Schutz und Gewährung von Selbstbestimmung März 2020 - Persönlichkeitsrechte von Menschen in stationären Institutionen

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Persönlichkeitsrechte von Menschen in stationären
Institutionen

Schutz und Gewährung von
Selbstbestimmung

März 2020

             Prof. Peter Mösch Payot, Mlaw LL.M.

                   peter.moesch@hslu.ch
Inhalt
1. Grundsätzliches zur Rechtsstellung von Menschen im Heim

1. Vertretungsrechte aus Gesetz und im Rahmen von Beistandschaften

2. Heimvertrag und Persönlichkeitsschutz beim Aufenthalt in stationären
   Einrichtungen

3. Insb. bewegungsbeschränkende Massnahmen

4. Insb. disziplinarische und erzieherische Massnahmen

5. Zusammenfassung; Checkliste

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1. Grundsätzliches zur Rechtsstellung von Menschen im Heim

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Vorbemerkungen

 – Freiheit als Regel, Beschränkungen als Ausnahme

 – Freiheitseinschränkung bedarf
     –   besonderer Begründung
         –   Kindeswohl/Jugendschutz (Zivilrechtliche Kindes- und Jugendschutz)
         –   Erwachsenenwohl (Erwachsenenschutzrecht)
         –   Schutz von Dritten oder der Infrastruktur oder Sicherheitsinteressen

     –   der Einwilligung, einer gesetzlichen Grundlage oder einer
         Notstandssituation

     –   der Verhältnismässigkeit

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Grundsätzliches zur Rechtsstellung von Menschen

  –Freiheit und ihre öffentlich- und privatrechtlichen
   Rahmenbedingungen

  –Voraussetzungen, diese Freiheit wahrzunehmen
       –Rechtsfähigkeit - Rechte haben können…

       –Urteilsfähigkeit – Persönlichkeitsrechte wahrnehmen
        können…

       –Handlungsfähigkeit - sich ohne Zustimmung verpflichten
        können…(Verträge etc.)

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Rechtsstellung urteilsfähiger Minderjähriger und Erwachsener
unter Beistandschaft I

  Insb. Was bedeutet Urteilsfähigkeit?: Erkenntnis- und
  Wertungsfähigkeit
       Fähigkeit einer Person zu vernunftgemässem Handeln. Jede Person, der
       nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung,
       psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit
       mangelt, vernunftgemäss zu handeln.“(Art. 16 ZGB)

  –Urteilsfähigkeit wird vermutet

  –Relativ, situativ, mit Bezug auf eine bestimmte Handlung oder
   Entscheidung

  –Unvernunft ist nicht gleich urteilsunfähig

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Rechtsstellung urteilsfähiger Minderjähriger und Erwachsener
unter Beistandschaft II

  Insb. Rechtsfolgen der Urteilsfähigkeit
    –bei Volljährigkeit und ohne Beistandschaft: volle Handlungsfähigkeit

    –Unter (umfassender) Beistandschaft
         – Verpflichtungen, soweit Handlungsfähigkeit nicht beschränkt oder
           Einwilligung
         – Alltagsgeschäfte selbständig
         – Haftung
         – Vorteile annehmen
         – Persönlichkeitsrechte wahrnehmen

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Rechtsstellung urteilsfähiger Erwachsener unter
Beistandschaft III: Fazit
  Urteilsfähige Erwachsene dürfen Persönlichkeitsrechte
  grundsätzlichselber ausüben
    – Physische und psychische Integrität
    – Sexualität
    – Selbstbestimmung hinsichtlich Informationen
    – Meinungsäusserung, Religion
    – Verhalten und Entscheide als Teil der Persönlichkeit
    – Kleidung
    – Nutzung von Informations- und Kommunikationsmitteln
    – Aufenthalt
    – Kontakte und Umgang
    – Bewegungsfreiheit

  Grenzen
    – Öffentlichrechtliche Schranken
    – Persönlichkeitsrechte Dritter
    – Überwiegende unabdingbare vertragsgemässe Beschränkungen
    – Zwingende und eindeutig überwiegende Schutz- und Vertretungs- und Entscheidrechte
      Dritter insb. Vertretungsrecht Beistände (Güterabwägung nötig!)      18.03.2020     8
Rechtsstellung urteilsfähiger Minderjähriger und Erwachsener
unter Beistandschaft IV: Persönlichkeitsrechte
  Und was ist bei Urteilsunfähigkeit?
         – Vorherige Einwilligung

         – Vertretungsrecht nach mutmasslichem Willen oder
           wohlverstandenem Interesse

         – Unvertretbarkeit

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2. Vertretungsrechte für Erwachsene: Vollmacht, aus Gesetz
und im Rahmen von Beistandschaften

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Gesetzliche und behördliche Vertretungsrechte: Übersicht

  – Vertretungsrechte kraft Vollmacht (Art. 32 ff. OR)
     – Urteilsfähigkeit vorausgesetzt; Ausdruck von Selbstbestimmung; jederzeit
       widerrufbar; Nur gültig, wenn Überwachung des Vertreters möglich
     – Sonderfälle Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag

  – Gesetzliche Vertretungsrechte für Erwachsene bei Urteilsunfähigkeit
       – Gesetzliche Vertretung für medizinische (insb. somatisch bedingten)
         Massnahmen gegenüber Urteilsunfähigen
       – Gesetzliche Vertretungsrechte beim Betreuungsvertrag für den in
         Aufenthalt in Wohn- und Pflegeeinrichtungen
       – Gesetzliche Vertretungsrechte für den Ehegatten, wenn der andere
         Urteilsunfähig

  – Behördliche Bevollmächtigung von Beiständen

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Insb. Vertretung von Urteilsunfähigen bei medizinischen
Massnahmen: Kaskade nach Art. 378 ZGB
  1. In Patientenverfügung/Vorsorgeauftrag genannte Person

  2. Beistand mit entsprechendem Vertretungsrecht

  3. Ehegatte/eingetr. Partner und gemeinsamer Haushalt oder regelmässigen
     persönlichen Beistand

  4. Person in gemeinsamem Haushalt UND mit regelmässig persönlichem
     Beistand

  5. Nachkommen, wenn sie regelmässig und persönlich Beistand leisten

  6. Eltern, wenn sie regelmässig und persönlich Beistand leisten

  7. Geschwister, die regelmässig und persönlich Beistand leisten
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Insb. Behördliche Massnahmen der KESB: Voraussetzungen

 – Funktion und Arbeitsweise der KESB

 – Voraussetzungen personenbezogene Massnahmen: Beistandschaft
       – Subsidiarität zu eigener Vorsorge und freiwilligen Mn. (Art. 389 nZGB)
       – Schwächezustand und Schutzbedürtigkeit
       – Belastung und Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu
         berücksichtigen
       – Von Amtes wegen oder auf Antrag

 – Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts: Unterbringung

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Însb. Beistandschaften: Schwächezustände als Voraussetzung
für Massnahmen (Art. 390 ZGB)
   Variante psychische Beeinträchtigung

     Geistige Behinderung, psychische Störung oder ähnlicher in der Person liegender
      Schwächezustand

     … mit Folge: Person kann eigene Angelegenheiten nicht mehr erledigen

   Variante Abwesenheit oder vorübergehende Urteilsunfähigkeit

     Abwesenheit oder vorübergehende Urteilsunfähigkeit und

     Keine Möglichkeit zur Stellvertretung und

     Mit Folge: Erledigung notwendigerweise zu regelnder Angelegenheiten nicht
      möglich

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Insb. Vertretungsrechte von Beiständen

  – Begleitbeistände?

  – Mitwirkungsbeistände?

  – Vertretungsbeistände mit oder ohne Beschränkung der
    Handlungsfähigkeit

  – Umfassende Beistandschaft

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Person des Beistandes oder der Beiständin

 -   Eignung und Voraussetzungen

 -   Aufgaben und Vertretungsrechte

 -   insb. genehmigungspflichtige Geschäfte

 -   insb. höchstpersönlicher Bereich

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Angehörige als Beistände

 - Voraussetzungen für Ernennung von Angehörigen

 - Verfahrensregeln bzgl. Berichterstattung und Inventar

 - Entscheidvorbehalte für KESB

 - Und was ist mit Vertretungsrechten ohne behördliches Mandat?

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3. Heimvertrag und Persönlichkeitsschutz bei Aufenthalt in
Wohn- und Pflegeeinrichtungen

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Rechtsstellung Institution

    Auftragsverhältnis nach OR gegenüber Adressaten oder/und
    deren gesetzlichen Vertretern
         – Minderjährige Kinder/Eltern
         – Erwachsene/Beistände

    Öffentlichrechtlicher Rahmen (z.B.)
         – Heimaufsicht
         – Strafrecht
         – Sozialversicherung (berufl. Massnahmen)/Sozialhilfe

    Pflichten gemäss allgemeinen Bestimmungen
         – Gewährung der Selbstbestimmung und der Persönlichkeit
         – Leistungen der Betreuung und ev. der Förderung
         – Schutzgarantenpflichten
         – Schweigepflicht im Rahmen von Persönlichkeitsrechten
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Sonderregeln Betreuungsvertrag beim Aufenthalt von
urteilsunfähigen Erwachsenen in Wohn- und
Pflegeeinrichtungen (Art. 382 ff. ZGB)

– Schriftlicher Betreuungsvertrag

– Stellvertretung von Urteilsunfähigen gemäss der Vertretung bei
  medizinischen Massnahmen

– Allgemeine Verpflichtung auf den Persönlichkeitsschutz (Art. 386
  ZGB)

– Konkrete Verpflichtungen (Art. 386 Abs. 1, 2 und 3 ZGB)
     – Förderung von Kontakten zu Personen ausserhalb der Einrichtung
     – Informationspflicht an KESB, wenn sich niemand von extern um
       Betroffene/n kümmert
     – Gewähr freier Arztwahl (ausser bei wichtigen Gründen)
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4. Insb. bewegungsbeschränkende Massnahmen

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Beschränkungen der Bewegungsfreiheit an urteilsunfähigen
Erwachsenen (Art. 383 ff. ZGB)

Voraussetzungen der Beschränkung der Bewegungsfreiheit :

   Zulässiges Motiv
          Gefahrabwehr Betroffene/Dritter (ernsthafte Gefahr für das Leben
           oder die körperliche Integrität)
          Schwerwiegende Störung des Gemeinschaftsleben beseitigen

   Verhältnismässigkeit: sachlich/zeitlich
          Eignung
          Notwendigkeit
          Zumutbarkeit

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Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (nArt. 383 ff. ZGB) II

Was sind Beschränkungen der Bewegungsfreiheit?
   –Bettgitter und Schranken
   –Angurten zur Sturzvermeiden
   –Abschliessen von Türen
   –Mit Codes gesicherte Türen oder Fenster
   –Ausgehverbot

   –Zwangsweises Waschen oder Baden?
   –Elektronische Melder?

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Beschränkungen der Bewegungsfreiheit IV: formelle
Voraussetzungen und Regeln
   Zuständigkeit: Heim!!!

   Aufklärung des Betroffenen

   Protokollierung (anordnende Person, Zweck, Art, Dauer)

   Regelmässige Überprüfung

   Informations- und Einsichtsrecht (Vertreter bei med. Massnahmen/Aufsicht)

   Beschwerderecht bei Erwachsenenschutzbehörde

   Aufsicht
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5. Insb. disziplinarische und erzieherische Massnahmen

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Disziplinarische und erzieherische Massnahmen

… brauchen eine besondere Rechtfertigung:
       • aktuelle Einwilligung der urteilsfähigen Betroffenen
       • aktuelle Einwilligung der gesetzlichen Vertreter im Rahmen ihres
         Vertretungsrechts
          • Situation bei Erwachsenen: Güterabwägung
       • Notwehr und Notstand

  • Immer beachten: Grundsatz der Verhältnismässigkeit

  • Tipp: Verfahrensvorschriften (Protokollierung etc.) beachten wie bei
    Urteilsunfähigen

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Schutz und Selbstbestimmung: z.B. Sexualität und
Nahrungsaufnahme…

-   In einem Behindertenheim möchte der 40jährige geistig behinderte Bewohner Julius,
     - auf seinem Zimmer einen Pornofilm schauen… Seine Mutter (umfassende Beiständin) hat
       dies dem Heim untersagt.
     - dass seine wo anders wohnhafte Freundin Eva bei ihm übernachten darf…

-   Und er möchte, trotz seinen 95 KG fast täglich einen Pack Pommes-Chips essen und
    zwei Flaschen Cola trinken…

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6. Fazit

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Checkliste: Zulässigkeit Freiheitsbeschränkungen
 –   Grundsatz der Freiheit und Selbstbestimmung
     Grundsatz von Regel und Ausnahme im Verfassungs-, Verwaltungs- und Strafrecht

 –   Liegt eine genügende normative Grundlage für die Freiheitsbeschränkung vor?
            – Gesetzliche Grundlage: Jugendstrafrechtliche Grundlage; ZGB/FU;
               Sterilisationsgesetz etc. oder
            – Zustimmung des Betroffenen (bei Urteilsfähigkeit) oder Zustimmung
               des/der gesetzlichen Vertreters/In und wohlverstandenes Interesse des
               Betroffenen (bei eindeutig fehlender Urteilsfähigkeit); zulässige
               vertragsrechtliche Beschränkung
            – Notwehr oder Notstandssituation/notstandsähnliche Situation

 –   Ist die Freiheitsbeschränkung in Art und Dauer verhältnismässig?
            – Zweckeignung
            – Notwendigkeit
            – Zweck-Folgen-Relation

 –   Werden die Verfahrensvoraussetzungen beachtet?
       – Zuständigkeit (intern/extern); Dokumentation

                                                                    18.03.2020       29
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