bezeichnenderweise werden
               in Frankfurt am Main:                    die Juden bei dieser Aufzählung
               Kontinuität und Wandel                   ausgelassen. Die seit dem Mittelalter
                                                        ansässigen Juden wurden im Laufe ih-
                                                        rer Anwesenheit ins selbstverwaltete
               Fremde sind nichts Neues für Frankfurt   Ghetto gedrängt. Dem Rat unterstellt,
               am Main. Wie jedes urbane Zentrum        waren ihre ökonomischen Beziehun-
               war und ist Frankfurt am Main ein        gen zur Mehrheit gewissen, immer
               Anziehungspunkt – manche sagen:          wieder neu formulierten Sonderrege-
               eine Integrationsmaschine – für Mi-      lungen unterworfen.
               granten und Fremde. Die Kategorie
               der Fremdheit beschränkte sich je-       Ob es sich um italienische Pomeran-
               doch nicht auf die Menschen, die aus     zenhändler,     wallonisch-reformierte
               anderen Ländern gekommen waren.          Glaubensflüchtlinge oder jüdische
               Fremdheit war in der Vergangenheit       Händler handelte, ihnen allen war
               überwiegend eine Frage des sozialen      in unterschiedlicher Weise der gleich-
               Standes. Die religiöse Zugehörigkeit     berechtigte Zutritt zum ökonomischen
               spielte eine entscheidende Rolle beim    Leben der aufstrebenden Messe- und
               Zugang zu sozialen, politischen und      Handelsstadt verweigert. Der öko-
               ökonomischen Rechten bis ins späte       nomische Erfolg, der sich manchmal
               19. Jahrhundert hinein.                  trotz der erschwerten Auflagen bei
                                                        diesen Bevölkerungsgruppen ein-
Polis 38

               Noch in der Mitte des 19. Jh. teilte     stellte, führte nicht selten zu dann
               sich die Frankfurter Bevölkerung         religiös begründeten Auseinander-
               zur Hälfte in Fremde und Bürger.         setzungen.10
               Fremde waren vor allem Gesinde,
               Dienstboten sowie Handels- und           Durch die napoleonischen Ero-
               Gewerbehilfen aus dem näheren            berungen wurde kurzzeitig (zwi-
               Umkreis der Stadt7. Sie alle können      schen 1806 und 1815) die volle
               mehr oder weniger den christlichen       Gleichberechtigung der christlichen
 14
Religion und Migration                                                             Stefan Rech

Konfessionsangehörigen wie auch           bürger und nicht mehr der „Jude“,
die Gleichstellung der Juden durch        der „Katholik“ oder der Reformierte“.
Theodor von Dalberg in die Stadt          Die Praxis der Einbürgerung sorgte
gebracht. Die Gleichstellung der          dafür, dass die Ärmeren und allzu
„israelitischen Bürger“, wie die in der   Fremden (z.B. sogenannte Ostjuden)
Freien Stadt lebenden Juden ab 1824       nicht vorschnell die deutsche Staats-
offiziell genannt wurden, fand mit        bürgerschaft erhielten.14 Schon in der
dem Ende der Besatzung auch schon         Weimarer Republik bahnte sich die
bald ihr vorläufiges Ende. Erst mit       Diskriminierung von als fremd kon-
der Einführung der Gewerbefreiheit        struierten Gruppen an, was sich am
1864 erlangten die Frankfurter Juden      Beispiel der größtenteils sesshaften
die Gleichberechtigung.                   Frankfurter Sinti und Roma zeigen
Ende des 19. Jahrhunderts stieg die       lässt.15 Durch die Herrschaft des Na-
Einwohnerzahl zwischen 1871 und           tionalsozialismus wurde schließlich
1914 beinahe um das Vierfache11,          die rassisch begründete Verfolgung
was unter anderem auf die Erweite-        und Ermordung der Juden, Sinti und
rung des Frankfurter Stadtgebietes        Roma, Homosexuellen und anderen,
zurückzuführen ist. Nun gehörten          zu Sündenböcken gebrandmarkten,
auch größere Gewerbebetriebe zu           Gruppen legitimiert. Der Zweite
Frankfurt. Die beginnende Industria-      Weltkrieg bewirkte eine Umwälzung
lisierung verlangte Arbeitskräfte, die    der Bevölkerungsstruktur. Deutsche
zunächst aus der näheren oder weite-      Männer wurden in den Krieg eingezo-
ren Umgebung rekrutiert wurden. Dies      gen. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene
schlägt sich auch in einem Anstieg der    und Deportierte kamen in die Stadt.
katholischen Bevölkerung nieder.12        Sie hielten die Kriegsproduktion unter
                                          zum Teil grausamen Bedingungen in
Während viele Deutsche das Land           Gang, wurden aber auch in anderen
verließen, kamen neue Fremde aus          Sektoren wie beispielsweise der Land-
dem östlichen Mitteleuropa: Polen         wirtschaft gebraucht. Bei Kriegsende
und Juden. Der enorme Anstieg der         stellte die heterogene Gruppe ehema-
jüdischen Gemeinde in der Zeit zwi-       liger Zwangsarbeiter, Rückkehrer und
schen 1871 und 1910 ist auf diese         Displaced Persons etwa ein Viertel
allgemeinen Wanderungsbewegun-            der Frankfurter Bevölkerung.16
gen zurückzuführen. Viele der Juden
flüchteten aus Galizien, Polen und
teilweise Russland.13                     Gemeindegründungen im
                                          Spiegel der Migrationsphasen
Mit der Gründung des Deutschen            nach 1945
Reiches (1871) änderten sich die
Demarkationslinien zwischen Frem-
den und Einheimischen grundlegend.        Die Gemeindegründungen spiegeln
Die bürgerlichen Rechte und Privile-      – meist unter Berücksichtigung einer
                                                                                          Polis 38

gien wurden über die Nationalität         gewissen zeitlichen Verzögerung
und den Zugang zur Nationalität           – die unterschiedlichen Phasen der
geregelt. Die Religionszugehörigkeit      Migration bzw. die Anwesenheit als
scheidet mit der rechtlichen Gleich-      fremd wahrgenommener religiöser
stellung der Bürger zumindest formal      Gruppen seit der Nachkriegszeit.
als Unterscheidungskriterium aus.         Die Jüdische Gemeinde der Vor-
Fremder ist nun der fremde Staats-        kriegszeit war durch die planmäßi-               15
Stefan Rech                                                                  Religion und Migration

               ge Vernichtung der Juden nahezu           sich in den Gemeindegründungen
               ausgelöscht. Der Wiederaufbau er-         widerspiegeln. Nicht zu vergessen
               folgte weitgehend durch die so ge-        sind auch ausländische Studierende,
               nannten „Displaced Persons“. Auch         die teilweise schon sehr früh oder
               die Zusammensetzung und Gründung          parallel zur Arbeitsmigration nach
               der polnisch-katholischen, ukrainisch-    Deutschland kamen.
               katholischen und russisch-orthodoxen      Die Gemeindegründungen von Zu-
               Kirchen im Ausland ist mit den Zwangs-    wanderern aus osteuropäischen Län-
               arbeitern, Ostarbeitern und ehema-        dern beruhen größtenteils auf den
               ligen Kriegsgefangenen verbunden.         Fluchtbewegungen derjenigen Men-
               Durch den politischen Wandel und          schen, die in ihren Freiheitsrechten
               die Öffnung der osteuropäischen           durch den zunehmenden Einfluss der
               Länder erfahren diese Gemeinden           ehemaligen Sowjetunion beeinträch-
               heute wieder Zulauf. In ihrer Zusam-      tigt waren. Die Katholische Ungari-
               mensetzung und in ihrem kollektiven       sche Gemeinde wurde schon 1956,
               Gedächtnis spiegelt sich die wech-        die Slowakische Katholische Mission
               selhafte Geschichte des letzten Jahr-     1968 und die Katholische Tschechi-
               hunderts.                                 sche Gemeinde 1970 gegründet.
               Sowohl russische als auch griechi-        Mit der innereuropäischen Zuwan-
               sche Zuwanderer sind bereits vor          derung erweiterte sich das Spektrum
               dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt        der christlichen Kirchen in Frankfurt.
               bekannt, aber auch die Anwesen-           Katholiken aus Südeuropa, Anglika-
               heit von Bahá’í. Die relativ frühen       ner und Protestanten aus Nordeuro-
               Gründungen        dieser    Gemeinden     pa, Orthodoxe aus Ost- und Südost-
               nach dem Zweiten Weltkrieg lassen         europa trugen zur Ausweitung der
               sich daraus erklären. Die meisten         christlichen Mehrheit bei. Mit der An-
               der Gemeindegründungen in der             werbung türkischer Arbeitnehmer so-
               Nachkriegszeit verlaufen parallel         wie der Zuwanderung von Menschen
               zu den mit den jeweiligen Ländern         aus anderen islamisch geprägten Län-
               geschlossenen „Anwerbeverträgen“:         dern (z.B. Marokko, dem ehemaligen
               mit Italien (1955), Spanien und Grie-     Jugoslawien, Afghanistan, Pakistan
               chenland (1960), der Türkei (1961),       und Indonesien) etablierte sich der Is-
               Portugal (1964), Marokko, Tunesien        lam als drittgrößte Glaubensgemein-
               (1965) und Jugoslawien (1968)17.          schaft in Frankfurt am Main. Aus den
               Ende der Fünfzigerjahre entstand          unterschiedlichsten Krisenherden der
               z.B. die erste Italienische Katholische   Welt fanden Flüchtlinge Aufnahme in
               Gemeinde in Frankfurt in der Innen-       Frankfurt am Main, die ihre eigene
               stadt. Ende 1966 wurde die zweite         Glaubenspraxis mitbrachten. Sie ha-
               Italienische Katholische Gemeinde         ben oft einen hohen Bildungsgrad,
               in Frankfurt-Höchst gegründet. Im         verrichten aber nicht selten wenig
Polis 38

               gleichen Zeitraum entstand die Freie      qualifizierte Arbeiten.
               evangelische italienische Pfingstge-
               meinde. Die Spanische Katholische         Eine weitere Gruppe von Einwande-
               Gemeinde wurde 1961 gegründet.            rern, die oft übersehen wird, ist die Eli-
               Wie diese Beispiele belegen, kamen        te in Finanz-, Handels-, und Dienstleis-
               die „Gäste“ nicht nur zum Arbeiten,       tungsbetrieben, die sich zunehmend
               sondern sie brachten auch ihre            international zusammensetzt. Für die-
               religiösen Vorstellungen mit, die         se weltweit „rotierenden Fachkräfte“
 16
Religion und Migration                                                                                  Stefan Rech

kann die Existenz einer Gemeinde            weniger eindeutig über die nationale
wichtige Anlaufstelle, Netzwerk und         Zugehörigkeit erkennbar. Durch das
Wissensreservoir sein, um sich zeit-        neue Staatsangehörigkeitsgesetz ist
weilig in der Fremde einzurichten.          mit immer mehr deutschen Muslimen,
Mit den Entfernungen ist auch die           Hindus, Sikhs, Bahá’í und Buddhisten
Vielfalt der hier lebenden Menschen         zu rechnen.
unterschiedlichster Nationalität größer     Es gibt keine eindeutige Korrelation
geworden. Die Überschneidungen von          zwischen Profession, Glaubenszuge-
sozialem Status, Nationalität oder          hörigkeit und Nationalität. Würde          „Es gibt keine eindeutige Kor-
Herkunft und Religionszugehörigkeit,        man die Kategorien beliebig ge-            relation zwischen Profession,
die in der frühen Neuzeit noch bin-         geneinander austauschen, fiele es          Glaubenszugehörigkeit und
dende Wirkung hatten, sind nicht            zumindest schwer, eine Kombination         Nationalität. Würde man die
nur durch die Zunahme an Optionen           zu finden, die nicht in Frankfurt am       Kategorien beliebig gegen-
vielfältiger geworden, sondern auch         Main anzutreffen ist, was einen            einander austauschen, fiele
austauschbarer. Heute begegnet man          hohen Grad von Individualisierung          es zumindest schwer, eine
einem armenisch-orthodoxen Taxiun-          und Pluralisierung ausdrückt. Gleich-      Kombination zu finden, die
ternehmer, einem indischen Import-Ex-       wohl sind die Formen der religiösen        nicht in Frankfurt am Main
port-Unternehmer, der Hindu ist, einer      Vergemeinschaftung unterschiedlich.        anzutreffen ist, was einen
philippinischen Krankenschwester, die       Sie reichen von der öffentlichkeits-       hohen Grad von Individua-
den katholischen Gottesdienst in eng-       wirksam inszenierten Ökumene bis           lisierung und Pluralisierung
lischer Sprache besucht, einem irani-       zur ethnisch-religiösen Enklave, der       ausdrückt. Gleichwohl sind
schen Studenten, der sich als Bahá’í        international vernetzten Diaspora          die Formen der religiösen
versteht, einem pfingstlerisch orientier-   bis zum großfamiliären Selbsthilfe-        Vergemeinschaftung unter-
ten Informatiker aus Nigeria, einem         verein.                                    schiedlich. Sie reichen von
evangelisch-reformierten Manager aus                                                   der öffentlichkeitswirksam
Schweden, einem alevitischen Industrie-     Unterschiede und                           inszenierten Ökumene bis zur
arbeiter, einem pakistanischen Muslim,      Gemeinsamkeiten:                           ethnisch-religiösen Enklave,
der als diplomierter Übersetzer tätig       Potenzierte Vielfalt oder                  der international vernetzten
ist, einer thailändischen Buddhistin mit    fließende Grenzen                          Diaspora bis zum großfamili-
abgeschlossenem Studium, einer grie-                                                   ären Selbsthilfeverein.“
chisch-orthodoxen Lehrerin und einem
türkischen Arbeiter, der zur Moschee        Ein Anstieg der in Frankfurt am Main
geht. Neuerdings trifft man den indi-       lebenden Menschen aus immer un-
schen Greencardbesitzer, der einen          terschiedlicheren Regionen der Welt
tamilischen Hindu-Tempel besucht,           bewirkt eine Ausdifferenzierung der
oder den jungen BWL-Studenten, der          religiösen Infrastruktur. Der Prozess
im Vorstand des Hindu-afghanischen          der Pluralisierung ist nicht einfach nur
Tempels sitzt, den spanischen Baptis-       quantitativ als ein Anstieg des religi-
ten, der seit 30 Jahren in Deutschland      ös-konfessionellen Nebeneinanders
lebt, genauso wie den afrikanischen         zu sehen. Bei genauerer Betrachtung
                                                                                                                 Polis 38

Hausmeister-Pfingstler, der einer der       zeigt sich die Pluralisierung auch da-
ehemaligen Militärgemeinden ange-           durch, dass jede ethnisch-nationale
hört, die koreanische Nonne, die einen      Gruppe von Migranten vielfältige
buddhistischen Tempel leitet, und den       religiöse Bezüge mitbringt. Die Ein-
schiitischen Imam mit holländischem         wanderung repräsentiert auf den
Pass, der in einer internationalen Ge-      ersten Blick den Querschnitt der im
meinde vorwiegend türkische Schiiten        Herkunftsland vertretenen ethnischen
betreut. Religiöse Bindung wird immer       und religiösen Gruppen. In vielen                                     17
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