POLIS 38 - Religion und Migration Hessische Landeszentrale für politische Bildung - Hessische Landeszentrale für politische Bildung
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Hessische POLIS:Analysen–Meinungen–Debatten analysen – meinungen – debatten Landeszentrale für politische Bildung Mechtild M. Jansen Susanna Keval (Hg.) Religion und Migration Die Bedeutung vom Glauben in der Migration POLIS: POLIS 38
POLIS soll ein Forum für Analysen, Meinungen und Debatten aus der Arbeit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) sein. POLIS möchte zum demokratischen Diskurs in Hessen beitragen, d.h. Anregungen dazu geben, wie heute möglichst umfassend Demokratie bei uns verwirklicht werden kann. Der Name POLIS erinnert an die große geschichtliche Tradition dieses Problems, das sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder neu stellt. Politische Bildung hat den Auftrag, mit ihren bescheidenen Mitteln dazu einen Beitrag zu leisten, indem sie das demokratische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gegen drohende Gefahren stärkt und für neue Herausforderungen sensibilisiert. POLIS soll kein behäbiges Publikationsorgan für ausgereifte akademische Arbeiten sein, sondern ohne große Zeitver- zögerung Materialien für aktuelle Diskussionen oder Hilfestellungen bei konkreten gesellschaftlichen Problemen bieten. Das schließt auch mit ein, dass Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die nicht unbedingt die Meinung der HLZ widerspiegeln.
Religion und Migration Mechtild M. Jansen / Susanna Keval (Hg.) Inhalt Vorwort: Mechtild M. Jansen 3 Grußworte: – Stadtrat Dr. Albrecht Magen 4 – Jean Claude Diallo 5 Mechtild M. Jansen: Einleitung 7 Stefan Rech: Frankfurt am Main als Beispiel für eine multireligiöse Stadt 10 Karsten Lehmann: Religion und Integration. Spezifika der politischen Debatte und Perspektiven der Forschung 24 Podiumsgespräch: Biografie und Identität. Persönliche Erfahrungsberichte. TeilnehmerInnen: Rina Otterbach, Lehrerin an der Jüdischen Oberschule Berlin 38 Giovanni di Florian, katholischer Seelsorger, Frankfurt am Main 40 Dr. Mounira Daoud-Harms, pädagogische Mitarbeiterin am HeLP, Frankfurt am Main 44 Tich Thien Son, buddhistischer Mönch, Zenlehrer, Frankfurt am Main 46 Die Bedeutung von Religion in der Migration. Theoretische und empirische Reflexionen am Beispiel von – Biographien (Dr. Susanna Keval) 49 – türkischen Frauen unterschiedlicher Generationen (Dr. Nevâl Gültekin) 56 – der russisch-jüdischen Zuwanderung (Dalia Moneta) 64 Dietmar Will: Unruhige Geschwister – bereichernde Gäste. Integration – wo und wie fängt sie an? 69 Podiumsgespräch: Glauben in Frankfurt. VertreterInnen einzelner Gemeinden stellen sich und ihre Gemeinden vor. 74 TeilnehmerInnen: Franjo Akmazda, Kroatische Gemeinde Ünal Kaymakci, Verein der Hazrat Fatima Moschee e.V. Ghebrehiwet Kidane, Orthodoxe Gemeinde eritreischer Flüchtlinge Polis 38 Dr. Hüseyin Kurt, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. Merkez Moschee Han-Na Lee, Koreanische Evangelische Gemeinde im Rhein-Main-Gebiet Elina Oldenbourg, Finnische Gemeinde Dr. Smritindu Roy, Rhein-Main-Bengali Cultural Association e.V. Interreligiöse Feier 87 Autorenverzeichnis 90 1
Heiner Bielefeldt Religion und Migration Die Religionsfreiheit stellt als allgemeines Menschenrecht einen Anspruch, der über die Toleranzpolitik der Staaten, wie eng oder pragmatisch, demütigend oder großherzig diese auch angelegt sein mochte, konzeptionell hinausgeht. Sie zielt nicht auf eine graduelle Erweiterung der Toleranz, sondern formuliert ein neues Grundprinzip, das erstmals in der Zeit der großen demokratischen Revolutionen politisch zum Durchbruch gelangt ist. Das Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikation trägt eine Spannung in sich: Mit Verweis auf den gebotenen Respekt vor der Würde und Freiheit des Menschen wird dem Staat gewissermaßen etwas „Negatives“ abverlangt, nämlich ein prinzipieller Verzicht auf staatliche Handlungskompetenz in Fragen umfassender Sinn- orientierung. Ein affirmatives Anliegen führt somit paradoxerweise zu einer negativen Konsequenz, zu einer staatlichen Nicht-Kom- petenz. Diese Spannung steht stets in Gefahr, nach der einen oder anderen Seite hinaufgelöst zu werden: entweder in Richtung einer Leugnung des im Respekt vor der Freiheit begründeten normativen Gehaltes der staatlichen Säkularität zu einer umfassenden politi- schen Weltanschauung quasi-religiöser oder postreligiöser Art, in der das Prinzip der Nicht-Identifikation aufgehoben wäre. Durch beide Auflösungen gerät der spezifische Anspruch des säkularen Rechtsstaates aus dem Blick. Die Religionsfreiheit als Menschenrecht bricht aber nicht nur mit der konfes- sionsstaatlichen Form von Toleranz; sie geht auch – was oft übersehen wird – über eine skeptisch motivierte Toleranz hinaus, für die Aufklärer wie Montaigne, Voltaire oder Lessing mit ihrer Kritik an religiösem Dogmatismus stehen. Polis 38 Die unterlegten Zitate wurden entnommen aus: Heiner Bielefeldt: Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit. transcript Verlag, Bielefeld 2003. 2
Vorwort Mechtild M. Jansen Die Migration hat viele Facetten. „Religion und Migration“ war der Titel Neben Vorträgen und Diskussionen einer Fachtagung, die das Amt für mul- wurde eine interreligiöse Feier in die tikulturelle Angelegenheiten der Stadt Tagung integriert, um so einen – wenn Frankfurt am Main, die Evangelische auch kleinen – „sinnlichen Eindruck“ Stadtakademie Frankfurt am Main, von der Vielfalt der Religionen und das Bildungswerk der Katholischen Er- Konfessionen zu vermitteln. wachsenenbildung Frankfurt am Main Die Tagung wurde konzipiert und und die Hessische Landeszentrale für durchgeführt von: politische Bildung am 1. und 2. No- Dr. Eva Maria Blum, Mechtild M. vember 2002 in der Heiliggeistkirche Jansen, Dr. Susanna Keval, Dr. In- des Frankfurter Dominikanerklosters geborg Nordmann und Dr. Kornelia veranstalteten. Siedlaczek. Dabei haben die Veranstalterinnen Die Konferenz wurde dankenswerter- den Versuch unternommen, sich dem weise durch das Hessische Sozialmi- Thema „Religion und Migration“ unter nisterium gefördert. der Fragestellung, welche Bedeutung Glauben und Religion für den Mig- Wir hoffen, dass mit der Veröffentli- rationsprozess und das Leben von chung der folgenden Texte nicht nur Migrantinnen und Migranten haben, die Akzeptanz gegenüber Migran- zu nähern. Ein weiterer Gesichtspunkt tengemeinden steigt, sondern dass war, inwieweit Religion ein integrie- auch ein interreligiöser Dialog unterei- render Faktor im Migrationsprozess nander und mit der Stadtgesellschaft sein kann. wächst und selbstverständlicher wird. Nicht falsch verstandene Toleranz und Rücksichtnahme, sondern Re- spekt gegenüber anderen Religionen und Denktraditionen leiteten uns bei Mechtild M. Jansen der Auseinandersetzung mit diesem Thema. Hessische Landeszentrale für politische Bildung Frankfurt ist eine multireligiöse Stadt, das wollten wir auf dieser Tagung sichtbar machen. Darüber hinaus woll- ten wir den Teilnehmerinnen und Teil- nehmern die Möglichkeit bieten, den jeweils „Anderen“ zuzuhören, sich auf deren Realität und Glauben einzulas- Polis 38 sen. Wir denken, dass so Neugier und Erkenntnisinteresse geweckt werden und damit die Möglichkeit entsteht, ein differenziertes Bild von Religionen und Konfessionen zu entwickeln. 3
Albrecht Magen Grußwort Grußwort: Dr. Albrecht Magen Nahezu unbemerkt von der breiten Die Gemeinden der Migranten tra- Öffentlichkeit hat sich in Frankfurt am gen zunehmend ihre Anliegen an Main in den letzten Dekaden eine au- Politik und Verwaltung heran, so dass ßerordentliche religiöse Vielfalt entwi- gemeinsam an der zunehmenden ckelt: Jede der großen Weltreligionen Integration der Menschen anderer ist mittlerweile in der Stadt vertreten, Herkunft gearbeitet werden kann. So und mit mehr als 130 unterschiedli- dienen die Bemühungen um ein fried- chen Religionsgemeinschaften der liches Zusammenleben genau wie Zuwanderer findet in Frankfurt am die Geborgenheit, die die Menschen Main ein vielfältiges religiöses Leben anderer Herkunft in ihren Glaubens- statt. gemeinschaften finden, dem Zusam- Während die großen christlichen menleben und Zusammenwachsen Kirchen seit langem einen Rückgang in unserer pluralen Gesellschaft, die der Mitgliederzahlen und ein wach- sich gerade auch in Frankfurt am sendes Desinteresse an der religiösen Main dadurch auszeichnet, dass die Praxis beklagen, zeigt sich bei den unterschiedlichen Überzeugungen im Zuwanderergemeinden ein völlig an- Glauben nicht zu gewalttätigen Kon- deres Bild: Überfüllte Gottesdienste flikten führen. und eine innige Teilnahme an den Wir bemühen uns verstärkt um den in- religiösen Zeremonien kennzeichnen terkulturellen Dialog. Für das Gelingen das Gemeindeleben der meisten Reli- dieses Dialoges ist es entscheidend, gionsgemeinschaften. dass wir die Verschiedenheit unserer Ein Grund für den engen Zusammen- Glaubensüberzeugungen nicht igno- schluss der Gemeinschaften ist sicher- rieren und verwischen, sondern im lich das Streben nach Zusammenhalt Gegenteil sehen und respektieren. in der Diasporasituation. Durch den Kontakt mit den Zuwandergemeinden wissen wir aber auch, dass die über- wiegende Mehrheit von ihnen eine Stadtrat Dr. Albrecht Magen Integration ihres Glaubens mit den Dezernent für Integration Anforderungen des Lebens in der mo- dernen Stadtgesellschaft anstrebt. Unser Grundgesetz garantiert allen religiösen Gruppen Glaubensfreiheit. Voraussetzung ist, dass die Gemein- schaften und ihre einzelnen Mitglieder Polis 38 sich an die vorgegebenen Rahmenbe- dingungen unserer Verfassungsord- nung halten. Der Staat wie auch die Kommunen haben dies zu beachten, ohne sich in die religiösen Fragen ein- mischen zu dürfen. 4
Grußwort Jean Claude Diallo Jean Claude Diallo: Die Religion ist ein Boden, der in der Fremde trägt. Es freut mich sehr, Sie in unserer Hei- schaften, Migrantenvereine und reli- liggeistkirche im Dominikanerkloster, giöse Gemeinschaften sehr wichtig dem Sitz des Evangelischen Regio- werden. Ich will Ihnen ein besonders nalverbandes Frankfurt am Main, be- prägnantes Beispiel schildern: Der grüßen zu dürfen. Ich bedanke mich Evangelische Regionalverband und bei den Veranstaltern, dass ich ein der Caritasverband Frankfurt sind Grußwort an die Teilnehmerinnen und Träger der Flüchtlingsunterkunft am Teilnehmer der Tagung richten darf. Flughafen Frankfurt. Die Verweildau- Ich will sehr kurz auf einige Fragen er in dieser Unterkunft beträgt für ca. eingehen, mit denen Sie sich in diesen 75% der Flüchtlinge zwei bis drei beiden Tagen beschäftigen werden: Wochen; für etwa ein Viertel der Menschen kann sich der Aufenthalt „Je länger Menschen fernab – Werden Glaube und religiöse über mehrere Monate hinziehen. Die von ihrer Heimat leben, umso Gemeinschaft in der Migration Männer, Frauen und Kinder leben in mehr hängen sie an Sitten, wichtiger? dieser Zeit im „Niemandsland“. Riten und Gebräuchen.“ – Stärkt Religion das Zusammenge- Die Wartezeit ist bestimmt durch hörigkeitsgefühl und führt sie zur Unruhe und Angst vor der Zurückwei- Integration oder im Gegenteil zur sung. Die Menschen gehören unter- Abgrenzung? schiedlichen Nationalitäten und Reli- – Welche Bedeutung hat der Glau- gionen an. Sie sind entwurzelt, reisen be für einzelne Migranten, aber oft alleine, und in manchen Fällen auch für die Stadtgesellschaft? spricht kein anderer ihre Sprache. Das, was ich Ihnen im folgenden In dieser Lebenssituation haben wir sagen will, beruht auf ganz persönli- beobachtet, dass die Religion ein chen Erfahrungen. Boden ist, der in der Fremde trägt. Zur ersten Frage: Ich persönlich un- Muslime halten ihre Gebetszeiten terscheide zwischen Glauben und peinlich genau ein. Christen finden religiöser Gemeinschaft. Ich bin der sich zu Gebetskreisen zusammen Meinung, dass ein Mensch glaubt und nehmen am wöchentlichen Got- oder nicht. Ich glaube an Gott oder tesdienst teil. ich glaube nicht an Gott. Ob ich in Würden diese Menschen sich in einer die Moschee bzw. die Kirche gehe anderen Situation genau so verhal- oder nicht, das ist eine andere Frage. Polis 38 ten? Ich weiß es nicht! Aber ich weiß, Insofern wird der Glauben in der dass viele Menschen, je länger sie Migration nicht wichtiger, sondern fernab von ihrer Heimat leben (was wichtiger können die Riten und die immer auch Heimat heißen mag), Frömmigkeit, mit denen ich mich zu umso mehr an Sitten, Riten und Ge- meinem Glauben bekenne, werden. bräuchen hängen, die nicht mehr so Aus meiner beruflichen Erfahrung streng ausgeübt werden, wie sie es weiß ich, dass Flüchtlingsgemein- ursprünglich kannten. Das ist häufig 5
Jean Claude Diallo Grußwort eine Quelle von Generations- und Marmorbalustrade, die von barocken Familienkonflikten. Skulpturen gekrönt ist. Zur meiner zweiten Frage, ob Reli- Diese vielseitige, monumentale Kirche gion das Zusammengehörigkeitsge- ist beeindruckend, weil sie gleichzeitig fühl stärkt und zur Integration oder arabische, normannische, gotische zur Abgrenzung führt. und barocke Strukturen in sich vereint, Zum einen sagt der Volksmund: Zu- die aber dem Ganzen einen un- sammen sind wir stark. Zusammen schätzbaren architektonischen Wert können wir aber auch unangenehm verleihen. Palermo ist auch die einzige werden. Die Frage ist nur: Gegen wen Stadt der Welt, behauptet der Bürger- müssen wir stark sein? Für wen können meister, in der Katz, Maus und Hund wir unangenehm werden? Hand in Hand spazieren gehen! „Die Geschichte der Mensch- Zum anderen dürfen wir nicht die Und wenn ich die Formulierung in heit ist voller guter Beispiele, Probleme vermengen: Nicht Religion Ihrer Einladung aufgreife, dass die- wie ein Miteinander der führt zur Integration oder Abgren- se Tagung betrachten will, welche verschiedenen Religionsge- zung, sondern ein fehlender Rahmen Bedeutung die 130 religiösen Ge- meinschaften zum Aufblühen für eine vernünftige Integration. Ich meinden für die einzelnen Migranten einer Gesellschaft führt.“ weiß nicht mehr, wer gesagt hat, dass haben oder auch für die Stadtgesell- eine Gesellschaft an dem gemessen schaft, dann erzähle ich Ihnen gern wird, wie sie mit ihren Minderheiten zum Schluss, was ich von meinem umgeht. Die aufnehmende Gesell- Freund, dem Theologen Dr. Gerhard schaft hat Bedingungen zu schaffen, Hoffmann, kenne. Das ist eine Ge- die es Menschen ermöglichen, sich schichte Gottes mit seinen Menschen, zu integrieren. Wenn die Gesellschaft wie wir sie in der hebräischen und diese Chance verpasst, dann – und in der griechischen Bibel vorgezeigt erst dann – können religiöse Gemein- finden: Die Flucht begann mit der schaften, Migrationsvereine oder gar Vertreibung der ersten Menschen aus politische Gruppierungen Zufluchtsor- einem Garten. Und nach biblischem te für Menschen sein, weil sie sich dort Befund gibt es offenbar keine nostal- besser aufgehoben fühlen. gische Rückkehr in den Garten. Das letzte Buch der griechischen Bibel „Eine Gesellschaft wird an Aber ich betone eines: Die Geschich- geht von der Vision einer Stadt aus, in dem gemessen, wie sie mit te der Menschheit ist voller guter der Gott selbst bei seinen Menschen ihren Minderheiten umgeht.“ Beispiele, wie ein Miteinander der wohnt, und wo deshalb Tempel, verschiedenen Religionsgemeinschaf- Kirchen, Moscheen und Kultstätten ten zum Aufblühen einer Gesellschaft überflüssig werden. führt. Wenn wir uns einzeln an dieser Visi- Zu meiner dritten Frage nach der on orientieren, dann brauche ich mir Bedeutung des Glaubens für einzelne keine Sorgen mehr um die Zukunft zu Migranten und die Stadtgesellschaft. machen. Polis 38 Ich war neulich in Palermo in Sizilien. Möge diese Tagung ein paar Hinwei- Ich habe die Kathedrale besichtigt. se in diesem Sinne geben. Das majestätische Gebäude beein- druckt durch die effektvolle Wucht seiner architektonischen Linien. Es ist auf einem Friedhof der Ureinwohner Siziliens gebaut, umgeben von einer 6
Einleitung Mechtild M. Jansen Mechtild M. Jansen: Einleitung Die Tagung „Die Bedeutung von aus mehr als 180 Ländern der Welt, Glauben in der Migration“ wurde es gibt hier 130 muttersprachliche von zwei säkularen Institutionen, dem religiöse Gemeinden, die Zugehörig- Amt für multikulturelle Angelegenhei- keitsgefühl und Gemeinschaft vermit- ten der Stadt Frankfurt am Main und teln. Religion wird oft als ein Stück der Hessischen Landeszentrale für „portable Heimat“ erlebt, die man politische Bildung, sowie zwei kirchli- mitbringen und an die man sich halten chen Institutionen, der Evangelischen kann, die ein Stück Orientierung bie- Stadtakademie und dem Katholischen tet, wenn man sich fremd, nicht immer Bildungswerk Frankfurt, gemeinsam willkommen und entwurzelt fühlt. konzipiert und veranstaltet. Religion, religiöse Riten und Bräuche Über Migration und in diesem Zusam- werden schon in der frühen Kindheit menhang auch über Integration ist in vermittelt und haben daher eine oft den letzten Jahren viel und heftig prägende Wirkung auf unser Leben, diskutiert worden. Viele Facetten und selbst wenn man sich von der Religi- Probleme, die mit dem Prozess der on abwendet. Religiöse Erfahrungen Migration einhergehen, sind betrach- sind verbunden mit unterschiedlichen tet und oft sehr kontrovers diskutiert sinnlichen Eindrücken, mit bestimmten „Für einen großen Teil der worden. Die Frage, welchen Einfluss Räumen, Gerüchen, Klängen, Symbo- hier lebenden Menschen hat die religiöse Orientierung auf die len, Gesängen, Gebeten und auch Religion an Bedeutung und Migranten hat und wie sie ihre Be- mit Stille. Sinnstiftung verloren.“ reitschaft zur Integration beeinflusst, Religiöse Riten strukturieren das Leben wurde immer wieder gestellt. vieler Menschen. Sie gliedern das Durch die Ereignisse des 11. Septem- Jahr durch Feste und die Lebenspha- ber 2001 ist die Bedeutung von Reli- sen eines Menschen durch herausge- gion und das Interesse an uns nicht hobene Lebenslaufrituale, wie z.B. so bekannten Religionen in dem Mit- Taufe, Konfirmation oder Hochzeit. telpunkt gerückt. Es wurden in diesem Zusammenhang Fragen diskutiert, ob Über Religion und religiöse Praxis zum Beispiel Religion benutzt und wurde in den letzten Jahrhunderten missbraucht werden kann, um Fana- viel gestritten. Viele Kriege sind tismus und Zerstörung zu legitimieren im Namen von Religionen geführt – oder – ob Religion den Menschen worden. Neben Epochen großer Schutz und Sinnstiftung bei schwer Toleranz gab und gibt es noch heute fassbaren Ereignissen oder ange- Länder, die von Hass und Missach- sichts des Todes bieten kann. tung durch religiöse Indoktrination geprägt sind und nicht durch Respekt Polis 38 Unser Interesse, über die Bedeutung gegenüber Andersdenkenden und von Glauben in der Migration zu Anderslebenden. reden, ist bereits lange vor dem 11. September 2001 entstanden. Was Auch heute noch müssen Menschen bedeutet Religion und religiöses auf Grund ihrer religiösen Überzeu- Leben für Menschen in einer multikul- gung aus ihren Heimatländern fliehen turellen Stadt? Allein in Frankfurt am und suchen bei uns Asyl. Viele aber, Main wohnen und arbeiten Menschen die hier wohnen, sind aus anderen 7
Mechtild M. Jansen Einleitung Gründen gekommen: um hier zu ar- zugänglich ist. Auf „Nichtgläubige“ beiten, um hier zu leben oder auch kann dies unheimlich wirken, weil der Liebe wegen. Viele von ihnen es um Gefühle, Mystik und Glauben bringen ihre religiösen Werte und geht. Vorstellungen mit. Sie wollen diese Religion und religiöse Erfahrungen hier ungehindert leben können. in Vernunft und Wissenschaft auf- Für einen großen Teil der hier le- zulösen, ist nicht möglich. Religion benden Menschen hat Religion an bietet offensichtlich mehr als nur Bedeutung und Sinnstiftung verloren, „Opium für’s Volk“ und mehr als nur trotzdem bleibt sie Thema in einer „der Seufzer der bedrängten Kreatur multikulturellen und multireligiösen in einer herzlosen Welt“1. Religion Stadt. Es wird darüber gestritten, wie bietet für Menschen Orientierung, sehr Religion öffentlich sein darf, wer Schutzräume und Visionen, mit denen wie seine religiösen Bräuche offen man sich durchaus kritisch auseinan- zeigen kann. der setzen sollte. Wo liegt bei uns die Grenze zwi- Ich möchte hier Herbert Marcuse „Ungläubig sind schen säkularem Staat, Menschen- zitieren, der zum Verhältnis von Reli- immer die Anderen.“ rechten und unterschiedlichen reli- gion und Wissenschaft bemerkt: giösen Vorschriften und Praktiken? Erinnert sei nur exemplarisch an „Wo die Religion weiterhin das kom- die Auseinandersetzungen, wenn promisslose Streben nach Frieden es um den Bau von Moscheen und und Glück bewahrt, haben ihre ‚Illu- Tempeln, Schächtungsregeln und sionen´ doch einen höheren Wahr- religiöser Bekleidung im öffentlichen heitsgehalt als die Wissenschaft, die Raum geht. an der Ausschaltung dieser Ziele arbeitet. Der verdrängte und umge- Hier ist es wichtig, immer wieder formte Inhalt der Religion kann nicht hervorzuheben, dass gerade der dadurch befreit werden, dass man säkulare Staat ein Garant für Re- ihn der wissenschaftlichen Haltung ligionsfreiheit ist und diesen Streit ausliefert.“2 zulässt. Es geht hier um einen Aus- handlungsprozess, was im Rahmen Wir wollen während dieser Tagung unserer Verfassung möglich und ga- Erfahrungen mit und über die un- rantiert ist. Manche dieser Diskussio- terschiedlichen Religionen, Konfes- nen ließen sich entschärfen, wenn mit sionen und Gemeinden machen, weniger Aufgeregtheit, vorurteilsfrei, über die Menschen, die in diesen mit Respekt und Wissen dem Ande- Gemeinden leben und wie sie ihren ren gegenüber begegnet würde. Das Alltag und ihre Identität gestalten, bedeutet aber auch, keine falsch mehr erfahren. verstandene Toleranz an den Tag zu Es geht aber auch um die Frage, ob legen, kritische Fragen zu stellen und der Prozess der Migration die Suche Polis 38 eindeutig Position zu beziehen. nach den Wurzeln verstärken kann, Eine säkulare Welt benötigt Religion weil die Realität hier manchmal zu und religiöse Gemeinschaften. Trotz- fremd und zu unwirtlich ist, und ob dem ist für viele Menschen offen religiöse Gemeinschaften dabei ein gelebte Religion zunehmend fremd Stück Heimat bieten. Oder sind Mi- und schwer zu verstehen, weil sie granten eher Grenzgänger zwischen dem rationalen Diskurs nicht immer zwei Welten? 8
Einleitung Mechtild M. Jansen Die Tagung fand in einem sakralen der in den verschiedenen Religionen Raum, in einer Kirche statt, die eine auf verschiedenen Weise gesucht und wechselvolle Geschichte hat: früher mit verschiedenen Namen genannt Klosterkirche der Dominikanermönche, wird, weil du bleibst, wie du bist, gehört sie heute der evangelischen allein unerkannt und unaussprechlich. Kirche Frankfurt und wird nicht nur für (...) So verbirg dich nicht länger, oh Gottesdienste, sondern auch für Kon- Herr! Sei gnädig und zeige dein Ant- zerte und kulturelle Veranstaltungen litz. (...) Wenn du gnädig so tun wirst, genutzt. Es ist also ein offener Raum, dann werden aufhören das Schwert der hier einlädt und Zuflucht vor der und der neidvolle Hass und alles Hektik der Stadt gewährt. Ich möch- Übel, und alle werden erkennen, wie te daran erinnern, dass sich hier im nur eine Religion ist in der Mannigfal- Mittelalter in unmittelbarer Nachbar- tigkeit religiöser Bräuche.“3 schaft das jüdische Ghetto und bis zur Pogromnacht vom 9. November 1938 auch mehrere Synagogen befanden. Anmerkungen: Der heutige Börneplatz war bereits in den letzten Jahrhunderten eine durch- 1 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen aus multireligiöse Gegend in unserer Rechtsphilosophie. In: MEW 1, S. Stadt Frankfurt mit einer wechselvollen 378. und auch leidvollen Vergangenheit. 2 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1965, Die Tagung fand am 1. und 2. No- S. 75. vember 2002 statt: die Katholiken be- 3 Zitiert nach Gerhard Schweizer: gehen in diesen Tagen Allerheiligen Ungläubig sind immer die anderen. und Allerseelen. Es sind Feste, die Weltreligionen zwischen Toleranz und den Heiligen, dem Totengedenken Fanatismus. Stuttgart 2002, S. 96. gewidmet sind und dazu einladen, über den Sinn und die Endlichkeit des irdischen Lebens nachzudenken. Sicher ein passendes Datum, um über Religion zu reden, aber auch ange- messen zu feiern, bildet doch das Feiern von Festen einen wichtigen Bestandteil jeder Religion. Mit einem Zitat des berühmten Philosophen und Theologen an der Schnittstelle des ausgehenden Mittel- alters zur Neuzeit, Nikolaus von Kues (1401-1464), will ich schließen. Das Zitat macht deutlich, dass ungläubig Die Religionsfreiheit als Polis 38 nicht immer die Anderen sind und Menschenrecht ist eine moderne Idee, sagt viel ermutigendes für den inter- die gegenüber der vormodernen religiösen Dialog. Toleranzpolitik christlicher oder Gebet an Gott der monotheistischen islamischer Prägung einen grundlegend Religionen anderen Ansatz bedeutet. „Du also, der du der Spender des Seins und des Lebens bist, du bist es, 9
Stefan Rech Religion und Migration Stefan Rech: Frankfurt am Main als Beispiel für eine multireligiöse Stadt Die Frankfurter Hauptwache terplatz in Richtung Hauptwache. Das an einem Samstagmittag im Glaubensbekenntnis prangt in arabi- Mai 2002 scher Schrift auf grünem Transparent, ab und an werden Lobeshymnen in Ein buddhistischer Tempelverein feiert Urdu skandiert. Die Gläubigen wer- den Geburtstag des Buddha Shakya- den von Polizeibeamten begleitet, die muni: Gläubige, vorwiegend aus Tai- den Verkehr regeln. Junge Männer wan, China und Vietnam, haben sich verteilen Flugblätter an Passanten in einer Reihe aufgestellt, um nach- und Interessierte, die Anlass und Hin- einander eine weiße Keramikfigur tergrund des Festzuges erläutern. vorsichtig mit Wasser zu begießen. Als der muslimische Umzug an der Danach verbeugen sie sich in einem Buddhafeier vorbei kommt, finden ver- innigen Moment und legen die Hän- einzelt Gespräche zwischen beiden de zum Gebet zusammen. Die kleine Gruppen statt. Die Lieder der Buddhis- stehende Buddhafigur, deren rechter ten und die Rufe der Muslime durch- Zeigefinger zum Himmel zeigt, stellt dringen einander. Auf der anderen den neugeborenen künftigen Buddha Seite der Hauptwache singt ein leicht dar. Die „Badezeremonie“ steht sym- bekleideter Cowboy zur Gitarre. Die bolisch für die Reinigung der mensch- PR-Aktion eines Handyherstellers zieht lichen Seele, die Entfernung des Un- ebenso viele Passanten an wie die bei- heilsamen und für die Wiedergeburt den religiösen Demonstrationen. mit neuer Hoffnung. Als urbanes Zentrum hat Frankfurt Der zentrale Platz, in dessen Nähe am Main schon immer Fremde ange- sich die Hochhaustürme der interna- zogen, die auch ihre Religionen mit- tionalen Finanzwelt in den Himmel brachten. Aus den verschiedensten schrauben und die Kirchtürme über- Gründen kommen immer mehr Men- ragen, ist normalerweise umspült schen aus immer unterschiedlicheren von regem Autoverkehr. Gläubige, Regionen der Welt nach Frankfurt Angehörige, Freunde und Passanten am Main – temporär oder bleibend. tummeln sich auf der Verkehrsinsel. Es Die Welt rückt näher zusammen und wird gesungen, Essensstände versor- ist gleichzeitig Schauplatz pluraler gen die Hungrigen und Neugierigen Lebensstile und Weltanschauungen. mit asiatischen Speisen. Das Nahe und das Ferne, die fremde Vom Frankfurter Hauptbahnhof startet und die eigene Religion berühren und Polis 38 eine andere Zeremonie anlässlich überkreuzen sich, die Koordinaten ge- des Geburtstags von Muhammad. Ein genseitiger Wahrnehmungen sind fle- pakistanischer Moscheeverein hat die xibler und austauschbarer geworden. Demonstration zu Ehren des Prophe- Für einen Moment verwandelte sich ten organisiert. Ein Zug – vorwiegend die Hauptwache in dem beschriebe- Männer in festlicher weißer Kleidung nen Bild zur Schaubühne religiöser – schiebt sich langsam durch die Welten. Vom Standpunkt der intensiv Münchener Straße, vorbei am Thea- erlebten Nähe im Kreis der religiösen 10
Religion und Migration Stefan Rech Zeremonie wirkte das hektische Trei- Frankfurter Juden, deren Geschichte ben ringsherum befremdlich. untrennbar mit der Stadtgeschichte Nur wenige Gemeinden tragen ihre verbunden ist und die jeden Bereich Religion in der geschilderter Weise der städtischen Kultur mitprägten, er- nach außen. Und auch die sozial- lebten mehrfach Gemeindegründun- integrativen Funktionen der Gemein- gen, Ausschlüsse und Vernichtung. den bleiben vielfach im Verborge- Die Zuwanderer anderer Glaubens- „Als urbanes Zentrum hat nen. Gleichwohl ist zu beobachten, richtungen, ob katholische Bediens- Frankfurt am Main schon dass es eine Entwicklung gibt, die tete aus dem Frankfurter Umland, immer Fremde angezogen, eigene Religion selbstbewusster und Glaubensflüchtlinge aus Frankreich die auch ihre Religionen sichtbarer im öffentlichen Raum zu oder Händler aus Italien oder Grie- mitbrachten.“ etablieren. Deutlich wahrnehmbar chenland, brachten immer auch ihre nehmen z.B. auch Planungsvorhaben religiösen Überzeugungen mit und religiöser Einwanderergemeinden übten sie aus. für repräsentative Bauten zu. Die Heute macht sich die dauerhafte Prä- Realisierung dieser Vorhaben ge- senz der Arbeitsmigranten und ihrer schieht nicht immer reibungslos, gibt Familien aus den verschiedensten eu- aber den Beteiligten im städtischen ropäischen und außereuropäischen und nachbarschaftlichen Umfeld im Ländern bemerkbar. Flüchtlinge aus besten Fall auch Anlass zur konstruk- den Kriegs- und Krisengebieten der tiven Auseinandersetzung mit bisher ganzen Welt leben in der Stadt. Der unbekannten religiösen Glaubens- internationale Wirtschaftsstandort vorstellungen. Frankfurt am Main zieht rotierende Diese Auseinandersetzungen finden Fachkräfte aus Banken, Handel und inmitten unserer Gesellschaft statt und dem Dienstleistungssektor nach sich. sollten weder einem engen Zirkel von Und auch heute bringt jeder einzel- religionswissenschaftlich Interessier- ne Zuwanderer in seinem kulturellen ten oder Migrationsspezialisten vor- Gepäck auch seine Glaubensüber- behalten bleiben, noch ausschließ- zeugungen mit. Manche entdeckten lich medialer Vermittlung überlassen die eigene Religion sozusagen beim werden. Die religiösen Gemeinden „Auspacken“, auf dem Weg des möchten wahrgenommen, erkannt Ankommens. Für manche gehörte und anerkannt werden. sie wie das Zähneputzen zur Alltags- routine. Wiederum andere zogen es Religion und Migration – vor, die negative Religionsfreiheit in eine Herausforderung für die Anspruch zu nehmen und ignorierten Stadtgesellschaft ihren Glauben. Alle waren heraus- gefordert, ihr Verhältnis zur Religion angesichts der Ankunft in einem frem- Ohne Einwanderung keine Stadtge- den Land und säkularen Rechtsstaat Polis 38 schichte, der Zuzug von Neuankömm- neu zu bestimmen. lingen war und ist Bedingungsfaktor der Stadtentwicklung. Dabei gestal- Religion und Migration teten sich ökonomische, soziale und in Zahlen rechtliche Bedingungen der Einwan- derung und Integration sowie Auf- nahmebereitschaft im Laufe der Ge- Wie stellt sich das religiöse Leben schichte höchst unterschiedlich. Die und die Zusammensetzung von Mig- 11
Stefan Rech Religion und Migration ranten nach Religionszugehörigkeit in großen christlichen Konfessionen der Stadt Frankfurt am Main quanti- dennoch einen erheblichen Rückgang tativ dar? ihrer Mitgliederzahlen. Die Gründe Die meisten der großen Weltreligio- hierfür sind vielfältig. Derzeit gehören nen sind in Frankfurt am Main anzu- etwa je ein Viertel der in Frankfurt am treffen. Die zahlenmäßige Präsenz der Main Wohnenden einer der beiden religiösen Gemeinden von Migranten großen Kirchen an.4 und deren organisatorische Ausdif- Keine statistischen Angaben im Be- ferenzierung innerhalb der Stadt reich der evangelischen Konfession hängen mit dem Herkunftsland, der gibt es für die fremdsprachigen Ge- Einwanderungsgeschichte und dem meinden von Einwanderern, die über- Eingliederungsprozess zusammen. wiegend als eigenständige Partner- Neben der Jüdischen Gemeinde gibt kirchen oder assoziierte Gemeinden es derzeit 50 evangelische und frei- organisiert sind. kirchliche, 20 katholische, 14 ortho- Die Kirchenstatistik der römisch-ka- doxe, 32 islamische, 8 buddhistische, tholischen Kirche gibt eine Zahl von 5 hinduistische und jeweils eine Sikh- fast einem Drittel Katholiken anderer und eine Bahá’í-Gemeinde sowie Muttersprachen (31%) für Frankfurt 14 weitere Einrichtungen, Informa- am Main an. Der größte Anteil der tionsstellen und Interessenverbände fremdsprachigen Katholiken sind die in Frankfurt am Main. Der religiöse in Frankfurt am Main lebenden Ita- Bereich der Stadtgesellschaft zeich- liener, gefolgt von den Kroaten und net sich allerdings durch ständige anderen aus dem ehemaligen Jugosla- Veränderungen aus. Neue Gemein- wien kommenden Gläubigen, Spani- den entstehen dadurch, dass bereits ern, Polen und Portugiesen. Auch die bestehende Gemeinden sich teilen römisch-katholische Kirche weist einen oder neue Zuwanderergruppen ei- großen Anteil an „Sonstigen“ auf, was genständige Gemeinden gründen. der Vielfalt der in Frankfurt am Main Angaben zur Religionszugehörigkeit lebenden Menschen anderer Herkunft werden prinzipiell nicht erfasst.2 Nur entspricht. Durch die Zuwanderung rö- für die katholische und evangelische misch-katholischer Christen wurde der Kirche sowie für die Jüdische Gemein- zahlenmäßige Mitgliederrückgang in- de gibt es aufgrund der Erhebung der nerhalb der römisch-katholischen Kir- Kirchensteuer verlässliche Daten. che abgeschwächt bzw. aufgefangen. Dieses Phänomen ist für die evangeli- Alle anderen Gläubigen sind in den sche Kirche aufgrund der verfügbaren Statistiken unter der Kategorie „Sons- Zahlen nicht festzustellen.5 tige“3 erfasst, die mittlerweile fast die Hälfte aller Frankfurter ausmacht. Die Die orthodoxen Kirchen sind in einer nicht christlichen Religionen können Vielzahl jeweils eigenständiger Kir- chen in Frankfurt am Main vertreten. Polis 38 einen Teilbereich dieser wenig aussa- gekräftigen Kategorie erklären. Die Gemeinden selbst zählen meist alle im Einzugsgebiet lebenden Die religiösen Zuwandergemeinden Migranten aus den jeweiligen Her- bringen eine zum Teil reiche und kunftsländern zu ihren Mitgliedern. vielfältige Glaubenstradition mit. Sie Auf Grundlage der in Frankfurt am erweiterten auch das innerchristliche Main gemeldeten Angehörigen von Spektrum – national und konfessio- Staaten mit überwiegend orthodo- 12 nell. Insgesamt erleben die beiden
Religion und Migration Stefan Rech xer Prägung ergibt sich eine Zahl weil sich die Zugehörigkeit der Mit- von etwa 30.000 Orthodoxen.6 Dies glieder über die Statistik der Staats- entspricht einem Anteil von ca. 6% angehörigkeit / Nationalität schlecht an der Gesamtbevölkerung und von erfassen lässt bzw. wenig aussage- 17% gemessen an der ausländischen kräftig ist. (...) Bevölkerung. Zum Teil gehen die An- Es ist also nicht zu bestreiten, dass „Jeder einzelne Zuwanderer gaben der Gemeinden aufgrund des Frankfurt am Main eine multireligiöse bringt in seinem kulturellen häufig weiteren Einzugsgebietes um Stadt ist. Ist deshalb die Religiosität, die Gepäck auch seine Glaubens- ein Vielfaches darüber hinaus. ja in (messbaren) Zahlen deutlich we- überzeugungen mit. Manche Die Jüdische Gemeinde macht, ge- niger geworden ist, durch das Element entdecken die eigene Religion messen an ihrer Mitgliederzahl, gut der „Anderen“, „Sonstigen“, „Nicht-Er- beim »Auspacken«, auf dem 1% der Gesamtbevölkerung aus. Der- fassten“ sozusagen durch die Hintertür Weg des Ankommens. Für zeit zählt sie knapp 7.000 Mitglieder, in die Stadt eingekehrt? So einfach ist manche gehört sie zur All- davon etwa ein Drittel Kontingent- die Gleichung nicht, denn: Auch bei tagsroutine. Wiederum andere flüchtlinge aus den Nachfolgestaaten Migranten – nicht anders als bei der ziehen es vor, die negative der Sowjetunion. Mehrheitsgesellschaft – wirkt sich ein Religionsfreiheit in Anspruch In der Wahrnehmung der säkulari- gewisser Säkularisierungsprozess aus. zu nehmen und ignorieren sierten Öffentlichkeit dominiert der Is- Viele fühlen sich einer Religion zuge- ihren Glauben. Alle aber sind lam oft als einheitlicher Block. Dieser hörig, aber praktizieren diese nicht, herausgefordert, ihr Verhält- erste Eindruck täuscht jedoch, denn nicht öffentlich, nicht gemeinschaftlich nis zur Religion angesichts der die unterschiedlichen muslimischen oder nicht regelmäßig. Andere haben Ankunft in einem fremden Vereine zeigen, dass der Islam in der Religion den Rücken gekehrt oder Land und säkularen Rechts- Frankfurt am Main nicht nur national, konvertieren. Und dennoch: Religiös staat neu zu bestimmen.“ sondern auch in seinen religiösen Äu- gefärbte Weltbilder und Vorstellungen ßerungs- und Organisationsformen erhalten gerade in der Migration inzwischen ein heterogenes Bild bie- besondere Bedeutung. Glaubensüber- tet. Nach Berechnungen, die auf An- zeugungen können nicht einfach »ab- gaben zur Staatsangehörigkeit der geschüttelt« werden, als seien sie der ausländischen Bevölkerung Frankfurts Tau einer vergangenen »verzauberten basieren, kann von etwa 60.000 Welt«. Glaubensvorstellungen reichen Muslimen ausgegangen werden. Das meist weit in die Einzelbiographie ergibt einen Anteil von 35% Muslime zurück, sie sind – bewusst oder un- gemessen an der ausländischen bewusst – tief in der Persönlichkeits- Bevölkerung und von knapp 10% ge- struktur verankert. Das Leben in der messen an der Gesamtbevölkerung Migration stellt mitgebrachte Regeln Frankfurts. Die hohen Einbürgerungs- und Erwartungen oftmals infrage. quoten insbesondere von Türken sind Religiöse (Re)Orientierung gibt auf dabei nicht berücksichtigt. diese Infragestellung verschiedene Antworten. Gerade durch die Migra- Für ausländische Buddhisten und Hin- tion rückt die eigene Religion in den dus kann jeweils etwa 1% gemessen Polis 38 Mittelpunkt des Interesses. In der Frem- an der Gesamtbevölkerung angege- de wird die eigene Religion bewusster ben werden. Wobei auch hier die erlebt, ja (wieder)entdeckt. Sie ist Einbürgerungsquote und die großen Schutz(raum), Grenze, markiert und Einzugsgebiete der Vereine berück- signalisiert das Andere, sichert und sichtigt werden müssen. schafft Zugehörigkeit und ist (H)Ort Zu den Sikhs und den Bahá’í können des Selbstgefühls und Selbstwerts. keine Angaben gemacht werden, 13
Stefan Rech Religion und Migration Wie aber verändert sich Religion Konfessionen zugeordnet werden. in der Migration? Welche Funktio- Die Frankfurter Juden blieben bis nen werden von ihr übernommen? zur Emanzipation und Gleichbe- Inwiefern dient sie der Integrati- rechtigung ausgegrenzt, obwohl sie on? Schließen sich fremdreligiöse dauerhaft in Frankfurt lebten.8 Betätigung und Teilnahme an der Man kann von einer abgestuften (Stadt)Gesellschaft aus? Wie äu- Hierarchie sprechen, bei der seit ßert sich das „Pendeln“ zwischen der Reformation die politischen vorgestellter Herkunftsreligion und Mitspracherechte den Lutheranern gelebtem Glauben in der Wahlge- vorbehalten blieben, während sich sellschaft im Selbstverständnis der die beiden anderen christlichen Kon- Migranten? Welchen Beitrag leistet fessionen (Katholiken, Reformierte) Religion und welchen könnte sie im in unterschiedlicher Gewichtung in zivilgesellschaftlichen Miteinander Bürger, Beisassen und Fremde aufteil- leisten? Jede Gemeinde ist ein „ei- ten. Eine in Frankfurt weit verbreitete gener Kosmos“ mit einer eigenen „Le- Redensart der frühen Neuzeit drückt bensgeschichte“ – und damit gelebte es drastischer so aus: „Die Katholiken Antwort auf diese Fragen. besitzen die Kirchen, die Lutheraner die Macht und die Calvinisten das Religion und Migration Geld“9. Bezeichnenderweise werden in Frankfurt am Main: die Juden bei dieser Aufzählung Kontinuität und Wandel ausgelassen. Die seit dem Mittelalter ansässigen Juden wurden im Laufe ih- rer Anwesenheit ins selbstverwaltete Fremde sind nichts Neues für Frankfurt Ghetto gedrängt. Dem Rat unterstellt, am Main. Wie jedes urbane Zentrum waren ihre ökonomischen Beziehun- war und ist Frankfurt am Main ein gen zur Mehrheit gewissen, immer Anziehungspunkt – manche sagen: wieder neu formulierten Sonderrege- eine Integrationsmaschine – für Mi- lungen unterworfen. granten und Fremde. Die Kategorie der Fremdheit beschränkte sich je- Ob es sich um italienische Pomeran- doch nicht auf die Menschen, die aus zenhändler, wallonisch-reformierte anderen Ländern gekommen waren. Glaubensflüchtlinge oder jüdische Fremdheit war in der Vergangenheit Händler handelte, ihnen allen war überwiegend eine Frage des sozialen in unterschiedlicher Weise der gleich- Standes. Die religiöse Zugehörigkeit berechtigte Zutritt zum ökonomischen spielte eine entscheidende Rolle beim Leben der aufstrebenden Messe- und Zugang zu sozialen, politischen und Handelsstadt verweigert. Der öko- ökonomischen Rechten bis ins späte nomische Erfolg, der sich manchmal 19. Jahrhundert hinein. trotz der erschwerten Auflagen bei diesen Bevölkerungsgruppen ein- Polis 38 Noch in der Mitte des 19. Jh. teilte stellte, führte nicht selten zu dann sich die Frankfurter Bevölkerung religiös begründeten Auseinander- zur Hälfte in Fremde und Bürger. setzungen.10 Fremde waren vor allem Gesinde, Dienstboten sowie Handels- und Durch die napoleonischen Ero- Gewerbehilfen aus dem näheren berungen wurde kurzzeitig (zwi- Umkreis der Stadt7. Sie alle können schen 1806 und 1815) die volle mehr oder weniger den christlichen Gleichberechtigung der christlichen 14
Religion und Migration Stefan Rech Konfessionsangehörigen wie auch bürger und nicht mehr der „Jude“, die Gleichstellung der Juden durch der „Katholik“ oder der Reformierte“. Theodor von Dalberg in die Stadt Die Praxis der Einbürgerung sorgte gebracht. Die Gleichstellung der dafür, dass die Ärmeren und allzu „israelitischen Bürger“, wie die in der Fremden (z.B. sogenannte Ostjuden) Freien Stadt lebenden Juden ab 1824 nicht vorschnell die deutsche Staats- offiziell genannt wurden, fand mit bürgerschaft erhielten.14 Schon in der dem Ende der Besatzung auch schon Weimarer Republik bahnte sich die bald ihr vorläufiges Ende. Erst mit Diskriminierung von als fremd kon- der Einführung der Gewerbefreiheit struierten Gruppen an, was sich am 1864 erlangten die Frankfurter Juden Beispiel der größtenteils sesshaften die Gleichberechtigung. Frankfurter Sinti und Roma zeigen Ende des 19. Jahrhunderts stieg die lässt.15 Durch die Herrschaft des Na- Einwohnerzahl zwischen 1871 und tionalsozialismus wurde schließlich 1914 beinahe um das Vierfache11, die rassisch begründete Verfolgung was unter anderem auf die Erweite- und Ermordung der Juden, Sinti und rung des Frankfurter Stadtgebietes Roma, Homosexuellen und anderen, zurückzuführen ist. Nun gehörten zu Sündenböcken gebrandmarkten, auch größere Gewerbebetriebe zu Gruppen legitimiert. Der Zweite Frankfurt. Die beginnende Industria- Weltkrieg bewirkte eine Umwälzung lisierung verlangte Arbeitskräfte, die der Bevölkerungsstruktur. Deutsche zunächst aus der näheren oder weite- Männer wurden in den Krieg eingezo- ren Umgebung rekrutiert wurden. Dies gen. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene schlägt sich auch in einem Anstieg der und Deportierte kamen in die Stadt. katholischen Bevölkerung nieder.12 Sie hielten die Kriegsproduktion unter zum Teil grausamen Bedingungen in Während viele Deutsche das Land Gang, wurden aber auch in anderen verließen, kamen neue Fremde aus Sektoren wie beispielsweise der Land- dem östlichen Mitteleuropa: Polen wirtschaft gebraucht. Bei Kriegsende und Juden. Der enorme Anstieg der stellte die heterogene Gruppe ehema- jüdischen Gemeinde in der Zeit zwi- liger Zwangsarbeiter, Rückkehrer und schen 1871 und 1910 ist auf diese Displaced Persons etwa ein Viertel allgemeinen Wanderungsbewegun- der Frankfurter Bevölkerung.16 gen zurückzuführen. Viele der Juden flüchteten aus Galizien, Polen und teilweise Russland.13 Gemeindegründungen im Spiegel der Migrationsphasen Mit der Gründung des Deutschen nach 1945 Reiches (1871) änderten sich die Demarkationslinien zwischen Frem- den und Einheimischen grundlegend. Die Gemeindegründungen spiegeln Die bürgerlichen Rechte und Privile- – meist unter Berücksichtigung einer Polis 38 gien wurden über die Nationalität gewissen zeitlichen Verzögerung und den Zugang zur Nationalität – die unterschiedlichen Phasen der geregelt. Die Religionszugehörigkeit Migration bzw. die Anwesenheit als scheidet mit der rechtlichen Gleich- fremd wahrgenommener religiöser stellung der Bürger zumindest formal Gruppen seit der Nachkriegszeit. als Unterscheidungskriterium aus. Die Jüdische Gemeinde der Vor- Fremder ist nun der fremde Staats- kriegszeit war durch die planmäßi- 15
Stefan Rech Religion und Migration ge Vernichtung der Juden nahezu sich in den Gemeindegründungen ausgelöscht. Der Wiederaufbau er- widerspiegeln. Nicht zu vergessen folgte weitgehend durch die so ge- sind auch ausländische Studierende, nannten „Displaced Persons“. Auch die teilweise schon sehr früh oder die Zusammensetzung und Gründung parallel zur Arbeitsmigration nach der polnisch-katholischen, ukrainisch- Deutschland kamen. katholischen und russisch-orthodoxen Die Gemeindegründungen von Zu- Kirchen im Ausland ist mit den Zwangs- wanderern aus osteuropäischen Län- arbeitern, Ostarbeitern und ehema- dern beruhen größtenteils auf den ligen Kriegsgefangenen verbunden. Fluchtbewegungen derjenigen Men- Durch den politischen Wandel und schen, die in ihren Freiheitsrechten die Öffnung der osteuropäischen durch den zunehmenden Einfluss der Länder erfahren diese Gemeinden ehemaligen Sowjetunion beeinträch- heute wieder Zulauf. In ihrer Zusam- tigt waren. Die Katholische Ungari- mensetzung und in ihrem kollektiven sche Gemeinde wurde schon 1956, Gedächtnis spiegelt sich die wech- die Slowakische Katholische Mission selhafte Geschichte des letzten Jahr- 1968 und die Katholische Tschechi- hunderts. sche Gemeinde 1970 gegründet. Sowohl russische als auch griechi- Mit der innereuropäischen Zuwan- sche Zuwanderer sind bereits vor derung erweiterte sich das Spektrum dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt der christlichen Kirchen in Frankfurt. bekannt, aber auch die Anwesen- Katholiken aus Südeuropa, Anglika- heit von Bahá’í. Die relativ frühen ner und Protestanten aus Nordeuro- Gründungen dieser Gemeinden pa, Orthodoxe aus Ost- und Südost- nach dem Zweiten Weltkrieg lassen europa trugen zur Ausweitung der sich daraus erklären. Die meisten christlichen Mehrheit bei. Mit der An- der Gemeindegründungen in der werbung türkischer Arbeitnehmer so- Nachkriegszeit verlaufen parallel wie der Zuwanderung von Menschen zu den mit den jeweiligen Ländern aus anderen islamisch geprägten Län- geschlossenen „Anwerbeverträgen“: dern (z.B. Marokko, dem ehemaligen mit Italien (1955), Spanien und Grie- Jugoslawien, Afghanistan, Pakistan chenland (1960), der Türkei (1961), und Indonesien) etablierte sich der Is- Portugal (1964), Marokko, Tunesien lam als drittgrößte Glaubensgemein- (1965) und Jugoslawien (1968)17. schaft in Frankfurt am Main. Aus den Ende der Fünfzigerjahre entstand unterschiedlichsten Krisenherden der z.B. die erste Italienische Katholische Welt fanden Flüchtlinge Aufnahme in Gemeinde in Frankfurt in der Innen- Frankfurt am Main, die ihre eigene stadt. Ende 1966 wurde die zweite Glaubenspraxis mitbrachten. Sie ha- Italienische Katholische Gemeinde ben oft einen hohen Bildungsgrad, in Frankfurt-Höchst gegründet. Im verrichten aber nicht selten wenig Polis 38 gleichen Zeitraum entstand die Freie qualifizierte Arbeiten. evangelische italienische Pfingstge- meinde. Die Spanische Katholische Eine weitere Gruppe von Einwande- Gemeinde wurde 1961 gegründet. rern, die oft übersehen wird, ist die Eli- Wie diese Beispiele belegen, kamen te in Finanz-, Handels-, und Dienstleis- die „Gäste“ nicht nur zum Arbeiten, tungsbetrieben, die sich zunehmend sondern sie brachten auch ihre international zusammensetzt. Für die- religiösen Vorstellungen mit, die se weltweit „rotierenden Fachkräfte“ 16
Religion und Migration Stefan Rech kann die Existenz einer Gemeinde weniger eindeutig über die nationale wichtige Anlaufstelle, Netzwerk und Zugehörigkeit erkennbar. Durch das Wissensreservoir sein, um sich zeit- neue Staatsangehörigkeitsgesetz ist weilig in der Fremde einzurichten. mit immer mehr deutschen Muslimen, Mit den Entfernungen ist auch die Hindus, Sikhs, Bahá’í und Buddhisten Vielfalt der hier lebenden Menschen zu rechnen. unterschiedlichster Nationalität größer Es gibt keine eindeutige Korrelation geworden. Die Überschneidungen von zwischen Profession, Glaubenszuge- sozialem Status, Nationalität oder hörigkeit und Nationalität. Würde „Es gibt keine eindeutige Kor- Herkunft und Religionszugehörigkeit, man die Kategorien beliebig ge- relation zwischen Profession, die in der frühen Neuzeit noch bin- geneinander austauschen, fiele es Glaubenszugehörigkeit und dende Wirkung hatten, sind nicht zumindest schwer, eine Kombination Nationalität. Würde man die nur durch die Zunahme an Optionen zu finden, die nicht in Frankfurt am Kategorien beliebig gegen- vielfältiger geworden, sondern auch Main anzutreffen ist, was einen einander austauschen, fiele austauschbarer. Heute begegnet man hohen Grad von Individualisierung es zumindest schwer, eine einem armenisch-orthodoxen Taxiun- und Pluralisierung ausdrückt. Gleich- Kombination zu finden, die ternehmer, einem indischen Import-Ex- wohl sind die Formen der religiösen nicht in Frankfurt am Main port-Unternehmer, der Hindu ist, einer Vergemeinschaftung unterschiedlich. anzutreffen ist, was einen philippinischen Krankenschwester, die Sie reichen von der öffentlichkeits- hohen Grad von Individua- den katholischen Gottesdienst in eng- wirksam inszenierten Ökumene bis lisierung und Pluralisierung lischer Sprache besucht, einem irani- zur ethnisch-religiösen Enklave, der ausdrückt. Gleichwohl sind schen Studenten, der sich als Bahá’í international vernetzten Diaspora die Formen der religiösen versteht, einem pfingstlerisch orientier- bis zum großfamiliären Selbsthilfe- Vergemeinschaftung unter- ten Informatiker aus Nigeria, einem verein. schiedlich. Sie reichen von evangelisch-reformierten Manager aus der öffentlichkeitswirksam Schweden, einem alevitischen Industrie- Unterschiede und inszenierten Ökumene bis zur arbeiter, einem pakistanischen Muslim, Gemeinsamkeiten: ethnisch-religiösen Enklave, der als diplomierter Übersetzer tätig Potenzierte Vielfalt oder der international vernetzten ist, einer thailändischen Buddhistin mit fließende Grenzen Diaspora bis zum großfamili- abgeschlossenem Studium, einer grie- ären Selbsthilfeverein.“ chisch-orthodoxen Lehrerin und einem türkischen Arbeiter, der zur Moschee Ein Anstieg der in Frankfurt am Main geht. Neuerdings trifft man den indi- lebenden Menschen aus immer un- schen Greencardbesitzer, der einen terschiedlicheren Regionen der Welt tamilischen Hindu-Tempel besucht, bewirkt eine Ausdifferenzierung der oder den jungen BWL-Studenten, der religiösen Infrastruktur. Der Prozess im Vorstand des Hindu-afghanischen der Pluralisierung ist nicht einfach nur Tempels sitzt, den spanischen Baptis- quantitativ als ein Anstieg des religi- ten, der seit 30 Jahren in Deutschland ös-konfessionellen Nebeneinanders lebt, genauso wie den afrikanischen zu sehen. Bei genauerer Betrachtung Polis 38 Hausmeister-Pfingstler, der einer der zeigt sich die Pluralisierung auch da- ehemaligen Militärgemeinden ange- durch, dass jede ethnisch-nationale hört, die koreanische Nonne, die einen Gruppe von Migranten vielfältige buddhistischen Tempel leitet, und den religiöse Bezüge mitbringt. Die Ein- schiitischen Imam mit holländischem wanderung repräsentiert auf den Pass, der in einer internationalen Ge- ersten Blick den Querschnitt der im meinde vorwiegend türkische Schiiten Herkunftsland vertretenen ethnischen betreut. Religiöse Bindung wird immer und religiösen Gruppen. In vielen 17
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